Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE P. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 22692/15)
URTEIL
STRASSBURG
8. März 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache P. ./. Deutschland
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion), als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger,
Yonko Grozev,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 30. Januar 2018
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 22692/15) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein russischer Staatsangehöriger, P. („der Beschwerdeführer“), am 11. Mai 2015 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Frau R., Rechtsanwältin in K., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr und Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Unter Berufung auf Artikel 5 Abs. 1 und 4 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass das zuständige innerstaatliche Gericht es versäumt habe, die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft zu überprüfen, bzw. diese Überprüfung erheblich verzögert habe. Er brachte vor, dass dies zu einer automatischen und willkürlichen Fortdauer seiner Haft geführt habe und er dadurch in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt worden sei.
4. Am 8. November 2016 wurden diese Rügen der Regierung übermittelt und die Beschwerde im Übrigen nach Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs für unzulässig erklärt.
5. Die russische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren unterrichtet worden war (Artikel 36 Abs. 1 der Konvention und Artikel 44 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs), hat erklärt, dass sie dieses Recht nicht ausüben wolle.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
6. Der 19.. geborene Beschwerdeführer lebt in F.
A. Der Hintergrund der Rechtssache
7. Am 30. Oktober 2013 erließ das Amtsgericht einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer wegen des dringenden Verdachts, durch ein ausgeklügeltes System von Bestechungsgeldern und Scheinrechnungen im Zusammenhang mit den internationalen Geschäftstätigkeiten eines Unternehmens Beihilfe zur Begehung von Straftaten im Bereich von mehreren Millionen Euro – konkret Untreue in einem besonders schweren Fall, Bestechung, Bestechung im geschäftlichen Verkehr und Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall – geleistet zu haben. Der Haftbefehl wurde damit begründet, dass aufgrund der sehr hohen Straferwartung wegen der in Rede stehenden Taten Fluchtgefahr bestehe. Ferner sei er mit der Mitbeschuldigten verheiratet, die ebenfalls russische Staatsangehörige sei, und verfüge über keinen festen Wohnsitz oder sonstige wesentliche Bindungen in Deutschland. Zudem bestehe Verdunkelungsgefahr. Am selben Tag wurde er festgenommen und das Amtsgericht ordnete seine Untersuchungshaft an. Am 11. September 2014 erweiterte das Amtsgericht den Haftbefehl.
8. Am 19. Dezember 2014 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Beschwerdeführer und legte ihm Beihilfe zur Untreue in einem besonders schweren Fall in acht Fällen, Beihilfe zur Bestechung in einem besonders schweren Fall in einem Fall und Beihilfe zur Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall in 14 Fällen zur Last. Am 26. Januar 2015 sandte das Landgericht A. dem Beschwerdeführer die Übersetzung der 280 Seiten umfassenden Anklageschrift zu. Am 6. März 2015 nahm er zu der Anklageschrift Stellung und beantragte bei dem Gericht, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen. Am 18. März 2015 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Landgericht, aufgrund der durch die Ermittlungen nach der Anklageerhebung erlangten Erkenntnisse das Verfahren gegen den Beschwerdeführer zu erweitern.
9. Mit Beschluss des Landgerichts vom 6. Mai 2015 wurde das Hauptverfahren eröffnet, die Hauptverhandlung begann am 8. Juni 2015. Am 14. Juli 2016 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen Beihilfe zur Untreue und Steuerhinterziehung in jeweils fünf Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten. Die Verurteilung ist noch nicht rechtskräftig und die vom Beschwerdeführer und der Staatsanwaltschaft eingelegten Revisionen waren zum Zeitpunkt der Prüfung der Individualbeschwerde durch den Gerichtshof noch anhängig.
10. Mit Beschluss des Amtsgerichts vom 26. Oktober 2016 wurde der Haftbefehl vom 30. Oktober 2013, der von Anfang an die Grundlage für die fortdauernde Untersuchungshaft des Beschwerdeführers war, ausgesetzt.
B. Das Haftprüfungsverfahren
11. Vom 15. Januar 2014 an hat der Beschwerdeführer vergeblich die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft vor dem Amtsgericht und dem Landgericht B. angefochten. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das Oberlandesgericht am 28. Juli 2014 die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers an. Ferner ordnete es an, dass ihm die Verfahrensakte spätestens am 28. Oktober 2014 zur nächsten Haftprüfung vorzulegen sei. Bis dahin übertrug es die weitere Haftprüfung dem gemäß den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht (siehe Rdnrn. 21 und 22). Es war der Auffassung, dass bei dem Beschwerdeführer Fluchtgefahr bestehe und dass die Fortdauer der Untersuchungshaft in Anbetracht der ihm im Falle eines Schuldspruchs drohenden Strafe nicht unverhältnismäßig sei. Am 5. September 2014 legte der Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Das Gericht lehnte es ohne Begründung ab, die Beschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2050/14); diese Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer am 6. Oktober 2014 zugestellt.
