STORCK ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 486/14

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 486/14
S. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 26. Juni 2018 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 31. Dezember 2013 erhoben wurde,

im Hinblick auf die von der beschwerdegegnerischen Regierung vorgelegte und am 31. August 2016 geänderte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde im Register zu streichen, und die Erwiderung der Beschwerdeführerin auf diese Erklärung,

im Hinblick auf die Stellungnahme der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderung der Beschwerdeführerin,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die 19.. geborene Beschwerdeführerin S. ist deutsche Staatsangehörige und lebt in H. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn R., Rechtsanwalt in B., vertreten.

2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr und Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die innerstaatlichen Gerichte sich geweigert hätten, das zivilrechtliche Verfahren gegen die Klinik H. wiederaufzunehmen, nachdem der Gerichtshof in seinem Urteil in ihrer Rechtssache (S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61603/00, ECHR 2005‑V) eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention festgestellt habe.

4. Am 9. November 2015 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

A. Die Umstände der Rechtssache

1. Der Hintergrund der Rechtssache: die frühere Individualbeschwerde der Beschwerdeführerin vor dem Gerichtshof (Nr. 61603/00)

a) Das innerstaatliche Verfahren, das Gegenstand von Individualbeschwerde Nr. 61603/00 war

5. Von 1977 bis 1979 war die Beschwerdeführerin auf Betreiben ihres Vaters in einer geschlossenen Abteilung der Klinik H., einer privaten psychiatrischen Klinik, untergebracht. Die Beschwerdeführerin, die damals bereits volljährig war, war nicht entmündigt und hatte das Aufnahmeformular der Klinik zur Einwilligung in die Behandlung in der Klinik nicht unterzeichnet. Es war auch keine gerichtliche Anordnung erwirkt worden, die ihre Einweisung in eine psychiatrische Klinik gegen ihren Willen genehmigt hätte. Nachdem eine Schizophrenie bei ihr diagnostiziert worden war, wurde sie mit starken Medikamenten, unter anderem mit Neuroleptika, behandelt, die ihr mehrfach zwangsweise verabreicht wurden. Die Beschwerdeführerin versuchte mehrfach, aus der Klinik zu entfliehen, und wurde gefesselt, um an weiteren Fluchtversuchen gehindert zu werden; nach einem der Fluchtversuche wurde sie von der Polizei in die Klinik zurückgebracht.

6. Nach der medizinischen Behandlung in der Klinik wegen einer dort für Schizophrenie gehaltenen Krankheit kam es bei der Beschwerdeführerin zu einem Postpoliosyndrom, und sie ist heute zu 100 Prozent schwerbehindert. Von 1980 bis 1992 konnte sie nicht sprechen.

7. Es folgten weitere Aufenthalte der Beschwerdeführerin in psychiatrischen und sonstigen Krankenhäusern. 1994 und 1999 kamen zwei von der Beschwerdeführerin beauftragte psychiatrische Sachverständige zu dem Ergebnis, dass sie zu keinem Zeitpunkt an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis gelitten, sondern sich zu der fraglichen Zeit in einer pubertätsbedingten Identitätskrise befunden habe.

8. Am 9. Juli 1998 gab das Landgericht einer Klage auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens, die die Beschwerdeführerin 1997 gegen die Klinik H. erhoben hatte, dem Grunde nach statt. Es stellte fest, dass die Unterbringung der Beschwerdeführerin nach deutschem Recht rechtswidrig gewesen sei, da sie weder wirksam in ihre Unterbringung eingewilligt habe, noch eine diesbezügliche gerichtliche Anordnung vorgelegen habe. Ihre Schadensersatzansprüche seien auch noch nicht verjährt.

9. Am 22. Dezember 2000 wies das Oberlandesgericht die Klage der Beschwerdeführerin unter Abänderung des Urteils des Landgerichts ab. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts war der Beschwerdeführerin während ihres Aufenthalts in der Klinik nicht in rechtswidriger Weise die Freiheit entzogen worden und sie habe keine vertraglichen Ansprüche auf Schadensersatz. Sie habe durch konkludentes Handeln in ihre Behandlung eingewilligt, wodurch ein Vertrag zustande gekommen sei, ihre Behandlung sei aber nicht fehlerhaft gewesen. Eventuelle Schadensersatzansprüche seien in jedem Fall verjährt.

10. Die Revision der Beschwerdeführerin beim Bundesgerichtshof blieb erfolglos.

11. Am 6. März 2002 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, eine Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen.

b) Das Urteil des Gerichtshofs im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 61603/00

12. In seinem Urteil vom 16. Juni 2005 stellte der Gerichtshof fest, dass die Unterbringung der Beschwerdeführerin in der psychiatrischen Klinik H. von 1977 bis 1979 gegen ihren Willen und ohne die erforderliche gerichtliche Anordnung und die zwangsweise medizinische Behandlung gegen Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention verstoßen haben (siehe Rechtssache S., a.a.O.).

13. Im Hinblick auf die Rüge der Beschwerdeführerin nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention stellte der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführerin, die in den Klinikaufenthalt nicht eingewilligt habe, die Freiheit entzogen worden sei. Der Gerichtshof stellte außerdem fest, dass die medizinische Behandlung der Beschwerdeführerin gegen ihren Willen ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens nach Artikel 8 der Konvention verletzt habe.

14. Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass der Umstand, dass der Beschwerdeführerin in einer privaten Klinik die Freiheit entzogen wurde und sie gegen ihren Willen medizinisch behandelt wurde, dem beschwerdegegnerischen Staat anzulasten ist, insbesondere da die Rechtsmittelgerichte die zivilrechtlichen Bestimmungen hinsichtlich der Schadensersatzansprüche der Beschwerdeführerin nicht im Sinne der Artikel 5 und 8 der Konvention ausgelegt hatten. Die Verantwortung des beschwerdegegnerischen Staats wurde auch darauf gestützt, dass die Polizei an der Fortsetzung der Unterbringung der Beschwerdeführerin und damit im Ergebnis auch an der Fortsetzung ihrer medizinischen Behandlung mitgewirkt hatte. Da keine gerichtliche Anordnung zur Unterbringung und Behandlung der Beschwerdeführerin in der Klinik H. vorgelegen hatte, die nach innerstaatlichem Recht für eine Freiheitsentziehung und medizinische Behandlung wegen psychischer Erkrankung gegen den Willen der betroffenen Person notwendig war, war die Freiheitsentziehung nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig.

15. Der Gerichtshof stellte ferner fest, dass der Staat seiner positiven Verpflichtung nicht nachgekommen sei, Personen wie die Beschwerdeführerin gegen Eingriffe in ihr Recht auf Freiheit und ihr Recht auf Achtung des Privatlebens durch Privatpersonen zu schützen, insbesondere durch Ausübung ausreichender Überwachung und Kontrolle privater psychiatrischer Einrichtungen.

16. Was die Anwendung des Artikels 41 der Konvention angeht, lauten die maßgeblichen Passagen des Urteils des Gerichtshofs wie folgt:

„176. Was den Anspruch der Beschwerdeführerin im Hinblick auf den materiellen Schaden angeht, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass zwischen dem von der Beschwerdeführerin geltend gemachten materiellen Schaden und der festgestellten Konventionsverletzung ein eindeutiger Kausalzusammenhang bestehen muss und dann ggf. auf Ersatz für entgangenes Einkommen oder den Verlust anderer Einnahmequellen erkannt wird (siehe u. a. Rechtssache Barberà, Messegué und Jabardo ./. Spanien (Artikel 50), Urteil vom 13. Juni 1994, Serie A, Bd. 285-C, S. 57 und 58, Nrn. 16 bis 20, und Rechtssache Çakıcı ./. Türkei [GC], Individualbeschwerde Nr. 23657/94, Rdnr. 127, ECHR 1999-IV). Im vorliegenden Fall merkt der Gerichtshof an, dass er im Hinblick auf den Aufenthalt der Beschwerdeführerin in der Klinik [H.] von 1977 bis 1979 eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 und [Artikel] 8 festgestellt hat. Er stellt fest, dass die Beschwerdeführerin den Beruf einer Ingenieurin oder technischen Zeichnerin vor ihrer Unterbringung in der Klinik weder erlernt noch ausgeübt hatte, so dass durch die Freiheitsentziehung keine bestehende Einnahmequelle zerstört worden ist. Dem Gerichtshof ist bewusst, dass der zwangsweise Aufenthalt der Beschwerdeführerin in der Klinik, die medizinische Behandlung, der sie dort unterzogen wurde, und die gesundheitlichen Folgen ihre beruflichen Chancen stark beeinträchtigt haben. Er kann jedoch keine Mutmaßungen darüber anstellen, welchen Beruf die Beschwerdeführerin ergriffen hätte und wie hoch ihr Einkommen später ohne ihren Aufenthalt in der Klinik von 1977 bis 1979 gewesen wäre. Folglich ist kein eindeutiger kausaler Zusammenhang mit dem der Beschwerdeführerin entgangenen geschätzten Einkommen und Ruhegeld, die auf dieser Grundlage berechnet wurden, nachgewiesen worden. Der Gerichtshof kann auf der Grundlage der ihm vorliegenden Materialien auch keinen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen der Unterbringung der Beschwerdeführerin in der Klinik [H.] und ihrer Forderung nach dem Ersatz für Zahnarzthonorar und Hilfsmittel, die nicht von ihrer Krankenkasse erstattet worden waren, erkennen.

177. Was die Forderung der Beschwerdeführerin nach dem Ersatz für alle künftigen materiellen Schäden aus der Behandlung in der Klinik [H.] in X. und in der Universitätsklinik Y. betrifft, erklärt der Gerichtshof, dass er in Bezug auf ihre Behandlung in der Klinik [H.] im Jahre 1981 und in der Universitätsklinik Y. keine Konventionsverletzung festgestellt hat. Daher kann sich insoweit kein Schadensersatzanspruch ergeben. Im Hinblick auf den wegen der Behandlung in der Klinik [H.] von 1977 bis 1979 geltend gemachten Anspruch ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er weder Mutmaßungen über den genauen Umfang des wegen ihrer Unterbringung in dieser Klinik zu erwartenden materiellen Schadens noch darüber anstellen kann, ob zwischen diesem künftigen Schaden und ihrer Behandlung in dieser Klinik ein kausaler Zusammenhang besteht. Deshalb spricht der Gerichtshof keinen Ersatz für materiellen Schaden zu.

178. Was den Anspruch der Beschwerdeführerin im Hinblick auf den immateriellen Schaden angeht, verweist der Gerichtshof auf seine vorstehenden Feststellungen schwerer Verletzungen von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention in vorliegender Rechtssache. Er stellt noch einmal fest, dass die Beschwerdeführerin ohne Rechtsgrundlage in der Klinik untergebracht und dort in einem recht jugendlichen Alter mehr als zwanzig Monate lang behandelt wurde. Die Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit der Beschwerdeführerin durch ihre zwangsweise medizinische Behandlung waren besonders schwerwiegend. Sie hatten eine schwere irreversible Gesundheitsschädigung verursacht und ihr sogar die Möglichkeit genommen, ein selbstbestimmtes Berufs- und Privatleben zu führen. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Fall der Beschwerdeführerin im Hinblick auf die Bemessung der immateriellen Schäden von Rechtssachen wie H. L. ./. Vereinigtes Königreich [Individualbeschwerde Nr. 45508/99, Rdnrn. 148 bis 150, ECHR 2004-IX] zu unterscheiden ist. In der vorliegenden Rechtssache ist es äußerst zweifelhaft – und dies ist auch von keiner Partei unterstellt worden – dass der Beschwerdeführerin nach dem geltenden Recht überhaupt gegen ihren Willen die Freiheit hätte entzogen werden können, weil sie die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erheblich gefährdete (§ 2 des Gesetzes des betroffenen Bundeslandes über die Unterbringung von Geisteskranken, Geistesschwachen und Süchtigen […]). Unter Berücksichtigung vergleichbarer früherer Individualbeschwerden, in denen die körperliche und psychische Unversehrtheit der Beschwerdeführer auch erheblich beeinträchtigt worden war (siehe z. B. Rechtssache A. ./. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 23. September 1998, Reports 1998‑VI, S. 2701, Rdnr. 34, sowie Rechtssache Peers ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 28524/95, Rdnr. 88 ECHR 2001-III) entscheidet der Gerichtshof nach Billigkeit und spricht der Beschwerdeführerin 75.000 EUR als Entschädigung für den immateriellen Schaden zuzüglich ggf. zu berechnender Steuern zu.“

