RECHTSSACHE N.K. ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 59549/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE K. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 59549/12)
URTEIL
STRASSBURG
26. Juli 2018

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache K. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 3. Juli 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 59549/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, K. („der Beschwerdeführer“), am 12. September 2012 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte. Der Vizepräsident der Sektion hat dem Antrag des Beschwerdeführers stattgegeben, seinen Namen nicht offenzulegen (Artikel 47 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).

2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn S., Rechtsanwalt in M., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr und Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer rügte insbesondere, dass weder ihm noch einem für ihn bestellten Rechtsanwalt Gelegenheit gegeben wurde, X., das Opfer und die einzige unmittelbare Zeugin der Taten, deren das Landgericht den Beschwerdeführer für schuldig befunden habe, zu befragen. Er machte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren geltend und in diesem Zusammenhang des Rechts nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention, Belastungszeugen zu befragen oder befragen zu lassen.

4. Am 8. Mai 2016 wurde die Rüge bezüglich der Fairness des Verfahrens des Beschwerdeführers einschließlich des Rechts, Belastungszeugen zu befragen oder befragen zu lassen, der Regierung übermittelt und die Beschwerde im Übrigen nach Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist inhaftiert.

A. Das Ermittlungsverfahren und die Hauptverhandlung vor dem Landgericht

6. Anfang August 2009 wurde gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachts, er habe Gewalttaten gegen seine Ehefrau, X., begangen, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde X. am 6. August 2009 von Ermittlungsrichter W. vernommen, nachdem dieser, wie von der Staatsanwaltschaft nahegelegt, verfügt hatte, die Anwesenheit des Beschuldigten bei der Zeugenvernehmung gemäß § 168c Abs. 3 StPO auszuschließen, da angesichts der Art der angezeigten Taten zu befürchten stehe, dass die Zeugin in Gegenwart des Beschwerdeführers nicht aussagen oder nicht die Wahrheit sagen werde.

7. Am 7. August 2009 erließ der Ermittlungsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer und bestellte ihm einen Pflichtverteidiger.

8. Am 25. September 2009 wurde der Beschwerdeführer festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Am 15. Oktober 2009 ordnete ihm das Landgericht einen Rechtsanwalt seiner Wahl als Verteidiger bei.

9. Am 3. Mai 2010 wurde vor dem Landgericht das Hauptverfahren gegen den Beschwerdeführer eröffnet. Die ebenfalls zu diesem Termin geladene X. teilte dem Gericht mit, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wolle.

10. In dem Hauptverhandlungstermin vom 28. Mai 2010 wurde der Ermittlungsrichter zu den Bekundungen X.s bei ihrer Vernehmung am 6. August 2009 befragt. Ein Widerspruch der Verteidigung des Beschwerdeführers wurde vom Landgericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass es zulässig sei, den Ermittlungsrichter zu befragen, selbst wenn die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention durch X.s Befragung verletzt worden seien. Erst bei der Urteilsfindung könne entschieden werden, ob die Verwertbarkeit der Aussage des Ermittlungsrichters gegeben sei oder nicht, da dies im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs davon abhänge, ob die Aussage durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage gestützt werde.

11. In diesem Hauptverhandlungstermin wurden auch die Polizeikommissare S. und T. als Zeugen dazu befragt, wie ihnen X. die Ereignisse geschildert habe, als sie am 2. August 2009 im Haus von M. eingetroffen seien (siehe Rdnrn. 27 bis 28). Der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers widersprach der Verwertung der Vernehmungen dieser beiden Zeugen mit der Begründung, dass „die geschilderten Tatsachen zeitlich und vom Ablauf her nicht genau getrennt werden können“.

12. In dem Verhandlungstermin vom 10. Juni 2010 erklärte X., dass sie mit einer Verwertung der Aussagen, die sie gegenüber dem Ermittlungsrichter sowie gegenüber den Polizeikommissaren S. und T. und gegenüber der gerichtlich bestellten medizinischen Sachverständigen getätigt habe, und auch mit den Ergebnissen der rechtsmedizinischen Untersuchung nicht einverstanden sei.

B. Das Urteil des Landgerichts vom 28. Juni 2010

13. Am 28. Juni 2010 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit Nötigung, sowie wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung, sowie wegen Nötigung und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. Zusätzlich wurde seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet, da bei dem Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vorliege und die hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass er erneut ähnliche Taten begehen würde.

1. Der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt

14. In den 1990er Jahren wurde der Beschwerdeführer mehrmals verurteilt, u. a. wegen mehrerer unterschiedlicher Fälle von Körperverletzung, begangen an seinen jeweiligen damaligen Partnerinnen. Im Sommer 2008 lernte er seine dritte Ehefrau, X., kennen. Ihre Beziehung war von Anbeginn an von der Gewalttätigkeit des Beschwerdeführers gegenüber X. gekennzeichnet, welche im Juli 2009 eskalierte.

