EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE M. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 29762/10)
URTEIL
(Gerechte Entschädigung – Streichung)
STRASSBURG
25. Januar 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache M. ./. Deutschland
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger und
Nona Tsotsoria,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits und
Gabriele Kucsko-Stadlmayer
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 19. Dezember 2017
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 29762/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die eine deutsche Staatsangehörige, M. („die Beschwerdeführerin“), am 20. Mai 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Mit Urteil vom 9. Februar 2017 („das Haupturteil“) stellte der Gerichtshof fest, dass Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention verletzt worden war, weil es der vor dem 1. Juli 1949 nichtehelich geborenen Beschwerdeführerin im Gegensatz insbesondere zu nach diesem Stichtag geborenen nichtehelichen sowie ehelichen Kindern nicht möglich war, ihr Erbrecht geltend zu machen. Nach Ansicht des Gerichtshofs war die diesbezügliche Ungleichbehandlung der Beschwerdeführerin kein verhältnismäßiges Mittel, um die mit den geltenden Rechtsvorschriften rechtmäßig verfolgten Ziele zu erreichen (siehe M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 29762/10, Rdnrn. 30 f., 9. Februar 2017).
3. Die Beschwerdeführerin forderte nach Artikel 41 der Konvention eine gerechte Entschädigung. Entsprechend dem geschätzten Mindestwert ihres Anteils an dem Nachlass als gesetzliche Erbin forderte sie 6.000 Euro für den materiellen Schaden. Sie erhob auch Anspruch auf Entschädigung für den immateriellen Schaden, wobei sie die Höhe des Entschädigungsbetrags in das Ermessen des Gerichtshofs stellte. Darüber hinaus machte sie den Ersatz von Kosten und Auslagen in Höhe von 1.700 Euro geltend. Die Regierung bestritt den von der Beschwerdeführerin geltend gemachten materiellen und immateriellen Schaden sowie einen Teil der Forderungen in Bezug auf die Kosten und Auslagen.
4. Da die Frage der Anwendung von Artikel 41 der Konvention noch nicht entscheidungsreif war, behielt sich der Gerichtshof die Beurteilung dieser Frage vor und forderte die Regierung und die Beschwerdeführerin auf, innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig geworden ist, schriftlich hierzu Stellung zu nehmen und ihn insbesondere von jeder möglicherweise erzielten Einigung zu unterrichten (ebenda, Rdnr. 53 und Nr. 3 des Urteilstenors).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
5. Im September 2017 teilte die Beschwerdeführerin dem Gericht auf die genannte Aufforderung hin mit, dass die Parteien keine Einigung erzielt hätten und sie ihre Forderungen in der ursprünglich übermittelten Form aufrechterhalte.
6. Mit Schreiben vom 14. September 2017 unterrichtete die Regierung den Gerichtshof von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der Frage der Anwendung von Artikel 41 der Konvention abzugeben. Ferner beantragte sie beim Gerichtshof, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
7. Die Erklärung lautete wie folgt:
„1. Eine gütliche Einigung ist gescheitert.
2. Die Bundesregierung ist bereit, aufgrund der konkreten Umstände dieses Einzelfalls eine Entschädigung in Höhe von 6.100,00 Euro an die Beschwerdeführerin zu leisten, wenn der Gerichtshof das Individualbeschwerdeverfahren unter der Bedingung der Zahlung dieses Betrages gemäß Art. 37 Abs. 1 c) EMRK aus dem Register streicht. Damit würden sämtliche Ansprüche der Beschwerdeführerin gegen die Bundesrepublik (d.h. gegen den Bund und/oder die Länder), Kosten und Auslagen als abgegolten gelten.
