RECHTSSACHE EJIMSON ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 58681/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE E. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 58681/12)
URTEIL
STRASSBURG
1. März 2018

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache E. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits und
Lәtif Hüseynov
sowie Claudia Westerdiek, Stellvertretende Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 6. Februar 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 58681/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein nigerianischer Staatsangehöriger, E. („der Beschwerdeführer“), am 6. September 2012 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn T., Rechtsanwalt in T., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr und Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer behauptete, dass er durch die Entscheidung, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu versagen, in seinem durch Artikel 8 der Konvention garantierten Recht auf ein Familienleben mit seiner Tochter verletzt worden sei.

4. Am 12. Mai 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. in N. geboren und lebt in Zölling.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Der Beschwerdeführer besuchte in N. elf Jahre lang die Schule und übte dann in L. verschiedene berufliche Tätigkeiten aus. Nachdem er das Land verlassen hatte, lebte er von 1994 bis 1997 in S., zunächst von Sozialhilfe und später als Tagelöhner auf Bauernhöfen. 1997 kam er nach Deutschland und beantragte unter einer anderen Identität Asyl. Sein Antrag wurde im Juli 1998 endgültig abgelehnt. Zusammen mit einer deutschen Staatsangehörigen, mit der er eine Beziehung eingegangen war, verließ er Deutschland und zog nach I. Im Januar 1999 zog er nach S., wo er als Koch und Kellner in verschiedenen Restaurants arbeitete.

7. Im Oktober 2000 kehrte er nach Deutschland zurück. Am 21. Oktober 2000 wurde seine aus der oben erwähnten Beziehung hervorgegangene Tochter geboren. Die Tochter des Beschwerdeführers ist deutsche Staatsangehörige.

8. In den Jahren 2000 und 2001 lebten der Beschwerdeführer und die Kindesmutter zusammen. Die gemeinsame elterliche Sorge bestand von Beginn an und besteht weiter. Am 11. Dezember 2000 erteilte die Stadt M. dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen, die bis zum 1. Dezember 2001 gültig war.

9. Am 18. Juli 2001 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz festgenommen.

10. Am 28. Mai 2002 verurteilte ihn das Landgericht wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu acht Jahren Freiheitsstrafe. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer die Kindesmutter als Drogenkurierin angeworben und mit zwei im Sommer 1998 und Ende 1999/Anfang 2000 durchgeführten Kokaintransporten von Südamerika nach Europa beauftragt habe. Zugunsten des Beschwerdeführers berücksichtigte das Gericht, dass es sich um eine erstmalige Verurteilung gehandelt habe, dass die erste Lieferung nicht zustande gekommen sei (die Drogen gelangten nicht in den Handel) und dass der Angeklagte sich seit Juli 2001 in Untersuchungshaft befunden habe. Zulasten des Beschwerdeführers führte das Gericht an, dass er zwei junge Frauen, die zur Tatzeit noch Heranwachsende gewesen seien, als Drogenkurierinnen eingesetzt und damit der Gefahr ausgesetzt habe, in Südamerika zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt zu werden, dass er die Naivität der Mutter seiner Tochter ausgenutzt habe, dass im ersten Fall eine große Menge Kokain habe geschmuggelt werden sollen und im zweiten Fall vier Kilogramm Kokain nach Europa geschmuggelt worden seien und dass die gesamte Unternehmung sehr professionell abgewickelt worden sei. Außerdem stellte das Landgericht fest, dass eine Verurteilung wegen eines dritten Falles des Rauschgiftschmuggels nur deshalb nicht erfolgen könne, weil nicht feststellbar gewesen sei, wie viel Kokain genau in dem Koffer von Peru nach Spanien transportiert worden sei.

11. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Tochter und ihre Mutter ihn von 2001 bis 2003 in der Justizvollzugsanstalt besucht hätten und er, nachdem die Kindesmutter aufgehört habe, ihn zu besuchen, eine gerichtliche Entscheidung beantragt habe, um mit seiner Tochter Umgang zu haben. Am 4. Juli 2006 vereinbarten der Beschwerdeführer und die Kindesmutter vor dem Familiengericht M., dass unmittelbar nach seiner Haftentlassung beaufsichtigte Umgangskontakte mit seiner Tochter aufgenommen werden sollten. Ab dem 31. Januar 2008 besuchte die Tochter in Begleitung eines Pfarrers den Beschwerdeführer regelmäßig – alle vier Wochen für zwei Stunden – im Gefängnis.

12. Nachdem er die Freiheitsstrafe vollständig verbüßt hatte, wurde der Beschwerdeführer am 3. Juli 2009 entlassen. Er wurde bis zum 3. Juli 2013 unter Führungsaufsicht gestellt.

13. Nach seiner Entlassung erhielt der Beschwerdeführer eine Duldung gemäß § 60a des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) – nach den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Informationen wurde die Duldung zuletzt im Januar 2017 für den Zeitraum bis Juli 2017 gewährt. Somit war die Vollstreckung des Ausweisungsbescheides vorläufig ausgesetzt; die Ausweisung konnte nicht vollzogen werden, weil der Beschwerdeführer keinen gültigen Pass besaß (siehe Rdnrn. 28, 29 und 36 bis 42). Im April 2010 begann er eine Umschulung zum Kaufmann für Marketingkommunikation, die er im Juni 2012 erfolgreich abschloss; jedoch durfte er seit seiner Entlassung keine Erwerbstätigkeit ausüben.

14. Seit seiner Entlassung hat der Beschwerdeführer nicht mit seiner Tochter und ihrer Mutter zusammengelebt. Sie leben seit 2012 in verschiedenen Städten, wobei die Entfernung zwischen ihren jeweiligen Wohnungen zwischen 30 und 70 Kilometern und die Reisezeit zwischen vierzig Minuten und einer Stunde betrugen beziehungsweise betragen. Der Beschwerdeführer sieht seine Tochter regelmäßig und hat mit ihr engen Kontakt. Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass sie jedes zweite Wochenende bei ihm verbringt. Nach Aussage einer Sozialpädagogin ist der Vater für sie zu einer wichtigen Bezugsperson geworden. Die Tochter des Beschwerdeführers und ihre Mutter wünschen ausdrücklich, dass der Beschwerdeführer weiter Umgang mit seinem Kind haben kann.

15. Seit seiner Entlassung ist der Beschwerdeführer vom Amtsgericht M. der Begehung von drei Straftaten – Betrug im Jahr 2011 und Diebstahl in den Jahren 2015 und 2016 – schuldig gesprochen und zu Geldstrafen von 20, 30 bzw. 39 Tagessätzen verurteilt worden. Dass er sich, ohne eine Pass zu besitzen, im deutschen Hoheitsgebiet aufhielt, stellte ein andauerndes Vergehen nach dem Aufenthaltsgesetz dar. Das diesbezüglich geführte Strafverfahren wurde im November 2013 von der Staatsanwaltschaft eingestellt, da die Schuld des Beschwerdeführers als geringfügig anzusehen und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht gegeben sei. Die Angelegenheit wurde zur Verfolgung als Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde abgegeben.

