SANGOI ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 43976/17

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 43976/17
S. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am Dienstag, 3. April 2018 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Yonko Grozev, Präsident,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer und
Lado Chanturia
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 27. Juni 2017 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die 19.. geborene Beschwerdeführerin, S., ist italienische Staatsangehörige und lebt in N. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn R., Rechtsanwalt in M., vertreten.

2. Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Die Beschwerdeführerin hat zwei 2002 bzw. 2010 geborene Kinder mit einem deutschen Staatsangehörigen. Die Beschwerdeführerin und der Vater der Kinder lebten gemeinsam in verschiedenen Ländern, bevor sie im Oktober 2007 nach Deutschland zogen. 2008 und 2009 zog die Beschwerdeführerin nach A., wobei das ältere Kind (N.) bei dem Vater in Deutschland blieb. Nach der Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Deutschland und der Geburt des zweiten Kindes zog das Paar im Juni 2011 nach Z. Im Oktober 2011 trennte sich das Paar und der Vater des Kindes kehrte mit N. nach Deutschland zurück. Die Beschwerdeführerin blieb mit dem jüngeren Kind in Z. 2013 ließ sich das Paar scheiden. Die Individualbeschwerde betrifft das Recht der Beschwerdeführerin auf Umgang mit N.

4. Nach der Trennung hatte die Beschwerdeführerin im Dezember 2011 und ab April 2012 in unregelmäßigen Abständen persönlichen Umgang mit N. Im Oktober 2012 verbrachte N. ein Wochenende mit ihr in I. Im selben Monat schlossen die Beschwerdeführerin und der Kindesvater eine Vereinbarung vor dem Familiengericht, wonach der Vater hinsichtlich des Aufenthaltsorts und der schulischen Angelegenheiten N.s das alleinige Sorgerecht ausübe und die Beschwerdeführerin in diesen Fragen das alleinige Sorgerecht für das jüngere Kind habe. Darüber hinaus dürfe die Beschwerdeführerin N. einmal im Monat besuchen. N. sollte sie einmal im Monat besuchen und die Hälfte seiner Schulferien mit ihr verbringen.

5. Die praktische Umsetzung dieser Vereinbarung stellte sich als schwierig heraus, insbesondere, was die Treffen alle zwei Wochen anging. 2013 sah N. die Beschwerdeführerin an Ostern und während der Sommerferien. Im Sommer 2014 verbrachte N. drei Wochen mit der Beschwerdeführerin in I. Als die Beschwerdeführerin N. am Ende des Urlaubs an den Kindesvater herausgeben sollte, konnte dieser nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erscheinen und bat seine Schwester, N. entgegenzunehmen. Die Schwester verspätete sich um eine Stunde. Die Beschwerdeführerin und N. suchten daraufhin den Umgangspfleger auf, vor dem N. erklärte, dass er mit der Beschwerdeführerin nach Z. gehen wolle, und dem gegenüber der Rechtsbeistand der Beschwerdeführerin ausführte, dass dies mit dem Kindesvater vereinbart worden sei, was nicht der Fall war. N. blieb daraufhin etwa drei Monate in Z. Nachdem die Beschwerdeführerin eine gerichtliche Anordnung erhalten hatte, N. nach Deutschland zurückzuführen, kam sie dieser im Oktober 2014 nach. Außer im Zusammenhang mit den Untersuchungen durch den Sachverständigen im Juli 2015 hatte die Beschwerdeführerin seither keinen persönlichen Umgang mit N. Ein für Ostern 2015 angesetztes Treffen mit der Beschwerdeführerin lehnte N. ab. Sie stehen allerdings über WhatsApp-Nachrichten und Telefongespräche in gelegentlichem Kontakt miteinander.