15. Am 31. Juli 2009 befragte der Beschwerdeführer X. im Wohnhaus der Eheleute zu ihrem früheren Sexualleben. Dann versetzte er ihr Schläge gegen verschiedene Körperteile und trat sie. Anschließend forderte er sie auf, in den Keller zu gehen, und drückte auf dem Weg dorthin eine Zigarette in ihrem Nacken aus. Als sie im Keller ankamen, forderte er sie auf, einen Brief an die Ehefrau eines ihrer früheren Geliebten zu schreiben und Ehebruch zu gestehen. Als sie dies ablehnte, versetzte er ihr mehrere Schläge gegen den gesamten Körper, auch gegen Kopf und Gesicht, und schlug sie außerdem mit einem Wanderstock aus Holz. Daraufhin versprach X., den Brief zu schreiben. Am nächsten Abend forderte der Beschwerdeführer sie erneut auf, den Brief zu schreiben und versetzte ihr Fausthiebe, in erster Linie gegen den Kopf. Nachdem er X. im Wohnzimmer allein zurückgelassen hatte, kam er mit einer Matratze wieder und verlangte, dass sie sich entkleide und auf den Bauch lege. Dann schlug er sie mit einem dünnen Seil auf den Rücken und zwang sie anschließend zu sexuellen Handlungen an sich selbst.

16. Am Morgen des 2. August 2009 begann X., handschriftlich den erwähnten Brief zu verfassen. Beim Lesen des Entwurfs geriet der Beschwerdeführer über dessen Inhalt in Wut. X. erklärte, sie würde ihn noch einmal neu schreiben. Der Beschwerdeführer versetzte ihr Fausthiebe, überwiegend gegen den Kopf, und schlug ihr auch mit seinen Schuhen auf den Hinterkopf. Dann drückte er eine Zigarette auf ihrer linken Brust aus. X. versuchte wegzurennen, kam aber im Hausflur zu Fall. Der Beschwerdeführer würgte sie dann so, dass sie keine Luft mehr bekam. Unter nicht geklärten Umständen gelang es X. zu fliehen und sie rannte, panisch um Hilfe schreiend, auf die Straße.

17. Dort traf sie auf F. und G.; letzterer riet ihr, zum Haus der Familie M. zu gehen. Sie rannte dorthin und klingelte. M. öffnete die Tür und ließ sie ein. G. [vermutlich F., siehe Rdnrn. 24 und 26] begab sich zum Haus der Familie H. und rief von dort die Polizei an. Während dieses Anrufs gingen Herr und Frau H. nach draußen und sahen, wie der Beschwerdeführer das Haus verließ und davonfuhr. Sie teilten G. [F., siehe oben] das Kennzeichen des Fahrzeugs mit, der dieses wiederum an die Polizei weitergab. Im Haus gab M.s Mutter X. ein Handtuch, das diese sich an den Hinterkopf hielt, von wo sie erkennbar blutete. Wenige Minuten später trafen zwei Polizeibeamte, S. und T., ein.

18. X. wurde noch am selben Tag in einem Frauenhaus untergebracht. Sie zeigte der Mitarbeiterin des Frauenhauses, N., verschiedene Spuren von Verletzungen am Kopf und an anderen Körperteilen und schilderte ihr die Misshandlungen und Nötigungen, denen sie der Beschwerdeführer vom 31. Juli bis zum 2. August 2009 unterzogen hatte.

2. Die vom Landgericht erhobenen Beweise

a) Die Aussage des Ermittlungsrichters

19. Ermittlungsrichter W. sagte aus, er habe X. am 6. August 2009 auf Antrag der Staatsanwaltschaft etwa zwei Stunden lang befragt (siehe Rdnr. 6). Sie habe ihm eine Vielzahl von Vorfällen häuslicher Gewalt im Laufe der Ehe geschildert, die sich mit der Zeit gesteigert hätten, und habe mehrfach erklärt, dass sie den Beschwerdeführer liebe und deswegen bisher geschwiegen habe. Das Ausmaß der Gewalt im Zeitraum 31. Juli bis 2. August 2009 habe eine Eskalation dargestellt und sei ihr zu viel geworden, so dass das Zusammenleben unmöglich geworden sei, weshalb sie jetzt bereit sei, gegen den Beschwerdeführer auszusagen. Sie habe die Vorfälle vom 31. Juli bis zum 2. August 2009 als mehrere Taten geschildert, die sich, mit einzelnen Pausen, als Qual über ein ganzes Wochenende erstreckt hätten. Er habe sie zu jedem einzelnen Vorfall befragt und sie habe jeden einzelnen konkret und ausführlich geschildert, auch die Schläge mit einem Seil, mit einem Wanderstock aus Holz und mit Schuhen und wie sie gezwungen wurde, sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen. Ihre Schilderung sei konsistent und nicht ausweichend gewesen und sie habe durchgehend Augenkontakt gehalten. Sie habe wiederholt angegeben, dass der Beschwerdeführer sie im Zeitraum 31. Juli bis 2. August 2009 im Zusammenhang mit einen Brief geschlagen habe, den sie an die Ehefrau eines ihrer früheren Geliebten schreiben sollte; sie habe begonnen, diesen Brief handschriftlich zu verfassen.

b) X.s anschließende Schritte

20. X. zog ihre von dem Ermittlungsrichter geschilderten Aussagen später zurück und erstatte am 2. Dezember 2009 sowie am 20. April 2010 jeweils Selbstanzeigen bei der Polizei, wobei sie angab, den Beschwerdeführer zu Unrecht belastet zu haben; dieser sei vom 31. Juli bis zum 2. August 2009 nicht zu Hause gewesen, die Verletzungen seien ihr von einer dritten Person zugefügt worden. Am 23. April 2010 nahm X. in einem an das Landgericht gerichteten Schreiben die Selbstanzeigen vom 2. Dezember 2009 und 20. April 2010 wieder zurück.