B. DAS VERFAHREN ÜBER DIE ERTEILUNG EINER AUFENTHALTSERLAUBNIS

1. Das frühere Verfahren

16. Am 21. März 2003 lehnte die zuständige Behörde der Landeshauptstadt M. die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Beschwerdeführers ab und ordnete seine Ausweisung an. Sie befand, dass der Beschwerdeführer nach § 47 Abs. 1 des Ausländergesetzes (seit 2004: § 53 des Aufenthaltsgesetzes) zwingend auszuweisen sei, wenn er wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren oder wegen einer Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz zu einer (nicht zur Bewährung ausgesetzten) Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Die Behörde prüfte, ob der Beschwerdeführer einen besonderen Ausweisungsschutz genieße, weil er Vater eines deutschen Kindes sei. Sie stellte fest, dass der Beschwerdeführer vor seiner Inhaftierung nur für kurze Zeit mit seiner Tochter zusammengelebt habe, die Tochter daher bereits eine Trennung von dem Beschwerdeführer erlebt habe und das Interesse des Staates an der Ausweisung des Beschwerdeführers gegenüber seinem Interesse an einem Familienleben mit seiner Tochter überwiege. Er könne auf telefonische oder schriftliche Weise mit ihr in Kontakt bleiben oder Betretenserlaubnisse (Erlaubnisse zum zeitlich befristeten Aufenthalt in Deutschland) beantragen. Die Behörde war der Auffassung, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers mit Artikel 8 Abs. 2 der Konvention vereinbar sei. Diese Entscheidung, die auch ein unbefristetes Wiedereinreiseverbot und die Ankündigung enthielt, dass er nach N. abgeschoben werde, wenn er Deutschland nicht innerhalb von vier Wochen nach seiner Haftentlassung freiwillig verlasse, wurde am 26. August 2003 bestandskräftig.

17. Nachdem der Beschwerdeführer mehr als zwei Drittel seiner Freiheitsstrafe verbüßt hatte, fassten die Behörden am 15. November 2006 eine Abschiebung ab 1. November 2007 ins Auge.

18. Am 3. Dezember 2007 stellte der Beschwerdeführer einen neuen Antrag auf Asyl (siehe Rdnr. 6). Am 8. Februar 2008 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag nach § 30 Abs. 3 Asylverfahrensgesetz als offensichtlich unbegründet ab (siehe Rdnr. 33) und ordnete, da Hindernisse gegen seine Rückkehr in sein Heimatland nicht vorlägen, seine Abschiebung an. Die Entscheidung enthielt den Hinweis, dass er abgeschoben werde, wenn er Deutschland nicht innerhalb einer Woche nach Bestandskraft der Entscheidung [1]freiwillig verlasse. Am 6. März 2008 gab das Verwaltungsgericht M. dem Antrag des Beschwerdeführers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der von ihm im Asylverfahren erhobenen Klage statt. Am 8. September 2009 wies es seine Klage im Hauptsacheverfahren unter anderem deshalb ab, weil die Bindungen des Beschwerdeführers zu seiner Tochter im Asylverfahren nicht berücksichtigt werden könnten. Diese Entscheidung wurde am 1. Dezember 2009 rechtskräftig.

2. Das in Rede stehende Verfahren

19. Am 10. September 2009 beantragte der Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen.

20. Am 9. Februar 2010 lehnte die Landeshauptstadt M. seinen Antrag mit der Begründung ab, dass gegen den Beschwerdeführer ein bestandskräftiger Ausweisungsbescheid (vom 21. März 2003) vorliege, weswegen ihm keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden könne. Die Tatsache, dass seine Tochter deutsche Staatsangehörige sei, stelle kein Abschiebungshindernis dar. Der Beschwerdeführer könne durch Briefe, Telefonate und gelegentliche Besuche mit ihr in Kontakt bleiben. Seine Tochter sei daran gewöhnt, mit ihm auf große Distanz Kontakt zu halten. Er sei für die neuerliche Trennung verantwortlich und der Ausweisungszweck sei noch nicht erreicht. Gleichzeitig reduzierte das Gericht das Wiedereinreiseverbot auf fünf Jahre und entschied, dass der Beschwerdeführer frühestens ein Jahr nach erfolgter Ausreise pro Jahr zwei Betretenserlaubnisse mit einer Dauer von insgesamt vier Wochen beantragen könne.

21. Am 14. April 2010 hob das Verwaltungsgericht M. diese Entscheidung auf und verpflichtete die Verwaltungsbehörde, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Es stellte fest, dass bei dem Beschwerdeführer die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen vorlägen, der Erteilung einer solchen Erlaubnis jedoch die bestandskräftige Ausweisung entgegenstehe. Der Beschwerdeführer habe jedoch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, wobei der in dieser Bestimmung enthaltene Ermessensspielraum auf Null reduziert sei. § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes sei auf diese Bestimmung nicht anwendbar, und die Abschiebung des Beschwerdeführers sei wegen seines Familienlebens mit seiner Tochter, das u. a. nach Artikel 8 der Konvention geschützt sei, rechtlich unmöglich.

22. Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass trotz der Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftaten keine öffentlichen Belange erkennbar seien, denen Vorrang vor dem Kindeswohl und dem Interesse des Beschwerdeführers am Umgang mit seiner Tochter einzuräumen wäre. Die zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter bestehende Beziehung sei hinsichtlich ihrer Qualität als „Familie“ zu betrachten und ihre Bindung diene dem Kindeswohl. Es berücksichtigte, dass ein Zusammenleben nur in Deutschland möglich sei, da dem Kind nicht zuzumuten sei, nach N. umzuziehen; dass der Beschwerdeführer die Straftaten vor der Geburt seiner Tochter begangen habe; dass er als Vater große Anstrengungen unternommen habe, was sich auch daran zeige, dass er den weiteren Strafvollzug in Deutschland und den begleiteten Umgang mit seiner Tochter ab Januar 2008 der Strafaussetzung und Abschiebung ab 1. November 2007 vorgezogen habe; dass Letzteres eine Zäsur darstelle, die nach Eintritt der Rechtskraft des Ausweisungsbescheids eingetreten und von den Verwaltungsbehörden nicht berücksichtigt worden sei; dass das Kind bereits über viele Jahre während der Haftzeit des Vaters auf eine Vater-Kind-Beziehung habe verzichten müssen; dass die materiell-rechtliche Prüfung der Ausweisung am 21. März 2003, Jahre vor den späteren Entwicklungen in Bezug auf die Vater-Kind-Beziehung und weit entfernt vom Zeitpunkt der Vollziehung des Ausweisungsbescheids erfolgt sei und dass die Vollziehung des Ausweisungsbescheids in Verbindung mit dem Wiedereinreiseverbot dem Kind für den Rest seiner Kindheit eine normale Vater-Tochter-Beziehung verwehren würde.

