POPLAZ ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 51742/15

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 51742/15
P. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 20. März 2018 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Erik Møse, Präsident,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 12. Oktober 2015 erhoben wurde,

im Hinblick auf die Stellungnahme der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderung des Beschwerdeführers,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, P., ist deutscher und slowenischer Staatsangehöriger und derzeit in der Justizvollzugsanstalt O. inhaftiert. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn B., Rechtsanwalt in D., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

2. Die Beschwerde betrifft das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Korrespondenz während seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt P. nach seiner strafrechtliche Verurteilung.

3. Am 9. März 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

4. Die slowenische Regierung, die über ihr Recht auf Beteiligung an dem Verfahren unterrichtet worden war (Artikel 36 Abs. 1 der Konvention und Artikel 44 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs), hat nicht erklärt, dieses Recht ausüben zu wollen.

A. Die Umstände der Rechtssache

5. An einem nicht genannten Datum wurde der Beschwerdeführer wegen schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ab dem 8. April 2014 war er in der Justizvollzugsanstalt P. inhaftiert, die zentrale Einweisungsanstalt in dem betroffenen Bundesland, in die verurteilte Personen zunächst für einen begrenzten Zeitraum eingewiesen werden, bevor sie zur Verbüßung ihrer Strafe in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt werden

6. Während seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt P. schrieb der Beschwerdeführer Briefe in slowenischer Sprache an seine in Slowenien lebenden Angehörigen. Diese Briefe wurden von der Anstaltsleitung angehalten und an ihn zurückgegeben, zusammen mit einer Abschrift einer Anordnung der Anstaltsleitung, wonach Gefangene mit deutscher Staatsangehörigkeit angehalten seien, ihre ausgehende Korrespondenz auf Deutsch zu verfassen, und in einer anderen Sprache verfasste Korrespondenz angehalten und an sie zurückgegeben werde.

7. Mit einem Schreiben, das am 6. Mai 2014 beim Landgericht einging, stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit dem Ziel, dass es ihm gestattet werde, mit seinen Angehörigen in Slowenien sowie mit seinem Rechtsanwalt und dem mit dem Verfahren zur Zwangsversteigerung seines dortigen Eigentums befassten Gericht in slowenischer Sprache zu korrespondieren.

8. Am 3. Juli 2014 wies das Landgericht den Antrag des Beschwerdeführers zurück und stellte fest, dass dieser unzulässig sei, soweit er Briefe an seinen Rechtsanwalt in Slowenien und an das slowenische Gericht im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Zwangsversteigerung seines dortigen Eigentums betreffe, denn der Beschwerdeführer habe nicht dargelegt, dass die Justizvollzugsanstalt P. Briefe angehalten habe, die von dem Beschwerdeführer in slowenischer Sprache an diese Adressaten verfasst worden seien. Das Landgericht sah den Antrag des Beschwerdeführers als unbegründet an, soweit er Briefe an seine Angehörigen betraf. Die Überwachung seines Schriftwechsels habe im Einklang mit § 29 Abs. 3 des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) und das Anhalten seiner Briefe an seine Angehörigen im Einklang mit § 31 Abs. 1 Nr. 6 StVollzG gestanden. Beide Maßnahmen seien im Hinblick auf die Umstände des Falls, insbesondere den besonderen Charakter der Justizvollzugsanstalt P. als zentrale Einweisungsanstalt mit hoher Gefangenenfluktuation, das Verhalten des Beschwerdeführers und die Tatsache, dass er fließend deutsch spreche, verhältnismäßig gewesen.

9. Am Tag der Entscheidung des Landgerichts wurde der Beschwerdeführer in die Justizvollzugsanstalt O. verlegt, in der er weiterhin inhaftiert ist. In dieser Anstalt ist ihm gestattet, seine ausgehende Korrespondenz in slowenischer Sprache zu verfassen.