6. Im Dezember 2014 strengte die Beschwerdeführerin ein Gerichtsverfahren hinsichtlich ihres Rechts auf Umgang mit N. an. Das Familiengericht hörte den gerichtlich bestellten Sachverständigen, die Beschwerdeführerin, den Kindesvater, das Jugendamt und getrennt davon – in Anwesenheit des Verfahrenspflegers – das Kind an, das zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt war. Vor der Erstellung seines umfangreichen Gutachtens hatte der Sachverständige einzeln mit N., der Beschwerdeführerin und dem Kindesvater gesprochen, das Verhalten und die Interaktion des Kindes und der Beschwerdeführerin bei deren Zusammenkommen im Juli 2015 beobachtet und auch das Jugendamt, den Umgangspfleger, die Schule und den Verfahrenspfleger befragt. Gegenüber dem Sachverständigen hatte N. unter anderem angegeben, dass er mit seinem Leben in Deutschland zufrieden sei und dass die Beschwerdeführerin wiederholt versucht habe, ihn emotional stark unter Druck zu setzen, dass er nach Z. ziehe, um dort mit ihr und seinem jüngeren Bruder zusammenzuleben, und dass sie Loyalitätskonflikte bei ihm verursacht habe, indem sie schlecht über seinen Vater gesprochen habe. Er habe Angst gehabt, dass sie ihn bei einem weiteren Treffen erneut unter Druck setzen würde. Der Sachverständige war der Auffassung, dass die Beziehung zwischen N. und seinem Vater positiv sei und ein stabilisierendes Element für das Kind darstelle. Sein Vater sei die Hauptbezugsperson für N. Es gebe keine Hinweise darauf, dass der Vater Einfluss auf N.s Äußerungen über die Beschwerdeführerin genommen habe.

7. In seiner Entscheidung vom 26. Januar 2016 nahm das Familiengericht zur Kenntnis, dass der Sachverständige empfohlen hatte, begleitete Umgangskontakte zwischen der Beschwerdeführerin und dem Kind in Deutschland durchzuführen, bis sich das Verhalten der Beschwerdeführerin gegenüber dem Kind verbessert habe, welches hauptsächlich auf ihre eigenen Bedürfnisse ausgerichtet sei und auch mangelnden Respekt für den Vater des Kindes erkennen lasse, wodurch das Kind in einen Loyalitätskonflikt gebracht werde. Der Sachverständige war der Auffassung, dass der Vater des Kindes die Bedeutung der Beschwerdeführerin für N.s Entwicklung anerkenne und grundsätzlich in der Lage und gewillt sei, Umgangskontakte zwischen N. und der Beschwerdeführerin zu ermöglichen. Obwohl N. das Bedürfnis vorgebracht habe, Zeit mit der Beschwerdeführerin und seinem jüngeren Bruder zu verbringen, habe er auch große Angst gehabt, dass er sich den Erwartungen und Wünschen der Beschwerdeführerin gegenüber nicht würde behaupten können, da er sie nicht verletzen wolle. Ihre Interaktion lasse kaum Intimität erkennen und harmonische Momente würden immer wieder von der Beschwerdeführerin unterbrochen. Der Sachverständige hielt die elterlichen Kompetenzen der Beschwerdeführerin für begrenzt. Gleichzeitig habe N. wiederholt deutlich vorgebracht, dass er die Beschwerdeführerin treffen wolle, jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen, vor allem der, dass die Treffen weder in I. noch in Z. stattfinden und er sich nicht auf spezielle Daten, die er vorher einzuplanen hätte, festlegen müsse. Bei seiner Anhörung vor dem Familiengericht in Anwesenheit des Verfahrenspflegers machte N. ähnliche Angaben, wobei er wiederholte, dass es ihm wichtig sei, weitgehend über die Häufigkeit und Dauer der Treffen mit der Beschwerdeführerin entscheiden zu dürfen, da er nie vorhersehen könne, wie diese laufen würden. Die Beschwerdeführerin hatte angegeben, dass ihr der regelmäßige Kontakt wichtig sei und sie etwa zwei Monate vor den Treffen eine Ankündigung benötige.

8. Das Familiengericht kam zu dem Schluss, dass es unmöglich sei, ein Urteil zu erlassen, das den Empfehlungen des Sachverständigen sowie den widersprüchlichen Wünschen des Kindes und der Beschwerdeführerin hinsichtlich des Zeitpunkts, des Ortes und der Dauer des Umgangs gerecht wird; allein eine Sorgerechtsvereinbarung könne die notwendigen Vereinbarungen enthalten. Aufgrund der Dauerbelastung, der N. aufgrund des von der Beschwerdeführerin auf ihn ausgeübten Drucks und der hierdurch verursachten Loyalitätskonflikte ausgesetzt sei, müsse das Gericht N. gegenüber verdeutlichen, dass seine Bedürfnisse und Wünsche ernst genommen werden und diesen gefolgt werde. Es liege an ihm, die Initiative zu ergreifen und mit der Beschwerdeführerin in der von ihm bevorzugten Art und Weise Kontakt aufzunehmen, wenn seine Eltern keine Einigung erzielen könnten. Daher stellte das Gericht fest, dass es in Abänderung der Sorgerechtsvereinbarung von 2012 keinen gerichtlich geregelten Umgang zwischen der Beschwerdeführerin und N. gebe.

