Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE W. U. A. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerden Nrn. 68125/14 und 72204/14)
URTEIL
STRASSBURG
22. März 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache W. u. a. ./. Deutschland
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer
und Lәtif Hüseynov
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
nach nicht öffentlicher Beratung am 20. Februar 2018
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 68125/14 und 72204/14) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die drei Beschwerdeführer und fünf Beschwerdeführerinnen („die Beschwerdeführer[1]“), deren Namen, Geburtsdaten und Staatsangehörigkeiten im Anhang zu diesem Urteil aufgelistet sind, nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten. Die Individualbeschwerden wurden am 17. Oktober bzw. 14. November 2014 eingelegt.
2. Die Beschwerdeführer wurden von Herrn F., Rechtsanwalt in D., und Herrn G., Rechtsanwalt in P., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Unter Bezugnahme auf Artikel 8 der Konvention machten die Beschwerdeführer geltend, dass die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts und die anschließende Trennung der Eltern und ihrer Kinder unverhältnismäßig gewesen seien. Unter Berufung auf Artikel 6 und 8 der Konvention rügten sie ferner, dass die zugrunde liegenden familiengerichtlichen Verfahren überlang und unfair gewesen seien und dass die Entscheidungen nicht auf eine hinreichende Tatsachengrundlage gestützt worden seien, sondern auf allgemeine Erwägungen hinsichtlich ihrer Glaubensgemeinschaft. Nach Artikel 9 und 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention und nach Artikel 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Konvention rügten die Beschwerdeführer, dass sie daran gehindert worden seien, ihre Kinder nach ihrer religiösen Überzeugung zu erziehen, dass ihre religiösen Überzeugungen der Grund für die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts gewesen seien und dass das Gerichtsverfahren zu einer Stigmatisierung ihrer Glaubensgemeinschaft geführt habe.
4. Am 16. Januar 2016 wurden der Regierung die Beschwerden im Hinblick auf Artikel 8 der Konvention übermittelt.
5. Es gingen schriftliche Stellungnahmen der ADF (Alliance Defending Freedom) International ein, die vom Vizepräsidenten ermächtigt worden war, sich als Drittbeteiligte an den beiden Verfahren zu beteiligen (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
6. Bei den Beschwerdeführern im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 68125/14 (W.) handelt es sich um eine Mutter, einen Vater und ihren 2011 geborenen Sohn. Bei den Beschwerdeführern im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 72204/15 (S.) handelt es sich um eine Mutter, einen Vater und ihre drei 1999, 2002 und 2004 geborenen Töchter. Die Beschwerdeführer sind alle Mitglieder der Glaubensgemeinschaft „X.“ und lebten in einer aus ungefähr 100 Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft bestehenden Gemeinde in K. Eine weitere Gemeinde mit etwa 20 Mitgliedern befand sich in dem nahe gelegenen Dorf W.
A. Der Hintergrund der Rechtssache
7. Im Jahr 2012 berichtete die Presse über die Glaubensgemeinschaft „X.“ und ihre Haltung zum Recht von Eltern zur körperlichen Züchtigung, insbesondere durch das Schlagen mit einer Rute. Darüber hinaus wurden Aussagen eines ehemaligen Mitglieds der Glaubensgemeinschaft veröffentlicht, die bestätigten, dass Kinder mit der Rute gezüchtigt worden seien.
8. 2012 und 2013 besuchte das örtliche Jugendamt die Gemeinschaft und ihre Sprecher wurden zu einem Treffen in das zuständige Landesministerium eingeladen. Bei diesem Treffen wurden die körperliche Züchtigung und das Thema der Schulpflicht besprochen.
9. Am 16. August 2013 erhielten das örtliche Jugendamt und das Familiengericht Videoaufnahmen eines Fernsehreporters, in denen zehn verschiedene Fälle körperlicher Züchtigung in der Gemeinschaft gezeigt wurden. Die mit versteckter Kamera gefertigten Videoaufzeichnungen zeigten die Züchtigung verschiedener Kinder im Alter zwischen drei und zwölf Jahren mit der Rute. Keiner der Beschwerdeführer war in den Videos zu sehen. Nach Aussagen des Fernsehreporters handelte es sich bei der Person, die die Züchtigung durchführte, in den meisten Fällen nicht um ein Elternteil des Kindes, das gezüchtigt wurde.
B. Die Inobhutnahme der Kinder
10. Nach Erhalt der Videoaufzeichnungen leitete das Familiengericht Vorermittlungen ein und befragte am 21. August 2013 sechs Zeugen, alle ehemalige Mitglieder der Glaubensgemeinschaft „X.“. Die Zeugen bestätigten, dass verschiedene Formen körperlicher Züchtigung bei der Erziehung der Kinder in der Gemeinschaft angewendet würden. Dazu zähle auch das Pucken eines Kindes vom Zeitpunkt seiner Geburt bis zum Alter von ungefähr drei Jahren, bei dem das Kind sehr fest in ein Tuch eingewickelt wird, um jeden Bewegungsdrang zu unterdrücken. Ab dem Alter von ungefähr drei Jahren bis zum Alter von zwölf Jahren würden die Kinder durch Schläge mit der Rute diszipliniert. Die Zeugen erklärten ferner, dass Kinder jeweils von dem Erwachsenen bestraft würden, der die Kinder zu dem jeweiligen Zeitpunkt beaufsichtigte, und dass die Eltern von der Gemeinschaft gedrängt würden, sich an die Erziehungsregeln zu halten.
11. Am 1. September 2013 erließ das Familiengericht auf Antrag des zuständigen Jugendamts im Wege der einstweiligen Anordnung einen Beschluss in Bezug auf alle Kinder in der Gemeinschaft „X.“, einschließlich der Kinder der Beschwerdeführer. Das Gericht entzog den beschwerdeführenden Eltern das Recht zur Aufenthaltsbestimmung für ihre Kinder, das Recht zur Regelung der ärztlichen Versorgung der Kinder, das Recht zur Regelung ihrer schulischen Belange sowie der Ausbildungs- und Berufswahl und übertrug diese Rechte auf das Jugendamt. Das Gericht begründete seine Entscheidung mit der Feststellung, dass es hinreichend wahrscheinlich sei, dass die Kinder körperlicher Züchtigung ausgesetzt würden. Das Gericht ordnete ferner an, dass das Jugendamt bei der Inobhutnahme der Kinder Zwang anwenden, Hilfe der Polizei in Anspruch nehmen und die Räumlichkeiten auf dem Anwesen der Gemeinschaft „X.“ in Klosterzimmer betreten dürfe.
12. Am 5. September 2013 nahm das Jugendamt die Kinder der Gemeinschaft in seine Obhut. Es wurde von rund 100 Polizeibeamten unterstützt, die gleichzeitig auf Anordnung der Staatsanwaltschaft A. die Räumlichkeiten der Gemeinschaft durchsuchten und sieben Holzruten fanden.
13. Im Anschluss daran wurden die beschwerdeführenden Kinder untersucht. Es wurden jedoch keine körperlichen Zeichen von Misshandlungen oder Schlägen vorgefunden.
14. Die Beschwerdeführerinnen B., C. und I. S. wurden in ein Kinderheim gebracht. Da der Beschwerdeführer J. W. damals erst zwei Jahre und fünf Monate alt war und noch gestillt wurde, wurden er und seine Mutter vorübergehend unter Aufsicht gemeinsam in einem Heim untergebracht. Am 9. Dezember 2013 wurde J. W. seiner Mutter entzogen und bei einer Pflegefamilie untergebracht. Die Mutter war zwei Monate im Voraus angewiesen worden, ihren Sohn abzustillen. Sie weigerte sich jedoch, weshalb ihr der Sohn unter Zwang entzogen wurde.
