RECHTSSACHE DRIDI ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE D. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 35778/11)
URTEIL
STRASSBURG
26. Juli 2018

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache D. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer und
Lәtif Hüseynov,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 3. Juli 2018

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 35778/11) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, D. („der Beschwerdeführer“), am 7. Juni 2011 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn A., Rechtsanwalt in H., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung seiner Rechte aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. b und c der Konvention in dem gegen ihn geführten Strafverfahren geltend.

4. Am 14. März 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in C.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Am 2. März 2009 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer, nachdem es diesem an seinem damaligen Wohnsitz eine Ladung zugestellt hatte, wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 25 Euro und gestattete ihm angesichts seiner schwachen wirtschaftlichen Lage eine Zahlung der Geldstrafe in Raten. Auf Antrag des Beschwerdeführers hatte das Amtsgericht nach § 138 Abs. 2 StPO genehmigt, dass Herr A., der zu jener Zeit noch Student der Rechtswissenschaften war, als Verteidiger für den Beschwerdeführer auftritt (siehe Rdnr. 19).

7. Der Beschwerdeführer und die Staatsanwaltschaft legten Berufung ein. Die Berufung der Staatsanwaltschaft richtete sich ausschließlich gegen das Strafmaß. Daraufhin zog der Beschwerdeführer nach Spanien, um in einem Hotel als Koch zu arbeiten, und teilte dem Gericht seine neue Anschrift mit.

B. Das Berufungsverfahren vor dem Landgericht

8. Am 24. April 2009 nahm das Landgericht die Zulassung von Herrn A. als Verteidiger zurück und lehnte gleichzeitig den von Herrn A. gestellten Antrag, den Beschwerdeführer von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Berufungshauptverhandlung zu entbinden, ab. Dieser Beschluss wurde dem Beschwerdeführer in Spanien zugestellt.

9. Ebenfalls am 24. April 2009 bestimmte das Landgericht den Termin für die mündliche Verhandlung über die Berufung des Beschwerdeführers auf 13. Mai 2009, 9:10 Uhr. Es beschloss die öffentliche Zustellung der Ladung des Beschwerdeführers, weil dieser seinen Wohnsitz in das Ausland verlegt habe. Die Ladung hing vom 27. April bis 12. Mai 2009 an der Gerichtstafel des Landgerichts aus.

10. Am 12. Mai 2009 erfuhr Herr A. telefonisch von dem am selben Tag ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts, den Beschluss des Landgerichts im Hinblick auf die ihm erteilte Genehmigung, als Verteidiger für den Beschwerdeführer aufzutreten, aufzuheben, und von dem für den nächsten Vormittag anberaumten Termin für die Berufungsverhandlung. Er beantragte per Fax eine Verlegung des Termins, da er am darauffolgenden Tag nicht in der Stadt sei. Er bat ferner um Übermittlung von Unterlagen aus der Akte, insbesondere der Berufung der Staatsanwaltschaft. Der Vorsitzende Richter ordnete die Übermittlung einer Abschrift der Berufung und des Beschlusses über die öffentliche Zustellung der Ladung des Beschwerdeführers an den Verteidiger des Beschwerdeführers an. Dies stellte sich als unmöglich heraus, da das Faxgerät des Verteidigers nicht empfangsfähig war. Dem Verteidiger wurde angeboten, die Akten am Folgetag um 8:00 Uhr (also unmittelbar vor der Verhandlung) im Gericht einzusehen, was er mit der Begründung ablehnte, dass er nicht in der Stadt sein werde.

11. Am 13. Mai 2009 wies das Landgericht in einem separaten Beschluss einen von dem Verteidiger des Beschwerdeführers gestellten Antrag auf Verschiebung der Berufungsverhandlung zurück. Es führte aus, dass der Verteidiger auf eine fristgerechte Ladung verzichtet habe, weil er von dem Berufungshauptverhandlungstermin gewusst habe (wie aus seinem Fax vom Vortag hervorgehe), und dass der ordnungsgemäß geladene Beschwerdeführer unentschuldigt nicht erschienen sei. Gleichzeitig verwarf das Landgericht nach § 329 StPO (siehe Rdnr. 19) die Berufung des Beschwerdeführers ohne Verhandlung zur Sache, weil er zur Berufungshauptverhandlung (nicht genügend entschuldigt und trotz Ladung) nicht erschienen sei und auch nicht in zulässiger Weise von einem Verteidiger vertreten worden sei.

