NATIONALDEMOKRATISCHE PARTEI DEUTSCHLANDS (NPD) ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 37054/17
X.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 21. November 2017 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Yonko Grozev,
und Anne-Marie Dougin, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 16. Mai 2017 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die Beschwerdeführerin, X., ist eine politische Partei in Deutschland. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn R., Rechtsanwalt in S., vertreten.

2. Die beschwerdeführende Partei wurde 19.. gegründet. Sie tritt regelmäßig bei Wahlen zum Europäischen Parlament sowie bei Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen an.

3. Am 3. Dezember 2013 stellte der Bundesrat beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Verbot der beschwerdeführenden Partei. Das Bundesverfassungsgericht befand am 17. Januar 2017, dass das politische Konzept der beschwerdeführenden Partei auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten autoritären Nationalstaat abziele. Da es jedoch an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht fehlen, die es zumindest möglich erscheinen ließen, dass dieses Handeln zum Erfolg führe, könne die Partei nicht verboten werden (2 BvB 1/13).

A. Die Umstände der Rechtssache

4. Der von der beschwerdeführenden Partei vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Die in Rede stehende Veröffentlichung

5. Am 7. Mai 2014 veröffentlichte die beschwerdeführende Partei im Rahmen ihres Europawahlkampfs auf zwei ihrer Websites eine Pressemitteilung mit der Überschrift „X. lädt zu Podiumsdiskussion mit A., B. und C.“ (Namen im englischsprachigen Urteil vom Gerichtshof abgekürzt). In der Pressemitteilung wurde behauptet, dass es in der deutschen Medienlandschaft nicht üblich sei, mit Vertretern der beschwerdeführenden Partei zu diskutieren und dass diese daher beschlossen habe, selbst entsprechende Personen einzuladen, um eine anregende Debatte zu führen. Thema der Debatte würde die Einwanderung von Sinti und Roma aus Bulgarien und Rumänien sein, die nach Ansicht der beschwerdeführenden Partei zu „unhaltbaren Situationen in deutschen Städten“, „Missbrauch des Sozialstaats durch Sinti und Roma“ sowie einem „immensen Kriminalitätsaufkommen“ führen würde. Die Podiumsdiskussion sollte am 19. Mai 2014 um 15 Uhr im Rathaus einer deutschen Stadt stattfinden.

6. Am selben Tag stellte die Verwaltung der Stadt in einer eigenen Pressemitteilung mit der Überschrift „Täuschung der Öffentlichkeit durch X.“ klar, dass das Rathaus für die „ehrenrührige Veranstaltung“ nicht zur Verfügung stehe und dass die beschwerdeführende Partei die Nutzung des Veranstaltungsorts nicht einmal angefragt habe.

7. Keine der drei in der Überschrift der Pressemitteilung der beschwerdeführenden Partei genannten Personen hatte zuvor eine Teilnahme an der Podiumsdiskussion in Aussicht gestellt oder Kontakt zu der beschwerdeführenden Partei gehabt. B. lehnte die Einladung umgehend ab und C., Vorsitzender des Zentralrates deutscher Sinti und Roma, stellte Strafanzeige wegen Nötigung gegen die beschwerdeführende Partei. Am 8. Mai 2014 teilte A. der beschwerdeführenden Partei über seinen Anwalt mit, dass er nicht an der Podiumsdiskussion teilnehmen werde. Das Einladungsschreiben der beschwerdeführenden Partei an A. hatte den Hinweis enthalten, dass die beschwerdeführende Partei „die Veranstaltung bis zum Eingang einer möglichen Absage mit dessen Namen bewerben werde“.

8. A. ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und ehemaliger Senator für Finanzen des Landes Berlin. 2010 veröffentlichte er ein umstrittenes Buch, in dem er sich für eine restriktive Einwanderungspolitik und die Kürzung der staatlichen Sozialleistungen ausspricht. Für die Äußerungen in seinem Buch wurde er weithin kritisiert, u. a. von Mitgliedern seiner eigenen Partei.

9. Nachdem die beschwerdeführende Partei über die Absage von T.S. informiert worden war, fügte sie der Überschrift der Pressemitteilung den Zusatz „ergänzt“ in Klammern und am Ende des Textes den Satz „ERGÄNZUNG 3: T.S. hat über seine Anwälte mitteilen lassen, dass er auf keinen Fall an der geplanten Veranstaltung teilnimmt“ in normaler Schrift hinzu. In einer zweiten Fassung der Pressemitteilung war die Überschrift nicht mit dem Zusatz „ergänzt“ versehen, jedoch erschien der Satz „Ergänzung 3“ in Fettdruck am Ende des Textes.