9. In ihrer Berufung zum Oberlandesgericht forderte die Beschwerdeführerin unter anderem die Anordnung von zwei Mal im Monat stattzufindenden Umgangskontakten per Skype mit einer Maximaldauer von einer Stunde, sowie drei unbegleitete Treffen in Deutschland mit einer Maximaldauer von je drei Tagen.

10. Als er von dem Oberlandesgericht in Anwesenheit seines Verfahrenspflegers angehört wurde, gab N. an, dass er den von der Beschwerdeführerin gewünschten Umgangskontakten per Skype offen gegenüber stehe, solange die Gespräche kurzfristig vereinbart werden könnten. Im Hinblick auf unbegleitete Treffen führte er aus, dass er bereits schlechte Erfahrungen gemacht habe. Die Beschwerdeführerin habe schlecht über seinen Vater gesprochen und ihn unter Druck gesetzt, nach Z. zu ziehen, und der Umgangspfleger habe nicht eingegriffen, weil die Unterhaltung auf Italienisch geführt worden sei. So würde er lieber erst abwarten, wie sich die Skype-Kontakte entwickeln, bevor er über persönliche Treffen entscheide.

11. Mit Entscheidung vom 6. Juli 2016 wies das Oberlandesgericht die Berufung ohne mündliche Anhörung der Beschwerdeführerin zurück und schloss sich der Entscheidung des Familiengerichts an. Es vertrat die Auffassung, dass N. eindeutig vorgebracht habe, dass er keine Festlegungen hinsichtlich der Skype-Umgangskontakte mit der Beschwerdeführerin wünsche. Was die erwünschte Regelung der begleiteten Umgangskontakte angeht, führte das Gericht zwei Gründe an: Erstens sei eine solche Regelung nicht vollstreckbar, wenn keine konkreten Zeiten und andere Modalitäten dafür festgelegt würden; außerdem sei es nicht möglich, für derartige Kontakte bestimmte Zeiten festzulegen, da die Beschwerdeführerin jedes Mal von Z., wo sie auch die Betreuung ihres jüngeren Kindes organisieren müsse, nach Deutschland reisen müsse. Zweitens, und dies sei besonders wichtig, habe N. angegeben, dass er wegen früherer Erfahrungen derzeit keinen direkten persönlichen Umgang mit der Beschwerdeführerin wünsche. Das Gericht merkte an, dass er fast vierzehn Jahre alt sei und unter dem anhaltenden Konflikt zwischen seinen Eltern erheblich gelitten habe. Seinem Wunsch sei erhebliche Bedeutung beizumessen. Würde man seinen Wunsch missachten und eine Umgangsregelung erlassen, so würde sein Wille offensiv missachtet, wodurch ihm das Gefühl vermittelt werden würde, dass seine Wünsche und Bedürfnisse in dieser Angelegenheit, die ihn unmittelbar betreffe, keine Bedeutung hätten. Dies würde starke Frustration auslösen, was seiner weiteren Entwicklung hinderlich wäre. Das Gericht sah keine Anzeichen dafür, dass sein Vater ihn zu den Aussagen gedrängt hätte; vielmehr habe sich der Vater, der gut für das Kind sorge, hinsichtlich der Umgangskontakte mit der Beschwerdeführerin während des gesamten Verfahrens kooperativ gezeigt, soweit diese das Kind nicht in den Konflikt involviere. Daher sollte die Beschwerdeführerin die bestehenden Möglichkeiten des Umgangs nutzen, um N. zu versichern, dass sie einen intensiveren Kontakt mit ihm nicht dazu nutzen würde, seine Beziehung zu seinem Vater zu untergraben.

12. Am 2. August 2016 wies das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin zurück, wobei es unterstrich, dass es seine Entscheidung auf zwei Gründe gestützt habe. Auch wenn die Beschwerdeführerin in einer mündlichen Anhörung konkrete Daten hätte nennen können, an denen sie N. treffen könne, hätte dies keine Auswirkung auf den zweiten Entscheidungsgrund gehabt, nämlich den Wunsch des Kindes, vorerst keinen direkten Umgang mit der Beschwerdeführerin zu haben. Dieser Grund stelle für sich allein bereits eine hinreichende Entscheidungsgrundlage dar, wie sich aus dem Wortlaut ergebe (siehe Rdnr. 11). Folglich habe das Fehlen einer mündlichen Anhörung keine Auswirkungen auf den Verfahrensausgang.