12. Im Anschluss strengte der Beschwerdeführer ein weiteres Überprüfungsverfahren vor dem Amtsgericht an und lehnte den zuständigen Richter wegen der Besorgnis des Befangenheit ab. Der Antrag wurde schließlich im Einklang mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren zurückgewiesen, ebenso die von dem Beschwerdeführer eingelegten Rechtsbehelfe. Am 8. Dezember 2014 wies das Amtsgericht einen Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Haftbefehls wegen prozessualer Überholung zurück, weil das Oberlandesgericht bereits mit der Haftprüfungsentscheidung nach §§ 121 ff. Strafprozessordnung (StPO) befasst gewesen sei.
13. Am 24. Oktober 2014 legte die Generalstaatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht eine Stellungnahme und die Verfahrensakte vor und beantragte die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers gemäß § 121 f. StPO.
14. Am 7. November 2014 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung des Haftbefehls. Ferner beantragte er, dass das Oberlandesgericht vor Ablauf der ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme zu dem Schriftsatz der Generalstaatsanwaltschaft zunächst die von ihm gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 28. Juli 2014 erhobene Gegenvorstellung und Anhörungsrüge vom 25. August 2014 bescheiden solle. Am 10. November 2014 wies das Oberlandesgericht die Gegenvorstellung und die Anhörungsrüge zurück.
15. Am 19. November 2014 wurden dem Beschwerdeführer auf seinen entsprechenden Antrag vom selben Tag hin die zur Entscheidung über die Fortdauer seiner Haft berufenen Richter namhaft gemacht. Am 25. November 2014 lehnte der Beschwerdeführer zwei der drei betreffenden Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit ab und begründete dies damit, dass sie sich, um die Verfahrensakte anzufordern, wiederholt an die falschen Stellen gewandt hätten – das Amtsgericht oder das Landgericht B. statt der Staatsanwaltschaft – und dass sie zweieinhalb Monate gebraucht hätten, um über seine Gegenvorstellung und seine Anhörungsrüge zu entscheiden. Dies habe eine willkürliche Behandlung seiner Sache dargestellt, und die beteiligten Richter könnten über die Fortdauer seiner Haft nicht mit der gebotenen Unparteilichkeit entscheiden. Die Richter gaben ihre Stellungnahmen am 27. November 2014 bzw. 1. Dezember 2014 ab. Der Beschwerdeführer beantragte daraufhin weitere Erklärungen von ihnen, deren Abgabe seitens des Oberlandesgerichts am 11. Dezember 2014 als nicht erforderlich erachtet wurde. Vier Tage später stellte der Beschwerdeführer erneut ein Ablehnungsgesuch und begründete dies damit, dass ihre Stellungnahmen zu seinem ersten Gesuch nicht geeignet seien, um sein Vertrauen in ihre Unparteilichkeit wiederherzustellen. Die betreffenden Richter gaben erneut Stellungnahmen ab, und dem Verteidiger des Beschwerdeführers wurde Gelegenheit gegeben, darauf zu erwidern. Am 30. Dezember 2014 wies das Oberlandesgericht das erste Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers als unbegründet zurück und stellte fest, es gebe keine Anhaltspunkte für eine Parteilichkeit der betreffenden Richter, selbst unter der Annahme, dass ihnen im Zusammenhang mit der Anforderung der Akte ein Verfahrensfehler unterlaufen sei, der zu einer Verzögerung der Entscheidung über seine Gegenvorstellung und seine Anhörungsrüge geführt habe. Am 8. Januar 2015 erhob der Beschwerdeführer Gegenvorstellung zu diesem Beschluss. Am 22. Januar 2015 wies das Oberlandesgericht das zweite Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers als unbegründet zurück und ging in seiner Entscheidung auch auf seine Gegenvorstellung ein.
16. Am 26. Januar 2015 erkundigte sich das Oberlandesgericht beim Landgericht B. nach dem Stand des Strafverfahrens und den Entwicklungen in dem Fall. Das Oberlandesgericht wurde von der Staatsanwaltschaft darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Anklage vor dem Landgericht A. und nicht vor dem Landgericht B. erhoben worden sei, woraufhin das Oberlandesgericht am 3. Februar 2015 eine entsprechende Anfrage an das betreffende Gericht richtete.