23. Am 27. Juni 2011 hob der Verwaltungsgerichtshof dieses Urteil auf und befand, dass der Beschwerdeführer keine Aufenthaltserlaubnis beanspruchen könne. Es führte aus, dass sein Asylantrag nach § 30 Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden sei und ihm somit nach § 10 Abs. 3 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes vor der Ausreise aus Deutschland keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden dürfe (siehe Rdnr. 33). Die in Satz 3 dieses Absatzes vorgesehene Ausnahme sei nicht anwendbar, weil der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne dieser Vorschrift habe (siehe Rdnr. 34).

24. Erstens komme ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen nach § 27 f. des Aufenthaltsgesetzes wegen des bestandskräftigen Ausweisungsbescheids vom 21. März 2003 aufgrund von § 11 des Aufenthaltsgesetzes nicht in Betracht (siehe Rdnr. 35). Zweitens komme ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes nicht in Betracht, da der Beschwerdeführer keinen gültigen Pass besitze, was eine allgemeine Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei (siehe Rdnr. 32). Da die Entscheidung über ein Absehen von dieser Voraussetzung in Fällen, welche die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen beträfen, eine Ermessensentscheidung sei, habe der Beschwerdeführer auch dann keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes, wenn der Ermessensspielraum auf Null reduziert sei (siehe Rdnr. 34). Drittens stellte das Gericht, unter Verweis auf den Ausgang des Asylverfahrens in den Jahren 2008 und 2009 (siehe Rdnr. 18), fest, dass der Beschwerdeführer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auch nicht auf einer Rückkehr in sein Herkunftsland entgegenstehende Hindernisse stützen könne. Der Verwaltungsgerichtshof gelangte zu dem Schluss, dass es unter diesen Umständen nicht entscheidend sei, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes aufgrund der Bindungen zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter vorlägen, wenn der Asylantrag des Beschwerdeführers nicht abgelehnt worden wäre und machte zu diesem Aspekt keine Ausführungen.

25. Am 12. September 2011 erhob der Beschwerdeführer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision und begründete diese damit, dass sein Fall eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfe. Er brachte vor, dass er grundsätzlich einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes habe, da er, als Vater eines minderjährigen deutschen Kindes, für das er gemeinsam mit der Mutter die elterliche Sorge trage, Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen habe. Der Zweck von § 10 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes bestehe darin, den Missbrauch des Asylverfahrens zu sanktionieren; jedoch dürfe ein missbräuchlicher Asylantrag sich nicht negativ auswirken, wenn der Ausländer im Sinne jener Vorschrift Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe. Diesbezüglich müsse darauf abgestellt werden, ob die in der entsprechenden Vorschrift niedergelegten materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, in seinem Fall einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen, erfüllt seien oder nicht, und der Grund der Nichtverwirklichung dieses Anspruchs, in seinem Fall die bestandskräftige Ausweisung, dürfe nicht maßgeblich sein.

26. Am 16. Februar 2012 verwarf das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers. Es stellte fest, dass die in § 10 Abs. 3 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes vorgesehene Ausnahme nur Ansprüche erfasse, die sich unmittelbar aus gesetzlichen Vorschriften ergäben und bezüglich derer alle allgemeinen und spezifischen Voraussetzungen[2] erfüllt seien. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen stehe die bestandskräftige Ausweisung des Beschwerdeführers entgegen. Unter diesen Umständen komme die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen in Betracht. Da der Beschwerdeführer jedoch keinen gültigen Pass besitze, was eine allgemeine Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei, von der nur in den § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes betreffenden Fällen im Ermessenswege abgesehen werden könne, sei die in § 10 Abs. 3 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes vorgesehene Ausnahme nicht anwendbar. Der Beschluss wurde dem Beschwerdeführer am 22. Februar 2012 zugestellt.

27. Am 22. März 2012 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er machte darin geltend, dass die Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts sein Recht auf Achtung seines Familienlebens mit seiner Tochter verletzten. Am 18. Juli 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 657/12).

3. Weitere Entwicklungen

28. Die Landeshauptstadt M. forderte den Beschwerdeführer am 12. Juni 2012 auf, die nigerianische Botschaft in Deutschland aufzusuchen, damit für die anstehende Abschiebung ein Pass ausgestellt werden könne. Der Beschwerdeführer kam dieser Aufforderung jedoch nicht nach und erhob gegen den Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht M. Bei der gerichtlichen Anhörung am 1. August 2012 vereinbarten der Beschwerdeführer und die Behörde für Ausländerangelegenheiten Folgendes:

„- Die Wirkung der mit Bescheid vom 21. März 2003 ausgesprochenen Ausweisung wird auf 2,5 Jahre ab Ausreise befristet.

– Die Behörde für Ausländerangelegenheiten sichert zu, die Zustimmung für ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen. – Der Kläger erhält für den Fall, dass er nach Rückkehr weiterhin das Sorgerecht gemeinsam mit der Mutter ausübt, eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen. Für den Fall, dass der Kläger nach Rückkehr kein Sorgerecht mehr für seine Tochter hat, wird die Behörde für Ausländerangelegenheiten das ihr im Hinblick auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zustehende Ermessen zugunsten des Beschwerdeführers ausüben.

– All dies gilt nur, wenn der Beschwerdeführer nachweisen kann, dass er keine weiteren Straftaten begangen hat, und keine weiteren Ausweisungsgründe bekannt werden.

– Es wird eine Ausreisefrist bis zum 1. November 2012 gewährt.”

In Anbetracht dieser Vereinbarung nahm der Beschwerdeführer seine Klage zurück und das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht M. wurde eingestellt.

29. Am 25. September 2012 erklärte die Botschaft Nigerias in Deutschland, sie werde dem Beschwerdeführer keinen Pass ausstellen, solange das Verfahren vor dem Gerichtshof anhängig sei. Am 6. November 2012 teilte der Beschwerdeführer der Behörde für Ausländerangelegenheiten mit, dass er entgegen seiner ursprünglichen Planung und seiner Erklärung vor dem Verwaltungsgericht nicht ausreisen werde. Infolgedessen wurde die vor dem Verwaltungsgericht geschlossene Vereinbarung gegenstandslos.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen

30. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen ist hauptsächlich in den Bestimmungen über den Familiennachzug, also §§ 27 ff. des Aufenthaltsgesetzes, geregelt. Zur maßgeblichen Zeit sah § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 dieses Gesetzes vor, dem ausländischen sorgeberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen den Nachzug zum Kind in Deutschland zu gewähren, wenn die in § 5 des Aufenthaltsgesetzes enthaltenen allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (siehe Rdnr. 32) erfüllt waren und keine Ablehnungsgründe vorlagen (siehe Rdnrn. 34 und 35).

B. Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen

31. Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes kann einem Ausländer, gegen den eine vollziehbare Ausweisungsverfügung vorliegt, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Gemäß der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte kann eine Aufenthaltserlaubnis nach dieser Bestimmung nur erteilt werden, wenn sowohl die Abschiebung des Ausländers als auch seine freiwillige Ausreise unmöglich sind (siehe Bundesverwaltungsgericht, Az. 1 C 14/05, Rdnr. 15, Urteil vom 27. Juni 2006). Solche Hindernisse können die Bindungen des Ausländers an Deutschland betreffen, wozu auch sein Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens nach Artikel 8 der Konvention gehört, oder sich aus der Situation in dem Land ergeben, in das er abgeschoben werden soll (ebda., Rdnr. 17). § 25 Abs. 5 Satz 2 besagt, dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Damit eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes erteilt werden kann, müssen die allgemeinen Voraussetzungen nach § 5 des Aufenthaltsgesetzes erfüllt sein (siehe Rdnr. 32) und es dürfen keine Versagungsgründe vorliegen (siehe Rdnrn. 34 und 35).

C. Allgemeine Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis

32. § 5 des Aufenthaltsgesetzes beinhaltete allgemeine Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, wozu auch gehörte, dass die betreffende Person einen gültigen Pass hatte (§ 5 Abs. 1 Nr. 4). § 5 Abs. 3 sah in Bezug auf die Aufenthaltserlaubnis aus bestimmten Gründen zwingende oder ermessensabhängige Ausnahmen von der Passvorschrift vor. Im Hinblick auf die Aufenthaltserlaubnis aufgrund familiärer Bindungen waren keine Ausnahmen vorgesehen, wohingegen § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes eine ermessensabhängige Ausnahme bei Aufenthaltserlaubnissen aus humanitären Gründen vorsah.

D. Gründe für die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis

1. § 10 Nr. 3 des Aufenthaltsgesetzes

33. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes konnte einem Ausländer, bevor er ausgereist war, keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn sein Asylantrag nach § 30 Abs. 3 des Asylgesetzes (zuvor § 30 Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes) als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war. § 30 Abs. 3 des Asylgesetzes betraf einige, aber nicht alle Situationen, in denen Asylanträge offensichtlich unbegründet waren. § 10 Abs. 3 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes sah Ausnahmen von dieser Regel für Fälle vor, in denen die betreffende Person Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hatte oder nach § 25 Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes, der Fälle betraf, in denen ein Abschiebungsverbot vorlag, weil die Abschiebung gegen die Konvention verstoßen oder für den Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit darstellen würde, die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllte.

34. Nach der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte stellten nur die Ansprüche, die sich unmittelbar aus einer gesetzlichen Bestimmung ergaben und keine Ermessensausübung vorsahen, „Ansprüche“ auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 10 Abs. 3 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes dar, wohingegen auf einer Ermessensausübung beruhende Ansprüche auch dann nicht genügten, wenn in dem betreffenden Fall das Ermessen auf Null reduziert war (siehe Bundesverwaltungsgericht, Az. 1 C 37/07, Rdnr. 21, Urteil vom 16. Dezember 2008). Nur im Hinblick auf die erste Kategorie von Ansprüchen hatte sich der Gesetzgeber auf eindeutige und verbindliche, den für den Fall zuständigen Behörden – die nur zu prüfen hatten, ob die Voraussetzungen für den in Rede stehenden Anspruch erfüllt waren – kein Ermessen belassende Weise zugunsten des Bleiberechts des Ausländers entschieden (ebda.). Zieht man in Betracht, dass sich ein Verfahren zur Entscheidung über auf Ermessen beruhende Ansprüche in den verschiedenen Instanzen über Jahre hinziehen könnte, würde es den Zweck des in § 10 Abs. 3 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes enthaltenen Verbots – der Sanktionierung des Asylmissbrauchs in bestimmten Fallkonstellationen – untergraben, wenn es dem Ausländer erlaubt wäre, für die Dauer dieses Verfahrens in Deutschland zu bleiben (ebda., Rdnr. 22).

2. § 11 des Aufenthaltsgesetzes

35. § 11 des Aufenthaltsgesetzes, wie zur maßgeblichen Zeit geltend, sieht vor, dass ein Ausländer, der ausgewiesen worden ist, weder erneut nach Deutschland einreisen noch sich in Deutschland aufhalten darf. Ihm darf auch dann keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er nach diesem Gesetz die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt, es sei denn, er hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot kann befristet werden. Vor Ablauf dieser Frist kann dem Ausländer ausnahmsweise erlaubt werden, für einen kurzen Zeitraum nach Deutschland einzureisen, wenn diese Zeit aus zwingenden Gründen benötigt wird oder die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten würde.

E. Duldung

36. Einem Ausländer, dessen Ausweisung verfügt wurde, ist die vorgesehene Abschiebung zuvor schriftlich anzukündigen (§ 59 Abs. 1 AufenthG). Die Abschiebung muss nur einmal angekündigt werden und es bedarf folglich keiner Abschiebungsankündigung, wenn die Behörden bereits eine Ankündigung vorgenommen haben (siehe Nr. 1.3.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 59 AufenthG). Das Vorliegen von Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung steht der Abschiebungsankündigung nicht entgegen (§ 59 Abs. 3).

37. Ist die Abschiebung eines Ausländers vorübergehend ausgesetzt, weil sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist, sind die Behörden verpflichtet, ihm eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes zu erteilen. Die Duldung muss schriftlich erlassen werden (§ 60a Abs. 4). Die Gewährung der Duldung hat vor allem zur Folge, dass vermieden wird, dass sich der Ausländer nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes strafbar macht, weil er sich in Deutschland aufhält, obwohl gegen ihn eine Abschiebungsanordnung vorliegt. Die innerstaatliche Rechtssystematik sieht grundsätzlich keinen ungeregelten Aufenthalt in Deutschland vor (siehe Bundesverwaltungsgericht, Az. 1 C 23/99, Urteil vom 21. März 2000).

38. Hat der Ausländer keinen Pass, kann die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich sein. Das Fehlen eines Passes bedeutet für sich genommen jedoch noch nicht, dass die Abschiebung in allen Fällen aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Vielmehr verlangen die einschlägigen Verwaltungsvorschriften, dass nach den Erfahrungen der deutschen Behörden der betreffende Ausländer ohne Pass oder Passersatzpapiere nicht von den Behörden des übernehmenden Staates übernommen würde oder dass ein früherer Abschiebungsversuch gescheitert ist (siehe Nr. 2.1.2 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 60a AufenthG). Der Ausländer ist verpflichtet, in zumutbarer Weise an der Beschaffung eines Dokuments mitzuwirken, das die Durchführung seiner Abschiebung ermöglicht, und die Behörden dürfen ihn zwangsweise zur zuständigen Botschaft bringen (siehe § 48 Abs. 3 Satz 1, § 49 Abs. 2 und § 82 Abs. 4 AufenthG sowie Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Az. OVG 11 S 32.14, Beschluss vom 27. Mai 2014).