C. Überprüfung der einstweiligen Anordnung
1. Individualbeschwerde Nr. 68125/14 (W.)
15. Am 10. Oktober 2013 befragte das Familiengericht die beschwerdeführenden Eltern. Die Eltern gaben an, ihren Sohn durch Pucken in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu haben, verneinten aber, dass dies in irgendeiner Weise einer Kindesmisshandlung gleichkäme. Sie verweigerten die Antwort auf Fragen zur Züchtigung mit der Rute, zitierten aber Auszüge aus der Bibel, die diese Praxis rechtfertigten.
16. Am 29. November 2013 bestätigte das Familiengericht seine einstweilige Anordnung vom 1. September 2013. Auf Grundlage der §§ 1631, 1666 und 1666a BGB (siehe Rdnrn. 30 bis 32) gab das Gericht in seiner Begründung an, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass ein Belassen des Sohnes in der Gemeinschaft oder eine Rückführung in die Gemeinschaft dazu führen würde, dass er körperlicher Züchtigung ausgesetzt würde, wodurch sowohl seine persönliche Würde als auch seine körperliche Unversehrtheit verletzt würden, bei denen es sich um vom deutschen Grundgesetz geschützte Werte handele (siehe Rdnrn. 26 und 27). Es stellte ferner fest, dass der Einsatz körperlicher Züchtigung in einem so frühen Alter die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit verhindern würde und ihn stattdessen zu unbedingtem Gehorsam erziehen würde. Das Gericht stützte seine Einschätzung auf Vorbringen der Eltern, in denen sie bestätigten, ihren Sohn diszipliniert zu haben. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Aussagen anderer Kinder in Parallelverfahren, die Videoaufzeichnungen und die Aussagen anderer Zeugen bestätigten, dass das Disziplinieren von Kindern in der Gemeinschaft auch körperliche Züchtigung beinhalte. Daher sei es notwendig, den Sohn aus der Gemeinschaft herauszunehmen, da dies die Option sei, die am geringsten in die Rechte der Familie eingreife, aber sicherstelle, dass der Sohn nicht mit der Rute geschlagen oder in anderer Weise geschädigt werde. Es stellte fest, dass die Eltern selbst dann, wenn sie in der Lage wären, dem Druck der Gemeinschaft standzuhalten, nicht gewährleisten könnten, dass nicht andere Mitglieder der Gemeinschaft das Kind mit der Rute schlagen würden, während sie sie beaufsichtigten. Das Gericht leitete auch das Hauptsacheverfahren ein und gab ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten in Auftrag.
17. Am 28. Januar 2014 wurden die beschwerdeführenden Eltern vom Oberlandesgericht befragt. Der Vater gab an, dass ein leichtes Schlagen mit der Rute seiner Meinung nach weder Gewalt noch Kindesmisshandlung darstelle. Beide Eltern weigerten sich auch weiterhin, Fragen dazu zu beantworten, ob ihr Sohn bereits mit der Rute gezüchtigt wurde. Das Gericht entschied sich aufgrund des Alters des Kindes und des psychischen Drucks, dem es durch eine Anhörung ausgesetzt würde, gegen eine Befragung des beschwerdeführenden Kindes und hörte stattdessen den Verfahrensbeistand an.
18. Am 5. März 2014[2] bestätigte das Oberlandesgericht im Wesentlichen den Beschluss des Familiengerichts. Es hob den Beschluss hinsichtlich der Entziehung des Rechts der Eltern zur Regelung der Ausbildungs- und Berufswahl ihres Sohnes auf, da es aufgrund seines Alters nicht notwendig sei, dieses Recht im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu entziehen. Das Oberlandesgericht erachtete es als erwiesen, dass die Eltern das Züchtigen mit der Rute als Teil der Erziehung ihres Sohnes ansahen und der Sohn mit der Rute gezüchtigt werden würde, falls er zu seinen Eltern und der Gemeinschaft zurückkehren würde. Es stützte diese Feststellung auf die Aussagen der Eltern und Zeugen und die in einer Broschüre mit dem Titel „Our teachings on child training“ [„Unsere Lehren zur Kindeserziehung“] enthaltenen Richtlinien. Das Gericht stellte ferner fest, dass die Religionsfreiheit der Eltern diese Art der Kindeserziehung nicht rechtfertige. Es stellte auch fest, dass es keine andere Möglichkeit gegeben habe, die weniger in die Rechte der Familie eingegriffen hätte, da die Eltern bis zu diesem Punkt keinerlei Bereitschaft gezeigt hätten, von Disziplinierungen ihres Sohnes abzusehen, und eine stärkere Unterstützung durch das Jugendamt die Sicherheit des Sohnes nicht zu jeder Zeit gewährleisten würde. Es stellte ferner fest, dass nur das Gutachten des Sachverständigen im Hauptsacheverfahren die möglichen Folgen entwürdigender Erziehungsmethoden, die auf unbedingten Gehorsam abstellten, klären könne.
19. Am 5. Mai 2014[3] lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 770/14).
2. Individualbeschwerde Nr. 72204/14 (S.)
20. Am 9. Oktober 2013 befragte das Familiengericht die beschwerdeführenden Kinder. Alle drei Töchter gaben an, dass sie gerne zu ihren Eltern und in die Gemeinschaft zurückkehren würden. Die zwei jüngeren Töchter weigerten sich, Fragen zu Disziplinierungen oder Rutenschlägen oder zur Beschulung und dem System der Gesundheitssorge in der Gemeinschaft zu beantworten. Die älteste Tochter bestätigte, dass ihre zwei Schwestern mit der Rute geschlagen worden seien und dass sie selbst mit der Rute geschlagen worden sei, als sie jünger gewesen sei. Sie erklärte jedoch auch, dass dies nach ihrer Bat Mitzwa aufgehört habe. Die beschwerdeführenden Eltern wurden am 15. November 2013 befragt.
21. Am 30. November 2013 hob das Familiengericht seine am 1. September 2013 erlassene einstweilige Anordnung hinsichtlich des Rechts der Eltern zur Aufenthaltsbestimmung und zur Regelung der ärztlichen Versorgung für ihre älteste Tochter auf, erhielt den Beschluss im Übrigen jedoch aufrecht. Das Gericht hielt es für sehr wahrscheinlich, dass die anderen beiden Mädchen im Falle eines Verbleibs in der Gemeinschaft oder einer Rückkehr dorthin körperlichen Züchtigungen ausgesetzt würden. Das Gericht stützte seine Einschätzung auf Vorbringen der Eltern, in denen sie bestätigten, ihre Kinder diszipliniert zu haben, aber verneinten, sie zu schlagen oder zu misshandeln. Das Gericht stellte fest, dass die Aussagen der Töchter und anderer Kinder in Parallelverfahren, die Videoaufzeichnungen und die Aussagen anderer Zeugen bestätigt hätten, dass das Disziplinieren von Kindern in der Gemeinschaft auch körperliche Züchtigung beinhalten könne. Wie in seiner Entscheidung im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 68125/14 (siehe Rdnr. 16) stellte das Gericht fest, dass es notwendig gewesen sei, die Kinder aus der Gemeinschaft herauszunehmen, und dass es keine andere, weniger eingreifende Maßnahme gegeben habe. Im Hinblick auf die älteste Tochter befand das Gericht, dass aufgrund ihres Alters keine Gefahr von Rutenschlägen mehr bestehe. Das Gericht leitete auch das Hauptsacheverfahren ein und gab ein familienpsychologisches Sachverständigengutachten in Auftrag.
22. Anfang Dezember 2013 wurde die älteste Tochter an ihre Eltern zurückgegeben. Seither lebt sie mit diesen in der Gemeinschaft „X.“ in K.