17. Am 10. März 2015 übersandte der Verteidiger des Beschwerdeführers zwei umfangreiche, im Hauptverfahren vor dem Landgericht abgegebene Stellungnahmen an das Oberlandegericht zur dortigen Beachtung bei der Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers.
18. Am 27. März 2015 und am 10. April 2015 beantragte der Beschwerdeführer beim Oberlandesgericht, unverzüglich in dem anhängigen Haftprüfungsverfahren zu entscheiden.
19. Am 21. April 2015 legte der Beschwerdeführer erneut Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein, mit der er geltend machte, dass er infolge des Unterbleibens einer Entscheidung des Oberlandesgerichts in dem anhängigen Haftprüfungsverfahren in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt worden sei. Am 27. April 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Beschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 726/15).
20. Am 15. Mai 2015 wurde dem Beschwerdeführer ein Beschluss des Oberlandesgerichts zugestellt, der am 15. April 2015 erlassen und dessen Zustellung am 13. Mai 2015 veranlasst wurde und in dem die Fortdauer seiner Untersuchungshaft angeordnet wurde. Darin stellte das Gericht fest, dass bei ihm weiterhin Fluchtgefahr bestehe. Ferner vertrat es die Ansicht, dass es in Anbetracht u. a. der Menge der zu prüfenden Beweismittel, der an verschiedene Länder gestellten Rechtshilfeersuchen und des Umfangs und der Komplexität des Falls sowie im Hinblick darauf, dass der Prozess im Juni 2015 beginnen sollte, keine Anhaltspunkte für eine ungebührliche Verzögerung des Strafverfahrens gebe. Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers sei daher verhältnismäßig. Das Gericht ging weder auf die Dauer des Haftprüfungsverfahrens ein, noch gab es Gründe dafür an.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
21. Nach § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Gemäß § 122 StPO ist das Oberlandesgericht für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft über die Sechsmonatsfrist hinaus und für die weitere Prüfung, die ab dem Datum der letzten Haftprüfungsentscheidung jeweils spätestens nach drei Monaten wiederholt werden muss, zuständig (§ 122 Abs. 4 Satz 2 StPO). Werden die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf der Frist vorgelegt, so ruht der Fristenlauf, sowohl bezüglich der 6-Monatshaftprüfung als auch der regelmäßigen Überprüfungen im dreimonatigen Turnus, bis zu dessen Entscheidung (§ 121 Abs. 3 Satz 1 StPO; Oberlandesgericht Oldenburg, JZ 1965, S. 770). Es gibt keine bestimmte Frist für die Entscheidung des Oberlandesgerichts. Vor der Entscheidung sind der Beschuldigte und der Verteidiger zu hören (§ 122 Abs. 2 Satz 1 StPO).
22. Solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft ist, kann er jederzeit die gerichtliche Überprüfung einer Haftentscheidung oder die Prüfung beantragen, ob der Vollzug des Haftbefehls auszusetzen ist (§ 117 Abs. 1 StPO). Ordnet das Oberlandesgericht im Anschluss an eine Prüfung gemäß §§ 121 und 122 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft an, ist es nach § 122 Abs. 3 für die von dem Beschwerdeführer gemäß § 117 Abs. 1 StPO beantragten weiteren Haftprüfungen zuständig, es sei denn, es überträgt die Haftprüfung für die Zeit von jeweils höchstens drei Monaten dem Gericht, das nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständig ist. In der Regel ist dies das Gericht, dass den Haftbefehl erlassen hat und, wenn öffentliche Klage erhoben worden ist, das mit der Sache befasste Gericht (§ 126 StPO).
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 DER KONVENTION
23. Unter Berufung auf Artikel 5 Abs. 1 und 4 der Konvention rügte der Beschwerdeführer, dass das zuständige innerstaatliche Gericht es versäumt habe, die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft zu überprüfen, bzw. diese Überprüfung erheblich verzögert habe. Dies habe zu einer automatischen und willkürlichen Fortdauer seiner Haft geführt, wodurch er in seinem Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt worden sei.