10. Die beschwerdeführende Partei veröffentlichte weiterhin beide Fassungen der geänderten Pressemitteilung auf ihren Websites, und zwar mindestens bis zum 14. Mai 2014. Die Wahlen zum Europäischen Parlament fanden in Deutschland am 25. Mai 2014 statt.

2. Das Verfahren über vorläufige Maßnahmen

11. Am 8. Mai 2014 forderte T.S. von der beschwerdeführenden Partei die Unterzeichnung einer Unterlassungserklärung mit der Verpflichtung, die Diskussionsveranstaltung nicht mehr über die Pressemitteilung mit seinem Namen zu bewerben. Nachdem die beschwerdeführende Partei dies abgelehnt hatte, beantragte er eine einstweiligen Verfügung, die das Landgericht Köln am 14. Mai 2014 erließ. Die beschwerdeführende Partei legte Widerspruch ein; aus ihrer Stellungnahme an den Gerichtshof geht hervor, dass T.S. nach einer Mitteilung des Landgerichts, wonach die weitere Notwendigkeit vorläufigen Rechtsschutzes zweifelhaft sei, seinen Antrag im Verfahren über vorläufige Maßnahmen zurücknahm.

3. Das in Rede stehende Verfahren

12. Nachdem es die beschwerdeführende Partei erneut abgelehnt hatte, eine Unterlassungserklärung zu unterschreiben, strengte T.S. das Hauptsacheverfahren an und beantragte eine Unterlassungsverfügung. Am 26. November 2014 erließ das Landgericht Köln die Unterlassungsverfügung und befand, dass die Überschrift der Pressemitteilung in bewusst irreführender Weise nahe lege, dass T.S. tatsächlich an der Diskussion teilnehme, anstatt klar und wahrheitsgemäß anzugeben, dass T.S. lediglich eingeladen worden sei („lädt zur Podiumsdiskussion mit T.S.“ statt „lädt T.S. zu Podiumsdiskussion ein“). Indem die beschwerdeführende Partei diese Fehldeutung bewusst verursacht habe, habe sie den Werbewert von T.S. ausgenutzt und dadurch seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Es habe nicht genügt, die Klarstellung am Ende des Textes hinzuzufügen, weil jedenfalls bei einem Teil der Leser der Eindruck haften bliebe, dass T.S. tatsächlich an der Veranstaltung teilnehme. Das Gericht befand, die Feststellung einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte von T.S. setze nicht voraus, dass die rechtsverletzende Auslegung die einzig mögliche und damit zwingende Auslegung einer Aussage sei. Eine Tatsachenbehauptung, die eine falsche und rechtsverletzende Möglichkeit als eine mögliche Auslegung nahe lege, reiche aus, um die Persönlichkeitsrechte einer Person zu verletzen.

13. Am 24. März 2015 wies das Oberlandesgericht K. die Berufung der beschwerdeführenden Partei mit der Begründung zurück, dass sie den Werbewert des Namens von T.S. rechtswidrig ausgenutzt habe. Das Gericht führte aus, dass es die Pressemitteilung als Ganzes betrachtet nicht als unwahre Tatsachenbehauptung ansehe. Jedoch gehe aus dem Inhalt und Kontext der Pressemitteilung eindeutig hervor, dass ihr einziger Zweck darin bestehe, während eines Wahlkampfs auf die beschwerdeführende Partei aufmerksam zu machen, und dass sie dies auf eine irreführende Art und Weise tue. Nach Überzeugung des Gerichts habe die beschwerdeführende Partei zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt, die Podiumsdiskussion tatsächlich stattfinden zu lassen. Sie habe nicht auf politische Aussagen oder Ansichten der Eingeladenen Bezug genommen, sondern lediglich die mit deren weithin bekannten Namen verbundene öffentliche Aufmerksamkeit ausgenutzt. Da es nicht um kommerzielle, sondern politische Werbung gehe, wiege die Verletzung von Persönlichkeitsrechten im vorliegenden Fall schwerer, denn zumindest ein Teil der Leser würde T.S. mit den politischen Zielen der beschwerdeführenden Partei in Verbindung bringen. T.S. habe eine berechtigtes Interesse daran, nicht mit der beschwerdeführenden Partei in Verbindung gebracht zu werden, insbesondere deshalb, weil er Mitglied einer anderen Partei sei. Die Pressemitteilung habe nur einen geringen Informationswert und weise keine wertenden Inhalte in Bezug auf T.S. auf. Nichtsdestotrotz stelle die Pressemitteilung, da sie im Kontext eines Wahlkampfs veröffentlicht worden sei, einen Beitrag der beschwerdeführenden Partei zur politischen Meinungsbildung der Bevölkerung dar und stehe daher unter dem Schutz der Meinungsfreiheit der beschwerdeführenden Partei, die gegen die Persönlichkeitsrechte von T.S. abzuwägen sei. Die Interessen der beschwerdeführenden Partei reichten jedoch nicht aus, um den Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von T.S. zu rechtfertigen.