17. Hinsichtlich der gerechten Entschädigung lautet der Tenor wie folgt:

„10. a) der beschwerdegegnerische Staat hat der Beschwerdeführerin binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:

i) 75.000 EUR (fünfundsiebzigtausend Euro) für den immateriellen Schaden;

ii) 18.315 EUR (achtzehntausenddreihundertfünfzehn Euro) für Kosten und Auslagen;

iii) die für die vorstehend genannten Beträge ggf. zu berechnenden Steuern;

b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

11. im Übrigen wird die Forderung der Beschwerdeführerin nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.“

18. Das Urteil wurde am 16. September 2005 rechtskräftig.

2. Das Verfahren, das Gegenstand der vorliegenden Individualbeschwerde der Beschwerdeführerin vor dem Gerichtshof ist

a) Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht

19. Am 17. Oktober 2005 beantragte die Beschwerdeführerin beim Oberlandesgericht Prozesskostenhilfe, um Klage auf Wiederaufnahme ihres Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. erheben zu können (siehe Rdnrn. 5 bis 11). Sie machte geltend, dass ihre Klage gegen die Klinik erneut geprüft werden sollte, nachdem der Gerichtshof in seinem Urteil in dem Individualbeschwerdeverfahren Nr. 61603/00 Verletzungen der Artikel 5 und 8 der Konvention festgestellt habe. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass das Urteil des Gerichtshof im Wege der Analogie einen Grund für eine Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO (siehe Rdnr. 42) darstelle. Sie beantragte insbesondere, die Klinik solle verurteilt werden, ihr eine monatliche Rente in Höhe von 1.700 Euro wegen entgangener Einkünfte und einen weitergehenden Ersatz des immateriellen Schadens in Höhe von 425.000 Euro zu zahlen. Sie behauptete, ihre hundertprozentige Schwerbehinderung, ihre Erwerbsunfähigkeit, ihre ständigen Schmerzen und die Tatsache, dass sie auf einen Rollstuhl angewiesen sei, seien auf die Behandlung in dieser Klinik zurückzuführen.

20. Am 2. Februar 2006 wies das Oberlandesgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Prozesskostenhilfe als unbegründet zurück, da die von ihr angestrebte Rechtsverfolgung zur Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die Klinik H. keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Das Gericht stellte fest, dass die von der Beschwerdeführerin beabsichtigte Wiederaufnahmeklage mangels Vorliegens eines Restitutionsgrundes nach § 580 ZPO unzulässig sei.

21. Das Oberlandesgericht führte aus, dass die Zivilprozessordnung im Gegensatz zum Strafprozessrecht (§ 359 Nr. 6 StPO, siehe Rdnr. 44) in Fällen, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention festgestellt habe, keine Wiederaufnahme von Verfahren vorsehe, die durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossen worden seien. Im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte könne § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO im Hinblick auf ein Urteil des Gerichtshofs weder unmittelbar Anwendung finden (da ein solches keine „Urkunde“ im Sinne der genannten Rechtsvorschrift darstelle), noch im Wege der Analogie (siehe Rdnr. 42). Nach Auffassung des Oberlandesgerichts gab es keine gesetzliche Regelungslücke hinsichtlich der Wiederaufnahme von Verfahren, der durch eine analoge Anwendung von § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO abgeholfen werden müsste. Indem der Gesetzgeber im Jahr 1998 (lediglich) § 359 Nr. 6 StPO verabschiedet habe, habe er klargestellt, dass die Wiederaufnahme in Fällen, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einen Verstoß gegen die Konvention festgestellt hat, nur bei Strafverfahren, nicht aber bei Zivilverfahren möglich sein solle.

22. Das Oberlandesgericht war außerdem der Ansicht, dass es bei der beabsichtigten Klage der Beschwerdeführerin nicht um die Klärung einer schwierigen, bislang unbeantworteten Rechtsfrage gehe, die die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlich gemacht hätte, um ihr im Grundgesetz verankertes Recht auf Rechtsschutzgleichheit zu gewährleisten. Insbesondere sei klar, dass § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO wie oben dargelegt im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte nicht analog angewendet werden könne.

23. Das Oberlandesgericht vertrat in diesem Zusammenhang die Auffassung, Artikel 46 der Konvention gestatte es den Vertragsparteien, gerichtliche Entscheidungen, die später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als konventionswidrig erachtet würden, mit Rücksicht auf die Bedeutung der Wirkung der Rechtskraft, die ihr in den innerstaatlichen Rechtsordnungen zukomme, unangetastet zu lassen. Artikel 41 der Konvention ermögliche es dem Gerichtshof, einem Beschwerdeführer unter solchen Umständen eine Entschädigung zuzusprechen. In seinem Urteil vom 16. Juni 2005 habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte der Beschwerdeführerin eine Entschädigung zugesprochen.

24. Am 20. April 2006 verwarf das Oberlandesgericht die Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin gegen seinen Beschluss vom 2. Februar 2006 als unzulässig, da sie nicht dargelegt habe, dass der Beschluss des Gerichts entweder ein Verfahrensrecht verletzt habe oder aber offenkundig rechtswidrig sei. In Ergänzung seiner in dem Beschluss vom 2. Februar 2006 dargelegten Gründe führte es aus, dass der Antrag der Beschwerdeführerin auf Prozesskostenhilfe zurückzuweisen sei, da sie nunmehr über ausreichende Mittel verfüge, um die Kosten des Verfahrens zu bestreiten. Sie habe die ihr vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugesprochene Zahlung von 75 000 Euro als Ersatz für immateriellen Schaden erhalten und es könne ihr zugemutet werden, einen Teil dieses Betrags zur Bestreitung der Kosten für das von ihr angestrebte erneute Verfahren einzusetzen. Das Oberlandesgericht stellte außerdem fest, dass die Beschwerdeführerin keine Gründe vorgelegt habe, die das Gericht dazu veranlassen könnten, seine Feststellung, dass in ihrem Fall kein Grund für eine Wiederaufnahme gegeben sei, abzuändern.

b) Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

25. Am 10. März 2006 legte die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 2. Februar 2006 ein. Mit Schriftsatz vom 22. Mai 2006 weitete sie ihre Beschwerde auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 20. April 2006 aus. Sie machte unter anderem geltend, dass es diskriminierend sei, dass das innerstaatliche Recht zu jener Zeit nicht die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Zivilverfahrens vorgesehen habe, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention oder ihrer Protokolle festgestellt habe und das zivilgerichtliche Urteil auf dieser Verletzung basiert habe, wohingegen diese Möglichkeit im Hinblick auf Strafverfahren gegeben gewesen sei. § 359 Nr. 6 StPO (siehe Rdnr. 44) hätte analog Anwendung finden müssen, damit eine Wiederaufnahme ihres gegen die Klinik H. geführten Schadensersatzverfahrens möglich gewesen wäre. In ihrem Vorbringen vom 7. Mai 2008 informierte die Beschwerdeführerin das Bundesverfassungsgericht zudem über den Inhalt der Resolution des Ministerkomitees vom Oktober 2007 zur Einstellung der Prüfung in der Rechtssache S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61603/00 (siehe Rdnrn. 37 bis 40).

26. Mit Beschluss vom 18. August 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die von der Beschwerdeführerin erhobene Verfassungsbeschwerde, die es zur Stellungnahme an das betroffene Bundesland übermittelt hatte, zur Entscheidung anzunehmen und lehnte den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vor ihm geführte Verfahren ab (2 BvR 1380/08).

27. Das Bundesverfassungsgericht ließ die Frage, ob es der Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin an Erfolgsaussichten fehle, offen, weil es dieser nunmehr nicht mehr an ausreichenden Mitteln mangele, um eine Klage auf Wiederöffnung ihres Falles erheben zu können.

28. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass das Ministerkomitee in seiner Resolution CM/ResDH(2007)123 vom 17. Oktober 2007 beschlossen habe, die Prüfung im Fall der Beschwerdeführerin gemäß Artikel 46 Abs. 2 der Konvention einzustellen (siehe Rdnrn. 38 bis 40). Das Ministerkomitee habe festgestellt, dass die Einführung des § 580 Nr. 8 ZPO zum 31. Dezember 2006 der Beschwerdeführerin mangels rückwirkender Anwendbarkeit nicht zugutekommen werde. Das Ministerkomitee habe ferner festgestellt, dass die Beschwerdeführerin gegen die die Prozesskostenhilfe versagende Entscheidung des Oberlandesgerichts vom Februar 2006 Verfassungsbeschwerde erhoben habe. Schließlich habe das Ministerkomitee festgehalten, dass in Anbetracht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erwarten sei, dass dieses Gericht die Konvention und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in seiner Entscheidung vollständig umsetzen werde, um der Beschwerdeführerin volle Wiedergutmachung zu gewähren (siehe Rdnr. 39).

29. Das Bundesverfassungsgericht verwies erstens darauf, die Beschwerdeführerin habe die Behauptung, dass das Oberlandesgericht ihr Recht nach Artikel 46 der Konvention auf Abstellung der Verletzung der Konvention und auf Gewährung einer angemessenen Wiedergutmachung missachtet habe, nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Daher sei ihre Verfassungsbeschwerde in dieser Hinsicht unzulässig. Die Beschwerdeführerin habe nicht nachgewiesen, dass das zu ihren Gunsten erlassene Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – in dem der Gerichtshof Deutschland zur Zahlung von 75.000 Euro wegen immaterieller Schäden sowie von 18.315 Euro für Kosten und Auslagen gemäß Artikel 41 der Konvention verpflichtet habe – nicht umgesetzt worden sei. In seinem Urteil habe der Gerichtshof Deutschland keine über diese Zahlungen hinausgehenden weiteren Verpflichtungen auferlegt. Er habe auch nicht ausdrücklich nahegelegt, dass die Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens die angemessenste Form der Wiedergutmachung sei, was er in einer Reihe anderer Urteile getan habe, beispielsweise in der Rechtssache Sejdovic ./. Italien ([GK], Individualbeschwerde Nr. 56581/00, Rdnr. 125, ECHR 2006‑II, m.w.N.).

30. Zweitens habe die Beschwerdeführerin nicht substantiiert dargelegt, dass das Oberlandesgericht durch Anwendung von § 580 ZPO – einer Bestimmung, die im Gegensatz zu § 359 Nr. 6 StPO zur maßgeblichen Zeit nicht vorgesehen habe, dass die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen Grund für eine Wiederaufnahme darstelle – gegen das Gleichheitsgebot verstoßen habe. Insbesondere habe sie diesbezüglich keine Ungleichbehandlung durch den Gesetzgeber gerügt.

31. Drittens sei die Verfassungsbeschwerde, soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Rechts auf Rechtsschutzgleichheit rüge, jedenfalls unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass die von diesem Gericht zu klärende Rechtsfrage nicht schwierig und die darauf zu findende Antwort eindeutig gewesen sei. In diesem Fall, bei dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Konventionsverletzung festgestellt habe, sei eine Restitutionsklage zur Wiederaufnahme des Verfahrens der Beschwerdeführerin nach § 580 ZPO nicht vorgesehen gewesen. Zum Zeitpunkt seiner Beschlüsse im Jahr 2006 habe das Oberlandesgericht daher keine Möglichkeit gehabt, im Rahmen einer methodisch vertretbaren Gesetzesauslegung, die die Grenzen dessen darstelle, was von einer konventionsfreundlichen Auslegung des innerstaatlichen Rechts erwartet werden könne, ein weiteres Mal über die Schadensersatzklage der Beschwerdeführerin zu entscheiden. Der Zweck der Prozesskostenhilfe, der darin bestehe, Unbemittelten weitgehend gleichen Zugang zum Gericht zu ermöglichen wie ausreichend Bemittelten, sei daher durch die Nichtbewilligung nicht unterlaufen worden.

32. Darüber hinaus verlangte nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts weder die Konvention noch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine andere Auslegung von § 580 ZPO in der damaligen Fassung, welche eine Wiederaufnahme des Zivilverfahrens der Beschwerdeführerin ermöglichen würde.

