RECHTSSACHE WERRA NATURSTEIN GMBH & CO KG ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 32377/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE W. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 32377/12)
URTEIL
(Gerechte Entschädigung – Streichung)
STRASSBURG
19. April 2018

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache W. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits und
Lәtif Hüseynov
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 27. März 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 32377/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutsches Unternehmen, W. („die Beschwerdeführerin“), nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. In einem am 19. Januar 2017 erlassenen Urteil („das Haupturteil“) stellte der Gerichtshof fest, dass das Fehlen einer Entschädigung für den faktischen Verlust der bergrechtlichen Bewilligung der Beschwerdeführerin und die Beeinträchtigung ihres verbleibenden Abbaubetriebs das in Artikel 1 des ersten Zusatzprotokolls garantierte Recht der Beschwerdeführerin verletzt hat (siehe W. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 32377/12, 19. Januar 2017).

3. Da die Frage der Anwendung des Artikels 41 der Konvention noch nicht spruchreif war, hat sich der Gerichtshof die Beurteilung dieser Frage vorbehalten und die Regierung und die Beschwerdeführerin aufgefordert, ihm schriftlich innerhalb von drei Monaten ihre Stellungnahmen zu der Frage zu unterbreiten und ihn insbesondere von jeder Einigung, die sie möglicherweise erzielen, zu unterrichten (Nr. 3 des Urteilstenors).

4. Die Beschwerdeführerin und die Regierung gaben jeweils Stellungnahmen ab.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

5. Die Beschwerdeführerin forderte 8.571.715,24 EUR für materiellen Schaden. 3.916.482,67 EUR davon basierten auf der in einem Sachverständigengutachten vorgenommenen Schätzung des entgangenen Gewinns (einschließlich des Werts des verbleibenden Kalksteins) und der Kosten der Betriebsverlagerung. Die Beschwerdeführerin brachte ferner vor, dass dieser Betrag einem Kaufkraftausgleich unterzogen und an den aktuellen Wert (4.909.803,94 EUR) angepasst werden sollte und für den Zeitraum ab 30. November 2001 – dem Tag, an dem der Bergbaubetrieb eingestellt wurde – Zinsen gezahlt werden sollten (3.661.911,30 EUR). Die Beschwerdeführerin machte darüber hinaus 542.847,29 EUR für die vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen und 16.785,00 EUR für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof geltend.

6. Die Regierung trat diesen Forderungen der Beschwerdeführerin entgegen und hielt sie für weit überhöht. Sie brachte vor, dass die Schätzung des Sachverständigen nichtdarauf begrenzt war, was im vorliegenden Verfahren entschädigt werden müsse, sondern auch Verluste und Kosten des Deponiebetriebs, eine Entschädigung für die enteigneten Grundstücksflächen und Kosten für die Errichtung eines neuen Betriebs an einem nahegelegenen Ort enthalten habe. Diese Kosten für die Betriebsverlagerung seien insbesondere auch nicht mit dem Wert der vorhandenen Maschinen, Zuwege und Gebäude gleichzusetzen, da die Beschwerdeführerin aufgrund der neuen Infrastruktur an dem neuen Standort länger und mehr Kalkstein abbauen könne. Da die Beschwerdeführerin die Zinsen, den Kaufkraftausgleich und die Anwalts- und Gerichtskosten auf der Grundlage der überhöhten Forderung bezüglich des materiellen Schadens errechnet habe, seien auch diese Beträge zu verringern. Darüber hinaus brachte die Regierung vor, dass ein Teil der Forderungen bezüglich der Anwalts- und Gerichtskosten und -auslagen das Enteignungsverfahren betreffe, das nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Gerichtshof gewesen sei.

7. Am 19. Juli 2017 legte die Regierung, nachdem keine gütliche Einigung mit der Beschwerdeführerin erzielt werden konnte, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der Frage der gerechten Entschädigung vor. Diese Erklärung lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„2. Die Bundesregierung möchte daher – durch eine einseitige Erklärung – anerkennen, dass in Anbetracht der ganz besonderen Umstände des Falles Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 der Konvention verletzt worden ist.