14. Am 13. September 2016 wies der Bundesgerichtshof die Beschwerde der beschwerdeführenden Partei gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Oberlandesgericht zurück. Am 22. Februar 2017 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der beschwerdeführenden Partei zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 2368/16).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

1. Grundgesetz

15. Die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes (GG) lauten, soweit maßgeblich, wie folgt:

Artikel 1

„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. […]“

Artikel 2

„(1) Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. […]“

Artikel 5

„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. […]“

Artikel 21

„(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. […]“

2. Das Bürgerliche Gesetzbuch

16. Nach § 823 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist jeder, der vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

17. Nach § 1004 Abs. 1 BGB kann der Eigentümer, wenn sein Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt wird, von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen. Gemäß § 1004 Abs. 2 BGB ist der Anspruch ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.

18. Das Persönlichkeitsrecht genießt den Schutz der Artikel 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG und ist deshalb als „sonstiges Recht“ im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt (Bundesgerichtshof, Urteil vom 25. Mai 1954, I ZR 211/53). Außerdem hat der Bundesgerichtshof den Anwendungsbereich des § 1004 BGB auf Verletzungen anderer nach § 823 BGB geschützter Rechtsgüter ausgeweitet. Demnach schützt er auch das Recht einer Person auf einen guten Ruf und ihr Persönlichkeitsrecht (siehe z. B. Bundesgerichtshof, Urteil vom 28. Juli 2015, VI ZR 340/14).

RÜGE

19. Die beschwerdeführende Partei rügte unter Berufung auf Artikel 10 die im Hauptsacheverfahren gegen ihre Pressemitteilung erlassene Unterlassungsverfügung.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

20. Die beschwerdeführende Partei trug vor, dass das Verbot der Verbreitung der Pressemitteilung ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletze, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. […]

2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, […]“

21. Die beschwerdeführende Partei trug vor, dass die Pressemitteilung weder eine unwahre Tatsachenbehauptung enthalte noch den Werbewert des Namens von T.S. ausnutze. Die innerstaatlichen Gerichte hätten unberücksichtigt gelassen, dass Pressemitteilungen im Allgemeinen kein Werbemittel, sondern lediglich Informationsträger seien, und dass politische Parteien bei der öffentlichen Meinungsbildung eine wichtige Rolle spielten. Die in Rede stehende Pressemitteilung informiere die Öffentlichkeit über die Einladung eines bekannten Politikers zu einer von der beschwerdeführenden Partei geplanten Veranstaltung und es fehle ihr deshalb nicht an einem Informationswert.

22. Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass die Unterlassungsverfügung gegen die Pressemitteilung einen Eingriff in das Recht der beschwerdeführenden Partei auf freie Meinungsäußerung darstellte und dass die beschwerdeführende Partei nicht in Frage stellte, dass dieser Eingriff „gesetzlich vorgeschrieben“ war, nämlich durch § 1004 Abs. 1 und § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. Artikel 2 Abs. 1 und Artikel 1 Abs. 1 GG. Der Gerichtshof ist überzeugt, dass der Eingriff ein rechtmäßiges Ziel verfolgte, nämlich den „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“. Daher ist er der Ansicht, dass in der vorliegenden Rechtssache eine Prüfung der Frage geboten ist, ob ein gerechter Ausgleich zwischen der nach Artikel 10 der Konvention garantierten Meinungsfreiheit der beschwerdeführenden Partei und dem Recht von T.S. auf den Schutz des Privatlebens und des guten Rufes nach Artikel 8 herbeigeführt wurde.