c) Die Ausführungen des Beschwerdeführers

21. Die einzige Einlassung des Beschwerdeführers während der Verhandlung bestand in der Aussage, dass er keine Fahrerlaubnis besitze. Zu den übrigen Vorwürfen äußerte er sich nicht.

d) Weitere Beweismittel

22. N., die Mitarbeiterin des Frauenhauses, sagte aus, dass sie bei der Aufnahme der schwer traumatisierten X. am 2. August 2009 ein Exemplar des Polizeiberichts erhalten habe und sowohl diesen Bericht als auch die Vorfälle mit X. besprochen habe. Dabei hätten sich X.s Schilderungen mit dem Polizeibericht gedeckt. Sie habe alles, was im Zeitraum 31. Juli bis 2. August 2009 vorgefallen sei, detailliert geschildert und dabei stets den Angeklagten als Täter benannt. Sie habe ihr am selben Abend auch ihre Verletzungen gezeigt, insbesondere blutende Verletzungen im Kopfbereich, Brandmale an der linken Brust und im Nacken sowie diverse Blutergüsse und Striemen auf dem Rücken. N. habe mit X. bis zu deren Vernehmung vor dem Landgericht weiter Gespräche über die Gewaltvorfälle geführt. Während dieser Gespräche seien X.s Schilderungen konsistent geblieben.

23. Y., der 19.. geborene Sohn von X., sagte aus, dass er am 2. August 2009 in seinem Zimmer gewesen sei, von wo aus er einen Streit zwischen dem Beschwerdeführer und X. sowie Schreie gehört habe. Er habe später erfahren, dass seine Mutter im Hause von Nachbarn sei, wo er sie gemeinsam mit den Polizeibeamten abgeholt habe. Sie habe sich einen Lappen an den Kopf gepresst. Er sei gemeinsam mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Er habe nicht gesehen, was sich im Haus zugetragen habe und insgesamt nicht viel von den Vorfällen an diesem Wochenende mitbekommen.

24. Der Zeuge F. gab an, dass er am 2. August 2009 gemeinsam mit einem weiteren Zeugen, G., auf einer örtlichen Sportveranstaltung gewesen sei. Gegen Mittag, als sie auf dem Weg in Richtung des Dorfes gewesen seien, sei ihnen auf der Z.straße X. entgegen gekommen und habe gerufen: „Hilfe! Hilfe! Mein Mann bringt mich um!“. X. sei so entsetzt und verstört gewesen, dass sie nicht klar habe sprechen können. F. habe ihr geraten, zum Haus der Familie M. zu gehen. Er selbst sei daraufhin zum Haus der Familie H. gegangen, um die Polizei zu rufen. Während des Telefonats mit der Polizei habe ihm Frau H. gesagt, dass der Beschwerdeführer weggefahren sei. Frau H. habe F. dann das Fahrzeugkennzeichen genannt und dieser habe es an die Polizei weitergeleitet. Als F. wieder nach draußen gegangen sei, habe er Y.. getroffen, der gezittert und ihn nach X. gefragt habe. Er habe dann die Polizei zum Haus der Familie M. geführt. Als sich die Tür geöffnet habe, habe er X. auf der Treppe sitzen sehen; sie habe sich einen blutigen Lappen an den Kopf gepresst. Dann habe sich die Polizei der Sache angenommen und er habe sich entfernt.

25. Der Zeuge M. gab an, dass es eines Sonntags an der Tür geklingelt habe. Draußen habe X. gestanden und gerufen: „Mein Mann, mein Mann! Der will mir was. Der darf mich nicht sehen!“ Die völlig verschreckte X. habe sogleich das Haus betreten und sich auf die Treppe gesetzt. Sie habe am Hinterkopf geblutet. Später sei die Polizei gekommen und hätte einen Krankenwagen gerufen. M.s Mutter fügte hinzu, dass sie X. ein Handtuch für ihre blutende Kopfwunde gegeben habe und dass X. immer wieder Angst vor ihrem Mann bekundet habe. Sie habe nie zuvor eine so verängstigte Frau gesehen und sei davon so betroffen gewesen, dass sie X. nicht danach gefragt habe, was passiert sei.

26. Die Zeugin H. sagte aus, dass am 2. August 2009 F. bei ihr geklingelt habe. F. habe ihr gesagt, dass er die Polizei rufen müsse, weil der Beschwerdeführer wohl seiner Frau etwas angetan habe. Sie sei dann aus dem Haus gegangen und habe in Richtung des Hauses des Beschwerdeführers geschaut, das nur wenige Meter entfernt stehe. Sie habe beobachtet, wie der Beschwerdeführer aus dem Haus gegangen und weggefahren sei. Dies habe sie F. mitgeteilt, der sie gebeten habe, das Kennzeichen des Pkw abzulesen, was sie getan habe. Herr H. machte gleichlautende Angaben.

27. Die Polizeibeamten S. und T. erklärten, sie seien am 31. Juli 2009 auf Streifenfahrt gewesen, als sie über Funk aufgefordert wurden, in das Dorf C. zu fahren, wo eine Frau schreiend aus dem Haus gelaufen sei und sich im Haus eines Nachbarn versteckt habe. Bei ihrem Eintreffen seien mehrere Personen vor Ort gewesen und hätten ihnen mitgeteilt, dass sich X.. im Haus der Familie M. aufhalte. Als sie sich dorthin begeben hätten, hätten sie X. unter Schock stehend und ein Tuch an ihren Hinterkopf pressend vorgefunden. Auf S.s Frage, was passiert sei, habe sie geantwortet, dass ihr Mann sie geschlagen habe. X. habe anschließend weitere Angaben gemacht, die später vom Gericht nicht berücksichtigt wurden (siehe Rdnr. 34). Sie habe eine blutende Verletzung am Hinterkopf und sichtbare Hämatome im Gesichtsbereich gehabt. Anfangs habe sie so stark gezittert, dass es nicht möglich gewesen sei, sie zu befragen.