A. Behauptete Verletzung von Artikel 5 Absatz 4 der Konvention
24. Der Gerichtshof hält es für angemessen, die Rüge zunächst nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention zu prüfen, der soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(4) Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“
25. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
1. Zulässigkeit
26. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
2. Begründetheit:
(a) Das Vorbringen der Parteien
(i) Der Beschwerdeführer
27. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass Artikel 5 der Konvention von den innerstaatlichen Gerichten verlange, die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung einer Person in regelmäßigen Zeitabständen zu überprüfen. Im innerstaatlichen Recht sei diese Verpflichtung in §§ 121 und 122 StPO verankert, wonach das Oberlandesgericht jeweils nach spätestens drei Monaten eine Prüfung durchführen müsse, sobald die Dauer der Untersuchungshaft sechs Monate überschritten habe. Er machte geltend, dass es das Oberlandesgericht willkürlich unterlassen habe, zwischen dem 28. Juli 2014 und dem 15. April 2015 eine solche Prüfung durchzuführen. Es habe seine Entscheidung mehr als fünf Monate nach seinem Antrag vom 7. November 2014 auf Aufhebung des Haftbefehls erlassen.
28. Die Unterlassung bzw. erhebliche Verzögerung der Entscheidung des Oberlandesgerichts sei nicht zu rechtfertigen. Es stimme zwar, dass er zwei Ablehnungsgesuche gestellt habe, jedoch habe er angesichts der nachlässigen und willkürlichen Behandlung seiner Gegenvorstellung und seiner Anhörungsrüge durch die betreffenden Richter gute Gründe für die Befürchtung, dass diese nicht unparteiisch seien. Auch das Verfahren betreffend seine Ablehnungsgesuche sei nicht mit der gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Es sollte ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er seine Verfahrensrechte wahrnehme.
29. Ferner hätten weder die Komplexität des Strafverfahrens, die er nicht für außergewöhnlich halte, noch der Umfang der Bewertung durch das Oberlandesgericht die lange Verzögerung des Haftprüfungsverfahrens gerechtfertigt. Vielmehr habe das Oberlandesgericht nicht mit der angesichts seiner Haft gebotenen „besonderen Zügigkeit“ gehandelt. Nachdem es am 22. Januar 2015 über sein zweites Ablehnungsgesuch entschieden habe, habe sich das Oberlandesgericht am 26. Januar 2015 an das falsche Gericht gewandt, um sich nach dem Stand des Strafverfahrens und den Entwicklungen in dem Fall zu erkundigen. Es habe bis zum 3. Februar 2015 gedauert, bis es beim Landgericht A. angefragt habe, wo am 19. Dezember 2014 Anklage erhoben worden sei. Er habe beim Oberlandesgericht sogar zweimal beantragt, unverzüglich in dem anhängigen Haftprüfungsverfahren zu entscheiden, nämlich am 27. März 2015 und 10. April 2015.
(ii) Die Regierung
30. Die Regierung trug vor, dass die materiellrechtlichen Voraussetzungen für die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchst. c der Konvention erfüllt gewesen seien. Es habe ein hinreichender Verdacht der Beihilfe zur Untreue in einem besonders schweren Fall, zur Bestechung, zur Bestechung im geschäftlichen Verkehr und zur Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall gegen ihn sowie Fluchtgefahr bestanden. Sie wies darauf hin, dass das Haftprüfungsverfahren am 24. Oktober 2014 mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Fortdauer der Untersuchungshaft begonnen habe, also weniger als drei Monate nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 28. Juli 2014. Der Fristenlauf habe nach dem innerstaatlichen Recht von diesem Zeitpunkt an geruht. Die innerstaatliche Rechtsordnung und auch die Konvention sähen keine bestimmte Frist für die Entscheidung des Oberlandesgerichts vor.
31. Das Oberlandesgericht habe aufgrund des Verhaltens des Beschwerdeführers und der von dem Gericht zu beachtenden Verfahrensgarantien nicht vor dem 22. Januar 2015 entscheiden können. Zunächst habe es dem Beschwerdeführer Gelegenheit geben müssen, auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft zu erwidern. In seiner Erwiderung habe der Beschwerdeführer beantragt, dass das Gericht zunächst über ein früheres Vorbringen entscheiden solle, was es am 10. November 2014 auch getan habe. Er habe dann am 25. November 2014 bzw. 15. Dezember 2014 zwei Ablehnungsgesuche gestellt, was bedeutet habe, dass Stellungnahmen hätten eingeholt, ausgetauscht und bewertet werden müssen. Die betreffenden Richter hätten vor der Entscheidung über sein zweites Ablehnungsgesuch nicht über die Rechtmäßigkeit seiner Haft entscheiden können. Beide Ablehnungsgesuche seien mit der gebotenen Zügigkeit bearbeitet worden. Die Regierung betonte, dass für den Verteidiger des Beschwerdeführers von Anfang an habe erkennbar sein müssen, dass die Ablehnungsgesuche unbegründet gewesen seien und nur zu Verzögerungen führen würden, was auf einen Missbrauch von Verfahrensrechten hindeute.