23. Da der Gerichtshof bereits mit ähnlichen Rechtsstreitigkeiten befasst war, bei denen die Frage des gerechten Ausgleichs zu prüfen war, verweist er auf die in seiner Rechtsprechung festgelegten allgemeinen Grundsätze (siehe A.S. AG ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnrn. 78-88, 7. Februar 2012; v.H../. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnrn. 95‑107, ECHR 2012; und Couderc und Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich [GK] Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnrn. 83-92, 10. November 2015). Wenn die Abwägung zwischen zwei kollidierenden Rechten von den innerstaatlichen Behörden in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen wurde, würde es für den Gerichtshof gewichtiger Gründe bedürfen, um die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (siehe Von Hannover (Nr. 2), Rdnr. 107; und Couderc und Hachette Filipacchi Associés, Rdnr. 92, beide a. a. O.).

24. Im Zusammenhang mit der Abwägung zwischen widerstreitenden Rechten hat der Gerichtshof – soweit für den vorliegenden Fall relevant – folgende Kriterien bestimmt: Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse, Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, das frühere Verhalten der betreffenden Person, Thema und Inhalt der Veröffentlichung, Wahrheitsgehalt und Form der Veröffentlichung, Auswirkungen auf die betroffene Person und Schwere der verhängten Sanktion (siehe Axel Springer AG, Rdnrn. 90-95; Von Hannover (Nr. 2), Rdnrn. 109-13; und Couderc und Hachette Filipacchi Associés, Rdnr. 93; alle a. a. O.).

25. Unter Anwendung dieser feststehenden allgemeinen Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache nimmt der Gerichtshof zunächst die Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts zur Kenntnis, wonach die Pressemitteilung und insbesondere die namentliche Nennung vom T.S. lediglich auf Werbung ausgerichtet war. Es vertrat die Auffassung, dass es sich bei der angekündigten Podiumsdiskussion um eine rein fiktive Veranstaltung gehandelt habe, denn die beschwerdeführende Partei habe die Nutzung des geplanten Veranstaltungsortes nicht angefragt und keiner der eingeladenen Redner habe eine Teilnahme an der Veranstaltung in Aussicht gestellt, Kontakt zu der beschwerdeführenden Partei gehabt oder seine Teilnahme bestätigt. Die Tatsache, dass die Pressemitteilung erst etwas über zwei Wochen vor der Europawahl erschienen sei und der Umstand, dass die beschwerdeführende Partei in der Einladung erklärt habe, mit der Teilnahme des Eingeladenen bis zum Eingang einer möglichen Absage zu „werben“, führten zusammengenommen zu dem Schluss, dass die Veröffentlichung ausschließlich zu Werbezwecken gedient habe, so das Gericht. Ferner befand das Oberlandesgericht, dass die Pressemitteilung von geringem Informationswert für die Öffentlichkeit sei und es ihr insgesamt an Informationswert mit Bezug zu T.S. fehle. Das Gericht stellte fest, dass die beschwerdeführende Partei in keiner Weise auf das politische Wirken von T.S. oder seine bisherigen Äußerungen zur Zuwanderung Bezug genommen habe und auch keine inhaltliche Auseinandersetzung über die Gründe für seine Einladung stattgefunden habe. Stattdessen habe die beschwerdeführende Partei nach Ansicht der Gerichte einzig darauf gesetzt, mit der Nennung des Namens von T.S. im Wahlkampf Aufmerksamkeit für die Pressemitteilung und folglich für sich selbst und ihre Ziele zu erregen.

26. Der Gerichtshof nimmt ferner den Vortrag der beschwerdeführenden Partei zur Kenntnis, wonach eine Pressemitteilung einer politischen Partei nicht als bloße Werbung betrachtet werden könne, weil Pressemitteilungen per se Informationsträger seien. Ferner brachte sie vor, die Pressemitteilung habe die korrekte Information vermittelt, dass T.S. zu einer Podiumsdiskussion eingeladen worden sei.

