RECHTSSACHE TLAPAK UND OTHERS ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerden Nrn. 11308/16 und 11344/16

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE T. U. A. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerden Nrn. 11308/16 und 11344/16)
URTEIL
STRASSBURG
22. März 2018

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache T. u. a. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer
und Lәtif Hüseynov
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 20. Februar 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 11308/16 und 11344/16) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die zwei Beschwerdeführer und zwei Beschwerdeführerinnen[1] am 24. Februar 2016 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatten. Die Namen, Staatsangehörigkeiten und Geburtsdaten der Beschwerdeführer sind im Anhang zu diesem Urteil aufgelistet.

2. Die Beschwerdeführer wurden von Herrn H. F., Rechtsanwalt in D., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Die Beschwerdeführer rügten insbesondere unter Berufung auf Artikel 8 der Konvention die angeblich unverhältnismäßigen Beschlüsse der innerstaatlichen Gerichte in den Hauptsacheverfahren, mit denen ihr Sorgerecht teilweise entzogen wurde, eine unzureichende Tatsachengrundlage für diese Beschlüsse und die Dauer und Ungerechtigkeit der Hauptsacheverfahren vor den Familiengerichten. Sie beriefen sich im Hinblick auf diese Behauptungen auch auf Artikel 6. Nach Artikel 9 der Konvention sowie Artikel 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Konvention rügten die Beschwerdeführer, dass sie daran gehindert worden seien, ihre Kinder nach ihrer religiösen Überzeugung zu erziehen und dass ihre religiösen Überzeugungen der Grund für die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts gewesen seien.

4. Am 16. März 2016 wurden der Regierung die Beschwerden im Hinblick auf Artikel 8 der Konvention übermittelt.

5. Es gingen schriftliche Stellungnahmen der ADF (Alliance Defending Freedom) International ein, die vom Vizepräsidenten ermächtigt worden war, sich als Drittbeteiligte an den beiden Verfahren zu beteiligen (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

6. Bei den Beschwerdeführern im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 11308/16 (T.) handelt es sich um eine Mutter und einen Vater. Ihr Sohn J. wurde 2012 geboren. Bei den Beschwerdeführern im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 11344/16 (P.) handelt es sich ebenfalls um eine Mutter und einen Vater. Ihre Töchter A. und B. wurden 2009 und ihr Sohn G. 2013 geboren. Die Beschwerdeführer sind alle Mitglieder der Glaubensgemeinschaft „X.“ und lebten in einer aus ungefähr 20 Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft bestehenden Gemeinde in W., Deutschland. Eine weitere Gemeinde mit etwa 100 Mitgliedern befand sich in dem nahe gelegenen Dorf K.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

7. Im Jahr 2012 berichtete die Presse über die Glaubensgemeinschaft „X.“ und ihre Haltung zum Recht von Eltern zur körperlichen Züchtigung, insbesondere durch das Schlagen mit einer Rute. Darüber hinaus wurden Aussagen eines ehemaligen Mitglieds der Glaubensgemeinschaft veröffentlicht, die bestätigten, dass Kinder mit der Rute gezüchtigt worden seien.

8. 2012 und 2013 besuchten die örtlichen Jugendämter die beiden Gemeinschaften und deren Sprecher wurden zu einem Treffen in das zuständige Landesministerium eingeladen. Bei diesem Treffen wurden die körperliche Züchtigung und das Thema der Schulpflicht besprochen.

9. Am 16. August 2013 erhielten das Jugendamt K. und das Familiengericht Videoaufnahmen eines Fernsehreporters, in denen zehn verschiedene Fälle körperlicher Züchtigung in der Gemeinschaft in K. gezeigt wurden. Die mit versteckter Kamera gefertigten Videoaufzeichnungen zeigten die Züchtigung verschiedener Kinder im Alter zwischen drei und zwölf Jahren mit der Rute. Nach Aussagen des Fernsehreporters handelte es sich bei der Person, die die Züchtigung durchführte, in den meisten Fällen nicht um ein Elternteil des Kindes, das gezüchtigt wurde.

10. Am 3. September 2013 erließ das Familiengericht auf Antrag des zuständigen Jugendamts im Wege der einstweiligen Anordnung einen Beschluss in Bezug auf alle Kinder in der Gemeinschaft W., einschließlich der Kinder der Beschwerdeführer. Das Gericht entzog den Beschwerdeführern das Recht zur Aufenthaltsbestimmung für ihre Kinder und das Recht zur Regelung ihrer ärztlichen Versorgung, schulischen Belange und der Ausbildungs- und Berufswahl und übertrug diese Rechte auf das Jugendamt. Es stützte seinen Beschluss auf die oben genannten Videoaufnahmen und die Aussagen des Fernsehreporters und sechs ehemaliger Mitglieder der „X.“ Gemeinschaft. Es kam zu dem Schluss, dass es hinreichend wahrscheinlich sei, dass die Kinder körperlicher Züchtigung in Form von Schlägen mit der Rute und so genanntem „Restraining“ ausgesetzt würden, bei dem die Gliedmaßen eines Kindes festgehalten und sein Kopf nach unten gedrückt werde, bis das Kind keine Kraft mehr habe zu schreien oder sich zu widersetzen.

11. Am 5. September 2013 nahm das Jugendamt die Kinder der Gemeinschaft in seine Obhut. Sie wurden dabei von rund 30 Polizeibeamten unterstützt, die gleichzeitig die Räumlichkeiten der Gemeinschaft durchsuchten und eine Holzrute fanden.

12. Im Anschluss daran wurden die Kinder der Beschwerdeführer untersucht. Es wurden jedoch keine körperlichen Zeichen von Misshandlungen oder Schlägen vorgefunden.

13. J. T. wurde daraufhin in einer Pflegefamilie untergebracht. Da er noch gestillt wurde, durfte seine Mutter ihn hierzu täglich besuchen.

14. A. und B. P. wurden ebenfalls in einer Pflegefamilie untergebracht. Die Familie ihrer Tante wurde als Pflegefamilie anerkannt und die Kinder daraufhin dort untergebracht.

15. Da G. P. damals erst ein Jahr und vier Monate alt war und noch gestillt wurde, wurden er und seine Mutter gemeinsam in einer Pflegefamilie untergebracht.

1. Individualbeschwerde Nr. 11308/16 (T.)

16. Am 13. September 2013 hörte das Familiengericht die Beschwerdeführer an und hielt seine Entscheidung vom 3. September 2013 mit vorläufiger Entscheidung vom 23. September 2013 aufrecht.

17. Am 2. Dezember 2013 wies das Oberlandesgericht eine Beschwerde der Beschwerdeführer gegen die vorläufige Entscheidung des Familiengerichts weitgehend zurück, wobei es die Entscheidung im Hinblick auf das elterliche Recht zur Regelung der schulischen Belange aufhob. Aufgrund des Alters des Sohnes sah das Gericht diesbezüglich keinen Regelungsbedarf im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes.

18. 2015 zogen die Beschwerdeführer – ohne ihren Sohn J. – in die Tschechische Republik, wo sie seither leben.

2. Individualbeschwerde Nr. 11344/16 (P.)

19. Am 13. September 2013 hörte das Familiengericht die Beschwerdeführer und am 18. September 2013 die Töchter der Beschwerdeführer in ihrer Pflegefamilie an. Die Töchter berichteten, dass ihre Eltern sie als Form der körperlichen Züchtigung mit einer Rute auf die Hand geschlagen hätten. Am 23. September 2013 bestätigte das Familiengericht seinen Beschluss vom 3. September 2013.

20. Am 2. Dezember 2013 hob das Oberlandesgericht auf Beschwerde der Beschwerdeführer hin den Beschluss im Hinblick auf die Entziehung des Rechts zur Bestimmung von G. P. Aufenthalt auf. Im Hinblick auf die Töchter wurde der frühere Beschluss mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten und der Ausbildungs- und Berufswahl der Töchter bei den Eltern verbleibe.

21. Daraufhin wurde der Sohn den Beschwerdeführern zurückgegeben, die zunächst nach Belgien und später in die Tschechische Republik zogen, wo sie seither leben. Die Töchter der Beschwerdeführer befinden sich weiterhin in einer Pflegefamilie (siehe Rdnr. 14).

B. Die Hauptsacheverfahren

1. Individualbeschwerde Nr. 11308/16 (T.)

22. Auf Antrag der Beschwerdeführer vom 9. September 2013 leitete das Familiengericht das Hauptsacheverfahren ein und gab am 24. September 2013 ein Sachverständigengutachten in Auftrag.

23. Nachdem er die Beschwerdeführer befragt und ein Treffen zwischen ihnen und ihrem Sohn beobachtet hatte, legte der Sachverständige am 19. Dezember 2013 ein schriftliches Gutachten vor. Er befand, dass die Beschwerdeführer zwar eine liebevolle Haltung zu ihrem Sohn hätten, die körperliche Züchtigung mit Gegenständen jedoch für eine geeignete und notwendige Erziehungsmethode hielten. Weil sie bereit seien, diese Methode auf ihren Sohn anzuwenden, sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie ihren Sohn im Falle des Verbleibs bei ihnen körperlich züchtigen würden. Dies würde die Entwicklung des Sohnes erheblich gefährden und zu psychologischen Problemen führen, so der Sachverständige. Insgesamt sei es im Interesse des Wohls des Kindes, von seinen Eltern getrennt untergebracht zu werden, um ihn vor den Erziehungsmethoden der Beschwerdeführer zu schützen, die gefährlich für das Kind seien. Da ihr Erziehungskonzept auf religiösen Überzeugungen beruhe, seien sie nicht gewillt, die Erziehungsmethode der körperlichen Züchtigung aufzugeben, und auch nicht bereit, mit den Behörden zusammenzuarbeiten oder Hilfe zu akzeptieren. Folglich seien weniger einschneidende Maßnahmen nicht als ausreichend einzuschätzen.