33. In dieser Hinsicht vertrat es die Auffassung, dass keine grundsätzlichen konventionsrechtlichen Bedenken gegen das deutsche Prozesskostenhilfesystem bestehen. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichte die Vertragsstaaten nicht dazu, für alle Streitigkeiten in Zivilverfahren Prozesskostenhilfe bereitzustellen. Das von der Konvention gewährleistete Recht auf Zugang zu einem Gericht sei kein absolutes Recht und könne eingeschränkt werden, solange die Einschränkungen ein legitimes Ziel verfolgten und verhältnismäßig seien. Insbesondere könne es akzeptabel sein, Bedingungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe aufzustellen, die unter anderem auf die finanzielle Lage der Prozesspartei oder deren Erfolgsaussichten im Verfahren abstellen, vorausgesetzt, das Prozesskostenhilfesystem biete dem Einzelnen ausreichende Garantien, die ihn vor Willkür schützen. Unter Bezugnahme auf eine Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofs stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das deutsche Prozesskostenhilfesystem den Prozessparteien umfangreiche Garantien zum Schutz vor Willkür biete.

34. Zwar verpflichte Artikel 46 Abs. 1 der Konvention die Vertragsparteien, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, die Umsetzung dieser Urteile obliege jedoch den Vertragsstaaten. Sie seien im Rahmen des Möglichen dazu verpflichtet, allgemeine und gegebenenfalls individuelle Maßnahmen in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung zu treffen, um die vom Gerichtshof festgestellte Verletzung abzustellen und die Folgen so weit wie möglich zu beseitigen, um damit den Beschwerdeführer in die Position zu versetzen, in der sich dieser befände, hätte es keine Verletzung der Konventionserfordernisse gegeben. Diese Verpflichtung gebiete allerdings nicht, die Möglichkeit zur Wiederaufnahme von rechtskräftig abgeschlossenen Zivilverfahren zu schaffen.

35. Das Bundesverfassungsgericht führte ferner aus, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte keine Zuständigkeit habe, zu prüfen, ob ein Vertragsstaat die Pflichten erfüllt hat, die sich aus einem seiner Urteile ergeben. Vielmehr falle die Überwachung der Urteilsdurchführung gemäß Artikel 46 Abs. 2 der Konvention in die Zuständigkeit des Ministerkomitees. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für den Fall anerkannt, dass Maßnahmen, die der Mitgliedstaat zur Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung getroffen habe, neue Fragen aufgeworfen haben, über die im Urteil noch nicht entschieden worden sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) ./. Schweiz (Nr. 2) ([GK], Individualbeschwerde Nr. 32772/02, ECHR 2009) stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Auffassung vertreten habe, dass die Voraussetzungen für diese Ausnahme erfüllt seien, wenn das innerstaatliche Recht die Verfahrenswiederaufnahme grundsätzlich vorsehe und das Ministerkomitee seine Prüfung der Urteilsdurchführung in Unkenntnis des Umstands eingestellt habe, dass das zuständige nationale Gericht den Wiederaufnahmeantrag aufgrund neu eingetretener Umstände abgelehnt habe.

36. Das Bundesverfassungsgericht war der Ansicht, dass die Frage, welche Konsequenzen in einem derartigen Ausnahmefall für das deutsche Recht zu ziehen seien, keiner Erörterung bedürfe. Im Fall der Beschwerdeführerin seien nach der Entscheidung des Ministerkomitees, die Überwachung der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs in ihrer früheren Rechtssache einzustellen, keine neuen Fragen aufgeworfen worden, die eine erneute inhaltliche Prüfung durch den Gerichtshof begründen könnten. Nach den anwendbaren Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts sei eine Wiederaufnahme des Verfahrens zum damaligen Zeitpunkt nicht statthaft gewesen. Die Ausführung der Beschwerdeführerin, eine Wiederaufnahme des Zivilverfahrens gegen die Klinik H. sei nach deutschem Recht die einzige Möglichkeit, die vom Ministerkomitee erwartete „volle Wiedergutmachung“ zu erreichen, sei unzutreffend. Der Beschwerdeführerin habe offen gestanden, die Bundesrepublik Deutschland oder das betroffene Bundesland gemäß Artikel 5 Abs. 5 der Konvention auf Ersatz jedenfalls des vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht zugesprochenen Vermögensschadens in Anspruch zu nehmen. Diese Vorschrift gewähre den Betroffenen nach der Rechtsprechung der deutschen Zivilgerichte unmittelbar einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch gegen die öffentliche Hand wegen Freiheitsentziehungen unter Verletzung von Artikel 5 der Konvention. Allerdings sei dieser Anspruch zwischenzeitlich wahrscheinlich gemäß §§ 195 und 199 Abs. 1 BGB verjährt, da die Verjährungsregeln des deutschen Rechts für deliktische Ansprüche entsprechende Anwendung fänden.

3. Überwachung der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs im Individualbeschwerdeverfahren Nr. 61603/00

37. Das Ministerkomitee prüfte den Fall S. gegen Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61603/00, in seiner 1007. Sitzung vom 15. bis 17. Oktober 2007, zu einem Zeitpunkt also, der zwischen dem Ergehen der Beschlüsse des Oberlandesgerichts im Jahr 2006 und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. August 2013 lag.

38. Das Ministerkomitee beschloss im Einklang mit den Bestimmungen aus Artikel 46 Abs. 2 der Konvention, der die Überwachung der Durchführung endgültiger Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durch das Ministerkomitee vorsieht, die Prüfung in der Rechtssache der Beschwerdeführerin einzustellen (Resolution CM/ResDH(2007)123 vom 17. Oktober 2007). Es erinnerte daran, dass die Feststellung von Verletzungen der Konvention durch den Gerichtshof über die Zahlung einer gerechten Entschädigung hinaus gegebenenfalls auch die Ergreifung individueller Maßnahmen durch den beschwerdegegnerischen Staat gebiete, um die Verletzungen zu beenden, deren Folgen zu beseitigen und den Beschwerdeführer, so weit möglich, in die Lage zu versetzen, in der er sich ohne die Verletzung befunden hätte. Darüber hinaus müsse der beschwerdegegnerische Staat allgemeine Maßnahmen zur Verhinderung ähnlicher Verletzungen ergreifen.

39. Das Ministerkomitee erinnerte auch daran, dass der Gerichtshof die Unterbringung der Beschwerdeführerin in einer geschlossenen Abteilung der in Rede stehenden privaten psychiatrischen Klinik und die medizinische Behandlung gegen ihren Willen als Verstoß gegen Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention erachtet habe. Im Anhang zu seiner Resolution führte das Ministerkomitee aus:

„Individuelle Maßnahmen

Der EGMR erkannte eine gerechte Entschädigung in Höhe von 75.000 Euro als Ersatz für den immateriellen Schaden zu. Nach deutschem Recht gab es bis Ende 2006 keine ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, die Wiederaufnahme eines zivilrechtlichen Verfahrens mit der Begründung zu erwirken, dass das Urteil des innerstaatlichen Gerichts das innerstaatliche Recht nicht im Sinne der Konvention ausgelegt habe. In dieser Hinsicht unterschied sich die deutsche Zivilprozessordnung von der Strafprozessordnung, die eine Wiederaufnahme ausdrücklich für solche Fälle vorsieht, in denen der EGMR eine Verletzung festgestellt hat, die Auswirkungen auf das Ergebnis des in Rede stehenden Verfahrens gehabt haben könnte (§ 359 Nr. 6 StPO).

Am 31.12.2006 trat eine neue gesetzliche Regelung in Kraft, nach der die Wiederaufnahme zivilrechtlicher Verfahren nunmehr ebenso möglich ist wie dies bereits bei Strafverfahren der Fall war (§ 580 Nr. 8 ZPO, eingeführt durch das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz, BGBl. I 2006 Nr. 66 vom 30.12.2006). Da das Gesetz aber nicht rückwirkend gilt, wird es der Beschwerdeführerin wohl nicht zugutekommen. Die Beschwerdeführerin konnte kein Strafverfahren wegen Freiheitsberaubung (…) und Körperverletzung (…) beantragen, da diese Delikte bereits verjährt waren, als die Beschwerdeführerin ihre Fähigkeit zu sprechen zurückerlangte. Dennoch versucht die Beschwerdeführerin gegenwärtig, die Wiederaufnahme des innerstaatlichen Verfahrens zur Erlangung einer weitergehenden Entschädigung für den durch ihre rechtwidrige Freiheitsentziehung erlittenen materiellen Schaden zu erwirken. Ihr Antrag auf Prozesskostenhilfe wurde im Februar 2006 vom Oberlandesgericht zurückgewiesen. Im März 2006 erhob die Beschwerdeführerin gegen diesen Beschluss Verfassungsbeschwerde mit der Begründung, dass die Wiederaufnahme von Verfahren sowohl nach deutschem Verfassungsrecht als auch nach der Konvention möglich und nicht aussichtslos sei, und daher Prozesskostenhilfe gewährt werden müsse. Angesichts der ständigen Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts ist zu erwarten, dass das innerstaatliche Gericht in seiner Entscheidung die Konvention sowie die Rechtsprechung des EGMR vollständig umsetzen wird, um der Beschwerdeführerin volle Wiedergutmachung zuteilwerden zu lassen.“

40. Im Zusammenhang mit den allgemeinen Maßnahmen erinnerte das Ministerkomitee unter anderem daran, dass die Einführung der Möglichkeit der Wiederaufnahme zivilrechtlicher Verfahren nach Feststellung einer Verletzung durch den EGMR ins deutsche Recht seiner Empfehlung an die Mitgliedstaaten zur erneuten Überprüfung oder Wiederaufnahme bestimmter Verfahren auf innerstaatlicher Ebene im Anschluss an Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Empfehlung Rec(2000)2, angenommen am 19. Januar 2000 in der 694. Sitzung der Stellvertreter der Minister) entspreche.

41. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. August 2013, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, ersuchte die Beschwerdeführerin das Ministerkomitee am 13. März 2014, das Verfahren zur Überwachung der Durchführung des Urteils vom 16. Juni 2005 wieder aufzunehmen. Zum Zeitpunkt des Ergehens der vorliegenden Entscheidung hat das Ministerkomitee noch nicht über den Antrag der Beschwerdeführerin entschieden.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

1. Bestimmungen der Zivilprozessordnung und des zugehörigen Einführungsgesetzes über die Wiederaufnahme von Zivilverfahren

42. In § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung sind unter den Nummern 1 bis 7 Buchst. b die Gründe für die Wiederaufnahme zivilrechtlicher Verfahren aufgeführt. § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO insbesondere bestimmte und bestimmt noch immer, dass eine Restitutionsklage hinsichtlich eines Verfahrens vor den Zivilgerichten stattfindet, wenn eine Partei eine andere Urkunde auffindet oder zu benutzen in den Stand gesetzt wird, die eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte mit Stand 2006 war § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO nicht auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anzuwenden, und zwar weder direkt (siehe OLG Brandenburg, 4 U 34/04, Urteil vom 9. Juni 2004, und LG Bautzen, 4 O 151/04, Urteil vom 8. Oktober 2004) noch analog (siehe Urteil des OLG Brandenburg, a.a.O., und OLG Sachsen-Anhalt, 11 U 135/04, Urteil vom 17. Mai 2005).

43. Zum 31. Dezember 2006 führte der Gesetzgeber in § 580 ZPO einen weiteren Restitutionsgrund ein. Nach § 580 Nr. 8 findet die Restitutionsklage gegen rechtskräftige Urteile der Zivilgerichte statt, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil des Zivilgerichts auf dieser Verletzung beruht. Gemäß § 35 des Einführungsgesetzes zur Zivilprozessordnung ist § 580 Nr. 8 ZPO nicht auf Verfahren anzuwenden, die vor dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossen wurden.

2. Bestimmung der Strafprozessordnung bezüglich der Wiederaufnahme von Strafverfahren

44. Nach § 359 Nr. 6 StPO ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil des Strafgerichts auf dieser Verletzung beruht. Dieser Wiederaufnahmegrund wurde vom Gesetzgeber zum 15. Juli 1998 in § 359 StPO eingeführt.