10. Am 5. August 2014 legte der Beschwerdeführer Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts ein. Am 18. September 2014 wies das Oberlandesgericht die Rechtsbeschwerde als unzulässig zurück. Da der Beschwerdeführer inzwischen in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt worden sei, habe die Maßnahme der Justizvollzugsanstalt P. bezüglich des Anhaltens seiner Briefe keine Auswirkungen mehr auf ihn gehabt, so das Gericht. Die Sache habe sich im Zeitpunkt der Einlegung der Rechtsbeschwerde bereits erledigt gehabt.

11. Am 16. Oktober 2014 reichte der Beschwerdeführer eine schriftliche Stellungnahme beim Oberlandesgericht ein, in der er mehrere Fehler in dem Beschluss vom 18. September 2014 geltend machte. Das Oberlandesgericht stufte diese Stellungnahme als Gegenvorstellung ein und wies diese am 21. Oktober 2014 zurück; die schriftliche Entscheidung wurde am 28. Oktober 2014 ausgefertigt.

12. Am 27. November 2014 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Am 4. Mai 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 3021/14).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

13. Nach § 93 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) ist eine Verfassungsbeschwerde binnen eines Monats nach der Zustellung oder formlosen Mitteilung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung, die Grundrechte verletzt haben soll, zu erheben. In der Regel kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden (§ 90 Abs. 2 Satz 1). Eine Gegenvorstellung ist kein Rechtsbehelf, der vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde erschöpft werden muss, daher wird die Monatsfrist durch die Erhebung der Gegenvorstellung oder die Entscheidung darüber nicht erneut in Lauf gesetzt (Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 848/07, Beschluss vom 25. November 2008). Nach § 93d Abs. 1 BVerfGG muss das Bundesverfassungsgericht seine Nichtannahmebeschlüsse nicht begründen.

RÜGEN

14. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass das Anhalten seiner in slowenischer Sprache verfassten Briefe an seine Angehörigen, seinen Anwalt und ein slowenisches Gericht, während er in der Justizvollzugsanstalt P. inhaftiert war, sein Recht auf Achtung seiner Korrespondenz verletzt habe. Unter Berufung auf Artikel 14 i. V. m. Artikel 8 der Konvention machte er geltend, dass er im Vergleich zu Gefangenen, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besäßen und denen gestattet werde, ihre ausgehende Korrespondenz in anderen Sprachen als Deutsch zu verfassen, diskriminiert werde. Schließlich rügte er, dass ihm für diese Rügen kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehe, wie es Artikel 13 verlange, weil das Oberlandesgericht seine Rechtsbeschwerde als unzulässig zurückgewiesen habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

15. Die Regierung bestritt die Zulässigkeit der Beschwerde mit der Begründung, dass der Beschwerdeführer die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht dem Erfordernis aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention entsprechend erschöpft habe. Sie hob hervor, Artikel 35 Abs. 1 der Konvention schreibe vor, dass Beschwerden in Übereinstimmung mit den im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Form- und Fristerfordernissen bei den zuständigen innerstaatlichen Gerichten erhoben werden müssten. Dieses Erfordernis sei im Falle einer unzulässigen Verfassungsbeschwerde nicht erfüllt. Die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers sei offenkundig, weil er die Frist von einem Monat für die Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde, die mit der Zustellung oder Mitteilung der Entscheidung beginne, nicht eingehalten habe.

16. Sie erkannte an, dass nicht festgestellt sei, wann genau der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 18. September 2014, gegen den sich die Verfassungsbeschwerde richte, dem Beschwerdeführer zugestellt worden sei. Allerdings beziehe sich der Beschwerdeführer in seiner am 16. Oktober 2014 beim Oberlandesgericht eingegangenen Gegenvorstellung auf diesen Beschluss, weshalb er diesen spätestens an diesem Tag erhalten haben müsse. Damit habe die für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde vorgesehene Monatsfrist nach den innerstaatlichen Vorschriften spätestens am 17. November 2014 geendet. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 27. November 2014 sei daher nicht innerhalb dieser Frist erhoben worden.