24. Die Beschwerdeführer legten daraufhin ein privat in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten vor, in dem der Ansatz und die Methodik des gerichtlich bestellten Sachverständigen kritisiert wurden. Darüber hinaus widerriefen die Beschwerdeführer rückwirkend ihre Einwilligung in eine Begutachtung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen und in eine Untersuchung ihres Sohnes.

25. In einem gesonderten Verfahren erließ das Familiengericht am 1. August 2014 im Wege der einstweiligen Anordnung einen Beschluss, in dem es den Beschwerdeführern das elterliche Recht zur Entscheidung über eine Begutachtung ihres Sohnes durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen entzog und einer solchen Maßnahme zustimmte.

26. Am 4. August 2014 leitete das Familiengericht das privat in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten an den gerichtlich bestellten Sachverständigen weiter, der mit Schreiben vom 15. August 2014 auf die Kritikpunkte reagierte und Angaben zu seiner Methodik machte.

27. Bei einem Verhandlungstermin am 19. September 2014 machte das Gericht den Beschwerdeführern und dem Jugendamt einen Vergleichsvorschlag mit dem Zweck der Rückgabe des Sohnes. Allerdings konnten sich die Beschwerdeführer und das Jugendamt, insbesondere wegen Uneinigkeit über den Besuch einer staatlichen Schule und einer Spieltherapie durch den Sohn, nicht auf einen Vergleich einigen. Darüber hinaus gab es Bedenken hinsichtlich einer Teilnahme der Eltern an einem Elternkurs und der Mitwirkung an medizinischen Maßnahmen. Das Jugendamt hielt diese Aspekte für wesentlich und lehnte den von den Beschwerdeführern vorgeschlagenen Teilvergleich ab.

28. Nachdem es den Sohn der Beschwerdeführer in dessen Pflegefamilie, wo er seit 21. Oktober 2014 untergebracht war, angehört hatte, entschied das Familiengericht am 22. Oktober 2014, den Beschwerdeführern das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts ihres Sohnes und zur Entscheidung über dessen Gesundheitsfürsorge und Beschulung zu entziehen, und übertrug diese Rechte auf das zum Ergänzungspfleger bestellte Jugendamt.

29. Das Familiengericht führte aus, dass das Kindeswohl bei Verbleib des Sohnes bei den Beschwerdeführern aufgrund ihrer Erziehungsmethoden in erheblichem Maße gefährdet wäre. Gestützt insbesondere auf das gerichtlich bestellte Sachverständigengutachten und die Angaben der Beschwerdeführer während des Gerichtsverfahrens kam das Gericht zu dem Schluss, dass eine hohe und konkrete Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der Sohn über mehrere Jahre hinweg unter Einsatz von Gegenständen gezüchtigt werden würde. Nach Auffassung des Sachverständigen lasse dies die Entstehung psychischer Probleme bei dem Sohn der Beschwerdeführer erwarten. Auch wenn die Trennung von Eltern und Kind einen schweren Eingriff in ihr Recht auf Familie nach Artikel 6 GG (siehe Rdnr. 53) darstelle und möglicherweise negative Folgewirkungen für das Kind habe, sei dieser Eingriff im vorliegenden Fall gerechtfertigt. Körperliche Züchtigungen der in Frage stehenden Art seien für ein Kind in besonderem Maße entwürdigend. Sie seien nicht nur nach § 1631 Abs. 2 BGB (siehe Rdnr. 54) verboten, sondern stellten auch einen Eingriff in die in Artikel 1 GG (siehe Rdnr. 50) geschützte Menschenwürde eines Kindes und in das in Artikel 2 GG (siehe Rdnr. 51) geschützte Recht eines Kindes auf körperliche Unversehrtheit dar.

30. Das Gericht befand auch, dass sich die Gefährdung des Kindes nicht mit milderen Maßnahmen abwenden lasse. Im Verlauf des Verfahrens hätten die Beschwerdeführer ihren Erziehungsstil uneingeschränkt gepriesen und die Auffassung abgelehnt, dass die von ihnen befürwortete Form einer körperlichen Züchtigung unter das Gewaltverbot nach § 1631 BGB falle. Die körperlichen Spuren einer solchen Züchtigung seien nur von kurzer Dauer und daher für das Jugendamt nur bei unangekündigten Besuchen und auch nur dann feststellbar, wenn das Kind zufällig unmittelbar zuvor gezüchtigt worden sei. Die psychischen Folgen seien nach den Ausführungen des Sachverständigen hingegen erst nach langer Zeit feststellbar und auf den ersten Blick kaum bemerkbar. Obwohl die Beschwerdeführer zuletzt gegenüber dem Gericht eine Bereitschaft bekundet hätten, von körperlichen Züchtigungen zukünftig Abstand zu nehmen, sei dies nach Sicht des Gerichts nicht überzeugend, da die Beschwerdeführer dafür keine Begründung abgegeben hätten. Das Familiengericht wies jedoch darauf hin, dass es den Beschwerdeführern freistehe, nach Beendigung des Verfahrens außergerichtlich eine Einigung mit dem Jugendamt über die Bedingungen zur Rückführung des Kindes zu treffen. Der frühere Vergleichsvorschlag sei jedoch abgelehnt worden, da die Beschwerdeführer nicht bereit gewesen seien, der Teilnahme an einer Spieltherapie und dem Besuch einer staatlichen Schule durch ihren Sohn zuzustimmen.

31. Im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführer ihre Zustimmung zu einer Begutachtung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen sowohl für sich selbst als auch für ihr Kind widerrufen hatten, nachdem das Gutachten bereits vorgelegt worden war, vertrat das Gericht die Auffassung, dass hieraus kein Verwertungsverbot für das Sachverständigengutachten in dem Verfahren folge. Das Gericht hatte anstelle der Eltern die Zustimmung zur Begutachtung des Sohns erteilt, außerdem stand das Vorgehen der Eltern angesichts der verfassungsrechtlich gebotenen Pflicht des Staates zum Schutz von Kindern einer Verwertung des Gutachtens in dem Verfahren nicht entgegen. Wäre es zulässig, dass Eltern bei Sachverständigengutachten, mit denen sie nicht einverstanden sind, nachträglich ihre Zustimmung zu einer Begutachtung widerrufen, wäre ein effektiver Schutz von Kindern in familiengerichtlichen Verfahren nicht möglich.

32. Die Beschwerdeführer legten daraufhin Beschwerde gegen den Beschluss des Familiengerichts ein. Nach einer Anhörung der Beschwerdeführer, ihres Sohnes, des Verfahrensbeistands des Sohnes, einer Vertreterin des Jugendamts, des gerichtlich bestellten Sachverständigen und des von den Beschwerdeführern beauftragten Sachverständigen wies das Oberlandesgericht die Beschwerde der Beschwerdeführer am 26. Mai 2015 zurück.

33. In einem 39 Seiten langen Beschluss hat sich das Oberlandesgericht im Detail mit den Ausführungen der Beschwerdeführer zu körperlichen Züchtigungen, den Publikationen der Glaubensgemeinschaft „X.“, dem Sachverständigengutachten und den diesbezüglichen Kritikpunkten des privat beauftragten Sachverständigen auseinandergesetzt. Insgesamt hat es den Beschluss und die Begründung des Familiengerichts vom 22. Oktober 2014 bestätigt. Es unterstrich, dass nicht jeder vereinzelte Verstoß gegen das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung nach § 1631 Abs. 2 BGB (siehe Rdnr. 54) eine Entziehung des elterlichen Sorgerechts rechtfertigen könne. Im Fall der Beschwerdeführer sei allerdings zu befürchten, dass auf angebliche Regelverstöße durch das Kind systematisch mit Rutenschlägen reagiert werden würde. Die Gefährdung des Kindeswohls liege außerdem bereits darin, dass das Kind in ständiger Angst davor leben müsse, körperliche Schmerzen erdulden und die daraus resultierende Demütigung als psychischen Schmerz erfahren zu müssen. Das Geschlagenwerden stelle per se die Kindesmisshandlung und den Missbrauch des elterlichen Sorgerechts dar. Auf den Eintritt von länger andauernden physischen Verletzungen komme es nicht an.

34. Das Gericht führte weiter aus, dass die Beschwerdeführer aufgrund ihrer religiösen Grundanschauung von der Richtigkeit ihrer Erziehungsmethoden überzeugt seien. Daher seien sie weder gewillt noch in der Lage, die Gefahren für ihr Kind abzuwenden, und ihre jüngsten widersprüchlichen Aussagen könnten nicht als glaubwürdig eingeschätzt werden.