3. Die Bundesregierung ist bereit, eine Entschädigung in Höhe von 1.000.000 € an die Beschwerdeführerin zu leisten, wenn der Gerichtshof das Individualbeschwerdeverfahren unter der Bedingung der Zahlung dieses Betrages gemäß Artikel 37 Absatz 1 c) EMRK aus dem Register streicht. Damit würden sämtliche Ansprüche der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland und das Land Thüringen, insbesondere die Entschädigung der Beschwerdeführerin (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen als abgegolten gelten.

4. Der Betrag ist zahlbar innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Entscheidung des Gerichtshofs über die Streichung der Rechtssache aus seinem Register.“

8. Mit Schreiben vom 22. August 2017 brachte die Beschwerdeführerin vor, dass der von der Regierung angebotene Betrag keine angemessene Entschädigung für den von der Beschwerdeführerin erlittenen Schaden und die von ihr aufgebrachten Kosten und Auslagen darstelle. Sie wiederholte ihre Forderung nach gerechter Entschädigung.

9. Am 18. Januar 2018 legte die Regierung auf Bitte des Gerichtshofs weitere Informationen zur Frage der Versteuerung der vorgeschlagenen Entschädigung vor. Sie brachte vor, dass die steuerliche Behandlung der Entschädigungszahlung Sache der zuständigen Finanzbehörden der Bundesländer sei und die Regierung daher nur eine rechtliche Einschätzung abgeben könne, die aber nicht verbindlich sei. Nach Auffassung der Regierung falle unmittelbar auf die Entschädigungszahlung keine Steuer an. Allerdings könnte die Entschädigungszahlung mittelbar Auswirkungen auf Anknüpfungspunkte für andere Steuern (nämlich Ertragssteuern) haben und sich dadurch auf die Steuerpflicht der Beschwerdeführerin selbst oder auf die dritter Personen auswirken. Was die Beschwerdeführerin selbst angehe, könne die Entschädigungszahlung den Gewerbeertrag der Beschwerdeführerin erhöhen und dadurch mittelbar eine höhere Belastung mit Gewerbesteuer verursachen. Was mittelbare steuerliche Auswirkungen auf andere Personen angehe, könne die Entschädigungszahlung Auswirkungen auf den auf einzelne Gesellschafter der Beschwerdeführerin zu verteilenden Gewinn und damit auf die Höhe der von den Gesellschaftern zu zahlenden Einkommensteuer oder Körperschaftsteuer haben. Die Regierung brachte vor, dass diese möglichen mittelbaren steuerlichen Auswirkungen jedoch gerechtfertigt seien, da es in der vorliegenden Rechtssache angemessen sei, dass ein durch die Entschädigungszahlung verursachter Gewinn aus steuerlicher Sicht auch als Gewinn behandelt werde. Sie wies darauf hin, dass mit dem vorgeschlagenen Betrag entgangene Gewinne entschädigt werden sollten. Folglich wäre der Gewinn der Beschwerdeführerin in der Vergangenheit höher gewesen und hätte in der Vergangenheit entsprechende steuerliche Folgen gehabt, wenn es zu der Konventionsverletzung nicht gekommen wäre.

10. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchst. a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn

„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“

11. Er weist auch darauf hin, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht. Darüber hinaus spricht nichts dagegen, dass eine beschwerdegegnerische Regierung im Zusammenhang mit dem Verfahren bezüglich des Artikel 41 betreffenden Vorbehalts eine einseitige Erklärung abgibt (siehe Megadat.com SRL ./. Moldawien (gerechte Entschädigung – Streichung), Individualbeschwerde Nr. 21151/04, Rdnr. 10, ECHR 2011). Zu diesem Zweck prüft der Gerichtshof die Erklärung der Regierung sorgfältig im Lichte der im Zusammenhang mit Artikel 41 der Konvention geltenden allgemeinen Grundsätze (siehe z. B. Guiso-Gallisay ./. Italien (gerechte Entschädigung) [GK], Individualbeschwerde Nr. 58858/00, Rdnr. 90, 22. Dezember 2009).