27. Nach Auffassung des Gerichtshofs hat die Form einer Veröffentlichung nur eine begrenzte Auswirkung auf die Entscheidung darüber, ob die Veröffentlichung als politische Meinungsäußerung oder als Werbung anzusehen ist. Wenn eine Veröffentlichung nur beiläufig auf soziale oder politische Vorstellungen Bezug nimmt und sich nicht mit Fragen der politischen Debatte befasst, sondern hauptsächlich darauf gerichtet ist, die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen, ist sie per se näher an der kommerziellen Meinungsäußerung als an der politischen Meinungsäußerung zu verorten. Dies trifft selbst dann zu, wenn die Veröffentlichung nicht in den Kontext der kommerziellen Werbung einzuordnen ist, weil es keinen Anreiz zum Kauf eines bestimmten Produkts gibt (vgl. Mouvement raëlien suisse ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 16354/06, Rdnr. 62, ECHR 2012 (Auszüge)). Der Gerichtshof erkennt daher die Bewertung des Oberlandesgerichts an, wonach die Pressemitteilung aufgrund ihres begrenzen Informationswerts Werbung darstellte. Er stimmt jedoch auch mit dem Oberlandesgericht darin überein, dass in Anbetracht der Rolle der Beschwerdeführerin als politische Partei und der Tatsache, dass die Pressemitteilung während ihres Wahlkampfs für die zu der Zeit anstehenden Europawahl herausgegeben wurde, die Pressemitteilung politische und nicht kommerzielle Werbung darstellte. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Pressemitteilung in begrenztem Umfang zu einer öffentlichen Debatte beitrug.

28. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Oberlandesgericht den Bekanntheitsgrad von T.S. zwar nicht ausdrücklich beurteilt hat, aus seiner Begründung jedoch klar hervorgeht, dass es sich bewusst war, welche Stellung T.S. als Politiker hatte und welche Bedeutung diese für den Fall hatte. Insgesamt rechtfertigte das Oberlandesgericht die Unterlassungsverfügung mit der Werbewirkung, die die Nennung des Namens von T.S. in der Pressemitteilung – wie beabsichtigt – für die beschwerdeführende Partei haben würde. Der Gerichtshof weist zwar erneut darauf hin, dass die Grenzen hinzunehmender Kommentare und Kritik bei bekannten Politikern, die in ihrer öffentlichen Eigenschaft handeln, weiter gefasst sind als bei einer Privatperson, er stellt jedoch auch fest, dass es bei der vorliegenden Rechtssache nicht um die Wiedergabe von Tatsachen geht, die geeignet sind, einen Beitrag zu einer Debatte in einer demokratischen Gesellschaft zu leisten oder eine bekannte Person öffentlich zu kritisieren, sondern die Bekanntheit eines Dritten dafür zu nutzen, die öffentliche Aufmerksamkeit für sich selbst zu erhöhen.

29. Ebenso geht aus der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts klar hervor, dass es das frühere Verhalten von T.S. berücksichtigt hat. Seiner Ansicht nach stand der Kläger nicht nur als Politiker, sondern auch als Autor eines stark kritisierten Buches im Licht der Öffentlichkeit. Das Gericht kam jedoch zu dem Schluss, dass T.S. weder die Meinung der beschwerdeführenden Partei zu seinem Buch und deren Auslegung desselben, noch die beschwerdeführende Partei selbst jemals unterstützt habe. Der Gerichtshof erkennt die Feststellung des Oberlandesgerichts an, dass das frühere Verhalten von T.S. keine maßgebliche Auswirkung auf die Herbeiführung eines gerechten Ausgleichs in der vorliegenden Rechtssache gehabt habe.

30. Was das Thema und den Inhalt der Veröffentlichung angeht, begründete das Oberlandesgericht seine Auffassung eingehend damit, dass die Ankündigung der öffentlichen Veranstaltung lediglich ein Vorwand sei, und das eigentliche Ziel der Veröffentlichung ausschließend darin bestehe, in einem Wahlkampf für die beschwerdeführende Partei zu werben und auf sie aufmerksam zu machen. Es stellte zudem fest, dass die Pressemitteilung keine Auseinandersetzung mit dem Buch von T.S., seinem politischen Wirken oder dem Thema der angeblich geplanten Podiumsdiskussion enthalte. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Schlussfolgerungen nachvollziehbar auf Tatsachen gestützt wurden (siehe Rdnr. 13), und sieht daher keine Gründe, sie in Zweifel zu ziehen.

31. Was den Wahrheitsgehalt und die Form der Veröffentlichung angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht zu dem Schluss gelangte, dass die Pressemitteilung als Ganzes und in Verbindung mit den Ergänzungen betrachtet keine unwahren Tatsachenbehauptungen enthalte. Es befand jedoch auch, dass durch die eindeutig „missverständlichen, wenn nicht gar absichtlich fehlinformierenden“ Überschriften der beiden Fassungen der Pressemitteilungen zumindest bei einem Teil der Leser der Eindruck entstehe, dass es eine tatsächliche Verbindung oder Verbundenheit zwischen T.S. und der beschwerdeführenden Partei bestehe. Während das Landgericht festgestellt hatte, dass die beschwerdeführende Partei die Fehldeutung durch den Leser bewusst verursacht habe um eine größere Publizität zu erreichen, ließ das Oberlandesgericht dahinstehen, ob der Wortlaut bewusst missverständlich war. Nichtsdestotrotz stellten beide Gerichte fest, dass die beschwerdeführende Partei die volle Verantwortung für eine etwaige Fehlinformation trage, weil es für sie einfach gewesen wäre, die Pressemitteilung klar und unmissverständlich zu formulieren.