23. Am 5. März 2014 bestätigte das Oberlandesgericht im Wesentlichen den Beschluss des Familiengerichts. Es hob den Beschluss hinsichtlich der Entziehung des Rechts der Eltern zur Regelung der Ausbildungs- und Berufswahl für die zwei jüngeren Töchter auf, da es aufgrund ihres Alters nicht notwendig sei, dieses Recht im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu entziehen. Das Oberlandesgericht hielt es für erwiesen, dass alle drei Kinder mit der Rute geschlagen worden seien und die zwei jüngeren Kinder im Falle einer Rückkehr zu ihren Eltern und in die Gemeinschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut mit der Rute gezüchtigt würden. Es stützte diese Feststellung auf die Aussagen der ältesten Tochter, die durch die Aussagen der ehemaligen Mitglieder der Gemeinschaft und die in einer Broschüre mit dem Titel „Our teachings on child training“ [„Unsere Lehren zur Kindeserziehung“] enthaltenen Richtlinien bestätigt worden seien. Wie in seiner Entscheidung im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 68125/14 (siehe Rdnr. 18) stellte das Gericht auch fest, dass die Religionsfreiheit der Eltern Rutenschläge nicht rechtfertige und dass es keine andere Möglichkeit gegeben habe, die weniger in die Rechte der Familie eingegriffen hätte. Es stellte ferner fest, dass der Wille der beiden Mädchen (neun und zwölf Jahre alt) einer solchen Entscheidung nicht entgegenstünde, da nur das Sachverständigengutachten im Hauptsorgerechtsverfahren klären könne, wie relevant der Wille der Mädchen sei und inwieweit sie selbst in der Lage seien, einen eigenen Willen zu bilden.
24. Am 5. Mai 2014 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 959/14).
D. Überprüfung der Vollstreckung der einstweiligen Anordnung
25. Die Beschwerdeführer legten auch Beschwerde gegen die im Rahmen der einstweiligen Anordnung angeordnete Vollzugsform (siehe Rdnr. 11) ein. Das Oberlandesgericht trennte diesen Teil der Beschwerde von dem das Sorgerecht betreffenden Teil (siehe Rdnrn. 18 und 23) ab, da die beiden Teile mit unterschiedlichen Rechtsmitteln anzufechten seien und unterschiedliche Verfahrensvorschriften beträfen. Die Beschwerde der Beschwerdeführer im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 68125/14 erklärte das Oberlandesgericht am 4. Juni 2014 wegen Verspätung für unzulässig. Die Beschwerde der Beschwerdeführer im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 72204/14 erklärte das Oberlandesgericht am 13. August 2014 teilweise für unzulässig und teilweise für unbegründet.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT
A. Das Grundgesetz (GG)
26. Artikel 1 GG lautet wie folgt:
„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“
27. Artikel 2 GG lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. […]“
28. Artikel 4 GG lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. […]“
29. Artikel 6 GG lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. […]“
B. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)
30. § 1631 Abs. 2 BGB lautet wie folgt:
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
31. § 1666 BGB lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
[…]
(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.“
32. § 1666a BGB lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. […]
(2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.“
C. Das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)
33. § 54 FamFG über die Aufhebung oder Änderung früherer Entscheidungen lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Das Gericht kann die Entscheidung in der einstweiligen Anordnungssache aufheben oder ändern. Die Aufhebung oder Änderung erfolgt nur auf Antrag, wenn ein entsprechendes Hauptsacheverfahren nur auf Antrag eingeleitet werden kann. Dies gilt nicht, wenn die Entscheidung ohne vorherige Durchführung einer nach dem Gesetz notwendigen Anhörung erlassen wurde.
(2) Ist die Entscheidung in einer Familiensache ohne mündliche Verhandlung ergangen, ist auf Antrag auf Grund mündlicher Verhandlung erneut zu entscheiden. […]“
34. § 56 FamFG legt fest, wie lang eine einstweilige Anordnung in Kraft bleibt. Soweit maßgeblich lautet die Bestimmung wie folgt:
„(1) Die einstweilige Anordnung tritt, sofern nicht das Gericht einen früheren Zeitpunkt bestimmt hat, bei Wirksamwerden einer anderweitigen Regelung außer Kraft. […]“
D. Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)
35. Nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes hat ein Verfahrensbeteiligter, der infolge unangemessener Verfahrensdauer einen Nachteil erleidet, Anspruch auf angemessene Entschädigung. § 198 lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
(2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 € für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. …
(5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. […]“
III. DAS EINSCHLÄGIGE VÖLKERRECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS
A. Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 26. Januar 1990 über die Rechte des Kindes
36. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes ist in Deutschland am 5. April 1992 in Kraft getreten. Die maßgeblichen Passagen lauten wie folgt:
„Artikel 3
(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. […]
Artikel 9
(1) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, dass die zuständigen Behörden in einer gerichtlich nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist. Eine solche Entscheidung kann im Einzelfall notwendig werden, wie etwa wenn das Kind durch die Eltern misshandelt oder vernachlässigt wird oder wenn bei getrennt lebenden Eltern eine Entscheidung über den Aufenthaltsort des Kindes zu treffen ist.
(2) In Verfahren nach Absatz 1 ist allen Beteiligten Gelegenheit zu geben, am Verfahren teilzunehmen und ihre Meinung zu äußern. […]
Artikel 19
(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut. […]
Artikel 37
Die Vertragsstaaten stellen sicher,
a) dass kein Kind der Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen wird. […]“
37. Der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes hat in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 13 (2011) (The right of the child to freedom from all forms of violence [CRC/C/GC/13]; veröffentlicht am 18. April 2011) eine Orientierungshilfe zur Auslegung von Artikel 19 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes gegeben. Die maßgeblichen Passagen lauten wie folgt:
„IV. Rechtliche Analyse von Artikel 19
A. Artikel 19 Absatz 1
1. ‚…vor jeder Form…‘
Keine Ausnahmen. Der Ausschuss hat stets die Auffassung vertreten, dass jede Form der Gewalt gegen Kinder inakzeptabel ist, egal wie geringfügig sie sein mag. Die Formulierung „jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung“ lässt keinen Raum für eine rechtliche Zulässigkeit von Gewalt gegen Kinder in irgendeiner Form. Bei der Bestimmung des Begriffs der Gewalt ist nicht auf die Häufigkeit und die Schwere eines Schadens oder die Absicht, einen Schaden hinzuzufügen, abzustellen. Die Vertragsstaaten können im Rahmen von Interventionsstrategien auf derartige Parameter hinweisen, um angemessene Maßnahmen im Sinne des Kindeswohls zu ermöglichen, doch die Begriffsbestimmungen dürfen das absolute Recht von Kindern auf menschliche Würde und physische und psychische Unversehrtheit keinesfalls untergraben, indem einige Formen der Gewalt als rechtlich und/oder sozial akzeptabel beschrieben werden.
[…]
Körperliche Gewaltanwendung. Hierzu gehört die tödliche und nicht-tödliche körperliche Gewaltanwendung. Nach Auffassung des Ausschusses umfasst die körperliche Gewaltanwendung
a) jede körperliche Bestrafung und alle anderen Formen der Folter und der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe;
[…]
Körperliche Bestrafung In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 8 (Rdnr. 11) hat der Ausschuss „körperliche“ bzw. „physische“ Bestrafung als jede Bestrafung definiert, bei der physische Gewalt angewendet wird und die die Zufügung eines gewissen – egal wie geringen – Maßes von Schmerz oder Unwohlsein bezweckt. In den meisten Fällen handelt es sich um das Schlagen von Kindern („Ohrfeige“, „Klaps“, „Tracht Prügel“) mit der Hand oder einem Gegenstand wie einer Peitsche, einem Stock, Gürtel, Schuh, Holzlöffel etc. Es kann beispielsweise aber auch zu Tritten, Schütteln oder Werfen von Kindern, Kratzen, Zwicken, Beißen, Haare Ziehen oder Schlägen auf das Ohr, Züchtigungen, erzwungenem Verharren in unbequemen Positionen, Verbrennungen, Verbrühungen oder erzwungenem Schlucken kommen. Nach Auffassung des Ausschusses sind körperliche Bestrafungen in jedem Fall erniedrigend.