28. Vor dem Landgericht wurde der Entwurf eines Briefes an die Ehefrau eines ihrer früheren Geliebten verlesen, in dem X. angab, sie wolle ihr Leben aufräumen und Ehebruch sei eine große Sünde. Polizeikommissar S. hatte angegeben, dass X. im Anschluss an ihre Aussage auf der Polizeiwache und nach ihrer Untersuchung im Krankenhaus darum gebeten habe, in einem Frauenhaus untergebracht zu werden. Sie habe verlangt, zuvor noch einmal bei dem Wohnhaus der Eheleute vorbeizufahren und hierbei von den Polizeibeamten begleitet zu werden. Sie habe einige ihrer Sachen abgeholt und dabei auch S. den Brief übergeben, wobei sie ihn gebeten habe, diesen an sich zu nehmen. S. habe diesen Brief zur Akte getan.

29. Vor dem Landgericht wurde ein weiterer, vom 26. September 2009 datierender Brief von X. an den Beschwerdeführer verlesen; darin beschreibt sie auszugsweise die Handlungen des Beschwerdeführers ab dem 31. Juli 2009 und berichtet von Schlägen, Demütigungen und sexuellen Handlungen, denen sie sich aus Angst vor noch mehr Schlägen unterworfen habe.

3. Die Beweiswürdigung durch das Landgericht

30. Das Landgericht stützte sich u. a. auf die Aussagen, die X. bei ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung gemacht hatte. Es war der Auffassung, der Beschwerdeführer sei zu Recht von dieser Vernehmung ausgeschlossen worden. Da allerdings Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention das Recht des Beschwerdeführers garantiere, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, hätte dem Beschwerdeführer ein Pflichtverteidiger bestellt werden müssen, so dass dieser X. bei der Vernehmung hätte befragen können. Allein der Umstand, dass weder der Beschwerdeführer noch sein Pflichtverteidiger Gelegenheit zu einer konfrontativen Befragung von X. gehabt hätten, verstoße jedoch nicht ohne Weiteres gegen Artikel 6 Abs.1 und Abs. 3 Buchst. d der Konvention. Entscheidend sei, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweiserhebung und Beweiswürdigung fair gewesen sei. Wenn die fehlende Möglichkeit zu einer konfrontativen Befragung wie im vorliegenden Fall das Ergebnis von Verfahrensfehlern seitens der Justiz sei, habe der Gerichtshof einen Konventionsverstoß angenommen, wenn sich die Verurteilung in einem entscheidenden Ausmaß auf die Angaben eines solchen unkonfrontiert gebliebenen Zeugen gestützt habe. Eine Verurteilung könne somit nur auf unhinterfragte Zeugenaussagen gestützt werden, wenn diese durch andere wesentliche Gesichtspunkte außerhalb dieser Aussagen bestätigt würden. Im vorliegenden Fall könne die Verurteilung des Beschwerdeführers auf die von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Aussagen X.s gestützt werden, da sie durch andere wesentliche Gesichtspunkte außerhalb dieser Aussagen gestützt würden.

31. In dieser Hinsicht verwies das Landgericht auf X.s Schreiben vom 26. September 2009, in dem sie auszugsweise die Handlungen des Beschwerdeführers ab dem 31. Juli 2009 beschrieben und von Schlägen, Demütigungen und sexuellen Handlungen berichtet habe, denen sie sich aus Angst vor noch mehr Schlägen unterworfen habe (siehe Rdnr. 29). Ihre Aussage, dass der Beschwerdeführer sie geschlagen habe, um sie zum Abfassen eines Briefes an die Ehefrau eines ihrer früheren Geliebten zu zwingen, werde durch den Briefentwurf mit dem von ihr genannten Inhalt bestätigt, welchen sie an S. übergeben habe (siehe Rdnr. 28). Beide Briefe seien als Beweismittel zugelassen worden, da schriftliche Aussagen von Zeugen auch dann verwertet werden dürften, wenn diese in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machten.

32. Überdies habe die Zeugin N., die Mitarbeiterin des Frauenhauses, in dem X. Zuflucht gesucht habe, am Tag der Aufnahme X.s Wunden im Kopfbereich wahrgenommen, die teilweise geblutet hätten, und auch Brandmale an der linken Brust und im Nacken sowie mehrere Blutergüsse und Striemen auf dem Rücken, die X. ihr gezeigt habe. Während ihres Aufenthalts im Frauenhaus habe X. gegenüber N. wiederholt die Gewalttätigkeiten des Beschwerdeführers in Einzelheiten beschrieben (siehe Rdnr. 22).