C. Das Wiedereinsetzungsverfahren

12. Am 10. März 2010 verwarf das Landgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Es stellte fest, dass die Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung einer Ladung aus § 40 Abs. 2 und 3 StPO (siehe Rdnr. 19) erfüllt gewesen seien. Der Verteidiger des Beschwerdeführers habe auf sein Recht auf eine Ladung verzichtet und seinen Aussetzungsantrag habe er nicht damit begründet, dass die Frist für die Zustellung einer Ladung nicht eingehalten worden sei, sondern Terminschwierigkeiten genannt, ohne weiter dazu auszuführen.

13. Am 15. April 2010 bestätigte das Oberlandesgericht diese Entscheidung. Es vertrat die Auffassung, dass der Beschwerdeführer ordnungsgemäß zu der Berufungshauptverhandlung geladen worden sei, da die in § 40 Abs. 2 StPO enthaltenen Anforderungen an die öffentliche Zustellung erfüllt gewesen seien. Die Ladung zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht sei an die frühere Anschrift des Beschwerdeführers in Deutschland erfolgt und er habe die in Rede stehende Berufung eingelegt. Angesichts seines Interesses an einer Überprüfung des amtsgerichtlichen Urteils sei es seine Pflicht gewesen, sicherzustellen, dass die Ladung zur Berufungsverhandlung in Deutschland zugestellt werden könne. Aufgrund seines Umzugs nach Spanien sei es nicht möglich gewesen, die Ladung an seiner früheren Anschrift zuzustellen. Daher sei die öffentliche Zustellung der Ladung zulässig gewesen. Es habe weder eine Verpflichtung dazu bestanden, vor der öffentlichen Zustellung eine Zustellung der Ladung an der neuen Anschrift des Beschwerdeführers im Ausland zu versuchen, noch dazu, ihn an jener Anschrift darüber zu unterrichten, dass die Ladung öffentlich zugestellt worden sei. Der Beschwerdeführer habe seinem Verteidiger auch keine ausdrückliche Ladungsvollmacht (nach § 145a Abs. 2 Satz 1 StPO) erteilt (siehe Rdnr. 19). Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht, dass er entsprechend dem Erfordernis nach Artikel 44 Satz 1 StPO (siehe Rdnr. 19) ohne eigenes Verschulden daran gehindert gewesen sei, zur Berufungshauptverhandlung zu erscheinen, da der Verteidiger des Beschwerdeführers nicht eidesstattlich versichert habe, dass er dem Beschwerdeführer am 12. Mai 2009 mitgeteilt habe, dass er nicht vor Gericht erscheinen müsse, da er keine Ladung erhalten habe. Da sein persönliches Erscheinen angeordnet worden sei (siehe Rdnr. 8), habe die Berufungshauptverhandlung nicht in seiner Abwesenheit durchgeführt werden können.

D. Die anschließenden Verfahren vor dem Oberlandesgericht und dem Bundesverfassungsgericht

14. Am 16. Juli 2010 verwarf das Oberlandesgericht eine Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts vom 13. Mai 2009 als unbegründet, wobei es feststellte, dass eine Prüfung des landgerichtlichen Urteils keine für den Beschwerdeführer nachteiligen Rechtsfehler habe erkennen lassen.

15. Am 16. November 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2147/10). Der Beschluss wurde dem Verteidiger des Beschwerdeführers am 10. Dezember 2010 zugestellt.

E. Die einseitige Erklärung der Regierung

16. Nach der Übermittlung des Falls und vergeblichen Vergleichsverhandlungen teilte die Regierung dem Gerichtshof am 8. Juli 2016 mit, dass sie beabsichtige, die Frage, die die Beschwerde aufwerfe, zu erledigen. Sie gab eine einseitige Erklärung ab, in der sie Verletzungen von Artikel 6 Abs. 1 und/oder Abs. 3 Buchst. c sowie von Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b und c der Konvention anerkannte, und erklärte sich bereit, dem Beschwerdeführer einen Betrag zu zahlen, der sämtliche materiellen und immateriellen Schäden sowie sämtliche Kosten und Auslagen abdecke. Die Regierung beantragte, dass der Gerichtshof die Beschwerde gemäß Artikel 37 Abs. 1 der Konvention im Register streiche.