[…]
Schädliche Praktiken Hierzu gehören unter anderem
a) körperliche Bestrafungen und andere Formen grausamer oder erniedrigender Strafe;
[…]“
38. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 (2013) ) über das Recht des Kindes darauf, dass sein Wohl als ein vorrangiger Gesichtspunkt berücksichtigt wird (CRC/C/GC/14; veröffentlicht am 29. Mai 2013) bietet der Ausschuss Orientierungshilfe für die Auslegung von Artikel 3 Abs. 1 des Übereinkommens und der Gesichtspunkte, die es bei der Beurteilung des Kindeswohls zu berücksichtigen gilt. Die maßgeblichen Passagen lauten wie folgt:
„A. Beurteilung und Feststellung des Kindeswohls
[…]
1. Bei der Beurteilung des Kindeswohls zu berücksichtigende Elemente
52. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen ist der Ausschuss der Auffassung, dass bei der Beurteilung und Feststellung des Kindeswohls, soweit in der in Rede stehenden Situation relevant, folgende Elemente zu berücksichtigen sind:
a) die Meinung des Kindes
[…]
b) die Identität des Kindes
[…]
c) Erhalt des familiären Umfelds und Aufrechterhaltung von Beziehungen
[…]
60. Eine Trennung der Familie zu vermeiden und das Familiengefüge zu erhalten, sind wichtige Bestandteile des Systems zum Schutz der Kinder und beruhen auf dem in Artikel 9 Absatz 1 vorgesehenen Recht, wonach „ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, … dass diese Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist.“ […]
61. In Anbetracht der gravierenden Auswirkungen, die eine Trennung von den Eltern für das Kind hat, soll eine solche Trennung nur als letztes Mittel erfolgen, beispielsweise wenn das Kind der Gefahr unmittelbar drohenden Schadens ausgesetzt ist oder dies aus anderen Gründen notwendig ist; eine Trennung soll nicht erfolgen, wenn das Kind durch weniger einschneidende Maßnahmen geschützt werden könnte. Bevor eine Trennung vollzogen wird, soll der Staat den Eltern Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortlichkeiten gewähren und die Familie erneut oder besser in die Lage versetzen, für das Kind zu sorgen, sofern die Trennung nicht zum Schutz des Kindes notwendig ist.
[…]
d) Fürsorge für das Kind sowie Schutz und Sicherheit des Kindes
[…]
73. Bei der Beurteilung des Kindeswohls muss auch die Sicherheit des Kindes berücksichtigt werden, d. h. das Recht des Kindes auf Schutz vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung (Art. 19), sexueller Belästigung, Gruppenzwang, Mobbing, erniedrigender Behandlung usw. sowie auf Schutz vor sexueller, wirtschaftlicher und sonstiger Ausbeutung, Suchtstoffen, Arbeit, bewaffneten Konflikten usw. (Art. 32-39).
74. Ein kindeswohlorientiertes Herangehen an die Entscheidungsfindung bedeutet, dass die Sicherheit und Unversehrtheit des Kindes zum gegebenen Zeitpunkt zu beurteilen ist; das Vorsorgeprinzip verlangt aber auch die Einschätzung eventueller künftiger Risiken und Schäden sowie der sonstigen Folgen der Entscheidung für die Sicherheit des Kindes.
e) Vulnerabilitätssituation
[…]
f) Das Recht des Kindes auf Gesundheit
[…]
g) Das Recht des Kindes auf Bildung
[…]“
B. Die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961
39. Die Europäische Sozialcharta ist im Verhältnis zu Deutschland am 27. Januar 1965 in Kraft getreten. Ihr Artikel 17 hat folgenden Wortlaut:
„Artikel 17 – Das Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz
Um die wirksame Ausübung des Rechtes der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz zu gewährleisten, werden die Vertragsparteien alle hierzu geeigneten und notwendigen Maßnahmen treffen, einschließlich der Schaffung und Unterhaltung geeigneter Einrichtungen und Dienste.“
40. Das Ministerkomitee des Europarats hat in einer Resolution vom 17. Juni 2015 (CM/ResChS(2015)12) Folgendes zur Auslegung dieser Bestimmung ausgeführt:
„Sowohl auf europäischer wie auch auf internationaler Ebene besteht nunmehr weitgehend Einvernehmen unter den Menschenrechtseinrichtungen, dass die körperliche Bestrafung von Kindern ausdrücklich und umfassend gesetzlich verboten werden sollte. Das Komitee nimmt diesbezüglich insbesondere auf die Allgemeinen Bemerkungen Nrn. 8 und 13 des Ausschusses für die Rechte des Kindes Bezug. Zuletzt wurde in der Sachentscheidung im Fall Weltorganisation gegen die Folter (OMCT) ./. Portugal, Beschwerdenr. 34/2006, 5. Dezember 2006, Rdnrn. 19-21, die folgende Auslegung von Artikel 17 der Charta im Hinblick auf die körperliche Bestrafung von Kindern vorgenommen: ‚Damit Artikel 17 eingehalten ist, muss das innerstaatliche Recht der Staaten alle Formen von Gewalt gegen Kinder, also Handlungen und Verhaltensweisen, die die körperliche Integrität, die Würde, die Entwicklung oder das psychische Wohl von Kindern wahrscheinlich beeinträchtigen, verbieten und unter Strafe stellen. Die einschlägigen Bestimmungen müssen hinreichend klar, verbindlich und präzise sein, um zu verhindern, dass die Gerichte deren Anwendung auf Fälle der Gewalt gegen Kinder ablehnen. Darüber hinaus ist ein sorgfältiges Handeln der Staaten vonnöten, um sicherzustellen, dass derartige Gewalt in der Praxis ausgeschlossen ist.’“
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. VERBINDUNG DER BESCHWERDEN
41. Aufgrund ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds entscheidet der Gerichtshof, die beiden Individualbeschwerden nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu verbinden.
II. UMFANG DER INDIVIDUALBESCHWERDEN
42. Zunächst hält es der Gerichtshof für erforderlich, den Umfang der Individualbeschwerden klarzustellen. Er stellt fest, dass sich die Beschwerdeführer in ihren ursprünglichen Beschwerden zu der einstweiligen Anordnung, deren Vollzug und den Einschränkungen des Zugangs der Eltern zu ihren Kindern und der Umgangskontakte zwischen diesen geäußert haben. Nachdem die Regierung ihre einseitigen Erklärungen (siehe Rdnrn. 45 bis 48) und die Information, dass das Oberlandesgericht über die Beschwerden der Beschwerdeführer hinsichtlich des Vollzugs der einstweiligen Anordnung vom 1. September 2013 (siehe Rdnr. 25) entschieden habe und dass diese Entscheidungen nicht vor dem Bundesgerichtshof angefochten worden seien, eingereicht hatte, stellten die Beschwerdeführer in Stellungnahmen zu den einseitigen Erklärungen der Regierung den Umfang ihrer Individualbeschwerden klar. Sie brachten vor, der Gegenstand ihrer Individualbeschwerden sei lediglich der Teil des im Wege der einstweiligen Anordnung ergangenen Beschlusses, der die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts betreffe, und nicht die den Vollzug oder den Zugang bzw. Umgang betreffenden Teile.
43. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass jeder Beschwerdeführer dafür verantwortlich ist, den Gegenstand seiner Individualbeschwerde und damit den Umfang der Überprüfung durch den Gerichtshof klarzustellen. Folglich betrachtet er die Individualbeschwerden als auf diejenigen innerstaatlichen Entscheidungen begrenzt, die die teilweise Entziehung des Sorgerechts der Eltern betreffen.