39. Eine Duldung stellt keinen Aufenthaltstitel im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Aufenthaltsgesetz dar. Ihre Dauer ist gesetzlich nicht festgelegt; sie ist variabel und reicht von einem Tag bis zu mehr als einem Jahr und kann so oft wie nötig erneuert werden.

40. Die Duldung berührt weder die Ausreisepflicht des Ausländers (§ 60a Abs. 3 AufenthG) noch die Vollziehbarkeit der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung (§ 58 Abs. 1 und § 59 Abs. 3 AufenthG). Sie ist zu widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Umstände entfallen (§ 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG), z. B. wenn der Ausländer, der nicht abgeschoben werden konnte, weil er keinen Pass hatte, einen Pass oder Passersatzdokumente enthält und keine weiteren der Abschiebung entgegenstehenden Umstände vorliegen. Gegen den Widerruf oder die Versagung der Duldung kann Klage zu den Verwaltungsgerichten erhoben werden.

41. Ist einer Person mehr als ein Jahr lang – auch kumulativ – Duldung gewährt worden und wurde die Duldung im Wege des Widerrufs beendet, ist die Abschiebung mindestens einen Monat vorher anzukündigen (§ 60a Abs. 5 Satz 4 AufenthG). Bestand die Duldung länger als ein Jahr, wurde aber durch Zeitablauf beendet, besteht keine Pflicht zur vorherigen Ankündigung der vorgesehenen Abschiebung (siehe Bundesgerichtshof, Az. V ZB 317/10, Rdnr. 10, Beschluss vom 10. November 2011; Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Az. 8 ME 47/10, Rdnr. 4, Beschluss vom 16. März 2010). 2007 hatte der Gesetzgeber bewusst entschieden, die Ankündigungspflicht auf Widerrufsfälle[3] zu beschränken
(ebda.). In jedem Fall darf der genaue Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden (§ 50 Abs. 1 Satz 8 AufenthG).

42. Erlischt die Duldung, ist der Ausländer unverzüglich ohne weitere Ankündigung der Abschiebung durch die Behörden und ohne erneute Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise abzuschieben (§ 60a Abs. 5 Satz 3 AufenthG). Ist die Ankündigung der Abschiebung (siehe Rdnr. 36) unanfechtbar geworden, liegt die Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung der von dem Ausländer geltend gemachten Umstände, die der Abschiebung entgegenstehen, im Ermessen der Behörden (siehe § 59 Abs. 4 AufenthG in fine); zu diesen Umständen gehören Rechte nach Artikel 8 der Konvention (siehe Nr. 4.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 59 AufenthG).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

UMFANG DER INDIVIDUALBESCHWERDE

43. Der Gerichtshof sieht es als erforderlich an, zunächst klar zu stellen, dass der Umfang der vorliegenden Rechtssache auf die Rüge beschränkt ist, die der Beschwerdeführer in seiner ursprünglichen Beschwerde zum Gerichtshof erhoben hat und die das Recht auf Achtung seines Familienlebens mit seiner Tochter betrifft. Er stellt fest, dass der Beschwerdeführer in seinem nach Mitteilung der Beschwerde übermittelten Schriftsatz erstmalig vorgebracht hat, dass ihm bei einer Abschiebung nach N. aufgrund der dortigen ernsthaften Menschenrechtsverletzungen Gefahr drohen würde. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass der zum Zeitpunkt der Einreichung der Beschwerde anwaltlich vertretene Beschwerdeführer die im Zusammenhang mit der vorliegenden Rechtssache erhobene Rüge, eine Abschiebung nach N. könne einen Verstoß gegen Artikel 3 der Konvention darstellen, wirksam geltend gemacht hat.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

44. Der Beschwerdeführer behauptete, dass er durch die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis in seinem durch Artikel 8 der Konvention garantierten Recht auf ein Familienleben mit seiner Tochter verletzt worden sei. Artikel 8 lautet, soweit einschlägig, wie folgt:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, […].

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten […]”

45. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

46. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

47. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Beziehung zu seiner Tochter nicht nur sein Privatleben, sondern auch sein Familienleben im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention betreffe. Sie hätten von der Geburt des Kindes im Oktober 2000 bis zu seiner Inhaftierung im Juli 2001 in einer Wohnung zusammengelebt. Im November 2000 hätten der Beschwerdeführer und die Mutter des Kindes erklärt, dass sie das Sorgerecht gemeinsam ausüben würden. Bis 2003 und dann wieder ab 2008 habe seine Tochter ihn im Gefängnis besucht. In der Zwischenzeit sei er dadurch mit ihr in Kontakt geblieben, dass er ihr Briefe geschrieben und Geschenke gesandt habe. Nach seiner Entlassung aus dem Strafvollzug habe sich ihr Verhältnis gefestigt und sei enger geworden. Sie hätten regelmäßigen Kontakt und verbrächten jedes zweite Wochenende gemeinsam; in den Ferien sähen sie einander noch öfter. Er gebe seiner Tochter monatlich Taschengeld und spiele hinsichtlich ihres täglichen Lebens und ihrer Entwicklung eine wichtige Rolle. Seine Tochter habe ihr enges Verhältnis und die Bedeutung seiner Liebe und Unterstützung in Briefen erläutert, die dem Gerichtshof übermittelt worden seien.

48. Er brachte vor, dass der Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Familienlebens nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention nicht gerechtfertigt sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten es versäumt, einen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen herbeizuführen. Sein Interesse daran, zur Ausübung seines Familienlebens mit seiner Tochter eine Aufenthaltserlaubnis zu erlangen, überwiege das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung und Verhütung von Straftaten. Es sei wahr, dass er zwischen 1988 und 2000 schwere Straftaten begangen habe, aber er habe seine Freiheitsstrafe vollständig verbüßt und nicht versucht, die Haftzeit durch eine Einwilligung in die Abschiebung auf zwei Drittel zu verkürzen. Er habe diese Straftaten vor der Geburt seiner Tochter begangen, sein Unrecht eingesehen und seither keine Drogendelikte mehr begangen. Die Straftaten, die er seit seiner Entlassung begangen habe, nämlich Diebstahl und Betrug, seien geringfügig und vor dem Hintergrund des Verbots einer Erwerbstätigkeit zu sehen. Seine Bindungen an Deutschland, wo er seit dem Jahr 2000 gelebt habe und wo er nach seiner Haftentlassung erfolgreich eine Umschulung absolviert habe und in die Gesellschaft integriert sei, seien viel enger als die an N., das er 1994 verlassen und seither nicht besucht habe, und wo ihm aufgrund der schlechten Menschenrechtslage Gefahr drohe.