12. Hinsichtlich der Forderungen der Beschwerdeführerin und der zu deren Untermauerung vorgelegten Unterlagen stellt der Gerichtshof fest, dass der Sachverständige zwar den Wert des verbleibenden Kalksteins geschätzt hat, aber nicht den Wert der bestehenden Infrastruktur des Bergbaubetriebs, sondern die Kosten für eine Verlegung oder Neuerrichtung einer vergleichbaren Infrastruktur an einem neuen Standort. Der Gerichtshof möchte auch darauf hinweisen, dass er in seinem Haupturteil festgestellt hat, dass die Beschwerdeführerin keine berechtigte Erwartung hinsichtlich etwaiger zukünftiger Gewinne aus dem Deponiebetrieb hat und diese demnach nicht unter Artikel 1 des ersten Zusatzprotokolls fallen (siehe W., a. a. O., Rdnr. 39). Der Gerichtshof stellt fest, dass der künftige Gewinn aus dem Deponiebetrieb dennoch in die Schätzung des Sachverständigen eingeflossen ist. Darüber hinaus hat die Beschwerdeführerin Entschädigung für die enteigneten Grundstücke gefordert, obwohl hierfür in dem innerstaatlichen Verfahren eine Entschädigung gewährt worden war und die Enteignung nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Gerichtshof war (siehe W., a. a. O., Rdnrn. 13, 25, 40) Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin ihre Forderungen auf Ersatz von Zinsen, Kaufkraftausgleich und Anwalts- und Gerichtskosten auf der Grundlage ihrer Forderung auf Ersatz eines materiellen Schadens berechnet hat und dass diese Forderungen an die erheblich geringere Entschädigungssumme anzupassen sind.

13. Zusammenfassend ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Forderung der Beschwerdeführerin auf Ersatz eines materiellen Schadens und von Kosten und Auslagen überhöht ist und die von der Regierung vorgeschlagene Entschädigungssumme angesichts der wiedergutzumachenden Positionen in der vorliegenden Rechtssache angemessen erscheint. In diesem Zusammenhang nimmt der Gerichtshof auch zur Kenntnis, dass laut den von der Regierung vorgelegten Informationen unmittelbar auf die Entschädigungszahlung keine Steuer anfällt. Soweit die Entschädigungszahlung sich auf Anknüpfungspunkte für andere Steuern und damit indirekt auf die Steuerpflicht der Beschwerdeführerin selbst auswirken könnte, hält der Gerichtshof das für unproblematisch. Es ist nicht Ziel einer Entschädigung nach Artikel 41, Beschwerdeführer von Steuern zu befreien, die sie dem Staat nach dem normalen Steuerrecht geschuldet hätten, wenn es nicht zu der in Rede stehenden Verletzung gekommen wäre.

14. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass eine weitere Prüfung der Rechtssache nicht länger gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c). Er ist auch überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung der Beschwerde durch den Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 in fine erfordert. Daher sollte die Beschwerde im Register gestrichen werden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ERKLÄRT DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Der Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung und die Modalitäten für die Erfüllung der darin bezeichneten Verpflichtungen werden zur Kenntnis genommen und folglich wird angeordnet,

a) dass der beschwerdegegnerische Staat der Beschwerdeführerin binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, 1.000.000 Euro (eine Million Euro) für den materiellen und immateriellen Schaden sowie die Kosten und Auslagen zu zahlen hat;

b) dass nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

2. hinsichtlich des Verfahrens bezüglich des Artikel 41 betreffenden Vorbehalts wird die Beschwerde im Register gestrichen.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 19. April 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                       Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                        Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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