32. Bis zum 22. Januar 2015 habe sich die zu beurteilende Situation gegenüber der Situation zu Beginn des Haftprüfungsverfahrens grundlegend verändert. Die Staatsanwaltschaft habe am 19. Dezember 2014 Anklage erhoben und die Verfahrensakte sei erheblich angewachsen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts habe das Oberlandesgericht eine umfassende Bewertung vornehmen müssen, u. a. der Führung des Strafverfahrens sowie der Frage, ob es ungebührliche Verzögerungen gegeben habe, durch die die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig geworden wäre. Insoweit sei darauf hinzuweisen, dass das in Rede stehende Strafverfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht außerordentlich komplex sei. Die Ermittlungen hätten sich auf Geschäftstätigkeiten in mehreren Ländern und 26 Beschuldigte erstreckt. Ferner habe die gesamte, mehrere tausend Seiten umfassende Verfahrensakte geprüft werden müssen. Unter diesen Umständen und in Anbetracht dessen, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers am 10. März 2015 zwei umfangreiche Schriftsätze übersandt habe, die hätten berücksichtigt werden müssen, sei die Dauer des Haftprüfungsverfahrens, das mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 15. April 2015 geendet habe, nicht unangemessen gewesen.
(b) Würdigung durch den Gerichtshof
33. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Begriff „innerhalb kurzer Frist“ nicht abstrakt definiert werden kann und im Lichte der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden muss, darunter die Komplexität des Verfahrens, das Verhalten der innerstaatlichen Behörden und des Beschwerdeführers sowie die Bedeutung der Rechtssache für die Interessen des Beschwerdeführers (M. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11364/03, Rdnr. 106, 9. Juli 2009). Der Maßstab „innerhalb kurzer Frist“ ist weniger streng, wenn es um das Rechtsmittelverfahren geht (Abdulkhakov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 14743/11, Rdnr. 198, 2. Oktober 2012). Dennoch besteht bei schwebenden Strafverfahren eine besondere Notwendigkeit, zügig über die Rechtmäßigkeit der Haft zu entscheiden, weil der Angeklagte in vollem Umfang von dem Grundsatz der Unschuldsvermutung profitieren soll (Frasik ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 22933/02, Rdnr. 63, ECHR 2010 (Auszüge)). Zu beurteilen ist, mit welcher Zügigkeit die Behörden vorgegangen sind (Abdulkhakov, a. a. O., Rdnr 199).
34. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers von zwei unterschiedlichen Blickwinkeln aus nach Artikel 5 Abs. 4 geprüft werden kann: erstens durch die Betrachtung des Zeitabstands zwischen den Entscheidungen des Oberlandesgerichts über die Rechtmäßigkeit seiner Untersuchungshaft (siehe Abdulkhakov, a. a. O. Rdnr. 213, mit weiteren Nachweisen) und zweitens durch die Prüfung des Fehlens einer gerichtlichen Entscheidung innerhalb kurzer Zeit nach Einleitung des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht (siehe G.B. ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 27426/95, Rdnr. 32, 30. November 2000).
35. Zunächst ausgehend von letzterem Blickwinkel erinnert der Gerichtshof daran, dass sich der zu berücksichtigende Zeitraum von der Einleitung des Haftprüfungsverfahrens (Sanchez-Reisse ./. Schweiz, 21. Oktober 1986, Rdnr. 54, Serie A Nr. 107) bis zur Zustellung der Entscheidung an den Beschwerdeführer (siehe Jablonski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 33492/96, Rdnr. 88, 21. Dezember 2000) erstreckt, im vorliegenden Fall also vom 24. Oktober 2014 bis zum 15. Mai 2015. Angesichts der verhältnismäßig strengen Maßstäbe, die der Gerichtshof insoweit in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat (siehe Rdnr. 40), ist diese Dauer von sechseinhalb Monaten dem ersten Anschein nach mit dem Begriff der kurzen Frist unvereinbar, insbesondere wenn es um die Prüfung einer Untersuchungshaft geht.
36. Unter solchen Umständen erwartet der Gerichtshof von dem betreffenden Staat, dass er die Ursache der Verzögerung erläutert und außergewöhnliche Gründe vorbringt, um den fraglichen Zeitablauf zu rechtfertigen (siehe Musiał ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 24557/94, Rdnr. 44, ECHR 1999‑II).
37. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Verzögerung zwischen dem 24. Oktober 2014 und dem 22. Januar 2015 zum einen durch die Verfahrensgarantien, die es zu beachten galt, und zum anderen vor allem durch das Verhalten des Beschwerdeführers, der zwei Ablehnungsgesuche stellte, erklärt werden kann.
38. Was die Zeit vom 22. Januar 2015 bis zum 15. Mai 2015 angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass zu Beginn dieses Zeitraums bereits drei Monate verstrichen waren, nachdem das Verfahren zur Prüfung der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers eingeleitet worden war, und dass die letzte Haftprüfungsentscheidung sechs Monate zurücklag. Er ist daher der Auffassung, dass der verbleibende Teil des Haftprüfungsverfahrens mit besonderer Beschleunigung geführt werden musste. Der Gerichtshof erkennt an, dass das gegen den Beschwerdeführer geführte Strafverfahren komplex war, dass sich die Prozesssituation nach der Anklageerhebung am 19. Dezember 2014 grundlegend geändert hatte und dass das Oberlandesgericht eine umfassende Bewertung vornehmen musste, u. a. der Führung des Strafverfahrens und der Frage, ob es ungebührliche Verzögerungen gab, durch die die Fortdauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig wurde.
39. Dennoch stellt er fest, dass das Oberlandesgericht, nachdem es sich zunächst an das falsche Gericht gewandt hatte, sich erst am 3. Februar 2015 beim Landgericht A. nach dem Stand des Verfahrens und den Entwicklungen in dem Fall erkundigte. Seine Entscheidung über die Fortdauer der Haft des Beschwerdeführers erging am 15. April 2015, fast drei Monate, nachdem es sein zweites Ablehnungsgesuch zurückgewiesen hatte. Anschließend dauerte einen weiteren Monat, nämlich bis zum 15. Mai 2015, bis dem Beschwerdeführer, der inzwischen Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt und die vorliegenden Beschwerde beim Gerichtshof erhoben hatte, der zehn Seiten umfassende Beschluss zugestellt wurde. Insgesamt verstrichen fast vier Monate – vom 22. Januar 2015 bis zum 15. Mai 2015 – zwischen der Zurückweisung des zweiten Ablehnungsgesuchs des Beschwerdeführers und der Zustellung des Beschlusses des Oberlandesgerichts über die Fortdauer seiner Haft. Es vergingen also fast sieben Monate nach der Einleitung des Haftprüfungsverfahrens am 24. Oktober 2014.
40. Der Gerichtshof erkennt zwar an, dass das Haftprüfungsverfahren vor allem durch das Verhalten des Beschwerdeführers um drei Monate verzögert wurde, dass sich die Prozesssituation in der Zwischenzeit geändert hatte, dass das Strafverfahren komplex war und dass das Oberlandesgericht die beiden umfangreichen Schriftsätze, die der Verteidiger des Beschwerdeführers im Hauptverfahren verfasst und am 10. März 2015 bei ihm eingereicht hatte, berücksichtigen musste, dennoch weist er darauf hin, dass er in seiner Rechtsprechung verhältnismäßig strenge Maßstäbe bezüglich der Frage festgelegt hat, ob der betreffende Staat das Erfordernis der kurzen Frist erfüllt hat. Einen Verstoß gegen das Erfordernis der kurzen Frist aus Artikel 5 Abs. 4 der Konvention hat er beispielsweise in der Rechtssache Baranowski ./. Polen (Individualbeschwerde Nr. 28358/95, ECHR 2000‑III) festgestellt, in der die Prüfung eine Bewertung komplexer medizinischer Fragen umfasste und insgesamt fast sechs Monate dauerte, also weniger als im vorliegenden Fall. Ebenso hat der Gerichtshof festgestellt, dass in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten, die sich einem gerichtlichen Haftbefehl anschließen, Verzögerungen von mehr als drei bis vier Wochen, die die Behörden zu verantworten haben, eine Frage im Zusammenhang mit dem Erfordernis der kurzen Frist nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention aufwerfen können (vgl. u. a. G.B. ./. Schweiz, a. a. O., Rdnrn. 27 und 32-39, und Lebedev ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 4493/04, Rdnrn. 97-102, 25. Oktober 2007).
41. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen kann der Gerichtshof nicht zu dem Schluss gelangen, dass das Oberlandesgericht mit der gebotenen „besonderen Zügigkeit“ vorgegangen ist und unter Beachtung des Erfordernisses der „kurzen Frist“ aus Artikel 5 Abs. 4 der Konvention über die Rechtmäßigkeit der Haft des Beschwerdeführers entschieden hat, und zwar sowohl, was den Zeitraum angeht, der seit der Einleitung des Verfahrens als auch den, der seit der Zurückweisung des zweiten Ablehnungsgesuchs des Beschwerdeführers am 22. Januar 2015 verstrichen war.
42. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass es sich bei dem in Rede stehenden Verfahren um ein regelmäßiges Überprüfungsverfahren handelte, und ist der Auffassung, dass es zu keinem anderen Ergebnis führt, wenn das Vorbringen des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention von dem anderen möglichen Blickwinkel aus geprüft wird, d. h. indem der Zeitabstand zwischen den Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit seiner Haft betrachtet wird (siehe Rdnr. 34).
43. Obwohl das innerstaatliche Recht vorsah, dass automatische regelmäßige Überprüfungen jeweils spätestens nach drei Monaten durchzuführen sind, wurde das in Rede stehende Haftprüfungsverfahren erst neuneinhalb Monate nach Erlass der vorangegangenen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers abgeschlossen. Unter erneutem Hinweis darauf, dass aufgrund des Wesens der Untersuchungshaft kurze Zeitabstände zwischen den regelmäßigen gerichtlichen Überprüfungen geboten sind, weil davon ausgegangen wird, dass diese Haft von streng begrenzter Dauer ist (siehe Abdulkhakov, a. a. O., Rdnr. 213, und Bezicheri ./. Italien, 25. Oktober 1989, Rdnr. 21, Serie A Nr. 164), stellt der Gerichtshof fest, dass dieser Zeitabstand zwischen den beiden Entscheidungen nicht als „angemessener Zeitabstand“ für die regelmäßige gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers angesehen werden kann.
44. Dementsprechend ist Artikel 5 Abs. 4 der Konvention verletzt worden.
B. Behauptete Verletzung von Artikel 5 Absatz 1 der Konvention
45. In Anbetracht seiner Feststellung nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention hält es der Gerichtshof nicht für erforderlich, die Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention gesondert zu prüfen.
II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
46. Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
47. Der Beschwerdeführer hat keinen Anspruch in Bezug auf den materiellen oder immateriellen Schaden geltend gemacht. Nach Auffassung des Gerichtshofs besteht daher keine Veranlassung, ihm diesbezüglich einen Geldbetrag zuzusprechen.
48. Der Beschwerdeführer hat den Ersatz der infolge der Konventionsverletzung entstandenen Kosten und Auslagen geltend gemacht, ohne diese Kosten und Auslagen jedoch konkret anzugeben oder entsprechende Nachweise vorzulegen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien sowie der Tatsache, dass der Beschwerdeführer weder konkret angegeben hat, welche Kosten ihm tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, noch entsprechende Nachweise vorgelegt hat, weist der Gerichtshof seine Forderung nach Ersatz von Kosten und Auslagen zurück und spricht ihm unter dieser Rubrik keine Entschädigung zu.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 5 Abs. 4 der Konvention ist verletzt worden;
3. es ist nicht erforderlich, die Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention gesondert zu prüfen;
4. die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung wird zurückgewiesen.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 8. März 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek André Potocki
Kanzlerin Präsident
___________
Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die persönliche Meinung des Richters Ranzoni beigefügt.
A.P.
C.W.
ZUSTIMMENDE MEINUNG VON RICHTER RANZONI
Ich stimme der Feststellung einer Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention uneingeschränkt zu. Jedoch beantwortet diese Feststellung nicht alle Fragen, die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfen werden, denn sie lässt das Grundproblem unberücksichtigt. Diesen Gesichtspunkt würde ich gerne kurz hervorheben.
Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers dauerte sechseinhalb Monate von der Einleitung dieses Verfahrens am 24. Oktober 2014 bis zum Erlass seiner Entscheidung am 15. Mai 2015. Die Zeitspanne zwischen der vorangegangenen Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 28. Juli 2014 und letzterem Datum war erheblich länger, nämlich neuneinhalb Monate.
Durch die Feststellung einer Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 wird die Schuld dem Oberlandesgericht gegeben, das nicht mit der erforderlichen Zügigkeit vorging und das in dieser Vorschrift verankerte Erfordernis der kurzen Frist nicht beachtete (siehe insbesondere Rdnr. 41 des Urteils). Allerdings setzt sich der Gerichtshof mit dieser Feststellung nicht mit dem wichtigeren Grundproblem auseinander, nämlich die Lücke in der deutschen Gesetzgebung, die dies zugelassen hat.