33. X.s Sohn Y., der sich am 2. August 2009 im Wohnhaus der Eheleute befunden habe, habe ausgesagt, dass er einen Streit zwischen dem Beschwerdeführer und X. sowie Schreie gehört habe (siehe Rdnr. 23). Andere Zeugen hätten berichtet, dass X. an diesem Tag panisch und mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf auf die Straße gerannt sei und anschließend bis zum Eintreffen der Polizei bei Familie M. Zuflucht gesucht habe, während der Beschwerdeführer dabei gesehen worden sei, wie er anschließend das Haus verließ und wegfuhr (siehe Rdnrn. 24 bis 27). Daher war das Landgericht überzeugt, dass X.s anschließende Selbstanzeigen, in denen sie im Wesentlichen angegeben habe, der Beschwerdeführer sei nicht zu Hause gewesen, und die sie anschließend wieder zurückgenommen habe (siehe Rdnr. 20), falsch gewesen seien.

34. X.s ursprüngliche Angaben gegenüber den Polizeibeamten S. und T. konnten entsprechend deren Bekundungen (siehe Rdnr. 27) verwertet werden, obwohl X. anschließend von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht habe, denn sie seien als „Spontanäußerungen“ einzustufen. Gleichzeitig wurden weitere Aussagen, die X. gegenüber den Polizeibeamten getätigt hatte, vom Landgericht nicht berücksichtigt, da die Polizeibeamten nicht mehr mit Sicherheit angeben konnten, zu welchem Zeitpunkt die Belehrung X.s über ihr Schweigerecht erfolgt war.

C. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof

35. Am 29. Juni 2010 legte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer gegen das Urteil Revision ein. Er machte geltend, dass Beweismittel, unabhängig davon, wie gewichtig sie sind, keinesfalls verwertet werden dürften, wenn sie unter Missachtung des in Art. 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention niedergelegten Rechts auf konfrontative Befragung erlangt wurden. Die Gewichtigkeit der nicht konfrontativ hinterfragten Beweise im Verhältnis zu den sonstigen verwerteten Beweismitteln dürfe keine Rolle spielen. Es sei auch nicht entscheidungserheblich, ob das Gericht des ersten Rechtszugs eine besonders vorsichtige Würdigung der Aussagen der unkonfrontierten Zeugin vorgenommen habe, da der Verstoß gegen das Konfrontationsrecht nicht geheilt werde könne. Überdies hätte das Landgericht vor dem Hintergrund der anschließenden Zeugnisverweigerung durch X. die Angaben der Polizeibeamten S. und T. nicht verwerten dürfen. X.s Äußerungen gegenüber den Polizeibeamten seien keine „Spontanäußerung“ gewesen, denn diese seien zum Tatort gerufen worden, weil eine Frau schreiend aus dem Haus gelaufen sei und sich im Haus eines Nachbarn versteckt habe, und sie hätten sie bei ihrer Ankunft gefragt, was passiert sei (siehe Rdnr. 27).

36. Mit Stellungnahme vom 8. November 2010 argumentierte der Generalbundesanwalt, dass durch die ermittlungsrichterliche Befragung und die in deren Folge erfolgte Verwertung der unkonfrontiert gebliebenen Aussagen X.s das Verfahren nicht unfair geworden sei. Die von X. gegenüber dem Ermittlungsrichter gemachten Angaben seien durch andere wesentliche Gesichtspunkte außerhalb ihrer Aussage bestätigt worden. Das Landgericht habe überdies der Einschränkung der Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers durch eine besonders sorgfältige und kritische Würdigung des Beweiswertes dieser Aussage Rechnung getragen.

37. Am 16. Dezember 2010 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils des Landgerichts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben habe.

D. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

38. Am 11. Januar 2011 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er trug vor, dass sein Konfrontationsrecht verletzt worden sei, als der Ermittlungsrichter X. befragt habe, ohne dass er oder sein Verteidiger die Möglichkeit gehabt hätten, zugegen zu sein und Fragen an sie zu richten. Es sei nicht rechtmäßig gewesen, die von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Äußerungen X.s als Beweismittel zuzulassen und für seine Verurteilung heranzuziehen. Es reiche nicht aus, die Verletzung seines Konfrontationsrechts im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen, indem den unkonfrontiert gebliebenen Zeugenaussagen weniger Beweiskraft beigemessen und ihre Bestätigung durch andere wesentliche Beweismittel gefordert werde. Ebenso unrechtmäßig sei es gewesen, die Aussagen der beiden Polizeibeamten zu verwerten, da die von ihnen wiedergegebene Aussage X.s keine „Spontanäußerung“ gewesen sei.

39. Der Generalbundesanwalt vertrat in seiner Stellungnahme vom 22. August 2011 die Ansicht, dass das Landgericht die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention hinreichend berücksichtigt habe.

40. Am 4. April 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen.

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

41. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis sind in der Rechtssache H. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 26171/07, Rdnrn. 24 bis 27, 19. Juli 2012) zusammenfassend dargestellt. Das Recht eines – gegenwärtigen oder früheren – Ehepartners eines Beschuldigten zur Verweigerung des Zeugnisses ist in § 52 Abs. 1 Nr. 2 der Strafprozessordnung (StPO) verankert. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besteht für „spontane Äußerungen“, die der Zeuge oder die Zeugin vor oder außerhalb seiner bzw. ihrer förmlichen Aussage macht, eine Ausnahme.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSATZ 1 UND ABSATZ 3 BUCHSTABE D DER KONVENTION