35. Am 16. August 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine von den Beschwerdeführern eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1467/15).

2. Individualbeschwerde Nr. 11344/16 (P.)

36. Auf Antrag der Beschwerdeführer vom 9. September 2013 leitete das Familiengericht das Hauptsacheverfahren ein und gab am 24. September 2013 ein Sachverständigengutachten in Auftrag.

37. Nachdem er die Beschwerdeführer, ihre zwei Töchter und die Pflegeeltern der Kinder befragt und ein Treffen zwischen den Beschwerdeführern und ihren Kindern beobachtet hatte, legte der Sachverständige am 23. Dezember 2013 ein schriftliches Gutachten vor. Er führte aus, dass die Beschwerdeführer und ihre Töchter bestätigt hätten, dass die Eltern die Töchter mit einer Rute gezüchtigt hätten, und dass die Eltern trotz ihrer liebevollen Haltung ihren Kindern gegenüber die körperliche Züchtigung mit Gegenständen für eine geeignete und notwendige Erziehungsmethode hielten. Angesichts der früheren Vorfälle körperlicher Züchtigung und der allgemeinen Bereitschaft der Beschwerdeführer, diese Erziehungsmethode auf ihre Kinder anzuwenden, sei es praktisch sicher, dass sie diese erneut körperlich züchtigen würden. Der Sachverständige kam zu dem Schluss, dass der rigide, autoritäre Erziehungsstil der Beschwerdeführer und ihre Überzeugung, dass Kinder ab einem Alter von drei Jahren durch körperliche Züchtigung mit Gegenständen zu Gehorsam erzogen werden sollten, dem Wohl der Kinder erheblich entgegenstünden und einer unbeeinträchtigten Persönlichkeitsentwicklung abträglich seien. Er ging davon aus, dass derartige Methoden vermutlich zu psychologischen Problemen führen würden. Insgesamt sei es im Interesse des Wohls der Kinder, sie von ihren Eltern zu trennen. Da das Erziehungskonzept der Eltern auf religiösen Überzeugungen beruhe, seien sie nicht gewillt, die Erziehungsmethode der körperlichen Züchtigung aufzugeben, und auch nicht bereit, mit den Behörden zusammenzuarbeiten oder Hilfe zu akzeptieren. Folglich seien weniger in ihre Rechte einschneidende Maßnahmen nicht als ausreichend anzusehen.

38. Die Beschwerdeführer legten daraufhin ein privat in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten vor, in dem der Ansatz und die Methodik des gerichtlich bestellten Sachverständigen kritisiert wurden. Darüber hinaus widerriefen die Beschwerdeführer rückwirkend ihre Einwilligung in eine Begutachtung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen und in eine Untersuchung ihrer drei Kinder.

39. In einem gesonderten Verfahren erließ das Familiengericht am 1. September 2014 im Wege der einstweiligen Anordnung einen Beschluss, in dem es den Beschwerdeführern das elterliche Recht zur Entscheidung über eine Begutachtung ihrer Kinder durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen entzog und einer psychologischen Untersuchung zustimmte. Außerdem leitete es das privat in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten an den gerichtlich bestellten Sachverständigen weiter, der mit Schreiben vom 1. Oktober 2014 auf die Kritikpunkte reagierte und Angaben zu seiner Methodik machte.

40. Bei einem Verhandlungstermin am 29. September 2014 diskutierten die Parteien über einen Vergleich zwischen den Beschwerdeführern und dem Jugendamt mit dem Zweck der Rückgabe der Töchter an die Beschwerdeführer und des Schutzes aller drei Kinder. Allerdings konnten sich die Beschwerdeführer und das Jugendamt nicht auf einen Vergleich einigen, da sie sich insbesondere über den Besuch einer staatlichen Schule und die Teilnahme an einer Therapie durch die Kinder uneinig waren. Darüber hinaus waren die Beschwerdeführer nicht bereit, für eine längere Zeit unter der Aufsicht des Jugendamts in Deutschland zu verbleiben.

41. Nachdem es die Beschwerdeführer und dessen Töchter mehrmals – auch in einem Parallelverfahren – angehört hatte, entschied das Familiengericht am 21. Oktober 2014, den Beschwerdeführern das Recht zur Bestimmung des Aufenthalts ihrer drei Kinder und zur Entscheidung über deren Gesundheitsfürsorge und Beschulung zu entziehen, und übertrug diese Rechte auf das zum Ergänzungspfleger bestellte Jugendamt. Darüber hinaus ordnete das Gericht die Herausgabe des Sohnes an das Jugendamt an.

42. In seiner Begründung, die mit der im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 11308/14 (siehe Rdnrn. 29 bis 31) vergleichbar ist, führte das Familiengericht aus, dass es aufgrund der Erziehungsmethoden sehr abträglich für das Wohl der drei Kinder wäre, weiterhin bei ihren Eltern zu leben. Das Gericht unterstrich, dass § 1666 BGB (siehe Rdnr. 55) nicht zum Ziel habe, frühere Fälle der Kindesmisshandlung oder Erziehungsansichten, die zu § 1631 Abs. 2 BGB (siehe Rdnr. 54) im Widerspruch stehen, zu bestrafen, sondern drohende Gefahren für das Kindeswohl abzuwehren. Gestützt insbesondere auf das gerichtlich bestellte Sachverständigengutachten und die Angaben der Beschwerdeführer und ihrer Kinder kam das Gericht zu dem Schluss, dass eine hohe und konkrete Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die Kinder systematisch unter Einsatz von Gegenständen gezüchtigt würden, was wiederum dem Wohl der Kinder sowohl physisch als auch psychisch abträglich wäre. Der schwere Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Familie nach Artikel 6 GG (siehe Rdnr. 53) durch die Trennung von ihren Kindern sei dennoch nicht nur berechtigt, sondern auch verhältnismäßig, da die Gefahr für die Kinder nicht mit milderen Mitteln abgewendet werden könne. Zusätzlich zu dem Problem der Entdeckung körperlicher Züchtigungen durch unangekündigte Besuche des Jugendamts (siehe Rdnr. 30) wies das Gericht auch darauf hin, dass die Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens durchgehend keine Bereitschaft gezeigt hätten, mit dem Jugendamt zusammenzuarbeiten, und staatliche Schulen abgelehnt hätten, was nach Ansicht des Gerichts beides notwendig wäre, um entwürdigende körperliche Züchtigungen zu verhindern und eine Autonomieentwicklung der Kinder sicherzustellen. Nach Auffassung des Gerichts sei ferner zu erwarten, dass die Beschwerdeführer Deutschland verlassen würde, sollten ihnen die Kinder zurückgegeben werden, wodurch sie einer geregelten Aufsicht durch das zuständige Jugendamt entgehen würden. Schließlich kam das Gericht noch zu dem Schluss, dass der Widerruf der Zustimmung zu einer Begutachtung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen einer Verwertung dieses Gutachtens in dem Verfahren nicht entgegenstehe (siehe Rdnr. 31).

43. Die Beschwerdeführer legten daraufhin Beschwerde gegen den Beschluss des Familiengerichts ein und beantragten den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die Anordnung zur Herausgabe ihres Sohnes an das Jugendamt ausgesetzt werden sollte.

44. Am 15. Dezember 2014 setzte das Oberlandesgericht die Vollziehung der Herausgabeanordnung des Familiengerichts betreffend den Sohn vorläufig aus. Aufgrund seines Alters von einem Jahr und sechs Monaten und weil er noch gestillt werde, würde eine Vollstreckung der Herausgabeanordnung einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführer darstellen. Außerdem bestehe aufgrund des jungen Alters des Sohnes derzeit noch keine gegenwärtige und ausreichende Gefahr der körperlichen Züchtigung.

45. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens reichten die Beschwerdeführer einen Vergleichsvorschlag bei dem Oberlandesgericht ein. Danach würden die Beschwerdeführer vorübergehend nach Deutschland zurückkehren und über zwei Monate hinweg nach und nach unter Aufsicht des Jugendamts mit ihren Töchtern zusammengeführt werden. Im Anschluss an diesen Zeitraum würde der Beschluss des Familiengerichts nach erfolgreicher Familienzusammenführung ausgesetzt werden und die ganze Familie könnte in die Tschechische Republik ziehen.

46. Am 26. März 2015 führte das Oberlandesgericht eine mündliche Verhandlung durch, bei der es unter anderem die Beschwerdeführer, deren Töchter, den gerichtlich bestellten Sachverständigen, den von den Beschwerdeführern beauftragten Sachverständigen und den Verfahrensbeistand der Kinder anhörte. Die Töchter der Beschwerdeführer gaben an, dass sie ihre Eltern zwar gern öfter sehen würden, aber lieber bei ihren Pflegeeltern leben würden. Darüber hinaus führte eine Vertreterin des Jugendamts bei der Anhörung aus, dass die Beschwerdeführer sich nicht glaubhaft von ihren bisherigen Erziehungsmethoden distanziert hätten und das Jugendamt dem vorgeschlagenen Vergleich daher nicht zustimmen könne.