17. Mit Schreiben vom 30. August 2016 an den Gerichtshof erklärte der Beschwerdeführer, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei. Das Ziel, das er mit der vorliegenden Individualbeschwerde verfolge, sei eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen ihn mit anschließendem Freispruch. Er machte geltend, dass eine solche Wiederaufnahme nach innerstaatlichem Recht nicht möglich sei, wenn der Gerichtshof die Beschwerde aus dem Register streiche, da hierzu ein Urteil vonnöten sei, in dem eine Konventionsverletzung festgestellt werde. Darüber hinaus sei die angebotene Entschädigung unzureichend.

18. Mit Schreiben vom 14. Oktober 2016 bestätigte die Regierung, dass es bis dahin keine innerstaatliche Rechtsprechung dazu gegeben habe – und tatsächlich immer noch nicht gebe –, ob § 359 Nr. 6 StPO, der die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach Ergehen eines Urteils des Gerichtshofs, das die Feststellung einer Verletzung enthält (siehe Rdnr. 19), regelt, auch auf Verletzungen anzuwenden ist, welche die Regierung im Rahmen einer einseitigen Erklärung anerkannt hat. Diese Frage sei durch die innerstaatlichen Gerichte zu überprüfen. Sie erkannte an, dass die Vorschrift in der Praxis eng ausgelegt worden sei.

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

19. Die maßgeblichen Vorschriften der Strafprozessordnung lauten wie folgt:

§ 35a Satz 2

„Ist gegen ein Urteil Berufung zulässig, so ist der Angeklagte auch über die Rechtsfolgen des § 40 Abs. 3 und der §§ 329, 330 zu belehren.“

§ 40 [in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung]

„(1) Kann eine Zustellung an einen Beschuldigten, dem eine Ladung zur Hauptverhandlung noch nicht zugestellt war, nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden und erscheint die Befolgung der für Zustellungen im Ausland bestehenden Vorschriften unausführbar oder voraussichtlich erfolglos, so ist die öffentliche Zustellung zulässig. Die Zustellung gilt als erfolgt, wenn seit dem Aushang der Benachrichtigung zwei Wochen vergangen sind.

(2) War die Ladung zur Hauptverhandlung dem Angeklagten schon vorher zugestellt, dann ist die öffentliche Zustellung an ihn zulässig, wenn sie nicht in der vorgeschriebenen Weise im Inland bewirkt werden kann.

(3) Die öffentliche Zustellung ist im Verfahren über eine vom Angeklagten eingelegte Berufung bereits zulässig, wenn eine Zustellung nicht unter einer Anschrift möglich ist, unter der letztmals zugestellt wurde oder die der Angeklagte zuletzt angegeben hat.“

§ 44

„War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. […]“

§ 45 [in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung]

„(2) Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. […]“

§ 138 [in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung]

„(1) Zu Verteidigern können Rechtsanwälte sowie die Rechtslehrer […] gewählt werden.

(2) Andere Personen können nur mit Genehmigung des Gerichts […] zugelassen werden. “

Artikel 145a

„(2) Eine Ladung des Beschuldigten darf an den Verteidiger nur zugestellt werden, wenn er in einer bei den Akten befindlichen Vollmacht ausdrücklich zur Empfangnahme von Ladungen ermächtigt ist. […]“

§ 217 [in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung]

„(1) Zwischen der Zustellung der Ladung […] und dem Tag der Hauptverhandlung muß eine Frist von mindestens einer Woche liegen.

(2) Ist die Frist nicht eingehalten worden, so kann der Angeklagte bis zum Beginn seiner Vernehmung zur Sache die Aussetzung der Verhandlung verlangen.