3. Der Betrag ist zahlbar innerhalb von drei Monaten nach Endgültigkeit der Entscheidung des Gerichtshofs über die Streichung der Rechtssache aus seinem Register.“
8. Die Regierung führte aus, dass sie zur Berechnung der angebotenen Entschädigung die folgenden Kriterien herangezogen habe: Was die Forderung der Beschwerdeführerin in Bezug auf den materiellen Schaden anbelangt, war die Regierung der Auffassung, dass der Beschwerdeführerin angesichts ihres früheren Vortrags gegenüber dem Gerichtshof ein Viertel des Wertes des Nachlasses ihres Vaters zugestanden hätte, wäre sie einem ehelichen Kind gleichgestellt worden. Daher könne die Beschwerdeführerin entsprechend der von ihr in ihren bisherigen Schriftsätzen vorgenommenen Schätzung des Nachlasswertes unter dieser Rubrik Anspruch auf 4.500 Euro erheben. Die Regierung trug ferner vor, dass die Beschwerdeführerin infolge der diskriminierenden Behandlung keinen immateriellen Schaden erlitten habe. Insbesondere hätte sie, auch wenn sie einem ehelichen Kind gleichgestellt gewesen wäre, gegenüber der Erbin (der Ehefrau ihres Vaters) ledig einen Anspruch auf Geld gehabt und keine persönlichen Gegenstände geerbt. Überdies habe die Beschwerdeführerin selbst vorgetragen, dass sie aufgrund der Tatsache, dass sie nicht erben würde, von ihrem Vater vor seinem Tod 5.000 Euro erhalten habe. Ferner errechnete die Regierung hinsichtlich der Kosten und Auslagen, die in dem innerstaatlichen Verfahren und dem Verfahren vor dem Gerichtshof entstanden waren, einen Betrag in Höhe von 1.600 Euro.
9. Mit Schreiben vom 18. Oktober 2017 erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei. Sie hob hervor, dass es ihr nach dem innerstaatlichen Recht noch immer nicht möglich sei, Informationen über die Höhe des Nachlasses ihres verstorbenen Vaters zu erhalten und ihre Forderungen hinsichtlich des materiellen Schadens zu substantiieren. Sie stimmte zu, dass ihr, wäre sie einem ehelichen Kind gleichgestellt worden, gegenüber der Erbin ein Viertel des Nachlasswertes als Pflichtteilsanspruch zugestanden hätte; sie schätzte diesen Anspruch auf 12.225 Euro. Ferner bestätigte sie, dass sie von ihrem Vater angesichts der Tatsache, dass sie nicht erben würde, vor seinem Tod 5.000 Euro erhalten habe, betonte allerdings, dass ihr Vater ihr diesen Betrag aus freiem Willensentschluss gegeben habe.
10. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Abs. 1 Buchst. a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“
11. Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde oder Teile davon auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c der Konvention aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht. Überdies spricht nichts dagegen, dass eine beschwerdegegnerische Regierung im Zusammenhang mit dem Vorbehaltsverfahren nach Artikel 41 eine einseitige Erklärung abgibt wie im hier vorliegenden Fall (siehe Racu ./. Moldau (Gerechte Entschädigung – Streichung), Individualbeschwerde Nr. 13136/07, Rdnr. 17, 20. April 2010; Megadat.com SRL ./. Moldau (Gerechte Entschädigung – Streichung), Individualbeschwerde Nr. 21151/04, Rdnr. 10, ECHR 2011; und A. u. a. ./. Deutschland (Gerechte Entschädigung – Streichung), Individualbeschwerde Nr. 5631/05, Rdnr. 17, 27. September 2012). Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung der Regierung sorgfältig im Lichte der im Zusammenhang mit Artikel 41 der Konvention geltenden allgemeinen Grundsätze (siehe z. B. Brumărescu ./. Rumänien (Gerechte Entschädigung) [GK], Individualbeschwerde Nr. 28342/95, Rdnrn. 19 bis 20, ECHR 2001‑I; Mullai u. a. ./. Albanien (Gerechte Entschädigung – Streichung), Individualbeschwerde Nr. 9074/07, Rdnr. 12, 18. Oktober 2011; und Bushati u. a. ./. Albanien (Gerechte Entschädigung – Streichung), Individualbeschwerde Nr. 6397/04, Rdnr. 10, 14. Februar 2012).
12. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Regierung ihrer Berechnung des von der Beschwerdeführerin erlittenen materiellen Schadens den Nachlasswert zugrunde legte, den die Beschwerdeführerin in ihren früheren Schriftsätzen geschätzt hatte (vgl. Rdnr. 3). Er stellt ferner fest, dass die Parteien dahingehend übereinstimmten, dass der Beschwerdeführerin gegenüber der Erbin ein Viertel des Nachlasswertes als Pflichtteilsanspruch zugestanden hätte, wäre sie einem ehelichen Kind gleichgestellt gewesen.
13. Was die von der Regierung vorgenommene Ermittlung des von der Beschwerdeführerin erlittenen immateriellen Schadens anbelangt, ist der Gerichtshof ausgehend von seiner Praxis (siehe z. B. Di Trizio ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 7186/09, Rdnr. 121, 2. Februar 2016; Biao ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 38590/10, Rdnr. 147, ECHR 2016; und Carvalho Pinto de Sousa Morais ./. Portugal, Individualbeschwerde Nr. 17484/15, Rdnr. 60, ECHR 2017) der Auffassung, dass Entschädigungen unter dieser Rubrik nach erfolgter Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 14 der Konvention i. V. m. Artikel 8 zugesprochen werden.
14. Der Gerichtshof hat zur Kenntnis genommen, dass die Regierung bei der Berechnung des zur Entschädigung für den erlittenen Schaden angebotenen Betrags die Ansicht vertrat, dass der Beschwerdeführerin kein immaterieller Schaden entstanden sei (siehe Rdnr. 8). Der Gerichtshof ist allerdings der Ansicht, dass er bei seiner Würdigung berücksichtigen sollte, ob der von der Regierung angebotene Betrag insgesamt mit der Praxis des Gerichtshofs nach Artikel 41 der Konvention vereinbar ist, dass die Beschwerdeführerin, weil sie nicht erben würde, von ihrem Vater vor seinem Tod 5.000 Euro erhalten hatte und dass die Regierung diesen Betrag nicht von ihrer angebotenen Entschädigungssumme abgezogen hat.
15. Ferner stellt der Gerichtshof hinsichtlich der von der Regierung vorgenommenen Berechnung der Kosten und Auslagen, die der Beschwerdeführerin entstanden sind, fest, dass die Regierung nunmehr im Wesentlichen in die Forderungen einwilligt, die die Beschwerdeführerin in ihrem ursprünglichen Schriftsatz nach Artikel 41 an das Gericht geltend gemacht hat, bevor das Haupturteil gefällt wurde (siehe Rdnr. 3).
16. Der Gerichtshof berücksichtigt die vorstehenden Erwägungen und befindet den von der Regierung angebotenen Gesamtentschädigungsbetrag für angemessen; auf diesen Betrag fallen im Verzugszeitraum einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht, wenn die Zahlung nicht innerhalb der in der einseitigen Erklärung der Regierung genannten Frist von drei Monaten (siehe Rdnr. 7) erfolgt. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, hinsichtlich des Vorbehaltsverfahrens nach Artikel 41 keine weitere Prüfung der Rechtssache erfordert. Daher sollte die Beschwerde im Übrigen im Register gestrichen werden (Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c).
AUS DIESEN GRÜNDEN ERKLÄRT DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Der Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung und die Modalitäten für die Erfüllung der unter Rdnr. 16 bezeichneten Verpflichtungen werden zur Kenntnis genommen und folglich wird angeordnet,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat der Beschwerdeführerin binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, 6.100 Euro (sechstausendeinhundert Euro) für den materiellen und immateriellen Schaden sowie die Kosten und Auslagen zu zahlen hat;
b) dass nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
2. im Übrigen wird die Beschwerde hinsichtlich des Vorbehaltsverfahrens nach Artikel 41 gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c der Konvention im Register gestrichen.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 25. Januar 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Erik Møse
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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