47. Am 10. Juni 2015 erließ das Oberlandesgericht einen 45 Seiten umfassenden ausführlichen Beschluss, in dem es die Beschwerde der Beschwerdeführer zurückwies und die Begründung des Familiengerichts bestätigte. Es befand, dass die nach § 1631 Abs. 2 BGB (siehe Rdnr. 54) verbotene körperliche Züchtigung mit einer Rute eine körperliche Misshandlung von Kindern darstelle und die zuständigen Behörden bei wiederholtem und regelmäßigem Vorkommen nach § 1666 BGB (siehe Rdnr. 55) verpflichtet seien, einzugreifen und die im Sinne des Kindeswohls notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Töchter der Beschwerdeführer hätten in dem Verfahren durchgehend angegeben, dass täglich geschlagen worden seien und die Beschwerdeführer selbst hätten bestätigt, dass sie ihre Tochter mit einer Rute „diszipliniert“ hätten. Das Gericht war überzeugt, dass die Beschwerdeführer ihre Kinder künftig weiterhin körperlich züchtigen würden, da diese Erziehungsmethode bereits gefestigt sei und auf Glaubensgrundsätzen basiere, von denen sich die Beschwerdeführer noch nicht grundlegend distanziert hätten. Ihre Äußerungen hätten gezeigt, dass sie körperliche Züchtigungen weiterhin grundsätzlich befürworteten und für eine angemessene Erziehungsmethode hielten. Der Umstand, dass die Beschwerdeführer zuletzt anerkannt hätten, dass ihre Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung hätten, bedeute nicht, dass sie ihre Erziehungshaltung dauerhaft verändert hätten, sondern diene lediglich dem verfahrensbezogenen Zweck der baldigen Rückführung ihrer Töchter. Nach Auffassung des Gerichts waren die Beschwerdeführer allenfalls für einen übergangsweisen Zeitraum bereit, auf körperliche Züchtigungen zu verzichten. Das Gericht habe daher keine Abkehr der Beschwerdeführer von ihrem Erziehungskonzept und keine glaubhafte Distanzierung von körperlichen Züchtigungen feststellen können. Folglich bestehe eine gegenwärtige Gefahr, dass die zwei Töchter im Falle ihrer Rückkehr zu ihren Eltern erneut systematischen körperlichen Züchtigungen ausgesetzt werden würden. Auch für den Sohn der Beschwerdeführer bestehe diese Gefahr, weil es kein festgelegtes Alter gebe, in dem die Beschwerdeführer mit der „Disziplinierung“ ihrer Kinder begännen, da sie diese als Werkzeug zur Durchsetzung ihrer Autorität ansähen. Da der zweijährige Sohn bald das „Trotzalter“ erreiche, sei zu erwarten, dass die Beschwerdeführer darauf mit Rutenschlägen reagieren würden.

48. Das Oberlandesgericht bestätigte zudem, dass der von den Beschwerdeführern erklärte Widerruf ihrer Zustimmung zu einer Begutachtung nicht zu einem Verwertungsverbot des Sachverständigengutachtens führe und dass es keine mildere Maßnahme zur Abwendung der gegenwärtigen Gefahr für das Wohl der Kinder gebe, welche sich aus der Durchführung körperlicher Züchtigungen durch die Eltern ergebe. In diesem Zusammenhang wies das Gericht unter anderem darauf hin, dass die Beschwerdeführer Deutschland bereits mit ihrem Sohn verlassen hätten und eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland ablehnten. Den zuständigen Behörden wäre es demnach von Beginn an unmöglich, die Familie hinreichend zu unterstützen oder das Erziehungsverhalten der Beschwerdeführer wirksam zu kontrollieren.

49. Am 16. August 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine von den Beschwerdeführern eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1589/15).

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

A. Das Grundgesetz (GG)

50. Artikel 1 Abs. 1 GG lautet folgendermaßen:

„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

51. Artikel 2 GG lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. […]“

52. Artikel 4 GG lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. […]“

53. Artikel 6 GG lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. […]“

B. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)

54. § 1631 Abs. 2 BGB lautet wie folgt:

„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

55. § 1666 BGB lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

[…]

(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere

1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,

2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,

3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,

4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,

5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,

6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.“

56. § 1666a BGB lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. […]

(2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.“

C. Das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)

57. Nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes hat ein Verfahrensbeteiligter, der infolge unangemessener Verfahrensdauer einen Nachteil erleidet, Anspruch auf angemessene Entschädigung. § 198 lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

(2) Ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, wird vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Hierfür kann Entschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß Absatz 4 ausreichend ist. Die Entschädigung gemäß Satz 2 beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung. Ist der Betrag gemäß Satz 3 nach den Umständen des Einzelfalles unbillig, kann das Gericht einen höheren oder niedrigeren Betrag festsetzen. […]

(5) Eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs nach Absatz 1 kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden. […]“

III. DAS EINSCHLÄGIGE VÖLKERRECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE VÖLKERRECHTLICHE PRAXIS

A. Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 26. Januar 1990 über die Rechte des Kindes

58. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes ist in Deutschland am 5. April 1992 in Kraft getreten. Die maßgeblichen Passagen lauten wie folgt:

„Artikel 3

(1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. […]

Artikel 9

(1) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, dass die zuständigen Behörden in einer gerichtlich nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist. Eine solche Entscheidung kann im Einzelfall notwendig werden, wie etwa wenn das Kind durch die Eltern misshandelt oder vernachlässigt wird oder wenn bei getrennt lebenden Eltern eine Entscheidung über den Aufenthaltsort des Kindes zu treffen ist.

(2) In Verfahren nach Absatz 1 ist allen Beteiligten Gelegenheit zu geben, am Verfahren teilzunehmen und ihre Meinung zu äußern. […]

Artikel 19

(1) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut. […]

Artikel 37

Die Vertragsstaaten stellen sicher,

a) dass kein Kind der Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen wird. […]“

59. Der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes hat in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 13 (2011) (The right of the child to freedom from all forms of violence [CRC/C/GC/13]; veröffentlicht am 18. April 2011) eine Orientierungshilfe zur Auslegung von Artikel 19 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes gegeben. Die maßgeblichen Passagen lauten wie folgt:

„IV. Rechtliche Analyse von Artikel 19

A. Artikel 19 Absatz 1

1. ‘…vor jeder Form…’

Keine Ausnahmen. Der Ausschuss hat stets die Auffassung vertreten, dass jede Form der Gewalt gegen Kinder inakzeptabel ist, egal wie geringfügig sie sein mag. Die Formulierung „jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung“ lässt keinen Raum für eine rechtliche Zulässigkeit von Gewalt gegen Kinder in irgendeiner Form. Bei der Bestimmung des Begriffs der Gewalt ist nicht auf die Häufigkeit und die Schwere eines Schadens oder die Absicht, einen Schaden hinzuzufügen, abzustellen. Die Vertragsstaaten können im Rahmen von Interventionsstrategien auf derartige Parameter hinweisen, um angemessene Maßnahmen im Sinne des Kindeswohls zu ermöglichen, doch die Begriffsbestimmungen dürfen das absolute Recht von Kindern auf menschliche Würde und physische und psychische Unversehrtheit keinesfalls untergraben, indem einige Formen der Gewalt als rechtlich und/oder sozial akzeptabel beschrieben werden.

[…]

Körperliche Gewaltanwendung. Hierzu gehört die tödliche und nicht-tödliche körperliche Gewaltanwendung. Nach Auffassung des Ausschusses umfasst die körperliche Gewaltanwendung

a) jede körperliche Bestrafung und alle anderen Formen der Folter und der grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe;

[…]

Körperliche Bestrafung In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 8 (Rdnr. 11) hat der Ausschuss „körperliche“ bzw. „physische“ Bestrafung als jede Bestrafung definiert, bei der physische Gewalt angewendet wird und die die Zufügung eines gewissen – egal wie geringen – Maßes von Schmerz oder Unwohlsein bezweckt. In den meisten Fällen handelt es sich um das Schlagen von Kindern („Ohrfeige“, „Klaps“, „Tracht Prügel“) mit der Hand oder einem Gegenstand wie einer Peitsche, einem Stock, Gürtel, Schuh, Holzlöffel etc. Es kann beispielsweise aber auch zu Tritten, Schütteln oder Werfen von Kindern, Kratzen, Zwicken, Beißen, Haare Ziehen oder Schlägen auf das Ohr, Züchtigungen, erzwungenem Verharren in unbequemen Positionen, Verbrennungen, Verbrühungen oder erzwungenem Schlucken kommen. Nach Auffassung des Ausschusses sind körperliche Bestrafungen in jedem Fall erniedrigend.