(3) Der Angeklagte kann auf die Einhaltung der Frist verzichten.“

§ 329 [in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung]

„(1) Ist bei Beginn einer Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch in den Fällen, in denen dies zulässig ist, ein Vertreter des Angeklagten erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen. […]

(3) Der Angeklagte kann binnen einer Woche nach der Zustellung des Urteils die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den in den §§ 44 und 45 bezeichneten Voraussetzungen beanspruchen. […]“

§ 359

„Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, […]

6. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.“

III. B. DAS EINSCHLÄGIGE EU-RECHT

20. Gemäß Artikel 5 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 29. Mai 2000 (2000/C 197/01) sollte jeder Mitgliedstaat Verfahrensurkunden, die für Personen bestimmt sind, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, durch die Post unmittelbar an diese übersenden.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. DIE EINSEITIGE ERKLÄRUNG DER REGIERUNG

21. Die maßgeblichen allgemeinen Grundsätze bezüglich einseitiger Erklärungen wurden jüngst in den Rechtssachen Jeronovičs ./. Lettland ([GK], Individualbeschwerde Nr. 44898/10, Rdnrn. 64-71, ECHR 2016) und Aviakompaniya A.T.I., ZAT ./. Ukraine (Individualbeschwerde Nr. 1006/07, Rdnr. 27-33, 5. Oktober 2017) zusammengefasst.

22. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in Fällen, in denen eine Verletzung von Artikel 6 der Konvention festgestellt wird, eine neue Hauptverhandlung bzw. eine Wiederaufnahme des Verfahrens, sofern gewünscht, grundsätzlich eine angemessene Möglichkeit der Wiedergutmachung dieser Verletzung darstellt (siehe Moreira Ferreira ./. Portugal (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerde Nr. 19867/12, Rdnrn. 50 und 52, ECHR 2017 (Auszüge), m. w. N.). Der Gerichtshof sieht keinen Grund dafür, unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache (siehe Rdnr. 16), bei der die Regierung die Konventionsverletzungen anerkannt hat, eine anderslautende Feststellung zu treffen, zumal der Beschwerdeführer vorgetragen hat, dass das Ziel der vorliegenden Beschwerde die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen ihn und ein anschließender Freispruch sei (siehe Rdnr. 17).

23. Daher ist eine Auseinandersetzung mit der Frage vonnöten, ob dem Beschwerdeführer ein Verfahren offen steht, mit dem er eine solche Wiederaufnahme erwirken kann. Der Gerichtshof begrüßt, dass Deutschland entsprechend seiner Verpflichtung, die endgültigen Urteile des Gerichtshofs zu befolgen, ein Verfahren geschaffen hat, das die Überprüfung der Frage ermöglicht, ob in einem konkreten Fall, in dem der Gerichtshof in einem Urteil eine Konventionsverletzung festgestellt hat (§ 359 Nr. 6 StPO, siehe Rdnr. 19), die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens gerechtfertigt ist.

24. Allerdings ist der Gerichtshof der Auffassung, dass nicht mit einem vergleichbaren Maß an Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass ein solches Verfahren zur Verfügung stünde, wenn der Gerichtshof die einseitige Erklärung der Regierung akzeptieren und die Beschwerde in seinem Register streichen würde. Er nimmt den Vortrag der Regierung zur Kenntnis, wonach es zu der Frage der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens auf der Grundlage einer Anerkennung einer einseitigen Erklärung durch den Gerichtshof keine Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte gibt und wonach § 359 Nr. 6 StPO in der Praxis eng ausgelegt wurde (siehe Rdnr. 18). Die Situation in der vorliegenden Rechtssache ist demnach mit der im Fall Hakimi ./. Belgien (Individualbeschwerde Nr. 665/08, Rdnrn. 21 und 29, 29. Juni 2010) vergleichbar. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem Fall Molashvili ./. Georgien ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 39726/04, Rdnrn. 33 und 36, 30. September 2014), in dem die Regierung in ihrer einseitigen Erklärung explizit anerkannte, dass der Beschwerdeführer berechtigt sei, nach den geltenden Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, das die Wiederaufnahme des Strafverfahrens in Fällen, in denen der Gerichtshof in einem Urteil oder einer Entscheidung eine Konventionsverletzung festgestellt hat, erlaube, eine solche Wiederaufnahme zu beantragen.

25. Dementsprechend erkennt der Gerichtshof den Vortrag des Beschwerdeführers an und stellt fest, dass nach dem deutschen Recht weder die einseitige Erklärung der Regierung noch eine Entscheidung des Gerichtshofs, die Beschwerde in dem Register zu streichen, einen gleichermaßen sicheren Zugang zu einem Verfahren zur Prüfung der Möglichkeit einer Wiederaufnahme des innerstaatlichen Strafverfahrens eröffnen würde wie ein Urteil des Gerichtshofs, in dem dieser eine Konventionsverletzung feststellt.