49. Entgegen seiner Verpflichtung, dem Kindeswohl in allen Kinder betreffenden Entscheidungen zentrale Bedeutung einzuräumen, habe der Verwaltungsgerichtshof dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis aus formalen Erwägungen, insbesondere wegen des Fehlens eines gültigen Passes, versagt, ohne zu prüfen, was dem Wohl seiner Tochter entspreche (siehe Rdnrn. 23 und 24). Es entspreche ihrem Wohl, ihm in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Wenn ihm das Bleiberecht versagt und er nach N. abgeschoben würde, würde dies ihren Umgang unterbrechen, was durch Briefe oder Telefonate nicht angemessen ersetzt werden könne. Sie sei deutsche Staatsangehörige und lebe bei ihrer Mutter in Deutschland, die den Umgang befürworte. Sie habe keine Bindungen an N., es sei ihr nicht zuzumuten, ihm dorthin zu folgen und sie könne ihn aus finanziellen Gründen dort auch nicht besuchen. Sie habe bereits während der Inhaftierung ihres Vaters auf eine gelebte Vater-Kind-Beziehung verzichten müssen und ihr wäre diese Beziehung für den Rest ihrer Kindheit verwehrt, wenn er nicht in Deutschland bleiben dürfe.

b) Die Regierung

50. Die Regierung brachte vor, dass die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter kein „Familienleben“, sondern „Privatleben“ im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention darstelle und der Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigt sei. Sie bestritt, dass die Tochter des Beschwerdeführers ihn vor 2008 im Gefängnis besucht habe, dass er ihr vor 2007 Briefe geschrieben habe, dass er sie finanziell unterstütze und dass sie sich seit seiner Entlassung häufiger als alle zwei Wochen gesehen hätten. Sie betonte, dass der Beschwerdeführer und seine Tochter nie im selben Haushalt gewohnt hätten, außer während eines Zeitraums von neun Monaten in den Jahren 2000 und 2001, und dass eine gelebte Vater-Tochter-Beziehung bis 2009 nicht möglich gewesen sei, da er sich acht Jahre lang in Haft befunden habe. Seit seiner Entlassung aus dem Strafvollzug hätten sie nie im selben Haushalt gewohnt und seit 2012 hätten sie nicht einmal in derselben Stadt gewohnt. Über seine Beziehung zu seiner Tochter hinaus habe der Beschwerdeführer keine engen Bindungen an Deutschland, wohingegen er in N., wo er bis zum Alter von neunzehn Jahren gelebt und elf Jahre die Schule besucht habe, drei Geschwister habe.

51. Zugleich habe der Beschwerdeführer schwerste Drogenstraftaten begangen, was dadurch verdeutlicht werde, dass ihm eine achtjährige Freiheitsstrafe auferlegt worden sei. Nach seiner Entlassung aus dem Strafvollzug habe der Beschwerdeführer weitere Straftaten begangen. Unter diesen Umständen bestehe ein beträchtliches Interesse der Öffentlichkeit, andere von der Begehung solcher Taten abzuschrecken und den Beschwerdeführer an der Begehung weiterer Taten zu hindern, und dieses überwiege gegenüber dem Interesse des Beschwerdeführers, in Deutschland zu leben und hier regelmäßigen Umgang mit seiner Tochter zu haben. Der Ausweisungsbescheid gegen ihn sei bereits 2003 bestandskräftig geworden und habe nur deshalb nicht vollstreckt werden können, weil er sich keinen gültigen Pass besorgt habe, wozu er nach dem Aufenthaltsgesetz verpflichtet sei und wozu er problemlos in der Lage gewesen wäre. Obwohl er sich bereits lange in Deutschland aufgehalten habe, habe er nicht darauf vertrauen können, bleiben zu dürfen. Er habe nur etwa ein Jahr lang, von 2000 bis 2001, eine Aufenthaltserlaubnis besessen und seit 2003 liege ein bestandskräftiger Ausweisungsbescheid gegen ihn vor. Von seiner Zeit in Deutschland habe er acht Jahre im Strafvollzug verbracht und sei wegen der Begehung der erwähnten Straftaten dafür verantwortlich, dass ihm eine Aufenthaltserlaubnis versagt worden sei.

52. Dem Kindeswohl müsse zwar beträchtliches Gewicht beigemessen werden, es sei aber nicht allein maßgeblich. Es sei nicht erkennbar, dass die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis das Wohl seiner Tochter in einem Ausmaß beeinträchtigen würde, das gegen Artikel 8 Abs. 1 der Konvention verstoßen würde. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die ebenfalls sorgeberechtigte Mutter nicht in der Lage oder nicht willens sei, ihre Tochter aufzuziehen, oder dass die Tochter später nicht für sich selbst sorgen werde. Sie könne per E-Mail, Telefon oder Besuchen Kontakt mit ihrem Vater halten. Diesbezüglich sei zu berücksichtigen, dass die Dauer des Wiedereinreiseverbots für den Beschwerdeführer durch die Entscheidung der Stadt M. vom 9. Februar 2010 auf fünf Jahre beschränkt worden sei und dass er frühestens ein Jahr nach erfolgter Ausreise pro Jahr zwei Betretenserlaubnisse mit einer Dauer von insgesamt vier Wochen beantragen könne. Er hätte seine Situation weiter verbessern können, wenn er sich an den mit der Ausländerbehörde am 1. August 2012 geschlossene Vereinbarung gehalten hätte: Diese habe eine Verringerung der Dauer des Wiedereinreiseverbots auf zweieinhalb Jahre und die behördliche Bewilligung eines nachfolgenden Antrags auf Erteilung eines Visums zum Zwecke des Familiennachzugs vorgesehen, wenn er Deutschland bis zum 1. November 2012 verlasse. Diese Vereinbarung sei gegenstandslos geworden, da nicht willens gewesen sei, Deutschland wie vereinbart zu verlassen.