3. Bestimmungen über die Prozesskostenhilfe

45. Die Voraussetzungen für Prozesskostenhilfe sind in § 114 ff. ZPO festgelegt. Nach diesen Bestimmungen erhält eine Partei, die die Verfahrenskosten nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Es obliegt dem Gericht, das für die beabsichtigte Klage selbst zuständig ist, über Anträge auf Prozesskostenhilfe zu entscheiden und eine ablehnende Entscheidung kann angefochten werden (§ 127 Abs. 1 und 2 ZPO).

4. Schadensersatzforderungen nach Artikel 5 Absatz 5 der Konvention

46. Nach der gefestigten Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte ergibt sich unmittelbar aus Artikel 5 Abs. 5 der Konvention ein Schadensersatzanspruch gegen den Staat, wenn einer Person unter Verletzung von Artikel 5 der Konvention die Freiheit entzogen wurde (siehe Bundesgerichtshof, III ZR 118/64, Urteil vom 31. Januar 1966). Der Anspruch gilt unabhängig von einem Verschulden seitens der Behörden (ebenda). Die innerstaatlichen Gerichte legen einen auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention basierenden Anspruch dahingehend aus, dass die Gewährung echten Schadensersatzes an den Geschädigten bezweckt wird, der sowohl den materiellen als auch den immateriellen Schaden abdeckt (siehe Bundesgerichtshof, III ZR 3/92, Urteil vom 29. April 1993). Allerdings muss der betreffende Schaden von einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung als solcher herrühren, also einer Verletzung von Artikel 5 der Konvention (siehe Bundesgerichtshof, III ZR 342/12, Urteil vom 4. Juli 2013, bei dem das Gericht befand, dass ein Schaden aufgrund von Haftbedingungen, die gegen Artikel 3 der Konvention verstoßen, nicht von dem Anwendungsbereich des Anspruchs aus Artikel 5 Abs. 5 der Konvention erfasst sei). Es gibt keine gefestigte innerstaatliche Rechtsprechung dazu, ob es Raum für eine zusätzliche Entschädigung auf der Grundlage von Artikel 5 Abs. 5 der Konvention gibt, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung von Artikel 5 der Konvention festgestellt und eine gerechte Entschädigung nach Artikel 41 der Konvention gewährt hat und die deutschen Behörden der betroffenen Person diese Summe ausgezahlt haben (siehe Oberlandesgericht Frankfurt am Main, 15 W 2/12, Beschluss vom 9. April 2013).

47. Nach der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte gelten die Regelungen hinsichtlich der Verjährung deliktischer Ansprüche analog für Ansprüche nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention (siehe ebenda; Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 414/04, Beschluss vom 6. Oktober 2004). Die dreijährige Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners erstmals Kenntnis erlangt hat (Anwendung gemäß § 195 und 199 Abs. 1 BGB). Die innerstaatlichen Gerichte sind der Auffassung, dass ein solcher Anspruch in dem Zeitpunkt entsteht, in dem eine Freiheitsentziehung objektiv rechtswidrig ist, ohne dass es einer diesbezüglichen gerichtlichen Feststellung bedürfte (siehe Oberlandesgericht Hamm, I‑11 U 131/13, Urteil vom 6. Februar 2015, und Landgericht Marburg, 2 O 63/13, Urteil vom 8. Juli 2014). Bei unklarer Rechtslage kann der Beginn der Verjährungsfrist wegen Rechtsunkenntnis ausnahmsweise verschoben werden (siehe Bundesgerichtshof; III ZR 353/04, 3. März 2005).

RÜGEN

48. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die innerstaatlichen Gerichte sich geweigert hätten, das zivilrechtliche Verfahren gegen die Klinik H. wiederaufzunehmen, nachdem der Gerichtshof in seinem Urteil in ihrer Rechtssache (S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61603/00, ECHR 2005‑V) eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention festgestellt habe. Sie machte geltend, die innerstaatlichen Gerichte seien verpflichtet, dieses Verfahren wieder aufzunehmen, da dies für sie die einzige Möglichkeit sei, „volle Wiedergutmachung“ für die vom Gerichtshof in jenem Urteil festgestellte Verletzung zu erlangen. Die Nichtbewilligung von Prozesskostenhilfe durch die innerstaatlichen Gerichte für die Anstrengung einer Klage zur Wiederaufnahme ihres Verfahrens und die Nichtbewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hätten gegen ihr Recht auf Rechtsschutzgleichheit, gegen den Grundsatz der Waffengleichheit, gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren und gegen das Recht auf Zugang zu den Gerichten verstoßen. Die Beschwerdeführerin berief sich auf Artikel 1, 5 Abs. 1, 6 Abs. 1, 8, 13, 14 und 46 der Konvention sowie auf Artikel 1 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Vorbemerkungen

49. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass er bereits mit den Rügen der Beschwerdeführerin nach der Konvention, die ihre Unterbringung in der Klinik H. und die zwangsweise medizinische Behandlung dort betrafen, befasst war und eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention festgestellt und ihr 75.000 Euro als Entschädigung für den immateriellen Schaden, jedoch keine Entschädigung für materiellen Schaden zugesprochen hat (siehe Rdnrn. 12 bis 18). Im Kern betrifft die vorliegende Individualbeschwerde die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass ihr bisher keine hinreichende Wiedergutmachung für die vom Gerichtshof festgestellten Konventionsverletzungen zuteil geworden sei und dass ihr zusätzliche Entschädigung zu gewähren sei.

50. Auf innerstaatlicher Ebene hat sie vergeblich versucht, zusätzliche Entschädigung für die festgestellten Konventionsverletzungen zu erlangen, indem sie die Wiederaufnahme des zivilrechtlichen Verfahrens gegen die Privatklinik H. und Prozesskostenhilfe hierfür beantragte (siehe Rdnrn. 19 bis 36). Ihre nun dem Gerichtshof vorliegenden Konventionsrügen betreffen die Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, das Zivilverfahren gegen die Klinik H. wiederaufzunehmen und ihr hierfür Prozesskostenhilfe zu gewähren. Die Rügen werfen Fragen hinsichtlich der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs im ersten Individualbeschwerdeverfahren der Beschwerdeführerin und der diesbezüglichen Befugnisse des Gerichtshofs und des Ministerkomitees auf.

51. Schließlich nimmt der Gerichtshof den Vortrag der Regierung zur Kenntnis, wonach diese die Individualbeschwerde insgesamt für unzulässig halte, angesichts der Krankheitsgeschichte der Beschwerdeführerin jedoch entschieden habe, im Wege einer einseitigen Erklärung eine Verletzung ihrer Verfahrensrechte anzuerkennen (siehe Rdnrn. 54 und 58).

B. Angebliche Verletzung der Verfahrensrechte der Beschwerdeführerin aufgrund der Versagung von Prozesskostenhilfe

52. Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass die Weigerung des Oberlandesgerichts, ihr für die Anstrengung einer Klage zur Wiederaufnahme ihres Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. Prozesskostenhilfe zu gewähren, gegen ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht und auf Rechtsschutzgleichheit, gegen den Grundsatz der Waffengleichheit und gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren verstoßen habe.

53. Nachdem Versuche der Regierung, direkt mit der Beschwerdeführerin eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 1. März 2016 über ihren Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in diesem Teil der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner ersuchte sie den Gerichtshof, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.

54. Die Erklärung lautete wie folgt:

„1 Die Bundesrepublik teilt gegenüber dem Gerichtshof mit, dass leider keine Einigung über einen Vergleich mit der Beschwerdeführerin erzielt werden konnte.

2 Die Bundesregierung möchte daher – durch eine einseitige Erklärung – anerkennen, dass durch die Versagung von Prozesskostenhilfe für die beabsichtigte Durchführung einer Wiederaufnahme ihres Rechtsstreits gegen die Privatklinik H. bei dem […] Oberlandesgericht […] die von Art. 6 Abs. 1 EMRK geschützten Verfahrensrechte der Beschwerdeführerin sowie Rechte aus Art. 5 Abs. 1 und aus Art. 8 der Konvention verletzt worden sind.

3 Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof eine Entschädigungsforderung in Höhe von 8.000,00 € anzuerkennen. Mit diesem Betrag von 8.000,00 € würden sämtliche Ansprüche im Zusammenhang mit der [Individualbeschwerde Nr. 486/14] gegen die Bundesrepublik Deutschland und das betroffene Bundesland, insbesondere eine Entschädigung (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten.

4 Einen Betrag von 8.000,00 € sieht die Bundesregierung als angemessen an. Zunächst würde die Beschwerdeführerin hierdurch wirtschaftlich so gestellt, als sei ihr die begehrte Prozesskostenhilfe bewilligt worden. Der angebotene Betrag umfasst die bei Erhebung einer Wiederaufnahmeklage zu erwartenden Verfahrenskosten. Er schließt darüber hinaus eine Entschädigung für immaterielle Nachteile aus einer Beeinträchtigung der Verfahrensrechte der Beschwerdeführerin im Prozesskostenhilfeverfahren ein. Ferner werden die der Beschwerdeführerin im Verfahren vor dem Oberlandesgericht entstandenen Kosten sowie die Gebühren und Auslagen ihres Prozessbevollmächtigten vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof in jeweils angemessener Höhe abgedeckt.

5 Weitergehende Ansprüche der Beschwerdeführerin auf Ausgleich eines Schadens aus entgangenen Chancen („loss of opportunity“) sieht die Bundesregierung nicht als gerechtfertigt an. Für die bis April 1979 erlittenen und eingetretenen Nachteile ist die Beschwerdeführerin nach Einschätzung der Bundesregierung schon durch die von dem Gerichtshof mit seinem Urteil vom 16. Juni 2005 (Nr. 61603/00) zugesprochene Entschädigung ausreichend abgefunden worden. Ob der Beschwerdeführerin in einem vor den innerstaatlichen Gerichten wiederaufgenommenen Zivilverfahren Ersatz für nach April 1979 aufgetretene Gesundheitsbeeinträchtigungen zugesprochen worden wäre, ist gänzlich ungewiss. In der Feststellung des Oberlandesgerichts aus seinem Urteil vom 22. Dezember 2000, dass die Behandlung der Beschwerdeführerin in der Zeit von Juli 1977 bis April 1979 fehlerfrei gewesen war und keine Überdosierung von Medikamenten stattgefunden hat (Rdnr. 40 des Urteils des Gerichtshofs vom 16. Juni 2005) hat der Gerichtshof keine Verletzung von Verfahrensrechten der Beschwerdeführerin gesehen (Rdnrn. 130 bis 136 des Urteils des Gerichtshofs vom 16. Juni 2005).

6 Über den Einzelfall der Beschwerdeführerin hinausgehende Fragen eines Schutzes der Rechte aus der Konvention wirft die Beschwerde nicht auf. Für alle nach dem 31. Dezember 2006 rechtskräftig abgeschlossene Verfahren hat die Bundesrepublik mit § 580 Nr. 8 ZPO eine gesetzlich geregelte Restitutionsmöglichkeit geschaffen.

7 Die Bundesregierung beantragt daher, dass dieses Individualbeschwerdeverfahren gemäß Art. 37 Abs. 1 c) der Konvention aus dem Register gestrichen wird. Die Anerkennung der Verletzung von Art. 5, 6 und Art. 8 der Konvention sowie einer Entschädigungsforderung in Höhe von 8.000,00 € durch die Bundesregierung stellt einen „anderen Grund“ im Sinne dieser Vorschrift dar. […]“

55. Mit Schreiben vom 28. April 2016 erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei. Sie wies darauf hin, dass eine einseitige Erklärung nicht von § 580 Nr. 8 ZPO erfasst sei, der eine Wiederaufnahme von durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Zivilsachen ermögliche, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention oder ihrer Protokolle festgestellt habe und das Urteil auf dieser Verletzung beruhe. Daher wäre es ihr trotz der einseitigen Erklärung der Regierung nicht möglich, eine Wiederaufnahme des Schadensersatzverfahrens vor den Zivilgerichten zu erwirken. Unter Bezugnahme auf die Rechtssachen Hakimi ./. Belgien (Individualbeschwerde Nr. 665/08, Rdnr. 29, 29. Juni 2010) und Rozhin ./. Russland (Individualbeschwerde Nr. 50098/07, Rdnr. 23, 6. Dezember 2011) brachte sie vor, dass die Beschwerde nicht gestrichen werden sollte, wobei sie auch betonte, dass es sich bei der Verhinderung von Wiederaufnahmeverfahren in Fällen, in denen die Zivilgerichte vor dem 31. Dezember 2006 ein rechtskräftiges Urteil erlassen haben, um ein strukturelles Problem handele; so sei mindestens ein weiterer Fall vor dem Gerichtshof anhängig, bei dem eine solche Wiederaufnahme trotz eines Urteils des Gerichthofs, in dem eine Konventionsverletzung festgestellt worden sei, abgelehnt worden sei.