26. Aus den oben genannten Gründen kann der Gerichtshof nicht zu dem Schluss kommen, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde nicht gerechtfertigt wäre. Darüber hinaus erfordert die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, eine weitere Prüfung der Beschwerde durch den Gerichtshof. Der Antrag der Regierung, die Beschwerde nach Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen, ist daher zurückzuweisen.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSÄTZE 1 UND 3 BUCHSTABE C DER KONVENTION

27. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass seine Rechte aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention verletzt worden seien, da die Ladung zu der Berufungshauptverhandlung öffentlich zugestellt worden sei, obwohl er seine neue Anschrift in Spanien mitgeteilt habe. Aufgrund dessen habe er zu spät von dem Termin der mündlichen Verhandlung erfahren und seine Berufung sei verworfen worden, nachdem er nicht erschienen sei. Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. […]

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

[…]

c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; […]“

28. Die Regierung hielt an ihrer einseitigen Erklärung vom 8. Juli 2016 fest und erkannte an, dass der Beschwerdeführer in seinem Recht auf Zugang zu einem Gericht aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention und/oder in seinem Recht auf Verteidigung aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention verletzt worden sei, da die öffentliche Zustellung unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht ausgereicht habe, um dem Beschwerdeführer eine Teilnahme an der Hauptverhandlung vor dem Landgericht zu ermöglichen (siehe Rdnr. 16).

A. Zulässigkeit

29. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

30. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Erfordernisse nach Artikel 6 Abs. 3 als Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 anzusehen sind. Rügen im Hinblick auf diese Rechte prüft der Gerichtshof daher zusammengefasst nach beiden Bestimmungen (siehe N. ./.Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 30804/07, Rdnr. 45, 8. November 2012). Er weist auch erneut darauf hin, dass sich aus dem Ziel und Zweck von Artikel 6 der Konvention als Ganzem ergibt, dass eine Person, die einer Straftat angeklagt ist, zur Teilnahme an der Verhandlung berechtigt ist (siehe Sejdovic ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 56581/00, Rdnr. 81, ECHR 2006–II).

31. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer verpflichtet war, zu der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht zu erscheinen (siehe Rdnr. 8), und dass seine Berufung ohne Verhandlung zur Sache verworfen wurde, weil er nicht zu der Verhandlung erschienen war (siehe Rdnr. 11). Die innerstaatlichen Gerichte waren der Auffassung, dass er ordnungsgemäß zu der Verhandlung geladen worden sei, da das innerstaatliche Recht die öffentliche Zustellung der Ladung in seinem Fall erlaubt habe (siehe Rdnrn. 11-14).

32. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Anschrift des Beschwerdeführers in Spanien dem Landgericht bekannt war, da der vom 24. April 2009 datierende Beschluss dieses Gerichts an diese Anschrift zugestellt wurde (siehe Rdnr. 8). Es gab keine vergeblichen Zustellungsversuche an den Beschwerdeführer (vgl. und im Gegensatz dazu W. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 30203/03, 2. Oktober 2007, bei dem es um Zivilverfahren ging). Obwohl die Terminierung der Berufungshauptverhandlung am selben Tag erfolgte, wurde die Ladung weder an die Anschrift in Spanien zugestellt, noch wurde der Beschwerdeführer anderweitig darüber unterrichtet, dass er im Wege der öffentlichen Zustellung geladen worden war (siehe Rdnr. 9), obwohl Artikel 5 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 29. Mai 2000 vorsieht, dass Verfahrensurkunden durch die Post an den Beschwerdeführer zu senden sind (siehe Rdnr. 20). Darüber hinaus war der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Ladungszustellung nicht von einem Verteidiger vertreten, da dessen Zulassung von dem Landgericht zurückgenommen worden war (siehe Rdnr. 8). Der Verteidiger erfuhr daher erst am Tag vor dem anberaumten Termin von dem Verhandlungstermin und sein Aussetzungsantrag wurde zurückgewiesen (siehe Rdnrn. 10-11).

33. Die obigen Überlegungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass die öffentliche Zustellung der Ladung vor das Landgericht unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht ausreichte, um dem Beschwerdeführer eine Teilnahme an der Berufungshauptverhandlung vor diesem Gericht zu ermöglichen. Folglich sind die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention verletzt worden.