53. Schließlich sei der Verwaltungsgerichtshof nicht verpflichtet gewesen, eine Kindeswohlprüfung vorzunehmen, denn der Gesetzgeber habe durch die Bestimmung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 des Aufenthaltsgesetzes und die Vorschrift, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel einen gültigen Pass voraussetzt, bereits eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorgenommen und der Pflicht, über einen gültigen Pass zu verfügen, beträchtliches Gewicht beigemessen. Es gebe keinen guten Grund, von dieser Regel, beispielsweise wegen praktischer Schwierigkeiten bei der Erlangung eines Passes, abzuweichen, denn im Falle des Beschwerdeführers habe es keine solchen Schwierigkeiten gegeben.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

54. Der Gerichtshof stellt fest, dass es bei dem innerstaatlichen Verfahren, das dieser Beschwerde zugrunde liegt, ausschließlich um die Frage ging, ob der Beschwerdeführer trotz des gegen ihn erlassenen bestandskräftigen Ausweisungsbescheids Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hatte (siehe Rdnrn. 19 bis 27). Anders ausgedrückt geht es nicht darum, ob der Ausweisungsbescheid, der 2003 bestandskräftig wurde, mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs dazu aufgestellten Kriterien (siehe Üner ./. Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 46410/99, Rdnrn. 57-58, ECHR 2006‑XII) im Einklang stand, sondern darum, ob die nachfolgende Versagung einer Aufenthaltserlaubnis gegen Artikel 8 der Konvention verstieß oder nicht, d. h. darum, ob eine positive Verpflichtung der Behörden bestand, dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (vgl. Jeunesse ./. Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 12738/10, Rdnr. 105, 3. Oktober 2014; Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 50435/99, Rdnr. 38, ECHR 2006‑I).

55. Es ist zwischen den Parteien nicht streitig, dass der Beschwerdeführer der leibliche Vater einer im Oktober 2000 geborenen Tochter ist und bis zu seiner Inhaftierung im Juli 2001 neun Monate lang mit ihr zusammenlebte, dass der Beschwerdeführer von Anfang an mitsorgeberechtigt war und immer noch mitsorgeberechtigt ist, dass seine Tochter ihn seit Januar 2008 regelmäßig im Gefängnis besuchte, dass sie seit seiner Entlassung im Juli 2009 jedes zweite Wochenende gemeinsam verbrachten und dass die Tochter den ausdrücklichen Wunsch nach weiterem regelmäßigem Umgang mit ihm geäußert hat und vor den innerstaatlichen Behörden ausgesagt hat, er sei für sie zu einer wichtigen Bezugsperson geworden. Vor diesem Hintergrund ist der Gerichtshof davon überzeugt, dass das Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter zum Zeitpunkt der Rechtskraft der dem Beschwerdeführer die Aufenthaltserlaubnis versagenden Entscheidung am 16. Februar 2012 (siehe Rdnr. 26 sowie T ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 41548/06, Rdnr. 47, 13. Oktober 2011) „Familienleben“ im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention darstellte.

56. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 8 der Konvention weder einem Ausländer das Recht garantiert, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, noch einem Staat eine generelle Verpflichtung auferlegt, den Aufenthalt eines ausländischen Staatsangehörigen in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten (siehe Jeunesse, a.a.O., Rdnr. 100) oder einen bestimmten Aufenthaltstitel auszustellen (siehe Dremlyuga ./. Lettland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 66729/01, 29. April 2003). Jedoch hängt die Reichweite der Verpflichtungen eines Staates in einem Fall, der sowohl Familienleben als auch Einwanderung betrifft, von der konkreten Situation der betroffenen Personen und dem allgemeinen Interesse ab (Jeunesse, a.a.O., Rdnr. 107). Hinsichtlich der sich aus dieser Bestimmung ergebenden positiven und negativen Verpflichtungen gelten ähnliche Grundsätze. In beiden Fällen ist darauf zu achten, dass ein gerechter Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen des Einzelnen und denen der Gemeinschaft insgesamt herbeizuführen ist, und in beiden Fällen verfügt der Staat über einen gewissen Beurteilungsspielraum (ebda., Rdnr. 106).

57. Dabei zu berücksichtigende Faktoren sind das Ausmaß, in dem das Familienleben tatsächlich unterbrochen würde, das Ausmaß der Bindungen im Konventionsstaat, die Frage, ob dem Familienleben im Herkunftsland des betroffenen Ausländers unüberwindbare Hindernisse entgegenstehen, und die Frage, ob Faktoren der Einwanderungskontrolle oder Überlegungen der öffentlichen Ordnung für die Ausweisung sprechen (ebda., Rdnr. 107). Eine weitere wichtige Erwägung ist, ob das Familienleben zu einer Zeit begründet wurde, zu der den beteiligten Personen bekannt war, dass das Fortbestehen des Familienlebens im Gaststaat wegen des Einwanderungsstatus einer dieser beteiligten Personen von ihnen von Beginn an unsicher war (ebda., Rdnr. 108). Der Gerichtshof hat darüber hinaus festgestellt, dass in Fällen, in denen Kinder betroffen sind, das Kindeswohl berücksichtigt werden muss. Das Kindeswohl kann zwar nicht allein entscheidend sein, jedoch muss ihm erhebliches Gewicht beigemessen werden. Dementsprechend sollten nationale Entscheidungskörper grundsätzlich auf Anhaltspunkte bezüglich der Durchführbarkeit und Verhältnismäßigkeit der Ausweisung eines ausländischen Elternteils hinweisen und diese auswerten, um die unmittelbar betroffenen Kinder effektiv zu schützen und ihrem Wohl ausreichendes Gewicht zu geben (ebda., Rdnr. 109).

58. Der Gerichtshof stellt fest, dass gegen den Beschwerdeführer wegen der von ihm begangenen Drogendelikte ein bestandskräftiger Ausweisungsbescheid vom 21. März 2003 vorliegt, der weiterhin vollziehbar ist (siehe Rdnrn. 16 und 40), dass die Behörden ihn in zwei Verfahrenskomplexen über ihre Absicht, ihn nach N. abzuschieben, informiert haben (Rdnrn. 16, 18 und 36) und dass seine Abschiebung faktisch unmöglich war, weil er keinen gültigen Pass hatte (siehe Rdnrn. 13, 28, 29, 37 und 38). Das innerstaatliche Recht sieht außerdem vor, dass die dem Beschwerdeführer seit 2009 gewährte Duldung (siehe Rdnr. 13) zu widerrufen ist, sobald seine Abschiebung, vornehmlich weil die erforderlichen Papiere ausgestellt worden sind, nicht länger unmöglich ist (siehe Rdnr. 40). Dies ist in dem vorliegenden Fall jedoch noch nicht passiert. Der Beschwerdeführer hat auch nicht vorgebracht, dass seine Duldung durch Zeitablauf beendet und nicht verlängert worden sei.

59. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts im Jahre 2012 hatte der Beschwerdeführer schon mehr als 10 Jahre in Deutschland gelebt. Er hatte jedoch nur ein Jahr lang, von 2000 bis 2001, eine Aufenthaltserlaubnis besessen und acht Jahre im Gefängnis verbracht. Wegen seines Einwanderungsstatus zum Zeitpunkt der Begründung seines Familienlebens war sein Verbleib im Gastland von Beginn an unsicher. Seit seiner Entlassung aus dem Strafvollzug im Jahre 2009 war ihm eine Duldung gewährt worden und seine Abschiebung war vorübergehend ausgesetzt, weil er sich, entgegen seiner Verpflichtungen aus dem Aufenthaltsgesetz, keinen gültigen Pass beschafft hatte. Zwar schloss er 2012 eine Umschulung erfolgreich ab, durfte jedoch seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis keine Erwerbstätigkeit ausüben. Darüber hinaus handelte es sich bei den von dem Beschwerdeführer vor der Geburt seiner Tochter begangenen Drogendelikten um sehr schwere Straftaten und er hatte seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis weitere, allerdings weniger schwere, Straftaten begangen, was für seine Ausweisung aus Deutschland sprach (vgl. und im Gegensatz dazu Jeunesse, a.a.O., Rdnr. 116; Rodrigues da Silva und Hoogkamer, a.a.O., Rdnr. 43).

60. Die Tochter des Beschwerdeführers ist deutsche Staatsangehörige und war zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts elfeinhalb Jahre alt. Sie lebt bei ihrer Mutter, die ebenfalls deutsche Staatsangehörige und auch sorgeberechtigt ist, und es ist ihr nicht zuzumuten, nach N. zu ziehen, um dort ein Familienleben mit dem Beschwerdeführer zu führen. Der Kontakt könnte jedoch telefonisch und mittels verschiedener Formen der elektronischen Kommunikation aufrecht erhalten werden und im Falle seiner Abschiebung nach N. könnte der Beschwerdeführer, beginnend ein Jahr nach seiner Ausreise, zweimal pro Jahr für insgesamt vier Wochen nach Deutschland einreisen, um seine Tochter zu sehen. Auch galt die Ausweisung des Beschwerdeführers aus Deutschland nicht dauerhaft, sondern war auf fünf Jahre befristet (siehe Rdnr. 20).

61. Im Hinblick auf das Vorbringen des Beschwerdeführers, seine Tochter habe bereits während seiner Inhaftierung auf eine „gelebte“ Beziehung zu ihm verzichten müssen und ihr wäre diese Beziehung für den Rest ihrer Kindheit verwehrt, wenn er nicht in Deutschland bleiben dürfe, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Handlungen des Beschwerdeführers selbst zuvor dazu geführt hatten, dass sie auf eine solche Beziehung verzichten musste. Zweitens stellt der Gerichtshof fest, dass die Behörden den Beschwerdeführer während der Anhängigkeit des vorliegenden Verfahrens nicht abgeschoben haben. Im Lichte der Dauer dieses Verfahrens läge, falls der Beschwerdeführer schließlich nach N. abgeschoben würde, ein langer Zeitraum zwischen der endgültigen Entscheidung, mit der dem Beschwerdeführer am 16. Februar 2012 die Aufenthaltserlaubnis versagt wurde, und der tatsächlichen Abschiebung, was es dem Gerichtshof ermöglicht, die Entwicklungen während dieses Zeitraums in Betracht zu ziehen (siehe, sinngemäß, Maslov ./. Österreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 1638/03, Rdnrn. 92-95, ECHR 2008). Wenn das vorliegende Urteil rechtskräftig wird, wird die Tochter des Beschwerdeführers fast achtzehn Jahre alt sein. Das Argument, sie würde auf eine „gelebte“ Beziehung mit dem Beschwerdeführer verzichten müssen, wenn er nicht in Deutschland bleiben dürfe, verliert beträchtlich an Gewicht, wenn in Betracht gezogen wird, dass der Nichtvollzug der angeordneten Abschiebung während des oben dargelegten Zeitraums sichergestellt hat, dass der Beschwerdeführer, mit Ausnahme des im Strafvollzug verbrachten Zeitraums, während eines Großteils des Lebens seiner Tochter ein Familienleben mit ihr führen konnte.

62. Der Gerichtshof hat gewisse Vorbehalte hinsichtlich des Vorbringens der Regierung, die innerstaatlichen Gerichte seien nicht verpflichtet, im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter und das Kindeswohl eine explizite Prüfung vorzunehmen, da der Gesetzgeber bereits eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vorgenommen und der Pflicht, über einen gültigen Pass zu verfügen, beträchtliches Gewicht beigemessen habe (siehe Rdnr. 53). Er stellt fest, dass die Behörden zuletzt im Jahre 2003, als sie den Ausweisungsbescheid gegen den Beschwerdeführer erließen, im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter und die Belange der Tochter eine Interessenabwägung vornahmen (siehe Rdnrn. 16 und 18). Es kann vernünftigerweise nicht davon ausgegangen werden, dass die Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Tochter zwischen 2003 und 2012 dieselbe geblieben ist. Wiederum unter Berücksichtigung der Entwicklungen, die seit der rechtskräftigen Entscheidung über die Aufenthaltserlaubnis eingetreten sind, stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass sich die Ausländerbehörden am 1. August 2012 um eine Vereinbarung mit dem Beschwerdeführer bemühten, die ihm erlaubt hätte, zweieinhalb Jahre nach der vorgesehenen Abschiebung wieder nach Deutschland einzureisen (siehe Rdnrn. 28 und 29). Diese Vereinbarung kann als nachträgliche Abwägung angesehen werden, bei der die individuellen Umstände der Rechtssache berücksichtigt wurden.

63. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer gemäß dem innerstaatlichen Recht in der Lage wäre, den Widerruf seiner Duldung – oder die Nichtgewährung einer weiteren Duldung bei Verlust der Duldung durch Zeitablauf – vor den Verwaltungsgerichten anzufechten (siehe Rdnr. 40). Er wäre unter diesen Umständen nicht daran gehindert, vorzubringen, dass seine Abschiebung nunmehr aus rechtlichen Gründen, insbesondere wegen seiner Rechte nach Artikel 8 der Konvention, unmöglich wäre, und die innerstaatlichen Behörden würden diese Vorbringen prüfen können (siehe Rdnrn. 40 und 42).

64. Die vorstehenden Ausführungen sind ausreichend, um dem Gerichtshof, im Hinblick auf das Verfahren als Ganzes, einschließlich der Vereinbarung vom 1. August 2012, die Schlussfolgerung zu erlauben, dass die innerstaatlichen Behörden dem allgemeinen Interesse an der Kontrolle der Einwanderung kein übermäßiges Gewicht beigemessen und den ihnen zustehenden Ermessensspielraum unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht überschritten haben.

65. Folglich ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 1. März 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                                   Erik Møse
Kanzlerin                                                  Präsident

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[1] Anm. d. Übers.: Im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 08.02.2008 heißt es: „innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung“
[2] Anm. d. Übers.: In dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts heißt es: „zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen“

[3] Anm. d. Übers.: Die in der Originalfassung des Urteils verwendete englische Formulierung “in cases of“ ist inhaltlich nicht zutreffend.

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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