42. Der Beschwerdeführer rügte, dass weder ihm noch einem für ihn bestellten Rechtsanwalt Gelegenheit gegeben wurde, X., das Opfer und die einzige unmittelbare Zeugin der Taten, deren das Landgericht ihn für schuldig befunden habe, zu befragen. Er machte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren geltend, einschließlich seines Befragungsrechts gegenüber Belastungszeugen nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention, die, soweit maßgeblich, wie folgt lauten:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird. […]

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; […]“

43. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

44. Die Regierung machte geltend, dass der Beschwerdeführer die innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht wie nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich erschöpft habe. Er habe vor den innerstaatlichen Gerichten weder dargetan, inwieweit X.s Aussagen entsprechend den Bekundungen des Ermittlungsrichters und in Teilen der Polizeibeamten S. und T. das alleinige oder entscheidende Beweismittel für seine Verurteilung gewesen seien, noch inwieweit es ausgleichende Maßnahmen gegeben habe. Da er die einschlägigen Kriterien aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs vor den innerstaatlichen Gerichten nicht angebracht habe, habe er seine nun dem Gerichtshof vorgelegte Rüge vor diesen Gerichten nicht „der Substanz nach“ geltend gemacht.

45. Der Beschwerdeführer verwies darauf, dass er der Verwertung der entsprechenden Aussagen vor dem Landgericht entgegengetreten sei und dass er diesbezüglich in seiner Revision und seiner Verfassungsbeschwerde substantiierte Rügen vorgetragen habe.

46. Der Beschwerdeführer habe vor den innerstaatlichen Gerichten einen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention gerügt, da die Aussage des Opfers und der einzigen unmittelbaren Zeugin, X., entsprechend den Bekundungen des Ermittlungsrichters und in Teilen der Polizeibeamten S. und T. verwertet worden sei, ohne dass er oder ein für ihn bestellter Verteidiger in irgendeinem Stadium des Verfahrens Gelegenheit gehabt hätten, diese unmittelbare Zeugin zu befragen (siehe Rdnrn. 10, 35 und 38). Er trug vor, dass dieser Umstand allein eine Verletzung der genannten Konventionsbestimmung darstelle, unabhängig davon, ob die unkonfrontiert gebliebene Zeugenaussage der „alleinige oder entscheidende“ Beweis für seine Verurteilung gewesen sei, und dass ein solcher Verstoß nicht geheilt werden könne.

47. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Beschwerdeführer vor dem Landgericht und dem Bundesgerichtshof im Jahr 2010 Stellung genommen und seine Verfassungsbeschwerde im Januar 2011 eingelegt hat. Es kann nicht zulasten des Beschwerdeführers gehen, dass er auf innerstaatlicher Ebene nicht die Kriterien ins Feld geführt hat, die der Gerichtshof erst später, in den Rechtssachen Al-Khawaja und Tahery ./. das Vereinigte Königreich ((GK), Individualbeschwerden Nrn. 26766/05 und 22228/06, ECHR 2011) und S. ./. Deutschland ((GK), Individualbeschwerde Nr. 9154/10, ECHR 2015) aufgestellt oder konkretisiert hat.

48. Zweitens merkt der Gerichtshof an, dass der Beschwerdeführer sich (anders als der Beschwerdeführer in Bhojwani ./. das Vereinigte Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 49964/11, Rdnrn. 21 und 51 bis 53, 21. Juni 2016) vor den innerstaatlichen Gerichten auf Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d der Konvention und die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Umgang mit den Aussagen abwesender Zeugen berufen und (anders als die Beschwerdeführerin in R.A. ./. das Vereinigte Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 73521/12, 3. Mai 2016) vor dem Landgericht, dem Bundesgerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht eindeutig und substantiiert vorgetragen hat. Mit seinem Vorbringen wandte sich der Beschwerdeführer gegen die sogenannte „allein-oder-entscheidend“-Regel (sole or decisive rule), von der der Gerichtshof später im Fall Al-Khawaja und Tahery (a.a.O.) abgewichen ist. Sein Argument, dass der Zeugenbeweis eines unkonfrontierten unmittelbaren Zeugen überhaupt nicht verwertet werden dürfte, unterschied sich zwar von dem Ansatz, den der Gerichtshof in der Folge hierzu vertrat, es ist jedoch anzumerken, dass der Beschwerdeführer sich gegen die Rechtsprechung des Gerichtshofs in ihrer damaligen Ausprägung an sich wandte.

49. Angesichts der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Beschwerdeführer die Rüge der Sache nach vor den innerstaatlichen Gerichten geltend gemacht und folglich den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft hat, wie nach Art. 35 Abs. 1 der Konvention erforderlich. Der Einwand der Regierung ist daher zurückzuweisen.

50. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Individualbeschwerde weder nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet noch aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

a) Der Beschwerdeführer

51. Der Beschwerdeführer trug vor, dass die Verwertung der Aussage des Opfers und der einzigen unmittelbaren Zeugin, X., entsprechend den Bekundungen des Ermittlungsrichters, der es versäumt habe, ihn über die Vernehmung X.s in Kenntnis zu setzen und ihm einen Verteidiger zu ihrer konfrontativen Befragung beizuordnen, seine Rechte aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention verletzt habe. Dieser unkonfrontierte Zeugenbeweis sei entscheidend für seine Verurteilung gewesen. Es habe keine hinreichenden ausgleichenden Maßnahmen gegeben, um die Beeinträchtigungen, denen die Verteidigung aufgrund der Verwertung dieses unkonfrontierten Zeugenbeweises ausgesetzt gewesen sei, zu kompensieren. Es sei vorhersehbar gewesen, dass X. in der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen würde.