[…]

Schädliche Praktiken Hierzu gehören unter anderem

a) körperliche Bestrafungen und andere Formen grausamer oder erniedrigender Strafe;

[…]“

60. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 14 (2013) über das Recht des Kindes darauf, dass sein Wohl als ein vorrangiger Gesichtspunkt berücksichtigt wird (CRC/C/GC/14; veröffentlicht am 29. Mai 2013) bietet der Ausschuss Orientierungshilfe für die Auslegung von Artikel 3 Abs. 1 des Übereinkommens und der Gesichtspunkte, die es bei der Beurteilung des Kindeswohls zu berücksichtigen gilt. Die maßgeblichen Passagen lauten wie folgt:

„A. Beurteilung und Feststellung des Kindeswohls

[…]

1. Bei der Beurteilung des Kindeswohls zu berücksichtigende Elemente

52. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen ist der Ausschuss der Auffassung, dass bei der Beurteilung und Feststellung des Kindeswohls, soweit in der in Rede stehenden Situation relevant, folgende Elemente zu berücksichtigen sind:

a) die Meinung des Kindes

[…]

b) die Identität des Kindes

[…]

c) Erhalt des familiären Umfelds und Aufrechterhaltung von Beziehungen

[…]

60. Eine Trennung der Familie zu vermeiden und das Familiengefüge zu erhalten, sind wichtige Bestandteile des Systems zum Schutz der Kinder und beruhen auf dem in Artikel 9 Absatz 1 vorgesehenen Recht, wonach „ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, … dass diese Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist.“ […]

61. In Anbetracht der gravierenden Auswirkungen, die eine Trennung von den Eltern für das Kind hat, soll eine solche Trennung nur als letztes Mittel erfolgen, beispielsweise wenn das Kind der Gefahr unmittelbar drohenden Schadens ausgesetzt ist oder dies aus anderen Gründen notwendig ist; eine Trennung soll nicht erfolgen, wenn das Kind durch weniger einschneidende Maßnahmen geschützt werden könnte. Bevor eine Trennung vollzogen wird, soll der Staat den Eltern Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Verantwortlichkeiten gewähren und die Familie erneut oder besser in die Lage versetzen, für das Kind zu sorgen, sofern die Trennung nicht zum Schutz des Kindes notwendig ist.

[…]

d) Fürsorge für das Kind sowie Schutz und Sicherheit des Kindes

[…]

73. Bei der Beurteilung des Kindeswohls muss auch die Sicherheit des Kindes berücksichtigt werden, d. h. das Recht des Kindes auf Schutz vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung (Art. 19), sexueller Belästigung, Gruppenzwang, Mobbing, erniedrigender Behandlung usw. sowie auf Schutz vor sexueller, wirtschaftlicher und sonstiger Ausbeutung, Suchtstoffen, Arbeit, bewaffneten Konflikten usw. (Art. 32-39).

74. Ein kindeswohlorientiertes Herangehen an die Entscheidungsfindung bedeutet, dass die Sicherheit und Unversehrtheit des Kindes zum gegebenen Zeitpunkt zu beurteilen ist; das Vorsorgeprinzip verlangt aber auch die Einschätzung eventueller künftiger Risiken und Schäden sowie der sonstigen Folgen der Entscheidung für die Sicherheit des Kindes.

e) Vulnerabilitätssituation

[…]

f) Das Recht des Kindes auf Gesundheit

[…]

g) Das Recht des Kindes auf Bildung

[…]“

B. Die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961

61. Die Europäische Sozialcharta ist im Verhältnis zu Deutschland am 27. Januar 1965 in Kraft getreten. Ihr Artikel 17 hat folgenden Wortlaut:

„Artikel 17 – Das Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz

Um die wirksame Ausübung des Rechtes der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz zu gewährleisten, werden die Vertragsparteien alle hierzu geeigneten und notwendigen Maßnahmen treffen, einschließlich der Schaffung und Unterhaltung geeigneter Einrichtungen und Dienste.“

62. Das Ministerkomitee des Europarats hat in einer Resolution vom 17. Juni 2015 (CM/ResChS(2015)12) Folgendes zur Auslegung dieser Bestimmung ausgeführt:

„Sowohl auf europäischer wie auch auf internationaler Ebene besteht nunmehr weitgehend Einvernehmen unter den Menschenrechtseinrichtungen, dass die körperliche Bestrafung von Kindern ausdrücklich und umfassend gesetzlich verboten werden sollte. Das Komitee nimmt diesbezüglich insbesondere auf die Allgemeinen Bemerkungen Nrn. 8 und 13 des Ausschusses für die Rechte des Kindes Bezug. Zuletzt wurde in der Sachentscheidung im Fall Weltorganisation gegen die Folter (OMCT) ./. Portugal, Beschwerdenr. 34/2006, 5. Dezember 2006, Rdnrn. 19 bis 21, die folgende Auslegung von Artikel 17 der Charta im Hinblick auf die körperliche Bestrafung von Kindern vorgenommen: ‘Damit Artikel 17 eingehalten ist, muss das innerstaatliche Recht der Staaten alle Formen von Gewalt gegen Kinder, also Handlungen und Verhaltensweisen, die die körperliche Integrität, die Würde, die Entwicklung oder das psychische Wohl von Kindern wahrscheinlich beeinträchtigen, verbieten und unter Strafe stellen. Die einschlägigen Bestimmungen müssen hinreichend klar, verbindlich und präzise sein, um zu verhindern, dass die Gerichte deren Anwendung auf Fälle der Gewalt gegen Kinder ablehnen. Darüber hinaus ist ein sorgfältiges Handeln der Staaten vonnöten, um sicherzustellen, dass derartige Gewalt in der Praxis ausgeschlossen ist.’“

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. VERBINDUNG DER BESCHWERDEN

63. Aufgrund ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds entscheidet der Gerichtshof, die beiden Individualbeschwerden nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu verbinden.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

64. Die Beschwerdeführer rügten, dass die im Hauptsacheverfahren ergangenen Beschlüsse der innerstaatlichen Gerichte, mit denen ihr Sorgerecht teilweise entzogen wurde, unverhältnismäßig gewesen seien und auf ein unfaires Verfahren mit unzureichender Tatsachengrundlage gestützt worden seien. Sie machten ferner geltend, dass ihre Elternrechte wegen ihrer religiösen Überzeugungen entzogen worden seien und dass es ihnen verwehrt worden sei, ihre Kinder im Einklang mit ihren religiösen Überzeugungen zu erziehen. Schließlich rügten die Beschwerdeführer, dass die Hauptsacheverfahren vor den Familiengerichten unangemessen lang gedauert hätten. Die Beschwerdeführer beriefen sich auf Artikel 8 der Konvention. Darüber hinaus beriefen sie sich auf Artikel 6 Abs. 1 und Artikel 9 der Konvention sowie auf Artikel 2 des ersten Zusatzprotokolls. Der Gerichtshof, der Herr über die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist (siehe K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 46544/99, Rdnr. 56, ECHR 2002‑I), hält es für angemessen, die Rügen lediglich nach Artikel 8 der Konvention zu prüfen, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres […] Familienlebens […]

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

A. Zulässigkeit

1. Verfahrensdauer

65. Im Hinblick auf die Rüge der Beschwerdeführer hinsichtlich der Dauer des Hauptsacheverfahrens weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass er hinsichtlich der positiven Verpflichtungen des Staates nach Artikel 8 der Konvention bereits in früheren Entscheidungen festgestellt hat, dass eine ineffektive, insbesondere verzögerte Durchführung eines Sorgerechtsverfahrens zu einer Verletzung von Artikel 8 der Konvention führen kann (siehe z. B. M. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 23280/08 und 2334/10, Rdnr. 87, 6. Oktober 2016; Z. ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 43155/05, Rdnr. 142, 30. November 2010; und V.A.M. ./. Serbien, Individualbeschwerde Nr. 39177/05, Rdnr. 146, 13. März 2007).

66. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Hauptsacheverfahren in beiden Individualbeschwerdeverfahren auf Anträge der Beschwerdeführer vom 9. September 2013 eingeleitet wurden und mit Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16. August 2015 endeten. Das Verfahren dauerte demnach ein Jahr und elf Monate, wobei drei Instanzen durchlaufen wurden. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Familiengericht während des einen Jahres und einen Monats, während dessen die Fälle dort anhängig waren, ein Sachverständigengutachten eingeholt hat, welches aufgrund von Kritikpunkten, die der privat von den Beschwerdeführern beauftragte Sachverständige vorgebracht hatte, ergänzt werden musste. Ferner hat das Gericht die Zustimmung der Kinder in Parallelverfahren ersetzt, die Beschwerdeführer, ihre Kinder und weitere Zeugen angehört und Vergleichsverhandlungen zwischen den Beschwerdeführern und dem Jugendamt begleitet. Nach alledem ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es im Laufe des Verfahrens keine speziellen Verzögerungen gab, die auf die Verfahrensführung durch das Familiengericht zurückzuführen wären. Der Gerichtshof stellt deshalb fest, dass die Verfahren unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen keine Anzeichen einer Verletzung von Artikel 8 hinsichtlich der Verfahrensdauer erkennen lassen. Diese Rüge ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

2. Sorgerechtsentziehung

67. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Rüge hinsichtlich der Sorgerechtsentziehung nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Die Beschwerdeführer

68. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass die teilweise Entziehung des Sorgerechts unverhältnismäßig gewesen sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten in willkürlicher Art und Weise körperliche Züchtigungen mit Kindesmisshandlung gleichgesetzt, obwohl keines der Kinder körperliche Zeichen von Misshandlungen oder Verletzungen gezeigt habe. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass ihre Erziehungsmethode der „körperlichen Disziplinierung“ keine Gewalt oder Kindesmisshandlung darstelle oder ihren Kinder in irgendeiner Form schade. Trotzdem seien die innerstaatlichen Gericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass die „körperliche Disziplinierung“ wahrscheinlich zu psychischen Problemen führen würde. Diese Annahme sei auf das Gutachten eines gerichtlich bestellten Sachverständigen gestützt worden, dessen Schlussfolgerungen nicht nur in großem Umfang von dem von den Beschwerdeführern beauftragten Sachverständigen in Frage gestellt worden seien, sondern dessen Begutachtung die Beschwerdeführer auch nicht zugestimmt hätten.