56. Darüber hinaus erfasse die Erklärung nicht alle Konventionsverletzungen. Eine ihrer Rügen betreffe die Entscheidung des Gesetzgebers, Wiederaufnahmeverfahren in Fällen zu verhindern, in denen die Zivilgerichte vor dem 31. Dezember 2006 ein rechtskräftiges Urteil erlassen hätten und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention oder ihrer Protokolle festgestellt habe und das zivilgerichtliche Urteil auf dieser Verletzung basiert habe, während diese Möglichkeit im Hinblick auf Strafverfahren gegeben sei (siehe Rdnrn. 70 bis 76). Diese Rüge nach Artikel 6 der Konvention für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention sei von der einseitigen Erklärung nicht erfasst. Sollte der Gerichtshof die Beschwerde auf der Grundlage der einseitigen Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung im Register streichen, sei es anschließend nicht mehr möglich, die Wiederaufnahme ihres Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. zu erwirken, da es nach dem innerstaatlichen Recht nach wie vor keinen Grund für eine Wiederaufnahme gebe, weil das Verfahren vor dem Stichtag 31. Dezember 2006 durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossen worden sei.

57. Des Weiteren sei ihre Rüge, dass ihr eine „volle Wiedergutmachung“ für die vom Gerichtshof in ihrem früheren Verfahren festgestellten Verletzungen (S., a.a.O.) verwehrt worden sei, nicht von der einseitigen Erklärung erfasst. Sie wiederholte, dass sie nach innerstaatlichem Recht Anspruch auf eine deutlich höhere Entschädigung für immaterielle und materielle Schäden, insbesondere für entgangene Einkünfte habe. Schließlich sei die von der Regierung angebotene Summe in Höhe von 8.000 Euro unangemessen und stelle keine hinreichende Entschädigung für den immateriellen Schaden dar, den sie aufgrund der von der Regierung anerkannten Konventionsverletzungen erlitten habe. In diesem Zusammenhang brachte sie vor, dass sich die Kosten und Auslagen, die für das Prozesskostenhilfeverfahren vor dem Oberlandesgericht und die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof angefallen seien, auf insgesamt etwa 4.200 Euro belaufen hätten und die Kosten und Auslagen für das Schadensersatzverfahren vor dem Oberlandesgericht weitere 10.608 Euro betragen hätten. Ein Betrag in Höhe von 25.000 Euro würde diesbezüglich eine angemessene Entschädigung für den immateriellen Schaden darstellen. Sie wünsche eine Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache.

58. In ihrer Stellungnahme vom 31. August 2016 erhöhte die Regierung den angebotenen Betrag auf 17.000 Euro, hielt inhaltlich jedoch am Anwendungsbereich der einseitigen Erklärung fest. Sie fügte hinzu, dass sie die Beschwerde insgesamt für unzulässig, oder hilfsweise für unbegründet halte, führte aber aus, dass sie angesichts der Krankheitsgeschichte der Beschwerdeführerin entschieden habe, eine Verletzung ihrer Verfahrensrechte auf Rechtsschutzgleichheit, des Grundsatzes der Waffengleichheit, ihres Rechts auf ein faires Verfahren und ihres Rechts auf Zugang zu den Gerichten anzuerkennen – einer Verletzung, die aufgrund der Entscheidung, wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg keine Prozesskostenhilfe zu gewähren, dem Oberlandesgericht zuzurechnen sei.

59. Sie erklärte, dass der nun angebotene Betrag in Höhe von 17.000 Euro eine materielle Entschädigung in Höhe von 9.000 Euro enthalte, was dem hypothetischen Wert einer Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Oberlandesgericht entspreche; außerdem umfasse er die in dem Prozesskostenhilfeverfahren entstandenen Kosten und Auslagen und die Kosten und Auslagen, die in den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof entstanden seien (die Regierung führt hierzu aus, dass die im Hinblick auf das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemachten Kosten und Auslagen zwar etwas zu hoch seien und von ihr auf 436,97 Euro statt 600,71 Euro geschätzt würden, die Kosten und Auslagen in Bezug auf das Verfahren vor dem Gerichtshof (3.320,87 Euro) aber angemessen seien); schließlich erfasse der Betrag auch noch eine Entschädigung in Höhe von 4.000 Euro für den immateriellen Schaden, den die Beschwerdeführerin aufgrund der Versagung von Prozesskostenhilfe erlitten habe.

60. In ihrer Stellungnahme vom 31. August 2016 ersuchte die Regierung den Gerichtshof nicht mehr darum, die Beschwerde auf der Grundlage der einseitigen Erklärung im Ganzen im Register zu streichen (siehe Rdnr. 54), sondern nur im Hinblick auf diejenigen Verletzungen der Rechte der Beschwerdeführerin aus der Konvention, die mit der einseitigen Erklärung der Bundesregierung vom 1. März 2016 anerkannt worden seien. Sie ersuchte den Gerichtshof, die Beschwerde im verbleibenden Umfang für unzulässig zu erklären oder, hilfsweise dazu, festzustellen, dass die Rechte der Beschwerdeführerin aus der Konvention nicht verletzt worden seien.

61. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchst. a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn

„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“

62. Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.

63. Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof die Erklärung im Lichte der Grundsätze geprüft, die er in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, insbesondere in dem Urteil in der Rechtssache Tahsin Acar (siehe Tahsin Acar ./. Türkei (prozessuale Einrede) [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75 bis 77, ECHR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Herman ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 35965/14, Rdnrn. 15 bis 18, 17. November 2015).

64. Er stellt fest, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention grundsätzlich nicht ratione materiae auf Verfahren anwendbar ist, die einen Antrag auf Wiederaufnahme eines Zivilverfahrens nach Feststellung einer Konventionsverletzung durch den Gerichtshof betreffen, dass es aber Ausnahmen von dieser Regel gibt (siehe Bochan ./. Ukraine (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerde Nr. 22251/08, Rdnrn. 44 bis 51, ECHR 2015). Die Regierung hielt die Beschwerde insgesamt für unzulässig, oder hilfsweise für unbegründet, entschied aber angesichts der Krankheitsgeschichte der Beschwerdeführerin, eine Verletzung ihrer Verfahrensrechte anzuerkennen (siehe Rdnr. 58). Unter diesen Umständen muss sich der Gerichtshof angesichts der einseitigen Erklärung der Regierung, in der diese eine Verletzung der Verfahrensrechte der Beschwerdeführerin aus Artikel 6 der Konvention – und Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention – aufgrund der Versagung von Prozesskostenhilfe anerkannte, nicht mit der Frage der Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention befassen.

65. Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung (in der geänderten Fassung vom 31. August 2016) enthaltenen Eingeständnisses und der vorgeschlagenen Entschädigungssumme ist der Gerichtshof der Auffassung, dass eine weitere Prüfung dieser Beschwerde nicht gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c).

66. Angesichts der obigen Erwägungen verbunden mit der Feststellung, dass dies weder eine Beurteilung der übrigen Rügen der Beschwerdeführerin, die nicht von der einseitigen Erklärung erfasst sind (siehe Rdnrn. 58 und 60), noch die Beurteilung anderer Fälle, die die Versagung von Wiederaufnahmeverfahren in Fällen betreffen, bei denen vor dem 31. Dezember 2006 ein rechtskräftiges Urteil der deutschen Zivilgerichte ergangen ist, vorwegnimmt, ist der Gerichtshof darüber hinaus überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und ihren Protokollen definiert sind, keine weitere Prüfung dieses Teils der Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).

67. Er ist der Auffassung, dass der in der Erklärung der Regierung (in der geänderten Fassung vom 31. August 2016) genannte Betrag binnen drei Monaten nach Bekanntgabe der Entscheidung des Gerichtshofs nach Artikel 37 Abs. 1 der Konvention gezahlt werden sollte. Erfolgt die Zahlung innerhalb dieser Frist nicht, fallen für den betreffenden Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.

68. Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten, die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).

69. Nach alledem ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen, soweit sie die vorgenannten Rügen betrifft.

C. Angebliche Verletzung von Artikel 6 für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention aufgrund von Unterlassungen des Gesetzgebers

70. Soweit sich die Rüge auf die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte bezieht, eine analoge Anwendung anderer Bestimmungen, die eine Wiederaufnahme vorsehen, und zwar insbesondere der Vorschrift, die die Wiederaufnahme von rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren vorsehe, abzulehnen, rügte die Beschwerdeführerin nach Artikel 6 der Konvention – für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention –, dass es im deutschen Recht keinen Wiederaufnahmegrund für rechtskräftig abgeschlossene Zivilverfahren gebe. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Rüge von dem Anwendungsbereich der einseitigen Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung (siehe Rdnrn. 54 und 58 bis 60) sowie von der Entscheidung des Gerichtshofs, diesen Teil der Beschwerde im Register zu streichen (siehe Rdnrn. 61 bis 69) erfasst ist.

71. Was die Rüge der Beschwerdeführerin hinsichtlich des Versäumnisses des Gesetzgebers angeht, eine Bestimmung zu erlassen, die eine Wiederaufnahme von rechtskräftig abgeschlossenen Zivilverfahren zulassen würde – und von der sie profitieren würde –, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass diese nicht von der einseitigen Erklärung der Regierung erfasst ist.

72. Die Regierung brachte vor, dass diese Rüge unzulässig sei, und zwar erstens, weil sie ratione materiae mit Artikel 6 Abs. 1 der Konvention unvereinbar sei, und zweitens, weil die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft habe, da sie diese Rüge nicht einmal der Sache nach vor dem Bundesverfassungsgericht vorgebracht habe.

73. Die Beschwerdeführerin trat beiden Einwendungen entgegen. Im Hinblick auf Letztere brachte sie vor, dass angesichts ihrer Verfassungsbeschwerde als Ganzes klar sei, dass sie sowohl das Versäumnis des Oberlandesgerichts, sich analog auf eine andere Bestimmung, die eine Verfahrenswiederaufnahme vorsehe, zu berufen, um so eine Wiederaufnahme in ihrem Fall zu ermöglichen, als auch das Versäumnis des Gesetzgebers gerügt habe, entsprechende Wiederaufnahmegründe vorzusehen.

74. Angesichts dessen, dass die Regierung die Beschwerde insgesamt für unzulässig hält (siehe Rdnr. 58), muss sich der Gerichtshof nicht mit der Frage der Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention befassen, da dieser Teil der Rüge in jedem Fall unzulässig war, da die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Rechtsweg nicht wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich erschöpft hat.

75. In ihrer Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht hat die Beschwerdeführerin tatsächlich geltend gemacht, dass es diskriminierend sei, dass das innerstaatliche Recht zur maßgeblichen Zeit nicht die Möglichkeit der Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Zivilverfahrens vorgesehen habe, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention oder ihrer Protokolle festgestellt habe und das zivilgerichtliche Urteil auf dieser Verletzung basiert habe, wohingegen diese Möglichkeit im Hinblick auf Strafverfahren gegeben gewesen sei (siehe Rdnr. 25). Sie brachte vor, dass § 359 Nr. 6 StPO analog hätte Anwendung finden müssen, so dass eine Wiederaufnahme ihres gegen die Klinik H. geführten Schadensersatzverfahrens möglich gewesen wäre. Allerdings hat sie diesbezüglich nicht konkret eine diskriminierende Behandlung durch den Gesetzgeber geltend gemacht, was das Bundesverfassungsgericht zu der Schlussfolgerung veranlasst hat, dass sie ihre Rüge in dieser Hinsicht nicht substantiiert habe (siehe Rdnr. 30).

76. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin ihre Rüge bezüglich des Versäumnisses des Gesetzgebers nicht in geeigneter Weise vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht hat, wie es in den Verfahrensvorschriften des Verfassungsrechts vorgesehen ist. Folglich hat die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Rechtsweg hinsichtlich dieser Rüge nicht wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich erschöpft. Diese Rüge ist daher nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention als unzulässig zurückzuweisen.

D. Angebliche Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention aufgrund der Versagung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

77. Die Beschwerdeführerin rügte ferner, dass es das Bundesverfassungsgericht selbst abgelehnt habe, ihr in dem in Rede stehenden Verfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren, obwohl das Verfahren komplex gewesen sei, was sich an der Dauer des Verfahrens und dem 21 Seiten umfassenden Beschluss des Gerichts zeige.

78. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht von dem Anwendungsbereich der einseitigen Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung erfasst ist, in der ausschließlich auf die Versagung von Prozesskostenhilfe durch das Oberlandesgericht Bezug genommen wird (siehe Rdnrn. 54 und 58 bis 60).

79. Die Rüge ist nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der das Recht auf Zugang zu einem Gericht vorsieht, zu prüfen. Da das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht einen (abgelehnten) Antrag auf Wiederaufnahme eines Zivilverfahrens betraf, hat die Regierung vorgetragen, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ratione materiae nicht anwendbar sei.

80. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass er sich mit der Frage der Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention (siehe Rdnr. 64) nicht befassen muss, da dieser Teil der Rüge jedenfalls aus anderem Grund unzulässig ist.

81. Der Gerichtshof stellt fest, das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin der Sache nach geprüft hat. Demnach gibt es keine Anzeichen dafür, dass das Recht der Beschwerdeführerin auf Zugang zu einem Gericht durch die Versagung von Prozesskostenhilfe für dieses Verfahren ungebührlich eingeschränkt worden wäre oder dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden wäre.

82. Diese Rüge ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention als unzulässig zurückzuweisen.

E. Angebliche Verletzung der materiellen Aspekte von Artikel 5 Absatz 1 und Artikel 8 der Konvention

83. Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention, weil ihr die innerstaatlichen Gerichte eine „volle Wiedergutmachung“ für die vom Gerichtshof in ihrem früheren Verfahren festgestellten Konventionsverletzungen verwehrt hätten. Sie habe Anspruch auf zusätzliche Entschädigung für den immateriellen Schaden sowie auf eine umfangreiche Entschädigung für den materiellen Schaden, insbesondere für die entgangenen Einkünfte.

84. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Die Regierung

85. Die Regierung brachte vor, dass der Gerichtshof entsprechend Artikel 46 der Konvention ratione materiae nicht für die Prüfung der Rüge zuständig sei, da sie das angebliche Fehlen einer ordnungsgemäßen Durchführung seines Urteils in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin betreffe. Die Rüge habe keine neue, durch das ursprüngliche Urteil nicht entschiedene Frage aufgeworfen, welche eine Zuständigkeit des Gerichtshofs begründen würde. Keine der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten Kriterien für die Feststellung einer „neuen Frage“ sei in der vorliegenden Rechtssache anwendbar.

86. Die Rüge betreffe keine fortdauernde Verletzung, da die in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin festgestellte Verletzung ihre Unterbringung in der Klinik H. zwischen 1977 und 1979 betreffe. Die Freiheitsentziehung habe 1979 geendet und im Hinblick auf ihren Gesundheitszustand sei keine Restitutio in Integrum möglich. Vielmehr betreffe die Rüge ausschließlich das angebliche Fehlen einer Entschädigung für die bereits festgestellten Konventionsverletzungen und damit eine Angelegenheit im Zusammenhang mit der Durchführung des früheren Urteils des Gerichtshofs, die in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees falle.

87. Darüber hinaus gebe es keine sachlichen Gründe, die eine Wiederaufnahme des Schadensersatzverfahrens der Beschwerdeführerin gegen die Klinik H. erforderlich machen würden. Aus den festgestellten Konventionsverletzungen seien keine Nachteile entstanden, für die noch keine angemessene Entschädigung geleistet worden sei. Der Tenor des Urteils des Gerichtshofs in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin enthalte keine Hinweise darauf, dass ihr eine Entschädigung zu gewähren sei, die über die vom Gerichtshof in dem Urteil zugesprochene Entschädigung für den immateriellen Schaden (Punkt 10 Buchst. a Ziffer i des Tenors) hinausgehe; vielmehr habe der Gerichtshof in Punkt 11 des Urteilstenors die übrige Forderung der Beschwerdeführerin nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen (siehe Rdnr. 17). Darüber hinaus gebe es keine Beweise für einen Kausalzusammenhang zwischen der zwangsweisen medizinischen Behandlung der Beschwerdeführerin in der Klinik H. zwischen 1977 und 1979 und den Schäden an ihrer Gesundheit. In seinem Urteil vom 16. Juni 2005 habe der Gerichtshof festgestellt, dass das Oberlandesgericht Artikel 6 Abs. 1 nicht verletzt habe, indem es festgestellt habe, dass ein solcher Kausalzusammenhang, der für die Gewährung von Schadensersatz in Zivilverfahren notwendig sei, nicht nachgewiesen sei. Die Ausführungen in den Randnummern 176 bis 178 der Begründung des Urteils des Gerichtshofs vom 16. Juni 2005 (siehe Rdnr. 16), die diesbezüglich über den Umfang des Urteilstenors hinausgingen, seien den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts entsprechend nicht bindend.

88. In seinem Beschluss vom 2. Februar 2006 habe das Oberlandesgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiederaufnahme des Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. zurückgewiesen, weil das innerstaatliche Recht eine Wiederaufnahme von Zivilverfahren nach Feststellung einer Konventionsverletzung durch den Gerichtshof zur maßgeblichen Zeit nicht vorgesehen habe. Das Gericht habe sich nicht mit den sachlichen Gründen auseinandergesetzt, die in seinem Urteil vom 22. Dezember 2000 angeführt und vom Gerichtshof in dessen Urteil in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin geprüft worden seien (siehe Rdnrn. 9 und 20 bis 23).

89. Und schließlich sei der Staat seiner Verpflichtung nachgekommen, das Ministerkomitee detailliert, zutreffend und zeitgerecht über die zur Durchführung des Urteils des Gerichtshofs in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin getroffenen Maßnahmen zu informieren. Dem Ministerkomitee sei bekannt gewesen, dass das Oberlandesgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Prozesskostenhilfe für die Wiederaufnahme ihres Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. zurückgewiesen habe. Dem Ministerkomitee sei auch bekannt gewesen, dass die Beschwerdeführerin hiergegen eine Verfassungsbeschwerde erhoben habe, über die das Bundesverfassungsgericht im Zeitpunkt der Entscheidung des Ministerkomitees, die Prüfung ihrer Rechtssache einzustellen, noch nicht entschieden hatte. Angesichts der Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts könne die in der Resolution des Ministerkomitees geäußerte Erwartung, dass das Gericht die Konvention sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs vollständig umsetzen werde, um der Beschwerdeführerin „volle Wiedergutmachung“ zuteilwerden zu lassen, nicht dahingehend ausgelegt werden, dass das Ministerkomitee eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Beschwerdeführerin erwarte. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. August 2013, mit dem es ablehnte, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen, könne demnach nicht zur Folge haben, dass die Rüge ratione materiae in den Zuständigkeitsbereich des Gerichtshofs falle, und zwar nicht zuletzt weil die Beschwerdeführerin das Ministerkomitee mit Schreiben vom 13. März 2014 über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts informiert und um Wiederaufnahme des Verfahrens zur Überwachung der Durchführung des Urteils vom 16. Juni 2005 gebeten habe (siehe Rdnr. 41). Daher bestehe keine Gefahr, dass die Angelegenheit der Nachprüfung durch die Konventionsorgane entzogen werde, wenn der Gerichtshof die in Rede stehende Rüge gemäß Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention für unzulässig erklären würde.

b) Die Beschwerdeführerin

90. Die Beschwerdeführerin wies darauf hin, dass das Ministerkomitee die Vertragsstaaten in seiner Empfehlung R(2000)2 vom 19. Januar 2000 dazu angehalten habe, die Möglichkeit der Wiederaufnahme von Verfahren vorzusehen, wenn die verletzte Partei weiterhin an erheblichen negativen Folgewirkungen einer konventionswidrigen innerstaatlichen Entscheidung leide und diese Konsequenzen nicht angemessen durch eine gerechte Entschädigung wiedergutgemacht worden seien und ausschließlich durch eine Verfahrenswiederaufnahme auszuräumen seien. Sie leide weiterhin an der sehr schweren Schädigung ihrer Gesundheit, die durch ihre zwangsweise medikamentöse Behandlung in der Klinik H verursacht worden sei. Das mache die Verletzungen der Konvention, für die sie nicht angemessen entschädigt worden sei, zu fortdauernden Verletzungen.

91. Die Beschwerdeführerin bestritt ferner das angebliche Fehlen eines Kausalzusammenhangs zwischen den festgestellten Konventionsverletzungen und der Schädigung ihrer Gesundheit. In seinem Urteil vom 16. Juni 2005 habe der Gerichtshof festgestellt, dass ein solcher Kausalzusammenhang durchaus bestanden habe. Die in den Randnummern 176 und 178 des Urteils enthaltenen Ausführungen (siehe Rdnr. 16) seien bindend. Nach innerstaatlichem Recht habe sie Anspruch auf eine deutlich höhere Entschädigung für den immateriellen Schaden als der Gerichtshof in seinem Urteil festgesetzt habe. In seinem Urteil vom 16. Juni 2005 habe der Gerichtshof ihr allein deshalb keine Entschädigung für den materiellen Schaden zugesprochen, weil er den maßgeblichen Betrag nicht habe bestimmen können. Unter diesen Umständen sei eine Wiederaufnahme des Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H., in dem die Schadenshöhe festgestellt werden könnte, die einzige Möglichkeit gewesen, eine „volle Wiedergutmachung“ für die festgestellten Konventionsverletzungen zu erwirken.

92. Im Hinblick auf die Entscheidung des Ministerkomitees, die Prüfung ihrer früheren Rechtssache einzustellen, unterstrich die Beschwerdeführerin, dass das Komitee in seiner Abschlussresolution ausgeführt habe, dass erwartet werde, dass das Bundesverfassungsgericht die Konvention sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs vollständig umsetzen werde, um der Beschwerdeführerin „volle Wiedergutmachung“ zuteilwerden zu lassen (siehe Rdnr. 39). Ihrer Ansicht nach enthält diese Äußerung zwei Kernelemente: Erstens sei das Ministerkomitee der Auffassung, dass sie bis dato keine hinreichende Wiedergutmachung für die festgestellten Konventionsverletzungen erhalten habe. Und zweitens stelle die Erwartung, dass das Bundesverfassungsgericht ihr „volle Wiedergutmachung“ zuteilwerden lasse, die Grundlage für die Entscheidung des Ministerkomitees dar, die Prüfung ihrer Rechtssache einzustellen. Hätte das Bundesverfassungsgericht bereits vor der Entscheidung des Ministerkomitees beschlossen, ihre Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, hätte das Komitee die Prüfung nicht eingestellt. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts stelle demnach „neue Tatsachen“ dar. Der Umstand, dass das Ministerkomitee nach dem Schreiben der Beschwerdeführerin vom 13. März 2014, in dem sie über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts informiert und die Wiederaufnahme der Überwachung der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs in ihrer früheren Rechtssache beantragt habe, nicht aktiv geworden sei, deute darauf hin, dass das Ministerkomitee den Gerichtshof ratione materiae für zuständig halte, die vorliegende Individualbeschwerde zu prüfen.