52. Außerdem sei es nicht rechtmäßig gewesen, die Aussage der Polizeibeamten S. und T. zu verwerten, soweit sie die ihnen gegenüber getätigten Äußerungen X.s vor Ort beträfen. Diese Äußerungen könnten nicht als „spontane Äußerungen“ gewertet werden, sondern seien als Aussagen im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung zu betrachten. Die Polizeibeamten hätten X. folglich vorher über ihr Schweigerecht belehren müssen, was sie versäumt hätten.

b) Die Regierung

53. Die Regierung trug vor, dass das Landgericht ausführlich begründet habe, warum es sich bei den Aussagen der Polizeibeamten, die Verwertung gefunden hatten, um spontane Äußerungen X.s gehandelt habe, und warum sie demzufolge im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verwertbar gewesen seien. Es habe keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die vom Landgericht vorgenommene Einordnung dieser Bekundungen als „Spontanäußerungen“ willkürlich gewesen sei. Gleichzeitig räumte sie ein, dass es durch die unterbliebene Beiordnung eines Verteidigers für X.s ermittlungsrichterliche Vernehmung zu einer Verletzung des Konfrontationsrechts des Beschwerdeführers gekommen sei. Dennoch habe dieser Verfahrensfehler nicht zu einer Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention geführt.

54. Die Ehefrau des Beschwerdeführers sei nach dem innerstaatlichen Recht befugt gewesen, nicht gegen diesen auszusagen. Folglich habe es „gute Gründe“ dafür gegeben, dass der Beschwerdeführer und sein Verteidiger sie in der Hauptverhandlung nicht konfrontativ befragen konnten. Nach dem innerstaatlichen Recht sei es zulässig, den Ermittlungsrichter dazu zu vernehmen, was ein Zeuge, der in der Hauptverhandlung die Aussage verweigere, im Ermittlungsverfahren bekundet habe. Zwar sei dem unkonfrontierten Zeugenbeweis bei der Verurteilung des Beschwerdeführers wesentliche Bedeutung zugekommen, er sei aber nicht ausschlaggebend gewesen. Das Landgericht habe die Rechtsprechung des Gerichtshofs berücksichtigt und festgestellt, dass die von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Äußerungen X.s durch andere wesentliche Gesichtspunkte außerhalb dieser Äußerungen gestützt würden. Das Landgericht habe X.s Glaubwürdigkeit und die Vertrauenswürdigkeit ihrer von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Äußerungen eingehend und vorsichtig gewürdigt. X. sei an mehreren Tagen der Hauptverhandlung anwesend gewesen und habe verschiedene Fragen zum Verfahrensablauf beantwortet. Der Beschwerdeführer und sein Verteidiger seien in der Lage gewesen, ihr Auftreten zu beobachten und hätten X. bitten können, ihre Entscheidung zur Zeugnisverweigerung noch einmal zu überdenken. Außerdem wäre es ihnen möglich gewesen, den Ermittlungsrichter im Rahmen seiner Zeugenvernehmung konfrontativ zu befragen. Dem Beschwerdeführer sei die Möglichkeit eingeräumt worden, seine eigene Version des Geschehens darzulegen. In Anbetracht dieser ausgleichenden Maßnahmen sei das Verfahren in der Gesamtschau fair gewesen.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Allgemeine Grundsätze

55. Die maßgeblichen allgemeinen Grundsätze, die insbesondere in den Rechtssachen Al‑Khawaja und Tahery (a.a.O.) und S. (a.a.O.), dargestellt sind, wurden zuletzt in der Rechtssache Bátěk u. a. ./. Tschechische Republik (Individualbeschwerde Nr. 54146/09, Rdnrn. 36 bis 40, 12. Januar 2017) zusammengefasst.

b) Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall

56. Der Gerichtshof vermerkt zunächst, dass X. nicht abwesend im Sinne von unerreichbar war. Vielmehr hat sie in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert. Vor dem Landgericht haben der Ermittlungsrichter und teilweise zwei Polizeibeamte über ihre vor der Hauptverhandlung gemachten Aussagen Bericht erstattet. Die vorliegende Konstellation ist folglich mit der in der Rechtssache H. (a.a.O., Rdnrn. 41 bis 42) vergleichbar. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die in den Rechtssachen Al-Khawaja und Tahery (a.a.O.) und S. (a.a.O.) zur Frage abwesender Zeugen aufgestellten Grundsätze sinngemäß auch auf die hier vorliegende Konstellation anwendbar sind.

57. Es ist zwischen den Parteien nicht streitig, dass X., da sie mit dem Beschwerdeführer verheiratet war, nach § 52 Abs. 1 Nr. 2 StPO das Recht hatte, nicht gegen ihn auszusagen (siehe Rdnr. 41). Folglich gab es einen guten Grund dafür, dass sie nicht für eine konfrontative Befragung in der Hauptverhandlung zur Verfügung stand und ihre Aussagen über die Bekundungen des Ermittlungsrichters und teilweise der zwei Polizeibeamten in den Prozess eingeführt wurden. In dieser Hinsicht merkt der Gerichtshof an, dass er in der vom Landgericht vorgenommenen Einstufung der Äußerungen X.s gegenüber den Polizeibeamten als „Spontanäußerung“ (siehe Rdnrn. 27 und 34) keine Willkür erkennen kann und nicht ersichtlich ist, dass durch die Verwertung dieser von den Polizeibeamten wiedergegebenen Äußerungen die Konventionsrechte des Beschwerdeführers verletzt worden wären.