III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABSÄTZE 1 UND 3 BUCHSTABEN B UND C DER KONVENTION

34. Der Beschwerdeführer machte eine Verletzung seiner Rechte aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. b und c der Konvention geltend, weil die Verhandlung vor dem Landgericht trotz des Antrags seines Verteidigers, dessen Zulassung zurückgenommen und dann erst einen Tag vor der Verhandlung wieder übertragen worden sei und der nicht ordnungsgemäß geladen worden sei, verhindert gewesen sei und keine Gelegenheit gehabt habe, Einsicht in die Gerichtsakte zu nehmen, nicht verlegt worden sei. Seinem Verteidiger sei demnach nicht hinreichend Gelegenheit gegeben worden, zur Vorbereitung der Verteidigung des Beschwerdeführers Einsicht in die Gerichtsakte zu nehmen und an der Berufungshauptverhandlung teilzunehmen. Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. b und c der Konvention lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass […] über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. […]

(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:

[…]

b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;

c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; […]“

35. Die Regierung hielt an ihrer einseitigen Erklärung vom 8. Juli 2016 fest und erkannte an, dass der Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b und c der Konvention verletzt worden sei, da ihm nicht genügend Zeit oder Gelegenheit eingeräumt worden sei, sich auf die Verhandlung vor dem Landgericht vorzubereiten, und da seinem Verteidiger nicht hinreichend Gelegenheit gegeben worden sei, an der Berufungshauptverhandlung teilzunehmen (siehe Rdnr. 16).

A. Zulässigkeit

36. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

37. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass das in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. b der Konvention garantierte Recht jeder einer Straftat angeklagten Person auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung und ihr in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention garantiertes Recht auf wirksame Verteidigung Aspekte des Grundsatzes des fairen Verfahrens sind (siehe Tsonyo Tsonev ./. Bulgarien (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 2376/03, Rdnr. 34, 14. Januar 2010, m. w. N.). Da die Erfordernisse nach Artikel 6 als Teilaspekte des Rechts auf ein faires Verfahren nach Absatz 1 anzusehen sind, prüft der Gerichtshof Rügen im Hinblick auf diese Rechte zusammengefasst nach beiden Bestimmungen.

38. In der vorliegenden Rechtssache erfuhr der Verteidiger des Beschwerdeführers, dessen Zulassung zurückgenommen und dann erst einen Tag vor der Verhandlung wieder übertragen worden war, am Tag vor dem anberaumten Termin von dem Verhandlungstermin (siehe Rdnr. 10). Er hatte keine Abschrift der von der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufung und sie konnte ihm auch nicht an dem Tag zugesandt werden (siehe Rdnr. 10). Der Verteidiger des Beschwerdeführers beantragte eine Verlegung des Verhandlungstermins, da er am Tag der Verhandlung nicht in der Stadt sei (siehe Rdnr. 10). Der Antrag wurde zurückgewiesen (siehe Rdnr. 11). Angesichts dieses Antrags ist der Gerichtshof der Auffassung, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers nicht auf sein Recht verzichtet hat, in einer Art und Weise geladen zu werden, die es ihm erlaubt, die Verteidigung des Beschwerdeführers vorzubereiten und an der Verhandlung teilzunehmen (vgl. und im Gegensatz dazu Tsonyo Tsonev (Nr. 2), a. a. O., Rdnrn. 35-36).

39. Die vorstehenden Ausführungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass dem Verteidiger des Beschwerdeführers nicht hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, nach Anberaumung des Termins zur Vorbereitung der Verteidigung des Beschwerdeführers Einsicht in die Gerichtsakte zu nehmen und an der Berufungshauptverhandlung teilzunehmen. Dementsprechend ist Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. b und c der Konvention verletzt worden.

IV. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

40. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

41. Der Beschwerdeführer verlangte eine nicht näher bestimmte Summe für den materiellen Schaden, wobei er geltend machte, dass er mit dem Auto von Spanien nach Deutschland und zurück gereist sei, um sich persönlich bei dem Richter des Landgerichts zu beschweren, nachdem er von dessen Entscheidung erfahren habe. Da er über die bei dieser Reise entstanden Kosten keine Belege aufbewahrt habe, bat er den Gerichtshof um eine Schätzung. Er verlangte überdies 3.500 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden.