93. Darüber hinaus beträfen die Rügen der Beschwerdeführerin nicht nur die Durchführung des Urteils vom 16. Juni 2005, sondern auch die Art und Weise, in der die innerstaatlichen Gerichte ihren Antrag auf Wiederaufnahme des Schadensersatzverfahren zurückgewiesen hätten – nämlich insbesondere, dass die Gerichte die in dem Urteil des Gerichtshofs enthaltenen Feststellungen nicht hinreichend berücksichtigt hätten, was bedeute, dass die vorliegende Rechtssache eine „neue Frage“ betreffe, für deren Prüfung der Gerichtshofs zuständig sei (unter Bezugnahme auf Bochan ./. Ukraine (Nr. 2), a.a.O., Rdnr. 37). Schließlich brachte die Beschwerdeführerin vor, dass auch die einseitige Erklärung der Regierung, die nur einige ihrer Rügen betreffe, „neue Tatsachen“ darstelle.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Allgemeine Grundsätze

94. Die einschlägigen allgemeinen Grundsätze wurden jüngst in der Rechtssache Bochan (a.a.O., Rdnrn. 33 bis 34) wie folgt zusammengefasst:

„33. Die Frage der Einhaltung der Urteile des Gerichtshofs durch die Hohen Vertragsparteien fällt nicht in dessen Zuständigkeit, wenn sie nicht im Rahmen eines in Artikel 46 Abs. 4 und 5 der Konvention vorgesehenen Verletzungsverfahrens geltend gemacht wird (siehe Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden – PIRIN u. a. ./. Bulgarien (Nr. 2), Individualbeschwerden Nrn. 41561/07 und 20972/08, Rdnr. 56, 18. Oktober 2011). Nach Artikel 46 Abs. 2 ist das Ministerkomitee befugt, die Durchführung der Urteile des Gerichtshofs zu überwachen und die von den beschwerdegegnerischen Staaten getroffenen Maßnahmen zu evaluieren. Die Rolle des Ministerkomitees im Zusammenhang mit der Durchführung der Urteile des Gerichtshofs hindert den Gerichtshof jedoch nicht daran, eine neue Individualbeschwerde, die die Maßnahmen betrifft, die ein beschwerdegegnerischer Staat zur Durchführung eines Urteils ergriffen hat, zu prüfen, wenn diese Beschwerde neue Tatsachen mit Bezug auf Fragen enthält, die im ursprünglichen Urteil offen geblieben sind (siehe Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) ./. Schweiz (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerde Nr. 32772/02, Rdnrn. 61 bis 63, ECHR 2009).

34. Die einschlägigen allgemeinen Grundsätze wurden in der Rechtssache Egmez ./. Zypern ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 12214/07, Rdnrn. 48 bis 56, 18. September 2012) wie folgt zusammengefasst:

‚48. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Feststellungen von Verletzungen in seinen Urteilen grundsätzlich deklaratorischen Charakter haben (siehe Krčmář u. a. ./. Tschechische Republik (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 69190/01, 30. März 2004; Lyons u. a. ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 15227/03, ECHR 2003-IX; und Marckx ./. Belgien, 13. Juni 1979, Rdnr. 58, Serie A Bd. 31) und dass sich die Hohen Vertragsparteien in Artikel 46 der Konvention verpflichten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, wobei die Durchführung durch das Ministerkomitee überwacht wird (siehe sinngemäß Papamichalopoulos u. a. ./. Griechenland (Artikel 50), 31. Oktober 1995, Rdnr. 34, Serie A Bd. 330-B). Daraus folgt unter anderem, dass ein Urteil, in dem der Gerichtshof eine Verletzung der Konvention oder ihrer Protokolle feststellt, dem beschwerdegegnerischen Staat die gesetzliche Verpflichtung auferlegt, nicht nur den Betroffenen die im Wege einer gerechten Entschädigung zugesprochenen Beträge zu zahlen, sondern auch unter Aufsicht des Ministerkomitees, die allgemeinen und/oder ggf. individuellen Maßnahmen in seine innerstaatliche Rechtsordnung aufzunehmen, durch die die von dem Gerichtshof festgestellte Verletzung abgestellt wird und ihren Folgen weitmöglichst abgeholfen wird (siehe Pisano ./. Italien (Streichung) [GK], Individualbeschwerde Nr. 36732/97, Rdnr. 43, 24. Oktober 2002 und Scozzari und Giunta ./. Italien [GK], Individualbeschwerden Nrn. 39221/98 und 41963/98, Rdnr. 249, ECHR 2000-VIII). Vorbehaltlich der Überwachung durch das Ministerkomitee ist der beschwerdegegnerische Staat in der Wahl der Mittel, mit denen er seiner rechtlichen Verpflichtung nach Artikel 46 der Konvention nachkommen will, frei, sofern diese Mittel mit den Schlussfolgerungen vereinbar sind, zu denen der Gerichtshof in seinem Urteil gelangt ist (siehe das Urteil in der Rechtssache Scozzari und Giunta, a.a.O., Rdnr. 249). Der Gerichtshof seinerseits kann in diesem Dialog keine Rolle übernehmen (Lyons u. a., a.a.O.).

49. Auch wenn der Gerichtshof unter bestimmten Umständen eine konkrete Abhilfe- oder sonstige Maßnahme benennen kann, die vom beschwerdegegnerischen Staat zu ergreifen ist (siehe z. B. Assanidze ./. Georgien [GK], Individualbeschwerden Nr. 71503/01, Punkt 14 des Tenors, ECHR 2004-II; Gençel ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 53431/99, Rdnr. 27, 23. Oktober 2003), obliegt die Evaluierung der Durchführung derartiger Maßnahmen nach Artikel 46 Abs. 2 der Konvention dem Ministerkomitee (siehe Greens und M.T. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerden Nrn. 60041/08 und 60054/08, Rdnr. 107, 23. November 2010; Suljagić ./. Bosnien und Herzegowina, Individualbeschwerde Nr. 27912/02, Rdnr. 61, 3. November 2009; Hutten Czapska ./. Polen (gütliche Einigung) [GK], Individualbeschwerde Nr. 35014/97, Rdnr. 42, 28. April 2008; Hutten Czapska ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 35014/97, Rdnrn. 231 bis 239 und Tenor, ECHR 2006-VIII; Broniowski ./. Polen (gütliche Einigung) [GK], Individualbeschwerde Nr. 31443/96, Rdnr. 42, ECHR 2005-IX; und Broniowski ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 31443/96, Rdnr. 189 bis 194 und Tenor, ECHR 2004-V).

50. Dementsprechend hat der Gerichtshof stets betont, dass er nicht dafür zuständig ist, zu prüfen, ob eine Vertragspartei die Verpflichtungen, die ihr der Gerichtshof in einem Urteil auferlegt hat, erfüllt hat. Er hat es daher abgelehnt, Rügen, die ein Versäumnis der Staaten betreffen, seine Urteile durchzuführen, zu prüfen, und derartige Rügen ratione materiae für unzulässig erklärt (siehe Moldovan u. a. ./. Moldau (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 8229/04, 15. Februar 2011; Dowsett ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2) (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 8559/08, 4. Januar 2011; Öcalan ./. Türkei (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 5980/07, 6. Juli 2010; H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 11057/02, ECHR 2004 III; Komanický ./. Slowakei (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 13677/03, 1. März 2005; Lyons u. a., a.a.O.; Krčmář u. a., a.a.O; und [Fischer] ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 27569/02, ECHR 2003 VI).

51. Die diesbezügliche Rolle des Ministerkomitees bedeutet allerdings nicht, dass Maßnahmen, die ein beschwerdegegnerischer Staat getroffen hat, um vom Gerichtshof festgestellten Konventionsverletzungen abzuhelfen, nicht eine neue Frage aufwerfen können, die im Urteil offen geblieben ist (siehe Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT), a.a.O., Rdnr. 62; Hakkar ./. Frankreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 43580/04, 7. April 2009; H., a.a.O.; Mehemi [./. Frankreich (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 53470/99, Rdnr. 43, ECHR 2003‑IV]; Rongoni ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 44531/98, Rdnr. 13, 25. Oktober 2001; Rando ./. Italien, Individualbeschwerde Nr. 38498/97, Rdnr. 17, 15. Februar 2000; Leterme ./. Frankreich, 29. April 1998, Reports 1998-III; Pailot ./. Frankreich, 22. April 1998, Rdnr. 57, Reports 1998-II; und Olsson ./. Schweden(Nr. 2), 27. November 1992, Serie A Bd. 250) und damit zum Gegenstand einer neuen Individualbeschwerde werden können, mit der sich der Gerichtshof zu befassen hat.

52. Auf dieser Grundlage hat sich der Gerichtshof in einer Reihe von Folgefällen für die Prüfung von Rügen zuständig erklärt, beispielsweise in Fällen, in denen die innerstaatlichen Behörden im Zusammenhang mit der Durchführung eines Urteils des Gerichtshofs eine neue innerstaatliche Prüfung des Falles vorgenommen haben, sei es durch Wiederaufnahme des Verfahrens (siehe Emre ./. Schweiz (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 5056/10, 11. Oktober 2011, und Hertel [./. Schweiz (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53440/99, ECHR 2002-I]) oder durch Einleitung eines neuen innerstaatlichen Verfahrens (siehe Vereinigte Mazedonische Organisation Ilinden – PIRIN u. a. ./. Bulgarien (Nr. 2), Individualbeschwerden Nrn. 41561/07 und 20972/08, 18. Oktober 2011 und Liu ./. Russland (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 29157/09, 26. Juli 2011).

53. Darüber hinaus ist es speziell im Zusammenhang mit einer fortdauernden Verletzung eines Konventionsrechts nach Erlass eines Urteils, in dem der Gerichtshof eine Verletzung dieses Rechts während eines gewissen Zeitraums festgestellt hat, nicht ungewöhnlich, dass der Gerichtshof eine zweite Individualbeschwerde über eine Verletzung dieses Rechts in dem darauffolgenden Zeitraum prüft (siehe u. a. Ivanţoc u. a. ./. Moldau und Russland, Individualbeschwerde Nr. 23687/05, Rdnrn. 93 bis 96, 15. November 2011 im Hinblick auf ein fortdauernde Inhaftierung; Wasserman ./. Russland (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 21071/05, Rdnrn. 36 bis 37, 10. April 2008 im Hinblick auf die Nichtdurchsetzung eines innerstaatlichen Urteils; und Rongoni ./. Italien, a.a.O., Rdnr. 13, im Hinblick auf die Verfahrensdauer). In solchen Fällen ergibt sich die „neue Frage“ aus der Fortsetzung der Verletzung, die der ursprünglichen Entscheidung des Gerichtshof zugrunde lag. Die Prüfung durch den Gerichtshof ist jedoch auf die betreffenden neuen Zeiträume und die diesbezüglich geltend gemachten neuen Rügen beschränkt (siehe z. B. Ivanţoc u. a., a.a.O.).

54. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht eindeutig hervor, dass die Feststellung einer „neuen Frage“ sehr stark von den konkreten Umständen eines bestimmten Falles abhängt und dass die Unterschiede zwischen einzelnen Fällen nicht immer eindeutig sind. So hat der Gerichtshof beispielsweise in dem Fall Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) (a.a.O.) festgestellt, dass er für die Prüfung einer Rüge zuständig ist, der zufolge das betreffende innerstaatliche Gericht einen Antrag auf Verfahrenswiederaufnahme nach Ergehen eines Urteils des Gerichtshofs abgelehnt hatte. Der Gerichtshof hat sich in erster Linie auf den Umstand gestützt, dass neue Gründe für die Ablehnung des Antrags vorgebracht wurden und diese demnach neue Tatsachen darstellten, die die Grundlage einer neuen Konventionsverletzung darstellen könnten (siehe Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT), a.a.O., Rdnr. 65). Er hat auch den Umstand berücksichtigt, dass das Ministerkomitee seine Überwachung der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs eingestellt hatte, ohne die Ablehnung der Wiederaufnahme zu berücksichtigen, da es nicht über den Beschluss unterrichtet worden war. Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass die Ablehnung auch aus diesem Blickwinkel eine neue Tatsache darstellte (ebenda, Rdnr. 67). In seinem kürzlich ergangenen Urteil in der Rechtssache Emre (a.a.O.) hat der Gerichtshof auch befunden, dass ein neues innerstaatliches Urteil, das nach Wiederaufnahme eines Verfahrens ergangen ist und in dem die innerstaatlichen Gerichte eine neue Interessenabwägung vorgenommen haben, eine neue Tatsache darstellte. Er hat in diesem Zusammenhang auch festgestellt, dass das Verfahren zur Überwachung vor dem Ministerkomitee noch nicht begonnen hatte. In den Fällen Schelling ./. Österreich (Nr. 2) (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 46128/07, 16. September 2010 und Steck-Risch u. a. ./. Liechtenstein (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 629061/08, 11. Mai 2010) wurden vergleichbare Rügen jedoch zurückgewiesen, da der Gerichtshof auf Grund der jeweiligen Tatsachen die Auffassung vertrat, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, mit denen die Wiederaufnahmeanträge abgelehnt wurden, nicht auf neuen Tatsachen beruhten oder mit neuen Tatsachen im Zusammenhang standen, die die Grundlage einer neuen Konventionsverletzung darstellen könnten. Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Fall Steck-Risch festgestellt, dass das Ministerkomitee die Überwachung der Durchführung des vorangegangenen Urteils des Gerichtshofs eingestellt hat, bevor das innerstaatliche Gericht die Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt hatte und ohne sich auf den Umstand zu beziehen, dass ein Antrag auf Wiederaufnahme gestellt werden könnte. Auch in dieser Hinsicht lagen keine neuen Tatsachen vor.