III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION
44. Die Beschwerdeführer rügten, dass die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts und die anschließende Trennung der Kinder und ihrer Eltern unverhältnismäßig gewesen sei und nicht auf eine hinreichende Tatsachengrundlage gestützt worden sei, sondern auf allgemeine Erwägungen hinsichtlich der Glaubensgemeinschaft „X.“ und ihre religiösen Überzeugungen. Sie rügten ferner, dass sie daran gehindert worden seien, ihre Kinder nach ihrer religiösen Überzeugung zu erziehen und dass das Gerichtsverfahren zu einer Stigmatisierung ihrer Glaubensgemeinschaft geführt habe. Was das zugrunde liegende familiengerichtliche Verfahren angeht, rügten die Beschwerdeführer, dass sie vor Erlass der einstweiligen Anordnung vom 1. September 2013 nicht angehört worden seien. Sie machten auch geltend, dass die Dauer des Zwischenverfahrens vor den Familiengerichten und des Bestands der einstweiligen Anordnung überlang gewesen sei. Die Beschwerdeführer beriefen sich auf ihr in Artikel 8 der Konvention vorgesehenes Recht auf Achtung ihres Familienlebens. Außerdem beriefen sie sich auf die Artikel 9 und 14 in Verbindung mit Artikel 8 der Konvention, Artikel 2 des ersten Zusatzprotokolls und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention. Der Gerichtshof, der Herr über die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist (siehe K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 46544/99, Rdnr. 56, ECHR 2002‑I), hält es jedoch für angemessen, die Rügen lediglich nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres […] Familienlebens […]
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
A. Verfahrensdauer
45. Mit Schreiben vom 9. Juni 2016 unterrichtete die Regierung den Gerichtshof, dass die Vergleichsgespräche mit den Beschwerdeführern gescheitert seien und dass sie vorschlage, einseitige Erklärungen zur Erledigung der Frage abzugeben, welche die Beschwerde nach Artikel 8 der Konvention aufwirft. Des Weiteren beantragte sie beim Gerichtshof, den Teil der Beschwerde, der die Dauer des Zwischenverfahrens von 1. September 2013 bis 5. Mai 2014 betreffe, gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
46. Die Erklärungen lauteten wie folgt:
„Die Bundesregierung möchte daher nunmehr – durch eine einseitige Erklärung – anerkennen, dass die Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache durch die Dauer des Bestands der einstweiligen Anordnung auf Entziehung von Teilbereichen der elterlichen Sorge in ihrem Recht aus Artikel 8 EMRK auf Achtung des Familienlebens verletzt worden sind.“
47. Die Erklärung bezüglich Individualbeschwerdeverfahren Nr. 68125/14 lautete ferner wie folgt:
„Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof eine Entschädigungsforderung in Höhe von 9.000,00 € anzuerkennen. Mit diesem Betrag in Höhe von 9.000,00 € würden sämtliche Ansprüche der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere auf Schadensersatz (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten.“
48. Die Erklärung bezüglich Individualbeschwerdeverfahren Nr. 72204/14 lautete ferner wie folgt:
„Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof eine Entschädigungsforderung in Höhe von 8.000,00 € anzuerkennen. Mit diesem Betrag in Höhe von 8.000,00 € würden sämtliche Ansprüche der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere auf Schadensersatz (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten.“
49. Mit Schreiben vom 8. Juli 2016 teilten die Beschwerdeführer mit, dass sie die von der Regierung in deren Erklärungen genannten Beträge für inakzeptabel gering halte und die einseitigen Erklärungen keine hinreichende Wiedergutmachung für die von ihnen erlittenen Verletzungen von Artikel 8 darstellten.
50. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchst. a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“
51. Er erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.
52. Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung sorgfältig im Lichte der Grundsätze, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben, insbesondere aus dem Urteil Tahsin Acar (Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75 bis 77, EGMR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Sulwińska ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 28953/03).
53. Der Gerichtshof hat in einer Reihe von Fällen, darunter einige gegen Deutschland, seine Praxis in Bezug auf Rügen festgelegt, die im Hinblick auf Verletzungen des Rechts auf Achtung des Familienlebens und die Frage einer ineffektiven, insbesondere verzögerten Durchführung eines Sorgerechtsverfahrens erhoben wurden (siehe z. B. M. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 23280/08 und 2334/10, 6. Oktober 2016; Z. ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 43155/05, 30. November 2010; und V.A.M. ./. Serbien, Individualbeschwerde Nr. 39177/05, 13. März 2007).
54. Der Gerichtshof hat die Art der in den Erklärungen der Regierung enthaltenen Eingeständnisse und die vorgeschlagenen Entschädigungssummen zur Kenntnis genommen. Er ist der Auffassung, dass diese Beträge binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshofs nach Artikel 37 Abs. 1 der Konvention gezahlt werden sollten. Erfolgt die Zahlung dieser Beträge innerhalb dieser Frist nicht, fallen darauf einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Ansicht, dass eine weitere Prüfung dieses Teils der Beschwerden nicht länger gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c).
55. Darüber hinaus ist der Gerichtshof im Lichte der vorstehenden Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen Rechtsprechung zu diesem Thema gewiss, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Teile der Beschwerden erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).
B. Sorgerechtsentziehung
1. Zulässigkeit
56. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieser Teil der Individualbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention ist. Er ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist er für zulässig zu erklären.
2. Begründetheit
a) Die Stellungnahmen der Parteien
i) Die Beschwerdeführer
57. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass von Beginn an kein Grund für die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts bestanden habe. Die innerstaatlichen Gerichte hätten in willkürlicher Art und Weise körperliche Züchtigungen mit Kindesmisshandlung gleichgesetzt, obwohl keines der beschwerdeführenden Kinder körperliche Zeichen von Misshandlungen oder Verletzungen gezeigt habe. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass ihre Erziehungsmethode der „körperlichen Disziplinierung“ keine Gewalt oder Kindeshandlung darstelle oder ihren Kinder in irgendeiner Form schade. Darüber hinaus beruhe sie auf ihren religiösen Überzeugungen und ihrem Verständnis der Bibel.
58. Die Beschwerdeführer machten ferner geltend, dass die Trennung der Kinder von ihren Eltern diesen mehr geschadet habe als körperliche Züchtigungen jedweder Art es gekonnt hätten. Folglich hätte den Beschlüssen nicht das Wohl der Kinder zugrunde gelegen, die während des gesamten Verfahrens den Wunsch geäußert hätten, wieder mit ihren Eltern vereint zu werden. Die Entscheidungen seien höchst unverhältnismäßig gewesen, da die Gerichte keine milderen Maßnahmen in Erwägung gezogen hätten, sondern erwartet hätten, dass die beschwerdeführenden Eltern ihre Erziehungspraktiken und damit ihre religiösen Überzeugungen aufgeben.
59. Im Hinblick auf die Tatsachengrundlage der betreffenden Entscheidungen und insbesondere der Anordnung vom 1. September 2013 brachten die Beschwerdeführer vor, dass diese sich lediglich auf allgemeine Mutmaßungen über die Gemeinschaft „X.“ gestützt hätten, die von ehemaligen Mitgliedern der Gemeinschaft und illegal beschafftem Videomaterial stammten, welches weder Bestrafungen von noch Bestrafungen durch die Beschwerdeführer gezeigt hätten. Im Hinblick auf die Beschwerdeführer selbst habe es keine Beweise geben und vor der Inobhutnahme der Kinder seien sie nicht angehört worden.
ii) Die Regierung
60. Die Regierung trug vor, dass die Gerichtsentscheidungen den Schutz der Gesundheit, der Moral, der Rechte und der Freiheiten der beschwerdeführenden Kinder zum Ziel gehabt hätten. Die Entscheidungen seien außerdem „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen, da es „zutreffende und hinreichende“ Gründe für die Entziehung einiger Elternrechte und deren Übertragung auf das Jugendamt gegeben habe. Die Beschwerdeführer hätten in einer Gemeinschaft gelebt, die Züchtigungen mit der Rute für eine zu korrigierenden und erzieherischen Zwecken eingesetzte Methode der körperlichen Disziplinierung halte, die von der Bibel gutgeheißen werde. Da die beschwerdeführenden Eltern aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen auch die Praxis der systematischen körperlichen Züchtigung ihrer Kinder mit einer Rute gutgeheißen hätten, seien die innerstaatlichen Gerichte gezwungen gewesen, die notwendigen Teile des Sorgerechts im Sinne des Kindeswohls zu entziehen, welches in den vorliegenden Fällen Vorrang vor den Interessen der Eltern gehabt habe. Die maßgeblichen Gerichtsentscheidungen seien im Hinblick auf das Alter, in dem die beschwerdeführenden Kinder gefährdet seien, und im Hinblick auf die elterlichen Rechte, die bei den Eltern verbleiben könnten, so weit wie möglich begrenzt gewesen. Da die Beschwerdeführer weder dazu bereit gewesen seien, mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, noch dazu, ihre Erziehungsmethoden aufzugeben, habe es keine milderen Maßnahmen zum Schutz der Kinder gegeben.