69. Die Beschwerdeführer trugen ferner vor, dass die Trennung der Kinder von ihren Eltern diesen mehr geschadet habe als körperliche Züchtigungen jedweder Art. Folglich hätte den Beschlüssen nicht das Wohl der Kinder zugrunde gelegen. Die Entscheidungen seien höchst unverhältnismäßig gewesen, da die Gerichte keine milderen Maßnahmen in Erwägung gezogen hätten, sondern erwartet hätten, dass die beschwerdeführenden Eltern ihre Erziehungspraktiken und damit ihre religiösen Überzeugungen aufgeben. Darüber hinaus hätten die Gerichte die Beschwerdeführer daran gehindert, Deutschland mit ihren Kindern zu verlassen und in ein Land zu ziehen, wo ihre Erziehungsmethoden akzeptiert seien.

70. Zusammenfassend habe die Sorgerechtsentziehung kein rechtmäßiges Ziel verfolgt, da sie nicht auf das Wohl der Kinder ausgerichtet gewesen sei, sondern eine auf der Mitgliedschaft der Beschwerdeführer in der Glaubensgemeinschaft „X.“ beruhende Diskriminierung dargestellt habe. Darüber hinaus seien die Entscheidungen auch nicht „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen, da sie nicht auf „zutreffende und hinreichende“ Gründe gestützt worden seien.

b) Die Regierung

71. Die Regierung brachte vor, dass die teilweise Entziehung des Sorgerechts der Beschwerdeführer einen Eingriff dargestellt habe, der den Schutz der Rechte der Kinder der Beschwerdeführer zum Ziel gehabt habe. Die Entscheidungen seien „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ gewesen, da es „zutreffende und hinreichende“ Gründe für die Entziehung einiger Elternrechte und deren Übertragung auf das Jugendamt gegeben habe. Aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen hielten die Beschwerdeführer Schläge mit Ruten zu korrigierenden und erzieherischen Zwecken für legitim und die Beschwerdeführer im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 11344/16 hätten ihre Töchter bereits regelmäßig mit einer Rute körperlich gezüchtigt. Da sie verpflichtet seien, Kinder vor Gewalt zu schützen, seien die innerstaatlichen Gerichte gezwungen gewesen, den Beschwerdeführern diejenigen Aspekte des Sorgerechts zu entziehen, die zum Schutz des Wohls der Kinder notwendig gewesen seien, welches in den vorliegenden Fällen Vorrang vor den Interessen der Eltern gehabt habe. Die betreffenden Entscheidungen seien im Hinblick auf die Elternrechte, die bei den Beschwerdeführern verbleiben konnten, so weit wie möglich begrenzt gewesen. Darüber hinaus habe es keine milderen Maßnahmen zum Schutz der Kinder gegeben, da die Beschwerdeführer nicht glaubhaft nachgewiesen hätten, dass sie ihre Erziehungspraktiken aufgegeben hätten, und auch nicht zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden bereit gewesen seien.

72. Die Regierung wies auch darauf hin, dass es in den in Rede stehenden Hauptsacheverfahren keine weiteren Einschränkungen der Umgangskontakte zwischen den Beschwerdeführern und ihren Kindern gegeben habe und dass die Beschwerdeführer nicht daran gehindert worden seien, ihren Kindern die Vorstellungen und Überzeugungen ihrer Glaubensgemeinschaft zu vermitteln. Die Gerichte hätten lediglich die notwendigen Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, dass die Kinder aufgrund von Verhaltensweisen, welche den Beschwerdeführern zufolge auf ihren religiösen Überzeugungen und ihrem Verständnis der Bibel beruhen, körperlichen oder seelischen Schaden nehmen.

73. Gleichermaßen hätten die Gerichte die Beschwerdeführer nicht daran gehindert, Deutschland zu verlassen. Angesichts der von den Beschwerdeführern durch ihre Ausreise ins Ausland geschaffenen Situation seien die Gerichte jedoch zu Recht zu der Einschätzung gelangt, dass sich eine Kindeswohlgefährdung nicht mehr durch mildere Maßnahmen abwenden lasse, weil diese Maßnahmen von den zuständigen innerstaatlichen Stellen nicht mehr ausreichend überwacht und durchgesetzt werden könnten.

74. Schließlich trug die Regierung vor, dass die Entscheidungen in fairen Verfahren ergangen seien, in die die Beschwerdeführer und ihre Kinder umfassend einbezogen worden seien. Außerdem hätten die Gerichte sich sorgfältig mit dem schriftlichen Sachverständigengutachten und den diesbezüglichen Beanstandungen der Beschwerdeführer auseinandergesetzt. Die Gerichte hätten den von den Beschwerdeführern erklärten Widerruf ihrer Einwilligung zur Begutachtung berechtigterweise als unerheblich erachtet, da sie vor der Begutachtung hinreichend informiert gewesen seien und in Zivilverfahren kein Selbstbelastungverbot gelte. Insgesamt sei die Beweiswürdigung durch die Gerichte weder willkürlich noch unfair gewesen, sondern habe eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für das Wohl der Kinder dargestellt.

c) Die Drittbeteiligte

75. Die Drittbeteiligte ADF International machte geltend, dass es dem Wohl eines Kindes grundsätzlich dienlich sei, von seinen Eltern großgezogen zu werden, und dass die Trennung eines Kindes von seinen Eltern eine traumatische und schädliche Erfahrung sei. Die Drittbeteiligte führte weiter aus, dass der Gerichtshof dies anerkannt habe, da er in seiner Rechtsprechung die Bedeutung des Erhalts familiärer Bindungen hervorgehoben und Familienzusammenführungen angestrebt habe. Darüber hinaus habe der Gerichtshof für die Rechtfertigung der Inobhutnahme von Kindern stets hinreichend geeignete und schwerwiegende Gründe gefordert und festgestellt, dass allein der Umstand, dass ein Kind in Pflege besser gestellt wäre, nicht ausreiche (siehe Olsson ./. Schweden (Nr. 1), 24. März 1988, Rdnr. 71, Reihe A Band 130).

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Eingriff

76. Die Parteien sind sich einig darüber, dass die in den Hauptsacheverfahren ergangenen Entscheidungen, den Beschwerdeführern das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, zur Regelung der ärztlichen Versorgung und zur Regelung der schulischen Belange für ihre Kinder zu entziehen, einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Familienlebens darstellten. Der Gerichtshof schließt sich dieser Schlussfolgerung an und stellt fest, dass ein solcher Eingriff eine Verletzung von Artikel 8 darstellt, es sei denn, er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Absatz 2 dieser Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ angesehen werden.

b) Gesetzliche Grundlage

77. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer zwar die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen in der vorliegenden Rechtssache rügten, jedoch nicht bestritten, dass die betreffenden Entscheidungen eine Grundlage im nationalen Recht hatten, namentlich in den §§ 1666 und 1666a BGB (siehe Rdnrn. 55, 56).

c) Legitimes Ziel

78. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte kein legitimes Ziel verfolgt hätten und die teilweise Entziehung ihres Sorgerechts nicht auf Erwägungen hinsichtlich körperlicher Bestrafung sondern auf die Tatsache gestützt worden sei, dass die Eltern Mitglieder in der Glaubensgemeinschaft „X.“ seien und ihre Kinder im Einklang mit ihrem Glauben erzögen. Sie machten geltend, dass die Entscheidungen im Wesentlichen eine Diskriminierung wegen ihrer Religion darstellten.

79. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass das in den Artikeln 8 und 9 der Konvention verankerte Recht auf Achtung des Familienlebens und auf Religionsfreiheit zusammen mit dem in Artikel 2 des ersten Zusatzprotokolls zur Konvention vorgesehenen Recht auf Achtung der weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen der Eltern bei der Erziehung die Eltern berechtigt, ihren Kindern im Rahmen ihrer Erziehung ihre religiösen Überzeugungen mitzuteilen und näherzubringen (Vojnity ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 29617/07, Rdnr. 37, 12. Februar 2013). Obgleich der Gerichtshof akzeptiert hat, dass dies in einer ein- und aufdringlichen Art und Weise geschehen kann, hat er betont, dass Kinder hierdurch keinen gefährlichen Praktiken oder körperlichen oder seelischen Schädigungen ausgesetzt werden dürfen (ebenda). Dieser Schutz Minderjähriger vor Schädigungen wurde auch in anderen internationalen Übereinkünften wie dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes bekräftigt, welches Staaten verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Kinder vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung zu schützen (siehe Rdnr. 58).

80. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Mitgliedschaft der Beschwerdeführer in der Glaubensgemeinschaft und ihre religiösen Anschauungen in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte zwar erörtert wurden, die Gerichte ihre Entscheidungen jedoch auf die Wahrscheinlichkeit stützten, dass die Kinder mit einer Rute geschlagen werden würden. Er stellt ferner fest, dass die Beschwerdeführer die Verbindung zwischen den religiösen Überzeugungen und den Züchtigungen mit einer Rute selbst hergestellt haben, indem sie ihre Erziehungspraxis mit Bibelzitaten und ihren religiösen Anschauungen begründeten. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass die von den Beschwerdeführern gerügten Entscheidungen den Schutz der „Rechte und Freiheiten“ der Kinder zum Ziel hatten. Sie verfolgten also ein legitimes Ziel im Sinne von Artikel 8 Abs. 2.

d) Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

i) Allgemeine Grundsätze

81. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass er bei der Frage, ob ein Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, zu prüfen hat, ob die zur Rechtfertigung der Maßnahmen angeführten Gründe im Lichte des Falles als Ganzem „zutreffend und hinreichend“ waren. Nach Artikel 8 muss zwischen den Interessen des Kindes und denen des Elternteils ein gerechter Ausgleich herbeigeführt werden und dabei dem Wohl des Kindes, das je nach seiner Art und Bedeutung den Interessen des Elternteils vorgehen kann, besonderes Gewicht beigemessen werden (siehe E. ./. Deutschland, [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnrn. 48, 50, ECHR 2000‑VIII; T.P. und K.M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28945/95, Rdnr. 70, ECHR 2001‑V (Auszüge); und H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28422/95, Rdnrn. 48, 49, 5. Dezember 2002).

82. Bei der Bestimmung des Kindeswohls in einem bestimmten Fall sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens dient, außer in Fällen, in denen sich die Familie als besonders ungeeignet erwiesen hat, der Erhalt seiner Bindungen zu seiner Familie dem Wohl des Kindes; und zweitens dient es dem Wohl des Kindes, seine Entwicklung in einem sicheren Umfeld sicherzustellen, und ein Elternteil hat keinen Anspruch nach Artikel 8 auf Maßnahmen, die der Gesundheit und der Entwicklung des Kindes schaden würden (Neulinger und Shuruk ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 41615/07, Rdnr. 136, ECHR 2010). Der Nachweis, dass ein Kind in einem Umfeld untergebracht werden könnte, das seinem Aufwachsen förderlicher wäre, reicht nicht aus ( K. und T. ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25702/94, Rdnr. 173, ECHR 2001‑VII).

83. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass Artikel 8 der Konvention zwar keine ausdrücklichen Verfahrenserfordernisse enthält, der mit Eingriffsmaßnahmen verbundene Entscheidungsprozess aber fair und so gestaltet sein muss, dass die gebührende Achtung der durch Artikel 8 geschützten Interessen sichergestellt ist. Der Gerichtshof kann nicht ausreichend beurteilen, ob die von den innerstaatlichen Gerichten zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen angeführten Gründe im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 „hinreichend“ waren, ohne gleichzeitig festzustellen, ob die Eltern in den Entscheidungsprozess als Ganzes so weit eingebunden waren, dass der erforderliche Schutz ihrer Interessen gewährleistet war (siehe u.a. T.P. und K.M. ./. Vereinigtes Königreich a. a. O., Rdnr. 72, und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 89, 10. November 2005).

84. Bei der Prüfung der zur Rechtfertigung der Maßnahmen angeführten Gründe und des Entscheidungsprozesses berücksichtigt der Gerichtshof gebührend die Tatsache, dass die innerstaatlichen Behörden den Vorteil hatten, mit allen Beteiligten unmittelbar in Verbindung zu stehen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, an Stelle der innerstaatlichen Behörden deren Aufgaben in Fragen des Sorgerechts wahrzunehmen (vgl. u. v. a. E., a. a. O., Rdnr. 48). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Behörden bei der Beurteilung der Frage, ob ein Kind in Obhut zu nehmen ist einen großen Ermessensspielraum haben (ebenda, Rdnr. 49).

85. Schließlich weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Verpflichtung der Hohen Vertragsparteien nach Artikel 1 der Konvention, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten zuzusichern, in Verbindung mit Artikel 3 die Vertragsstaaten verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die sicherstellen sollen, dass Personen, die ihrer Hoheitsgewalt unterstehen, nicht gefoltert oder unmenschlich und erniedrigend behandelt oder bestraft werden, auch nicht durch Privatpersonen (siehe A. ./. Vereinigtes Königreich, 23. September 1998, Rdnr. 22, Reports of Judgments and Decisions 1998-VI). In einer Reihe von Fällen wurde festgestellt, dass Artikel 3 eine positive Verpflichtung für Staaten, Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu gewähren, zur Folge hat: siehe beispielsweise die Rechtssache A. ./. Vereinigtes Königreich (a. a. O.), bei der das beschwerdeführende Kind von seinem Stiefvater geschlagen wurde; und die Rechtssache Z u. a. ./. Vereinigtes Königreich ([GK], Individualbeschwerde Nr. 29392/95, ECHR 2001-V), bei der vier beschwerdeführende Kinder von ihren Eltern schwer misshandelt und vernachlässigt wurden.

86. Ferner gilt, dass eine gegen Artikel 3 verstoßende Misshandlung normalerweise zwar tatsächliche Körperverletzungen oder intensives körperliches oder seelisches Leid verursacht, eine Behandlung aber auch trotz Fehlens dieser Aspekte als erniedrigend einzustufen sein kann und unter das in Artikel 3 vorgesehene Verbot fallen kann, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, ihre Menschenwürde missachtet oder schmälert oder Gefühle der Angst, Qual und Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, ihren moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (Bouyid ./. Belgien [GK], Individualbeschwerde Nr. 23380/09, Rdnr. 87, ECHR 2015, m. w. N.). In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof auch fest, dass der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes körperliche Bestrafung als jede Bestrafung definiert hat, bei der physische Gewalt angewendet wird und die die Zufügung eines gewissen – egal wie geringen – Maßes von Schmerz oder Unwohlsein bezweckt. Außerdem hat er betont, dass jede Form der Gewalt gegen Kinder inakzeptabel ist, egal wie geringfügig sie sein mag (siehe Rdnr. 59).

87. Schließlich hat der Gerichtshof in Fällen, die die Artikel 3 und 8 betrafen, die Bedeutung des Alters der betroffenen Minderjährigen und, in Fällen, in denen ihr körperliches und moralisches Wohl gefährdet ist, die Notwendigkeit betont, dass Kinder und andere verletzliche Mitglieder der Gesellschaft durch den Staat geschützt werden (siehe z. B. K.U. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 2872/02, Rdnr. 46, ECHR 2008; Mubilanzila Mayeka und Kaniki Mitunga ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 13178/03, Rdnr. 53, ECHR 2006‑XI und Ioan Pop u. a. ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 52924/09, 6. Dezember 2016). Auch die Notwendigkeit, die Verletzlichkeit von Minderjährigen zu berücksichtigen, wurde auf internationaler Ebene bekräftigt (siehe die Verweise auf das internationale Recht in der Rechtssache Bouyid, a. a. O., Rdnrn. 52 bis 53 und 109).

ii) Anwendung auf den vorliegenden Fall

88. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Rügen der Beschwerdeführer im Kern die Frage betreffen, ob die Erziehungspraxis der Züchtigung mit einer Rute einen hinreichend schwerwiegenden Grund für eine teilweise Sorgerechtsentziehung und eine Inobhutnahme von Kindern darstellt.

89. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Beschwerdeführer vorbrachten, die von ihnen angewandte Praxis des Schlagens mit einer Rute überschreite die Schwelle des Artikels 3 der Konvention nicht und dass bei der Untersuchung der Kinder nach der Inobhutnahme keine körperlichen Zeichen von Misshandlungen an diesen festgestellt worden seien. Obgleich der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache nicht entscheiden muss, ob die – tatsächliche oder zu erwartende – Behandlung der Kinder durch die Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer Schwere den Schwellenwert der Anwendbarkeit von Artikel 3 der Konvention überschritten hat, stellt er dennoch fest, dass eine Behandlung dieser Art in den Anwendungsbereich von Artikel 3 der Konvention fallen könnte (siehe A. ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 21).

90. Um jede Gefahr der Misshandlung und erniedrigenden Behandlung von Kindern zu vermeiden, hält es der Gerichtshof für ratsam, dass die Mitgliedstaaten jede Form der körperlichen Bestrafung von Kindern gesetzlich verbieten. Diesbezüglich stellt er fest, dass Deutschland Kindern bereits ein Recht auf gewaltfreie Erziehung eingeräumt und körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen verboten hat.

91. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Mitgliedstaaten gesetzliche Verbote der körperlichen Bestrafung von Minderjährigen mit verhältnismäßigen Maßnahmen durchsetzen sollten, damit derartige Verbote praktisch und wirksam sind und nicht rein theoretisch bleiben. Daher ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Gefahr der systematischen und regelmäßigen Züchtigung mit einer Rute einen zutreffenden Grund für eine teilweise Sorgerechtsentziehung und die Inobhutnahme der Kinder darstellte.

92. Bei der Beurteilung der Frage, ob die von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe auch im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 hinreichend waren, muss der Gerichtshof prüfen, ob der Entscheidungsprozess insgesamt den Beschwerdeführern den erforderlichen Schutz ihrer Interessen zuteil werden ließ und ob die gewählten Maßnahmen verhältnismäßig waren.