17. Der Beschwerdeführer bestritt den Vortrag der Regierung im Wesentlichen nicht, wies aber darauf hin, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts über seine Gegenvorstellung am 28. Oktober 2014 ausgefertigt worden sei. Er habe seine Verfassungsbeschwerde daher innerhalb der durch das innerstaatliche Recht vorgesehen Frist von einem Monat erhoben.

18. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es Zweck des Artikels 35 der Konvention ist, den Vertragsstaaten die Möglichkeit zu geben, ihnen vorgeworfene Konventionsverletzungen zu verhindern oder ihnen abzuhelfen, bevor diese Behauptungen dem Gerichtshof unterbreitet werden. Artikel 35 Abs. 1 der Konvention muss zwar relativ flexibel und ohne übermäßigen Formalismus angewendet werden, setzt aber nicht nur voraus, dass vor den zuständigen innerstaatlichen Gerichten Anträge gestellt und Rechtsbehelfe in Anspruch genommen werden, mit denen bereits ergangene Entscheidungen angefochten werden können. Normalerweise ist es auch erforderlich, dass die Rügen, mit denen später der Gerichtshof befasst werden soll, zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Anrufungen dieser Gerichte waren und dass die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Form- und Fristerfordernisse beachtet wurden (G. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnr. 142, ECHR 2010).

19. Am 27. November 2014 legte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein. Dieses Gericht entschied, die Beschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, und gab dafür keine Gründe an (siehe Rdnr. 12). Die Situation unterscheidet sich daher von der im Fall H. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 11057/02, Rdnr. 63, ECHR 2004 III (Auszüge)), in dem das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde ausdrücklich für unzulässig erklärt hatte. Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht nach dem innerstaatlichen Recht seinen Nichtannahmebeschluss nicht begründen musste (siehe Rdnr. 13).

20. Wenn das Bundesverfassungsgericht einen Nichtannahmebeschluss nicht begründet, kann der Gerichtshof nicht über die Gründe für diese Entscheidung spekulieren. Allerdings hat der Gerichtshof in Fällen, in denen die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde eindeutig aus der Akte hervorging, festgestellt, dass der betreffende Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft hatte (siehe C. u. a. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 77144/01 und 35493/05, 11. Dezember 2007; K. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 59546/12, Rdnr. 40, 21 November 2017).

21. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 18. September 2014 über seine Rechtsbeschwerde spätestens am 16. Oktober 2014 erhalten haben muss, weil er sich in seiner von diesem Tag datierenden Stellungnahme an das Oberlandesgericht auf diesen Beschluss bezog (siehe Rdnr. 11). Der Beschwerdeführer bestritt dies nicht. Die für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde gegen diesen Beschluss vorgesehene Monatsfrist (siehe Rdnr. 13) hatte daher nach den innerstaatlichen Vorschriften spätestens am 17. November 2014 geendet.

22. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer stattdessen vortrug, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts über seine Gegenvorstellung am 28. Oktober 2014 ausgefertigt worden sei und dass er seine Verfassungsbeschwerde somit innerhalb der im innerstaatlichen Recht vorgesehen Monatsfrist erhoben habe. Nach dem innerstaatlichen Recht ist eine Gegenvorstellung jedoch kein Rechtsbehelf, der vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde erschöpft werden muss, daher wird die Monatsfrist durch die Erhebung der Gegenvorstellung oder die Entscheidung darüber nicht erneut in Lauf gesetzt (siehe Rdnr. 13).

23. Angesichts der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers aufgrund der Nichteinhaltung der durch das innerstaatliche Recht festgelegten Frist offensichtlich ist und der Beschwerdeführer folglich den innerstaatlichen Rechtsweg nicht dem Erfordernis aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention entsprechend erschöpft hat.

24. Daher ist die Individualbeschwerde nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 12. April 2018.

Milan Blaško                                                 Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                  Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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