13. Nachdem die Beschwerdeführerin eine Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte, bat das Bundesverfassungsgericht das betroffene Bundesland um Stellungnahme. Dies führte dazu, dass der Verfahrenspfleger N. am 14. November 2016 erneut alleine anhörte. N. gab an, dass ihn das nicht enden wollende Verfahren wütend mache. Er habe im Grunde nichts gegen Umgangskontakte mit der Beschwerdeführerin, wolle sie aber in den nächsten Monaten erst einmal nicht treffen und sich darüber hinaus auf nichts festlegen. Er wolle im telefonischen Kontakt mit ihr über positive Themen sprechen, um Vertrauen aufzubauen, bevor sie sich persönlich treffen, da er nach wie vor befürchte, dass sie ihn erneut unter Druck setzen würde und seine Entscheidung, in Deutschland zu leben, nicht würde akzeptieren können, und dass sie schlecht über seine Familienangehörigen sprechen würde. Er könne das Verhalten der Beschwerdeführerin nicht ertragen und wolle sie derzeit nicht treffen. Dem Verfahrenspfleger zufolge zeigte N. zunehmend psychosomatische Symptome.

14. Am 14. Dezember 2016 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 2043/16). Die Entscheidung wurde der Beschwerdeführerin am 2. Januar 2017 zugestellt.

RÜGE

15. Die Beschwerdeführerin rügte nach Artikel 8 der Konvention, dass ihr de facto der Umgang mit ihrem Sohn N., der in Deutschland lebe, verwehrt sei, obwohl es keine vollstreckbare gerichtliche Umgangsregelung gebe. Der bestehende Kontakt über WhatsApp sei nicht ausreichend. Darüber hinaus sei die Dauer des Verfahrens – über zwei Jahre – überlang.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

16. Artikel 8 der Konvention lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres […] Familienlebens […]

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

17. Zu Beginn stellt der Gerichtshof fest, dass es im vorliegenden Fall nicht um einen gerichtlichen Ausschluss von Umgangsrechten geht (vgl. und im Gegensatz dazu B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 20106/13, 28. April 2016; S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 31871/96, ECHR 2003 VIII (Auszüge)). Vielmehr vertraten die innerstaatlichen Gerichte die Auffassung, dass eine Regelung des Umgangs zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn N. nur mittels einer Sorgerechtsvereinbarung und nicht durch eine gerichtliche Anordnung erzielt werden könne. Da die Beschwerdeführerin und der Vater des Kindes nicht in der Lage zu sein scheinen, eine Vereinbarung zu treffen, ist der Beschwerdeführerin de facto der Umgang mit N. verwehrt, da es keine gerichtliche Umgangsregelung gibt, die vollstreckt werden könnte. Die von der Beschwerdeführerin gewünschte gerichtliche Umgangsregelung betrifft eine positive Verpflichtung nach Artikel 8 der Konvention, die auch dann besteht, wenn die Kindeseltern nicht kooperationsbereit sind (Bondavalli ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 35532/12, §Rdnr. 82, 17. November 2015).

18. Zwar hat das Oberlandesgericht die Beschwerdeführerin nicht mündlich angehört, um so die notwendigen Modalitäten für eine vollstreckbare Regelung des Umgangs zwischen ihr und N. herauszuarbeiten (siehe Bondavalli, a. a. O., Rdnr. 72; Giorgioni ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 43299/12, Rdnr. 62, 15. September 2016), der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die fehlende Vollstreckbarkeit der erwünschten Regelung nur einer der zwei vom Oberlandesgericht herangezogenen Gründe war. So hat es ausdrücklich dargetan, dass der zweite Grund, nämlich die Wünsche des Kindes, für seine Entscheidung von größerer Bedeutung gewesen sei (siehe Rdnrn. 11 und 12).

19. N. war zum Zeitpunkt des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht und dem Bundesverfassungsgericht etwa vierzehn Jahre alt. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass er alt und reif genug war, sich auf seinen Willen zu besinnen und diesen klar zum Ausdruck zu bringen, was er auch getan hat. Er wurde in allen drei Instanzen persönlich angehört. Die von ihm geäußerten Wünsche waren das gesamte Verfahren über, also über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg gleichbleibend. Der gerichtlich bestellte Sachverständige hat ihn auch mit der Beschwerdeführerin zusammengebracht und ihre Beziehung sowie die mit dem Kindesvater beurteilt. Die innerstaatlichen Gerichte haben fortwährend überzeugend dargelegt, dass es keine Hinweise darauf gebe, dass der Vater nicht gut für das Kind sorgen würde. Insbesondere versuche er nicht, N. von der Beschwerdeführerin zu entfremden. Im Wesentlichen haben die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidungen auf das Kindeswohl gestützt.

20. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte auch das Interesse der Beschwerdeführerin berücksichtigt haben. Sie nahmen zur Kenntnis, dass die Beschwerdeführerin und N. in Form gelegentlicher WhatsApp-Nachrichten und Anrufe miteinander in Kontakt standen. N. trug klar vor, dass er grundsätzlich gewillt sei, die Beschwerdeführerin zu treffen, dass er in der Vergangenheit aber schlechte Erfahrungen gemacht habe. Er habe Angst, dass sie erneut versuchen würde, ihn zu einem Umzug nach Z. zu drängen, dass sie seine Entscheidung, in Deutschland zu leben, wo er zufrieden mit seinem Vater zusammenlebe, nicht würde akzeptieren wollen und dass sie erneut Loyalitätskonflikte bei ihm auslösen würde, indem sie schlecht über den Vater spreche. Daher wolle N. zunächst durch Interaktionen, die einen positiven Inhalt hätten, Vertrauen zu der Beschwerdeführerin aufbauen, bevor er sie persönlich treffe. Angesichts der Wünsche von N. erscheint die Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts, dass es an der Beschwerdeführerin sei, sich zu bemühen und die bestehenden Umgangsmöglichkeiten dazu zu nutzen, Vertrauen aufzubauen (siehe Rdnr. 11), nicht unangemessen. In diesem Zusammenhang muss wiederholt werden, dass die innerstaatlichen Gerichte einen persönlichen Umgang nicht verboten haben, sondern davon absahen, eine Regelung mit konkreten Terminen zu erlassen. Die Beschwerdeführerin könnte beispielsweise eine längere Zeit in Deutschland verbringen, um den persönlichen Umgang mit N. allmählich aufleben zu lassen, zumal N. über das gesamte Verfahren hinweg betont hatte, dass ihm Flexibilität hinsichtlich der Zeitpunkte für den persönlichen Umgang sehr wichtig sei.

21. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die innerstaatlichen Gerichte, indem sie dem Wohl des Kindes und dessen weiterer Entwicklung (siehe Rdnr. 11) besondere Bedeutung zumaßen, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Kindes und denen der Beschwerdeführerin herbeigeführt haben (siehe B., a. a. O., Rdnr. 43). Die innerstaatlichen Gerichte führten zutreffende und hinreichende Gründe für ihre Entscheidungen an und die Beschwerdeführerin war an dem Entscheidungsprozess insgesamt in einem hinreichenden Maße beteiligt, so dass ihre Interessen im erforderlichen Maße geschützt waren. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte es nicht versäumt haben, angemessene und hinreichende Anstrengungen zur Wahrung des Rechts der Beschwerdeführerin auf Umgang mit ihrem Sohn N. zu unternehmen, und dass sie ihren Ermessensspielraum nicht überschritten haben.

22. Soweit die Beschwerdeführerin die Dauer des Verfahrens – etwas über zwei Jahre für drei Instanzen (Verfahrenseinleitung im Dezember 2014, Zustellung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts im Januar 2017) – rügt, ist es richtig, dass die verstrichene Zeit zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen der Beschwerdeführerin und N. führt, weshalb die innerstaatlichen Gerichte die positive Verpflichtung haben, das Verfahren zügig durchzuführen (siehe Ribić ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 27148/12, Rdnr. 92, 2. April 2015). Allerdings gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die innerstaatlichen Gerichte dieser Verpflichtung nicht nachgekommen wären: Das Verfahren vor dem Familiengericht dauerte ein Jahr und zwei Monate, während dessen ein gerichtlich bestellter Sachverständiger ein umfassendes Gutachten erstellt hat, und es deutet nichts auf den Behörden zuzurechnende Verzögerungen hin. Darüber hinaus hätte die Beschwerdeführerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragen oder zumindest eine Untätigkeitsrüge einlegen können, um das Verfahren zu beschleunigen (vgl. und im Gegensatz dazu K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 62198/11, 15. Januar 2015). Die Verfahren vor dem Oberlandesgericht, das N. mündlich anhörte, und dem Bundesverfassungsgericht dauerten je weniger als sechs Monate. Vor letzterem hat die Beschwerdeführerin zudem nicht ausdrücklich die Dauer des Verfahrens gerügt. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Rechtsweg diesbezüglich erschöpft hat, ist diese Rüge offensichtlich unbegründet.

23. Die Beschwerde als Ganzes ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 26. April 2018.

Milan Blaško                                                  Yonko Grozev
Stellvertretender Sektionskanzler                    Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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