32. Der Gerichtshof schließt sich der Auffassung an, dass bei der Prüfung, ob bestimmte Aussagen in einer Veröffentlichung unwahr, überzogen oder missverständlich sind, die Veröffentlichung grundsätzlich als Ganzes betrachtet werden muss. Allerdings hat der Gerichtshof auch anerkannt, insbesondere im Zusammenhang mit Werbung, dass zutreffende Sachverhalte in einer Art und Weise dargestellt werden können, dass ein falscher oder missverständlicher Eindruck beim Leser entstehen kann (siehe sinngemäß B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 7969/04, 23. Januar 2007; H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 2357/05, 23. Januar 2007; und A. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 28070/06, Rdnr. 70, 9. April 2009). In Anbetracht der Tatsache, dass es in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten obliegt, darüber zu befinden, ob Werbung missverständlich ist (siehe m. und B. ./. Deutschland, 20. November 1989, Rdnr. 35, Serie A Nr. 165), akzeptiert der Gerichtshof die Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts, was den Wahrheitsgehalt und die Form der in Rede stehenden Pressemitteilung angeht.

33. Im Hinblick auf die Folgen der Veröffentlichung für T.S. vertrat das Oberlandesgericht die Auffassung, dass er damit rechnen müsse, dass zumindest ein Teil der Leser ihn und seinen Namen mit der beschwerdeführenden Partei und ihren politischen Ansichten und Zielen in Verbindung bringen würde. Angesichts seiner Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei – die ganz andere politische Ziele hat als die beschwerdeführende Partei – seien die negativen Auswirkungen für T.S. schwerwiegend. Das Oberlandesgericht betonte, dass das öffentliche Assoziieren einer Person mit einer politischen Partei geeignet sei, die Persönlichkeitsrechte in schwerwiegenderer Weise zu verletzen als die wahrgenommene Verbindung mit einem kommerziellen Produkt, denn die Öffentlichkeit gehe davon aus, dass sich die betreffende Person mit den Ansichten und politischen Ziele der Partei identifiziere. Der Gerichtshof schließt sich dieser Einschätzung im Hinblick auf die Schwere der Folgen für T.S. an.

34. Was die Schwere der Sanktion angeht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass gegen die beschwerdeführende Partei keine Sanktion verhängt wurde. Das Oberlandesgericht untersagte nur die künftige Verbreitung der betroffenen Pressemitteilung in ihrer konkreten Form und mit ihrem konkreten Wortlaut. Folglich war die beschwerdeführende Partei nicht grundsätzlich daran gehindert, für Podiumsdiskussionen oder sonstige Veranstaltungen zu werben. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die beschwerdeführende Partei die Unterlassungsverfügung nur im Hauptsacheverfahren rügte und dass das Landgericht die Verfügung am 26. November 2014 erließ. Da die Europawahl in Deutschland am 25. Mai 2014 stattfand, kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Unterlassungsverfügung keine Folgen für den Wahlkampf der beschwerdeführenden Partei hatte. Zusammenfassend stellt er fest, dass die Sanktion so geringfügig wie möglich war.

35. Im Lichte der vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Oberlandesgericht bei der Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Achtung des Privatlebens die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Kriterien berücksichtigt und angewandt hat. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es für den Gerichtshof in Fällen, in denen die innerstaatlichen Behörden eine Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen haben, gewichtiger Gründe bedürfen würde, um die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen. An solchen gewichtigen Gründen fehlt es hier. Das Oberlandesgericht hat eine angemessene Abwägung zwischen den widerstreitenden Rechten vorgenommen und im Rahmen des ihm zustehenden Ermessensspielraums gehandelt.

36. Dementsprechend befindet der Gerichtshof, dass die in Rede stehende Unterlassungsverfügung keine Verletzung der nach Artikel 10 der Konvention geschützten Meinungsfreiheit der beschwerdeführenden Partei erkennen lässt. Die Beschwerde ist deshalb offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 14. Dezember 2017.

Anne-Marie Dougin                                                          Erik Møse
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin                 Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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