61. Die betreffenden Entscheidungen seien in fairen Verfahren ergangen, in die die Beschwerdeführer umfassend einbezogen worden seien. Angesichts der Natur von Eilverfahren mit ihrem besonderen Geschwindigkeitsbedürfnis hätten die Familiengerichte eine hinreichende Tatsachengrundlage für ihre Entscheidungen gehabt und die Einholung der Sachverständigengutachten berechtigterweise auf das Hauptsacheverfahren verschoben. Gleichermaßen sei es legitim gewesen, die Beschwerdeführer erst nach der anfänglichen Eilentscheidung anzuhören, um einer Fluchtgefahr entgegenzuwirken.
iii) Die Drittbeteiligte
62. Die Drittbeteiligte ADF International machte geltend, dass es dem Wohl eines Kindes grundsätzlich dienlich sei, von seinen Eltern großgezogen zu werden, und dass die Trennung eines Kindes von seinen Eltern eine traumatische und schädliche Erfahrung sei. Die Drittbeteiligte führte weiter aus, dass der Gerichtshof dies anerkannt habe, da er in seiner Rechtsprechung die Bedeutung des Erhalts familiärer Bindungen hervorgehoben und Familienzusammenführungen angestrebt habe. Darüber hinaus habe der Gerichtshof für die Rechtfertigung der Inobhutnahme von Kindern stets hinreichend geeignete und schwerwiegende Gründe gefordert und festgestellt, dass allein der Umstand, dass ein Kind in Pflege besser gestellt wäre, nicht ausreiche (siehe Olsson ./. Schweden (Nr. 1), 24. März 1988, Rdnr. 71, Reihe A Band 130).
(b) Würdigung durch den Gerichtshof
i) Eingriff
63. Die Parteien waren sich einig darüber, dass die einstweilige Anordnung und die teilweise Entziehung des Sorgerechts vom 1. September 2013 bis 30. November 2013 in Bezug auf die älteste Tochter der Familie S. und bis 5. Mai 2014 in Bezug auf die anderen beschwerdeführenden Kinder einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Familienlebens dargestellt habe. Der Gerichtshof schließt sich dieser Schlussfolgerung an und stellt fest, dass ein solcher Eingriff eine Verletzung von Artikel 8 darstellt, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden.
ii) Gesetzliche Grundlage
64. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer zwar die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen in der vorliegenden Rechtssache rügten, jedoch nicht bestritten, dass die betreffenden Entscheidungen eine Grundlage im nationalen Recht hatten, namentlich in den §§ 1631, 1666 und 1666a BGB (siehe Rdnrn. 30 bis 32).
iii) Legitimes Ziel
65. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte kein legitimes Ziel verfolgt hätten und die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts nicht auf Erwägungen hinsichtlich körperlicher Bestrafung sondern auf die Tatsache gestützt worden sei, dass die Beschwerdeführer Mitglieder in der Glaubensgemeinschaft „X.“ seien und ihre Kinder im Einklang mit ihrem Glauben erzögen. Sie machten geltend, dass die Entscheidungen im Wesentlichen eine Diskriminierung wegen ihrer Religion darstellten.
66. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass das in den Artikeln 8 und 9 der Konvention verankerte Recht auf Achtung des Familienlebens und auf Religionsfreiheit zusammen mit dem in Artikel 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Konvention vorgesehenen Recht auf Achtung der weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen der Eltern bei der Erziehung die Eltern berechtigt, ihren Kindern im Rahmen ihrer Erziehung ihre religiösen Überzeugungen mitzuteilen und näherzubringen (Vojnity ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 29617/07, Rdnr. 37, 12. Februar 2013). Obgleich der Gerichtshof akzeptiert hat, dass dies in einer ein- und aufdringlichen Art und Weise geschehen kann, hat er betont, dass Kinder hierdurch keinen gefährlichen Praktiken oder körperlichen oder seelischen Schädigungen ausgesetzt werden dürfen (ebenda). Dieser Schutz Minderjähriger vor Schädigungen wurde auch in anderen internationalen Übereinkünften wie dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes bekräftigt, welches Staaten verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Kinder vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung zu schützen (siehe Rdnr. 36).
67. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Mitgliedschaft der Beschwerdeführer in der Glaubensgemeinschaft und ihre religiösen Anschauungen in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte zwar erörtert wurden, die Gerichte ihre Entscheidungen jedoch auf die Möglichkeit stützten, dass die Kinder mit einer Rute geschlagen werden könnten. Er stellt ferner fest, dass die Beschwerdeführer die Verbindung zwischen den religiösen Überzeugungen und den Züchtigungen mit einer Rute selbst hergestellt haben, indem sie die Kindesbehandlung mit Bibelzitaten und den religiösen Anschauungen der beschwerdeführenden Eltern begründeten. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass die von den Beschwerdeführern gerügten Entscheidungen den Schutz der „Gesundheit oder der Moral“ und der „Rechte und Freiheiten“ der Kinder zum Ziel hatten. Sie verfolgten also legitime Ziele im Sinne von Artikel 8 Abs. 2.
iv) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft
α) Allgemeine Grundsätze
68. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er bei der Frage, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, zu prüfen hat, ob die zur Rechtfertigung der Maßnahmen angeführten Gründe im Lichte des Falles als Ganzem „zutreffend und hinreichend“ waren. Nach Artikel 8 muss zwischen den Interessen des Kindes und denen des Elternteils ein gerechter Ausgleich herbeigeführt werden und dabei dem Wohl des Kindes, das je nach seiner Art und Bedeutung den Interessen des Elternteils vorgehen kann, besonderes Gewicht beigemessen werden (siehe E. ./. Deutschland, [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnrn. 48, 50, ECHR 2000‑VIII; T.P. und K.M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28945/95, Rdnr. 70, ECHR 2001‑V (Auszüge); und H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28422/95, Rdnrn. 48, 49, 5. Dezember 2002).
69. Bei der Bestimmung des Kindeswohls in einem bestimmten Fall sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens dient, außer in Fällen, in denen sich die Familie als besonders ungeeignet erwiesen hat, der Erhalt seiner Bindungen zu seiner Familie dem Wohl des Kindes; und zweitens dient es dem Wohl des Kindes, seine Entwicklung in einem sicheren Umfeld sicherzustellen, und ein Elternteil hat keinen Anspruch nach Artikel 8 auf Maßnahmen, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden (Neulinger und Shuruk ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 41615/07, Rdnr. 136, ECHR 2010). Der Nachweis, dass ein Kind in einem Umfeld untergebracht werden könnte, das seinem Aufwachsen förderlicher wäre, reicht nicht aus ( K. und T. ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25702/94, Rdnr. 173, ECHR 2001‑VII).
70. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass Artikel 8 der Konvention zwar keine ausdrücklichen Verfahrenserfordernisse enthält, der mit Eingriffsmaßnahmen verbundene Entscheidungsprozess aber fair und so gestaltet sein muss, dass die gebührende Achtung der durch Artikel 8 geschützten Interessen sichergestellt ist. Der Gerichtshof kann nicht ausreichend beurteilen, ob die von den innerstaatlichen Gerichten zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen angeführten Gründe im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 „hinreichend“ waren, ohne gleichzeitig festzustellen, ob die Eltern in den Entscheidungsprozess als Ganzes so weit eingebunden waren, dass der erforderliche Schutz ihrer Interessen gewährleistet war (siehe u.a. T.P. und K.M. ./. Vereinigtes Königreich a. a. O., Rdnr. 72, und S../. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 89, 10. November 2005).
71. Bei der Prüfung der zur Rechtfertigung der Maßnahmen angeführten Gründe und des Entscheidungsprozesses berücksichtigt der Gerichtshof gebührend die Tatsache, dass die innerstaatlichen Behörden den Vorteil hatten, mit allen Beteiligten unmittelbar in Verbindung zu stehen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, an Stelle der innerstaatlichen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorgerechts wahrzunehmen (vgl. u. v. a. E., a. a. O., Rdnr. 48). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Behörden bei der Beurteilung der Frage, ob ein Kind in Obhut zu nehmen ist einen großen Ermessensspielraum haben (ebenda, Rdnr. 49).
72. Schließlich weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Verpflichtung der Hohen Vertragsparteien nach Artikel 1 der Konvention, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten zuzusichern, in Verbindung mit Artikel 3 die Vertragsstaaten verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die sicherstellen sollen, dass Personen, die ihrer Hoheitsgewalt unterstehen, nicht gefoltert oder unmenschlich und erniedrigend behandelt oder bestraft werden, auch nicht durch Privatpersonen (siehe A. ./. Vereinigtes Königreich, 23. September 1998, Rdnr. 22, Reports of Judgments and Decisions 1998-VI). In einer Reihe von Fällen wurde festgestellt, dass Artikel 3 eine positive Verpflichtung für Staaten, Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu gewähren, zur Folge hat: siehe beispielsweise die Rechtssache A. ./. Vereinigtes Königreich (a. a. O.), bei der das beschwerdeführende Kind von seinem Stiefvater geschlagen wurde; und die Rechtssache Z u. a. ./. Vereinigtes Königreich ([GK], Individualbeschwerde Nr. 29392/95, ECHR 2001-V), bei der vier beschwerdeführende Kinder von ihren Eltern schwer misshandelt und vernachlässigt wurden.
73. Ferner gilt, dass eine gegen Artikel 3 verstoßende Misshandlung normalerweise zwar tatsächliche Körperverletzungen oder intensives körperliches oder seelisches Leid verursacht, eine Behandlung aber auch trotz Fehlens dieser Aspekte als erniedrigend einzustufen sein kann und unter das in Artikel 3 vorgesehene Verbot fallen kann, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, ihre Menschenwürde missachtet oder schmälert oder Gefühle der Angst, Qual und Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, ihren moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (Bouyid ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 23380/09, Rdnr. 87, ECHR 2015, m. w. N.). In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof auch fest, dass der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes körperliche Bestrafung als jede Bestrafung definiert hat, bei der physische Gewalt angewendet wird und die die Zufügung eines gewissen – egal wie geringen – Maßes von Schmerz oder Unwohlsein bezweckt. Außerdem hat er betont, dass jede Form der Gewalt gegen Kinder inakzeptabel ist, egal wie geringfügig sie sein mag (siehe Rdnr. 37).
74. Schließlich hat der Gerichtshof in Fällen, die die Artikel 3 und 8 betrafen, die Bedeutung des Alters der betroffenen Minderjährigen und, in Fällen, in denen ihr körperliches und moralisches Wohl gefährdet ist, die Notwendigkeit betont, dass Kinder und andere verletzliche Mitglieder der Gesellschaft durch den Staat geschützt werden (siehe z. B. K.U. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 2872/02, Rdnr. 46, ECHR 2008; Mubilanzila Mayeka und Kaniki Mitunga ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 13178/03, Rdnr. 53, ECHR 2006‑XI und Ioan Pop u. a. ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 52924/09, 6. Dezember 2016). Auch die Notwendigkeit, die Verletzlichkeit von Minderjährigen zu berücksichtigen, wurde auf internationaler Ebene bekräftigt (siehe die Verweise auf das internationale Recht in der Rechtssache Bouyid, a. a. O., Rdnrn. 52 bis 53 und 109).
β) Anwendung auf den vorliegenden Fall
75. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Rügen der Beschwerdeführer im Kern die Frage betreffen, ob die Erziehungspraxis der Züchtigung mit einer Rute einen hinreichend schwerwiegenden Grund für eine teilweisen Sorgerechtsentziehung und eine Inobhutnahme von Kindern darstellt.
76. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Beschwerdeführer vorbrachten, die von ihnen angewandte Praxis des Schlagens mit einer Rute überschreite die Schwelle des Artikels 3 der Konvention nicht, und dass bei der Untersuchung der Kinder nach der Inobhutnahme keine körperlichen Zeichen von Misshandlungen an diesen festgestellt worden seien. Obgleich der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache nicht entscheiden muss, ob die – tatsächliche oder zu erwartende – Behandlung der Kinder durch die Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer Schwere den Schwellenwert der Anwendbarkeit von Artikel 3 der Konvention überschritten hat, stellt er dennoch fest, dass eine Behandlung dieser Art in den Anwendungsbereich von Artikel 3 der Konvention fallen könnte (siehe A. ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 21).
77. Um jede Gefahr der Misshandlung und erniedrigenden Behandlung von Kindern zu vermeiden, hält es der Gerichtshof für ratsam, dass die Mitgliedstaaten jede Form der körperlichen Bestrafung von Kindern gesetzlich verbieten. Diesbezüglich stellt er fest, dass Deutschland Kindern bereits ein Recht auf gewaltfreie Erziehung eingeräumt und körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen verboten hat.
78. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Mitgliedstaaten gesetzliche Verbote der körperlichen Bestrafung von Minderjährigen mit verhältnismäßigen Maßnahmen durchsetzen sollten, damit derartige Verbote praktisch und wirksam sind und nicht rein theoretisch bleiben. Daher ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Gefahr der systematischen und regelmäßigen Züchtigung mit einer Rute einen zutreffenden Grund für eine teilweise Sorgerechtsentziehung und die Inobhutnahme der Kinder darstellte.
79. Bei der Beurteilung der Frage, ob die von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe auch im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 hinreichend waren, muss der Gerichtshof prüfen, ob der Entscheidungsprozess insgesamt den Beschwerdeführern den erforderlichen Schutz ihrer Interessen zuteil werden ließ und ob die gewählten Maßnahmen verhältnismäßig waren.
80. Im Hinblick auf die Rügen der Beschwerdeführer, vor Erlass der einstweiligen Anordnung vom 1. September 2013 nicht angehört worden zu sein, stellt der Gerichtshof fest, dass der entsprechende Beschluss am 29. bzw. 30. November 2013 von dem Familiengericht überprüft wurde, wobei auch die Beschwerdeführer gehört wurden. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer unter den Umständen des vorliegenden Falles in einer Position waren, die es ihnen ermöglichte, alle ihre Argumente gegen die Sorgerechtsentziehung vorzubringen.