Gemäß § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO muss nach Ablauf von sechs Monaten Untersuchungshaft jeweils spätestens nach drei Monaten ein Überprüfungsverfahren stattfinden, und zwar ab dem Datum der letzten Haftprüfungsentscheidung (siehe Rdnr. 21 des Urteils). Diese Vorschrift erfüllt grundsätzlich das Erfordernis, dass nach Einleitung einer automatischen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft die Entscheidungen der zuständigen Gerichte in „angemessenen Zeitabständen“ ergehen müssen (siehe Oldham ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 36273/97, Rdnr. 30, ECHR 2000-X), und sie gewährt einen wirksamen Schutz des Einzelnen vor willkürlicher oder ungerechtfertigter Freiheitsentziehung, was Hauptzweck des Artikels 5 der Konvention ist (siehe McKay ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 543/03, Rdnr. 30, ECHR 2006‑X).
Nach § 121 Abs. 3 Satz 1 StPO ruht jedoch der Lauf der dreimonatigen Frist gemäß § 121 Abs. 4, wenn die Akten dem Oberlandesgericht vor Ablauf dieser Frist vorgelegt werden, und das innerstaatliche Recht sieht keine bestimmte Frist für die Entscheidung des Oberlandesgerichts vor (siehe Rdnr. 21 des Urteils). Diese Lücke in der Gesetzgebung hat dazu beigetragen, dass sich das in Rede stehende Überprüfungsverfahren übermäßig in die Länge gezogen hat. Worum es hier geht, ist daher die „Qualität“ des innerstaatlichen Rechts, das klare und zugängliche Vorschriften darüber enthalten muss, unter welchen Umständen eine Freiheitsentziehung zulässig ist, und insbesondere vorhersehbar anzuwenden sein muss, um jegliche Gefahr der Willkür zu vermeiden (siehe M. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11364/03, Rdnr. 76, 9. Juli 2009, und H.W. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17167/11, Rdnrn. 66 und 80, 19. September 2013).
§ 121 Abs. 3 StPO hingegen bringt dadurch, dass er das Ruhen des Laufs der dreimonatigen Frist gestattet, einen Unsicherheitsfaktor in die Anwendung von § 122 Abs. 4 hinein, der eine regelmäßige Überprüfung jeweils nach drei Monaten verlangt. Der zeitliche Rahmen, innerhalb dessen das Oberlandesgericht seine Entscheidung über die Freiheitsentziehung erlassen muss, ist nicht festgelegt. Dies wirft Bedenken hinsichtlich der Vorhersehbarkeit der Vorschriften über die regelmäßige Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers auf, was wiederum zu Bedenken hinsichtlich der Rechtmäßigkeit – im Sinne von Artikel 5 der Konvention – der Untersuchungshaft an sich führen kann
Unter diesen Umständen ist es von entscheidender Bedeutung, dass Gefangenen angemessene Schutzvorkehrungen gegen unangemessene Verzögerungen und eine willkürliche Freiheitsentziehung gewährt werden (siehe sinngemäß H.W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnrn. 82 und 89). Meiner Ansicht nach fehlte es im vorliegenden Fall an diesen wirksamen Schutzvorkehrungen. Diese Schlussfolgerung wird dadurch untermauert, dass das Haftprüfungsverfahren sechseinhalb Monate vor dem Oberlandesgericht anhängig war und dass die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers für einen Zeitraum von neuneinhalb Monaten ohne erneute Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit fortdauerte.
In der vorliegenden Rechtssache hatte die Verzögerung des Haftprüfungsverfahrens eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention zur Folge, nicht aber von Artikel 5 Abs. 1, weil die maßgeblichen Voraussetzungen für dessen Anwendung nach der Rechtsprechung der Gerichtshof nicht erfüllt waren (siehe insoweit u. a. Daniel Faulkner ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 68909/13, insbesondere Rdnrn. 44 und 45, 6. Oktober 2016). Dennoch wirft der Zeitabstand von neuneinhalb Monaten zwischen den Entscheidungen des Oberlandesgerichts über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Beschwerdeführers – obwohl nach dem innerstaatlichen Recht regelmäßige Überprüfungen jeweils spätestens nach drei Monaten vorgesehen sind –, ohne dass dem Gefangenen wirksame Schutzvorkehrungen gegen unangemessene Verzögerungen gewährt wurden, eine Frage auf, die über die in diesem konkreten Fall aufgedeckten Mängel in dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht hinausgeht. Diese Frage sollte auf innerstaatlicher Ebene durch gesetzgeberische Maßnahmen angegangen werden.
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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