58. Was die Bedeutung der unkonfrontiert gebliebenen Aussage anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass die von X. vor der Hauptverhandlung gemachten und von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Aussagen nicht die einzigen Beweismittel waren, auf die sich das Landgericht bei seinem Urteil vom 28. Juni 2010 stützte. Das Gericht stützte sich auch auf die Bekundungen der Mitarbeiterin des Frauenhauses, der X. die Vorfälle detailliert geschildert und ihre Verletzungen gezeigt hatte (siehe Rdnrn. 22 und 32); auf X.s Sohn, der Schreie und einen Streit zwischen dem Beschwerdeführer und X. gehört hatte (siehe Rdnrn. 23 und 33); auf die Aussagen mehrerer Nachbarn, die X. unmittelbar nach ihrer Flucht aus dem Wohnhaus der Eheleute mit einer Kopfverletzung und in einem völlig verängstigten Zustand gesehen und wahrgenommen hatten, dass der Beschwerdeführer anschließend das Haus verließ und davonfuhr (siehe Rdnrn. 24 bis 27 und 33); auf X.s Schreiben vom 26. September 2009, in dem sie auszugsweise die Handlungen des Beschwerdeführers in der in Rede stehenden Zeitspanne beschrieben hatte (siehe Rdnrn. 29 und 31); auf den Entwurf eines Briefes an die Ehefrau eines ihrer früheren Geliebten (siehe Rdnrn. 28 und 31); und auf die vom Landgericht als „spontane Äußerungen“ eingestuften Aussagen X.s gegenüber den Polizeibeamten in der Wiedergabe durch diese (siehe Rdnrn. 27 und 34). Das Landgericht kam zu dem Schluss, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers auf die von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Aussagen X.s gestützt werden könne, da sie durch andere wesentliche Gesichtspunkte außerhalb dieser Aussagen gestützt würden (siehe Rdnr. 30).

59. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Beurteilung des Beweiswertes weder inakzeptabel noch willkürlich war (siehe S., a.a.O., Rdnr. 124, m.w.N.), da die von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Äußerungen X.s durch andere gewichtige Gesichtspunkte außerhalb dieser Äußerungen gestützt wurden. Gleichzeitig ist er der Ansicht, dass X.s im Vorfeld der Hauptverhandlung gemachte Aussage für die Verurteilung des Beschwerdeführers zumindest wesentlich waren und ihre Verwertung möglicherweise eine Beeinträchtigung der Verteidigung dargestellt hat (siehe auch Štulíř ./. die Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 36705/12, Rdnrn. 63 bis 67, 12. Januar 2017).

60. Was die ausgleichenden Maßnahmen zur Kompensation der Beeinträchtigungen anbelangt, denen sich die Verteidigung infolge der Verwertung der unkonfrontiert gebliebenen Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung gegenübersah (siehe S., a.a.O., Rdnrn. 125 und 145), waren die Regierung – und das Landgericht selbst – übereinstimmend der Auffassung, dass dem Beschwerdeführer ein Verteidiger hätte bestellt werden müssen, der X. bei der Vernehmung durch den Vermittlungsrichter hätte befragen können. Da dies unterblieb, riskierten die staatlichen Stellen vorhersehbar, dass weder der Beschwerdeführer noch sein Verteidiger Gelegenheit bekommen würden, X., die mit dem Beschwerdeführer verheiratet und folglich nach dem innerstaatlichen Recht zur Zeugnisverweigerung berechtigt war – wovon sie anschließend auch tatsächlich Gebrauch machte – in irgendeinem Stadium des Verfahrens zu befragen (vgl. ebenda, Rdnrn. 152 bis 60).

61. Dennoch ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Landgericht X.s Glaubwürdigkeit und die Vertrauenswürdigkeit ihrer von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Äußerungen eingehend und vorsichtig gewürdigt hat und dass zahlreiche und stichhaltige bestätigende Beweismittel vorlagen. Der Beschwerdeführer hatte die Gelegenheit, seine eigene Version der Geschehnisse darzustellen, wovon er absah, und den Ermittlungsrichter bei dessen Anhörung konfrontativ zu befragen.

62. Bei der Beurteilung der Fairness des Verfahrens insgesamt (siehe S., a.a.O., Rdnr. 161) gelangt der Gerichtshof unter Berücksichtigung der vorstehenden Erwägungen – insbesondere des Gewichts, das der Aussage der Zeugin X. bei der Verurteilung des Beschwerdeführers zukam, der Herangehensweise des Landgerichts bei der Würdigung dieser Aussage, des Vorliegens und der Stichhaltigkeit weiterer belastender Beweismittel und der vom Landgericht ergriffenen ausgleichenden Verfahrensmaßnahmen – zu der Feststellung, dass die kompensierenden Faktoren die Beeinträchtigungen ausgleichen konnten, denen sich die Verteidigung gegenüber sah. Er kommt zu dem Schluss, dass das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer in der Gesamtschau durch die Verwertung der von dem Ermittlungsrichter wiedergegebenen Aussage der unkonfrontierten Zeugin X. nicht unfair geworden ist.

63. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ERKLÄRT DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d der Konvention ist nicht verletzt worden;

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 26. Juli 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                            Erik Møse
Kanzlerin                                           Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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