81. Hinsichtlich der Beweisgrundlage für die Entscheidungen stellt der Gerichtshof fest, dass das Familiengericht und das Oberlandesgericht die Eltern, die Kinder – mit Ausnahme des beschwerdeführenden Sohnes im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 68125/14 wegen dessen Alters – die Verfahrensbeistände der Kinder und Vertreter des Jugendamts angehört haben. Die Gerichte, die den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu allen betroffenen Personen hatten, stellten vornehmlich aufgrund der Aussagen ehemaliger Mitglieder der Gemeinschaft „X.“ eine allgemeine Erziehungspraxis der Züchtigung mit Ruten fest. Angesichts der Vorbringen der beschwerdeführenden Eltern und ihrer Aussagen in den Verfahren sowie der Aussagen einiger Kinder kamen die Gerichte zu dem Schluss, dass die beschwerdeführenden Eltern Züchtigungen mit der Rute vornahmen oder vornehmen könnten und dass die beschwerdeführenden Kinder der Gefahr ausgesetzt seien, mit der Rute gezüchtigt zu werden. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Schlussfolgerungen auf eine hinreichende Tatsachengrundlage gestützt waren und nicht willkürlich oder unangemessen erscheinen.
82. Im Hinblick darauf, dass die Gerichte keine Sachverständigengutachten zur Relevanz des Willens der beschwerdeführenden Kinder, ihrer Fähigkeit, diesen Willen selbst zu bilden, und den Folgen der Rutenschläge für die Kinder eingeholt haben, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht immer einen psychologischen Sachverständigen hinzuziehen müssen, sondern die besonderen Umstände des Einzelfalls für diese Fragen ausschlaggebend sind (siehe sinngemäß S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, Rdnr. 71, ECHR 2003‑VIII (Auszüge)). In der vorliegenden Rechtssache hat das Familiengericht nach der Inobhutnahme der beschwerdeführenden Kinder Hauptsorgerechtsverfahren eingeleitet und Sachverständigengutachten eingeholt. Angesichts der Natur von Eilverfahren und des besonderen Geschwindigkeitsbedürfnis von Zwischenverfahren hält es der Gerichtshof für akzeptabel, dass die Familiengerichte in dem Zwischenverfahren nicht erst die Schlussfolgerungen eines Sachverständigen abwarteten, sondern diese auf das Hauptsacheverfahren verlegten.
83. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrenserfordernisse, die sich aus Artikel 8 der Konvention ergeben, erfüllt waren.
84. Schließlich hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die Entscheidungen zur teilweisen Entziehung des Sorgerechts und zur Inobhutnahme der Kinder verhältnismäßig waren. Die Inobhutnahme von Kindern und damit einhergehende Trennung einer Familie stellt einen sehr erheblichen Eingriff in das in Artikel 8 der Konvention geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens dar und sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden (siehe Neulinger und Shuruk, a. a. O., Rdnr. 136). Die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte waren jedoch auf die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung gestützt, wie sie nach Artikel 3 der Konvention verboten ist. Der Gerichtshof hat bereits früher festgestellt, dass die Konvention selbst unter den schwierigsten Umständen ein absolutes Verbot der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung enthält, das unabhängig vom Verhalten der betroffenen Person gilt. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Gefährdung der Kinder nicht abstrakt – auf der Grundlage der Erziehungsansichten der Beschwerdeführer – beurteilt, sondern einen differenzierten Ansatz verfolgt haben. Das Familiengericht und das Oberlandesgericht begrenzten die Entziehung des Sorgerechts auf die absolut notwendigen Bereiche und auf die beschwerdeführenden Kinder, die ein Alter hatten, in dem körperliche Züchtigungen zu erwarten waren und die daher einer konkreten und unmittelbaren Gefahr erniedrigender Bestrafung ausgesetzt waren. Da Kinder nach deutschem Recht ein Anrecht auf eine gewaltfreie Erziehung haben und angesichts der dem Gesetz entgegenstehenden, aber festen Überzeugung der Beschwerdeführer kamen die innerstaatlichen Gerichte zu dem Schluss, dass eine Inobhutnahme der Kinder gerechtfertigt sei.
85. Darüber hinaus haben die innerstaatlichen Gerichte ausführlich begründet, warum es für einen Schutz der Kinder keine andere Möglichkeit gab, die einen geringeren Eingriff in die Rechte der einzelnen Familien dargestellt hätte. Die Gerichte befanden, dass die Eltern keine Bereitschaft gezeigt hätten, von Disziplinierungen ihrer Kinder abzusehen, und eine stärkere Unterstützung durch das Jugendamt die Sicherheit der Kinder nicht zu jeder Zeit gewährleisten würde. Darüber hinaus befanden die Gerichte, dass die Eltern selbst dann, wenn sie bereit wären, von körperlichen Züchtigungen abzusehen, und in der Lage wären, dem Druck der Gemeinschaft standzuhalten, nicht gewährleisten könnten, dass nicht andere Mitglieder der Gemeinschaft die Kinder mit der Rute schlagen würden, während sie sie beaufsichtigten. Unter den Umständen des vorliegenden Falles schließt sich der Gerichtshof diesen Schlussfolgerungen an. Er stellt fest, dass es in dem Verfahren um eine Art der institutionalisierten Gewalt gegen Minderjährige ging, die nach Auffassung der beschwerdeführenden Eltern ein Element der Erziehung ihrer Kinder darstellte. Folglich hätte eine Unterstützung durch das Jugendamt, beispielsweise durch Elternkurse, die Kinder nicht wirksam schützen können, da die körperliche Disziplinierung der Kinder in ihrem unerschüttlichen Dogma verankert war.
86. Die vorstehenden Ausführungen sind ausreichend, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass es „zutreffende und hinreichende“ Gründe für die teilweise Entziehung des Sorgerechts gab. Auf der Grundlage eines fairen Verfahrens haben die innerstaatlichen Gerichte, ohne dabei den Ermessensspielraum, der den innerstaatlichen Stellen zusteht, überschritten zu haben, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der beschwerdeführenden Kinder und denen der beschwerdeführenden Eltern herbeigeführt, der den Schutz des Wohls der Kinder zum Ziel hatte.
87. Folglich ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ERKLÄRT DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;
2. er nimmt den Wortlaut der Erklärungen der beschwerdegegnerischen Regierung nach Artikel 8 der Konvention im Hinblick auf die Dauer des Zwischenverfahrens sowie die Modalitäten für die Erfüllung der darin enthaltenen Verpflichtungen zur Kenntnis und ordnet folglich an,
a) dass der beschwerdegegnerische Staat den Beschwerdeführern im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 68125/14 (W.) binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshofs nach Artikel 37 Abs. 1 der Konvention, 9.000 € (neuntausend Euro) für den materiellen und immateriellen Schaden sowie die Kosten und Auslagen zu zahlen hat;
b) dass der beschwerdegegnerische Staat den Beschwerdeführern im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 72204/15 (S.) binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshofs nach Artikel 37 Abs. 1 der Konvention, 8.000 € (achttausend Euro) für den materiellen und immateriellen Schaden sowie die Kosten und Auslagen zu zahlen hat;
c) dass nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
3. dieser Teil der Beschwerden wird gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c der Konvention im Register gestrichen;
4. die Individualbeschwerde wird im Übrigen für zulässig erklärt;
5. Artikel 8 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 22. März 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
ANHANG
Individualbeschwerde Nr. | Beschwerdeführer/in | Geburtstag | Staatsangehörigkeit |
68125/14 | P. W.
C. W. J. W. |
19..
19.. 2011 |
Deutsch
Deutsch Deutsch |
72204/14 | A. S.
R. S. B. S. C. S. I. S. |
19..
19.. 1999 2002 2004 |
Deutsch
Österreichisch Deutsch und österreichisch Deutsch und österreichisch Deutsch und österreichisch |
[1] Anm. d. Übers.: Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Pluralform „die Beschwerdeführer“ verwendet, auch wenn mehrere Personen verschiedenen Geschlechts gemeint sind.
[2] Anm. d. Übers.: Redaktioneller Fehler. Richtig wäre der 17.02.2014.
[3] Anm. d. Übers.: Redaktioneller Fehler. Richtig wäre der 8.4.2014.
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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