55. In diesem Zusammenhang sollte auch auf die in der Rechtsprechung zu Artikel 35 Abs. 2 Buchst. b festgelegten Kriterien verwiesen werden, in dem es heißt, dass eine Individualbeschwerde als unzulässig zu erklären ist, wenn sie „im Wesentlichen mit einer schon vorher vom Gerichtshof geprüften Beschwerde übereinstimmt […] und keine neuen Tatsachen enthält“: i) Beschwerden gelten dann als im Wesentlichen übereinstimmend, wenn die Parteien, Rügen und Tatsachen identisch sind (siehe Verein Gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) a.a.O., Rdnr. 63 und Pauger ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 16717/90 und 24872/94, Entscheidungen der Kommission vom 9. Januar 1995); ii) die Rüge ist inhaltlich durch die behaupteten Tatsachen charakterisiert und nicht ausschließlich durch die rechtlichen Gründe oder vorgebrachten Argumente (siehe Guerra u. a. ./. Italien, 19. Februar 1998, Rdnr. 44, Reports 1998-I und Powell und Rayner ./. Vereinigtes Königreich, 21. Februar 1990, Rdnr. 29, Serie A Bd. 172); und iii) soweit der Beschwerdeführer neue Tatsachen vorträgt, stimmt die Beschwerde nicht im Wesentlichen mit der vorherigen Beschwerde überein (siehe Patera ./. Tschechische Republik (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 25326/03), Entscheidung der Kommission vom 10. Januar 1996 und Chappex ./. Schweiz (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 20338/92, Entscheidung der Kommission vom 12. Oktober 1994).

56. Dementsprechend liegt kein Eingriff in die Befugnisse des Ministerkomitees nach Artikel 46, die Durchführung der Urteile des Gerichtshofs zu überwachen und die Umsetzung der von den Staaten nach diesem Artikel getroffen Maßnahmen zu evaluieren, vor, wenn der Gerichtshof sich im Zusammenhang mit einer neuen Individualbeschwerde mit neuen Tatsachen zu befassen hat (siehe Verein Gegen Tierfabriken Schweiz (VgT) a.a.O., Rdnr. 67).’“

b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

95. Der Gerichtshof stellt fest, dass er in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin im Hinblick auf ihre Unterbringung in der privaten Klinik H. von 1977 bis 1979 und ihre zwangsweise medizinische Behandlung dort Verletzungen von Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention festgestellt hat (siehe S., a.a.O., Rdnrn. 68 bis 113 und 137 bis 153, und den Tenor des Urteils). In der vorliegenden Rechtssache hat die Beschwerdeführerin eine Verletzung dieser Bestimmungen geltend gemacht, weil ihr die innerstaatlichen Gerichte eine „volle Wiedergutmachung“ für diese Verletzungen verwehrt hatten. Sie machte geltend, dass sie Anspruch auf zusätzliche Entschädigung für immateriellen Schaden sowie auf eine umfangreiche Entschädigung für materielle Schäden, insbesondere für entgangene Einkünfte, habe. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Beschwerdeführerin keine fortdauernde Freiheitsentziehung oder zwangsweise medizinische Behandlung, sondern ein Versäumnis, ihr in Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs hinreichende Entschädigung zu gewähren, geltend gemacht hat, und kann daher nicht zu dem Schluss gelangen, dass diese Rüge eine fortdauernde Verletzung eines Konventionsrechts im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs betrifft (siehe Kudeshkina ./. Russland (Nr. 2) (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 28727/11, Rdnrn. 86 bis 88, 17. Februar 2015, m.w.N.).

96. Daher ist zu prüfen, ob die vorliegende Rechtssache eine „neue Frage“ betrifft, die in dem Urteil des Gerichtshofs in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin offen geblieben ist. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Oberlandesgericht, als es den Antrag der Beschwerdeführerin auf Prozesskostenhilfe für die Wiederaufnahme ihres Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. zurückgewiesen hat, argumentiert hat, dass das innerstaatliche Recht eine Wiederaufnahme von Zivilverfahren nach Feststellung einer Konventionsverletzung in einem Urteil des Gerichtshofs zur maßgeblichen Zeit nicht vorgesehen habe (siehe Rdnrn. 20 bis 23). Inhaltliche Argumente dazu, ob die Beschwerdeführerin aufgrund der festgestellten Konventionsverletzungen Anspruch auf zusätzliche Entschädigung habe, hat es nicht geprüft. Dies spricht dafür, die Rüge der Beschwerdeführerin ratione materiae für unvereinbar zu erklären (vgl. Steck-Risch u. a., a.a.O.; Kudeshkina, a.a.O.; und Meltex Ltd. ./. Armenien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45199/09, 21. Mai 2013; vgl. und im Gegensatz dazu Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT), a.a.O., wo die innerstaatlichen Gerichte für die Zurückweisung eines Wiederaufnahmeantrags neue Gründe vorgebracht hatten (ebenda, Rdnr. 65)).

97. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Ministerkomitee in seiner Resolution, mit der es die Prüfung der Überwachung der Durchführung des Urteils in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin abgeschlossen hat, anerkannt hat, dass es im innerstaatlichen Recht bis Ende 2006 keine ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit gab, die Wiederaufnahme eines zivilrechtlichen Verfahrens zu erwirken, nachdem der Gerichtshof eine Konventionsverletzung festgestellt hat (siehe Rdnr. 40). Es hat auch anerkannt, dass die Beschwerdeführerin wohl nicht von der am 31. Dezember 2006 in Kraft getretenen Neuregelung profitieren würde, da das Gesetz keine Rückwirkung habe, und dass ihr Antrag auf Prozesskostenhilfe für die Wiederaufnahme des Entschädigungsverfahrens vom Oberlandesgericht zurückgewiesen worden war (ebenda). In dieser Hinsicht unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache demnach von der Rechtssache Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT), a.a.O., bei der das Ministerkomitee die Überwachung der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs mit dem Hinweis eingestellt hat, dass der Beschwerdeführer bezüglich des angefochtenen Urteils eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen könne, obwohl das innerstaatliche Gericht die Wiederaufnahme bereits abgelehnt hatte (ebenda, Rdnr. 67).

98. In derselben Resolution hat das Ministerkomitee auch festgestellt, dass die Beschwerdeführerin im März 2006 Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts eingelegt habe, wobei sie vorgebracht habe, dass die Wiederaufnahme von Verfahren sowohl nach deutschem Verfassungsrecht als auch nach der Konvention möglich und nicht aussichtslos sei, und daher Prozesskostenhilfe gewährt werden müsse (siehe Rdnr. 39). Das Ministerkomitee hat weiterhin ausgeführt, dass „angesichts der ständigen Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts zu erwarten [sei], dass das innerstaatliche Gericht in seiner Entscheidung die Konvention sowie die Rechtsprechung des EGMR vollständig umsetzen wird, um der Beschwerdeführerin volle Wiedergutmachung zuteilwerden zu lassen“ (siehe Rdnr. 39). Am 18. August 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (siehe Rdnrn. 26 bis 36), wobei es unter anderem feststellte, dass sie die Behauptung, dass das Oberlandesgericht ihr Recht nach Artikel 46 der Konvention auf Abstellung der Verletzung der Konvention und auf Gewährung einer angemessenen Wiedergutmachung missachtet habe, nicht hinreichend substantiiert dargelegt habe, weshalb ihre Verfassungsbeschwerde in dieser Hinsicht unzulässig sei (siehe Rdnr. 29).

99. Der Gerichtshof stellt fest, dass aus der Resolution des Ministerkomitees einerseits hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin wegen mangelnder Rückwirkung wohl nicht von der Neuregelung profitieren würde, welche die Wiederaufnahme eines zivilrechtlichen Verfahrens nach Feststellung einer Konventionsverletzung in einem Urteil des Gerichtshof vorsehe, und dass das Oberlandesgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Prozesskostenhilfe für die Wiederaufnahme ihres Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. zurückgewiesen habe. Andererseits wurde die Erwartung geäußert, dass das Bundesverfassungsgericht die Konvention sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs vollständig umsetzen werde, um der Beschwerdeführerin „volle Wiedergutmachung“ zuteilwerden zu lassen. Wenn sich auch behaupten ließe, dass die Äußerung des Ministerkomitees nicht eindeutig war, wurde die Einstellung des Falles doch nicht von einem konkreten Ergebnis des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht abhängig gemacht. In jedem Fall war dem Ministerkomitee bei Einstellung seines Verfahrens klar, dass die deutsche Zivilprozessordnung zu jener Zeit kein Wiederaufnahmeverfahren vorsah, die Strafprozessordnung hingegen schon. Daher hält der Gerichtshof den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. August 2013, in dem der Beschwerdeführerin die von ihr gewünschte Wiedergutmachung nicht gewährt wurde, nicht für eine neue Tatsache im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 46 der Konvention (siehe Rdnr. 96).

100. In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof auch erneut darauf hin, dass die Konvention und seine Rechtsprechung nicht grundsätzlich in jedem Fall die Wiederaufnahme von Zivilverfahren verlangen, wenn der Gerichtshof in einem Urteil eine Konventionsverletzung festgestellt hat. Er stellt ferner fest, dass er in seinem Urteil in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin nicht konkret ausgeführt hat, dass eine Wiederaufnahme des Schadensersatzverfahrens der Beschwerdeführerin gegen die Klinik H. die angemessenste individuelle Maßnahme zur Wiedergutmachung sei. Er ist der Auffassung, dass diese Angelegenheit unter die Durchführung des Urteils des Gerichtshofs in der früheren Rechtssache der Beschwerdeführerin fällt und durch das Ministerkomitee zu prüfen ist. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof auch fest, dass die Beschwerdeführerin das Ministerkomitee mit Schreiben vom 13. März 2014 über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts unterrichtet und die Wiederaufnahme der Überwachung der Durchführung des Urteils des Gerichtshofs in ihrer früheren Rechtssache beantragt hat und dass das Ministerkomitee noch keine Entscheidung über diesen Antrag gefällt hat (siehe Rdnr. 41). Die von der Beschwerdeführerin angesprochenen Punkte – insbesondere ihr Vorbringen, dass ihr bisher keine hinreichende Wiedergutmachung für die vom Gerichtshof festgestellten Konventionsverletzungen zuteil geworden sei und dass ihr zusätzliche Entschädigung zu gewähren sei – sind demnach nicht der Nachprüfung durch die Konventionsorgane entzogen.

101. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es einen Eingriff in die Zuständigkeit des Ministerkomitees darstellen würde, wenn der Gerichtshof diesen Teil der vorliegenden Individualbeschwerde prüfen würde, und dass er ratione materiae nicht für die Prüfung zuständig ist. Dieser Teil der Beschwerde ist daher nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. b und 4 der Konvention für unzulässig zu erklären.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung in Bezug auf die Verletzung der Verfahrensrechte der Beschwerdeführerin durch die Versagung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Wiederaufnahme ihres Schadensersatzverfahrens gegen die Klinik H. vor dem Oberlandesgericht (in der am 31. August 2016 geänderten Fassung) und die Modalitäten für die Erfüllung der darin bezeichneten Verpflichtungen zur Kenntnis;

2. dieser Teil der Beschwerde wird gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchst. c der Konvention im Register gestrichen;

3. im Übrigen wird die Individualbeschwerde für unzulässig erklärt.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 19. Juli 2018.

Claudia Westerdiek                                    Erik Møse
Kanzlerin                                                   Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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