93. Der Gerichtshof stellt fest, dass die anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer in einer Position waren, die es ihnen ermöglichte, alle ihre Argumente gegen die Sorgerechtsentziehung vorzubringen, und dass die Gerichte den Sachverhalt sorgfältig festgestellt haben. Das Familiengericht und das Oberlandesgericht haben unter anderem die Beschwerdeführer, die Kinder (außer G. P.), die Verfahrensbeistände aller Kinder und Vertreter des Jugendamts angehört. Was den Umstand angeht, dass die Gerichte G. P., der während des Verfahrens noch bei seinen Eltern lebte, nicht angehört haben, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass das Gebot der Anhörung von Kindern in Sorgerechtsverfahren von den konkreten Umständen jedes einzelnen Falles, insbesondere dem Alter und der Reife des betroffenen Kindes, abhängt (siehe S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 30943/96, Rdnr. 73, ECHR 2003‑VIII). Da G. P. vor Ergehen der Entscheidung des Oberlandesgerichts gerade erst zwei geworden war, hält es der Gerichtshof für akzeptabel, dass die innerstaatlichen Gerichte ihn nicht befragt haben.

94. Darüber hinaus hat das Familiengericht ein Gutachten eines Sachverständigen eingeholt und diesen und den von den Beschwerdeführern beauftragten Sachverständigen, der die Erkenntnisse des gerichtlich bestellten Sachverständigen in Frage gestellt hatte, angehört. Das Oberlandesgericht hat ebenfalls beide Sachverständigen angehört. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführer den Ansatz des gerichtlich bestellten Sachverständigen vergeblich kritisiert und diese Argumente auch in dem vorliegenden Verfahren weiterverfolgt haben. Der Gerichtshof hat jedoch keinen Grund, die Sachkunde des Sachverständigen oder die Art und Weise, wie er die Gespräche mit allen Beteiligten geführt hat, in Zweifel zu ziehen.

95. Hinsichtlich des von den Beschwerdeführern erklärten Widerrufs ihrer Zustimmung zu der Begutachtung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführer zum Zeitpunkt ihrer Befragung durch den Sachverständigen ordnungsgemäß informiert waren und freiwillig an der Befragung und der Untersuchung teilnahmen. Daher möchte der Gerichtshof festhalten, dass der Sachverständige nicht gegen den Willen der Beschwerdeführer handelte und die Beschwerdeführer nicht gezwungen waren, sich der Untersuchung durch den Sachverständigen zu unterziehen. Darüber hinaus ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Regierung zu Recht darauf hingewiesen hat, dass Artikel 6 kein Selbstbelastungsverbot für Zivilverfahren enthält und ein nachträglicher Widerruf der Zustimmung zu einem Zeitpunkt, als das Ergebnis des Sachverständigengutachtens bereits bekannt war, nicht akzeptiert werden muss. Die Zulässigkeit eines solchen Widerrufs würde familiengerichtliche Verfahren und die Verpflichtung von Gerichten, Kinder wirksam vor Schädigungen zu schützen, gefährden. Insgesamt schließt sich der Gerichtshof der Auffassung des Familiengerichts und des Oberlandesgerichts an, dass der von den Beschwerdeführern nachträglich erklärte Widerruf ihrer Zustimmung nicht zu einem Beweisverwertungsverbot des Sachverständigengutachtens führte und dass eine Verwertung des Gutachtens durch das allgemeine Interesse an einem wirksamen Schutz von Kindern in familiengerichtlichen Verfahren gerechtfertigt war.

96. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen und des Vorteils des unmittelbaren Kontakts zu allen betroffenen Personen, den die innerstaatlichen Gerichte genießen, ist der Gerichtshof überzeugt, dass die Verfahrensweise der deutschen Gerichte angemessen war und genügend Material erbracht hat, um im vorliegenden Fall zu einer begründeten Entscheidung in der Frage der Sorgerechtsentziehung zu gelangen. Der Gerichtshof kann deshalb anerkennen, dass die sich aus Artikel 8 der Konvention ergebenden Verfahrenserfordernisse erfüllt waren.

97. Schließlich hat der Gerichtshof zu prüfen, ob die Entscheidungen zur teilweisen Entziehung des Sorgerechts und zur Inobhutnahme der Kinder verhältnismäßig waren. Die Inobhutnahme von Kindern und damit einhergehende Trennung einer Familie stellt einen sehr erheblichen Eingriff in das in Artikel 8 der Konvention geschützte Recht auf Achtung des Familienlebens dar und sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden (siehe Neulinger und Shuruk, a. a. O., Rdnr. 136). Die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte waren jedoch auf die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung gestützt, wie sie nach Artikel 3 der Konvention verboten ist. Der Gerichtshof hat bereits früher festgestellt, dass die Konvention selbst unter den schwierigsten Umständen ein absolutes Verbot der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung enthält, das unabhängig vom Verhalten der betroffenen Person gilt. Darüber hinaus haben die innerstaatlichen Gerichte die Gefährdung der Kinder nicht abstrakt – auf der Grundlage der Erziehungsansichten der Beschwerdeführer – beurteilt, sondern einen differenzierten Ansatz verfolgt und im Hinblick auf jedes einzelne Kind auf der Grundlage des jeweiligen Kindesalters geprüft, ob zu erwarten sei, dass die Beschwerdeführer ihre Erziehungsmethoden anwenden würden, und daher eine konkrete und unmittelbare Gefahr der körperlichen Bestrafung bestehe. Da Kinder nach deutschem Recht ein Anrecht auf eine gewaltfreie Erziehung haben und angesichts der dem Gesetz entgegenstehenden, aber festen Überzeugung der Beschwerdeführer kamen die innerstaatlichen Gerichte zu dem Schluss, dass eine Inobhutnahme der Kinder gerechtfertigt sei.

98. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass das Familiengericht und das Oberlandesgericht ausführlich begründeten, warum es für einen wirksamen Schutz der Kinder keine andere Möglichkeit gab, die einen geringeren Eingriff in die Rechte der einzelnen Familien dargestellt hätte. Basierend auf der Auffassung des Sachverständigen, wonach die körperlichen Spuren einer Züchtigung mit einer Rute nur von kurzer Dauer seien, die psychischen Folgen jedoch erst nach langer Zeit festzustellen seien, kamen die Gerichte richtigerweise zu dem Schluss, dass ein wirksamer Schutz der Kinder nicht durch unangekündigte Besuche und eine engmaschigere Kontrolle erzielt werden könne. Der Gerichtshof schließt sich dieser Begründung an und möchte noch hinzufügen, dass es in dem Verfahren um eine Art der institutionalisierten Gewalt gegen Minderjährige ging, die nach Auffassung der beschwerdeführenden Eltern ein Element der Erziehung ihrer Kinder darstellte. Folglich hätte eine Unterstützung durch das Jugendamt, beispielsweise durch Elternkurse, die Kinder nicht wirksam schützen können, da die körperliche Disziplinierung der Kinder in ihrem unerschüttlichen Dogma verankert war.

99. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht richtigerweise darauf hingewiesen hat, dass die Kindeswohlgefährdung in der von den Eltern durch Verlassen des Landes während des Verfahrens geschaffenen Situation nicht mehr durch mildere Maßnahmen abgewendet werden könne, weil diese Maßnahmen von den zuständigen Stellen nicht mehr ausreichend überwacht und durchgesetzt werden könnten. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte einen Verbleib der Beschwerdeführer in Deutschland nicht angeordnet haben, aber vernünftigerweise zu dem Schluss kamen, dass jede weniger eingreifende Maßnahme zumindest der Überwachung und Kontrolle durch die zuständigen innerstaatlichen Stellen bedurft hätte. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass das Familiengericht mit dem Ziel der Rückgabe der Kinder an ihre Eltern und eines gleichzeitigen Schutzes der Kinder vor körperlichen Bestrafungen versucht hat, eine gütliche Einigung zwischen dem Jugendamt und den Beschwerdeführern zu vermitteln.

100. Insgesamt sind die vorstehenden Ausführungen ausreichend, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass es „zutreffende und hinreichende“ Gründe für die teilweise Entziehung des Sorgerechts gab. Auf der Grundlage eines fairen Verfahrens haben die innerstaatlichen Gerichte einen Ausgleich zwischen den Interessen der Kinder und denen der Beschwerdeführer herbeigeführt, ohne dabei den Ermessensspielraum, der den innerstaatlichen Stellen zusteht, überschritten zu haben.

101. Folglich ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ERKLÄRT DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;

2. die Rüge nach Artikel 8 bezüglich der Sorgerechtsentziehung wird für zulässig und die Rüge nach Artikel 8 bezüglich der Verfahrensdauer für unzulässig erklärt;

3. im Hinblick auf die Sorgerechtsentziehung ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 22. März 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                    Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                      Präsident

 

ANHANG

Individualbeschwerde Nr. Beschwerdeführer/in  Geburtstag  Staatsangehörigkeit
11308/16 T.
N.
T.
M.
19..
19..
Deutsch und US-amerikanisch
Deutsch
11344/16 P.
M.
P.
H.
19..
19..
Deutsch
Deutsch

[1] Anm. d. Übers.: Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Pluralform „die Beschwerdeführer“ verwendet, auch wenn mehrere Personen verschiedenen Geschlechts gemeint sind.

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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