42. Die Regierung bestritt, dass der Beschwerdeführer tatsächlich von Spanien nach Deutschland gereist sei, und wies darauf hin, dass er diese Behauptung nicht hinreichend substantiiert habe. In jedem Fall bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Verletzungen und dem hinsichtlich des angeblichen materiellen Schadens geforderten Betrag. Der in Bezug auf den immateriellen Schaden verlangte Betrag sei unangemessen hoch und der Beschwerdeführer habe seine diesbezügliche Forderung nicht substantiiert. Er könne sich nicht auf den Makel einer strafrechtlichen Verurteilung berufen, da er zuvor bereits mehrfach wegen ähnlicher Straftaten verurteilt worden sei und es nicht unwahrscheinlich sei, dass das Landgericht das Urteil des Amtsgerichts auch dann bestätigt hätte, wenn die Konventionsrechte des Beschwerdeführers gewahrt worden wären. Sie brachte vor, dass der in ihrer einseitigen Erklärung angebotene Betrag in Höhe von 1.500 EUR eine angemessene Entschädigung für den immateriellen Schaden sowie die Kosten und Auslagen darstelle.

43. Der Gerichtshof kann keinen Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Verstößen und dem behaupteten, aber nicht nachgewiesenen materiellen Schaden erkennen und weist diese Forderung daher zurück.

44. Der Gerichtshof stellt fest, dass § 359 Nr. 6 StPO für Fälle, in denen der Gerichtshof in einem Urteil eine Verletzung festgestellt hat, die Wiederaufnahme des Strafverfahrens vorsieht (siehe Rdnr. 19). Er ist daher der Auffassung, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles die Feststellung einer Verletzung bereits eine hinreichende gerechte Entschädigung für jeglichen vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden darstellt.

B. Kosten und Auslagen

45. Der Beschwerdeführer verlangte ferner 10.438,15 EUR (einschl. Mehrwertsteuer) für die vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen, davon 638,50 EUR für Gerichtsgebühren und 9.799,65 EUR für die Rechtsvertretung, sowie 3.123,75 EUR (einschl. Mehrwertsteuer) für seine rechtliche Vertretung vor dem Gerichtshof. Er brachte vor, dass bei dem beabsichtigten Wiederaufnahmeverfahren weitere Kosten und Auslagen entstehen würden. Er legte Belege über Gerichtsgebühren für das innerstaatliche Verfahren in Höhe von insgesamt 638,50 EUR sowie über zwei Honorarvereinbarungen mit seinem Verteidiger bezüglich der jeweiligen Stundensätze für die Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten bzw. vor dem Gerichtshof vor.

46. Die Regierung brachte vor, dass es während des Berufungsverfahrens zu den festgestellten Konventionsverletzungen gekommen sei und dass kein Kausalzusammenhang zwischen den festgestellten Verletzungen und den Gerichtsgebühren vor dem erstinstanzlichen Gericht sowie den Kosten für die Berufung gegen das Urteil dieses Gerichts bestehe, welche sich auf 300 EUR beliefen. Sie bestritt, dass der Beschwerdeführer und sein Verteidiger die vom Beschwerdeführer vorgelegte Honorarvereinbarung vom 12. März 2009 hinsichtlich des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten tatsächlich geschlossen haben. In seinem Urteil vom 2. März 2009 habe das Amtsgericht dem Beschwerdeführer angesichts seiner wirtschaftlichen Lage erlaubt, seine Strafe in Raten abzubezahlen (siehe Rdnr. 6). Vor jenem Gericht hatte der Beschwerdeführer die Zulassung seines Verteidigers beantragt, obwohl dieser noch Student der Rechtswissenschaften sei, weil er nicht genügend Geld für einen Rechtsanwalt habe. Unter diesen Umständen erscheine es nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer einem Stundensatz in Höhe von 120 EUR zugestimmt habe. In jedem Fall sei ein solcher Stundensatz für die rechtliche Vertretung durch einen Studenten genau wie die behaupteten 68 Arbeitsstunden unangemessen hoch. Sie legte dar, dass die gesetzlich vorgesehene Vergütung hinsichtlich des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht 636,65 EUR und hinsichtlich des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht 490,28 EUR betragen hätte, und brachte vor, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers realistischerweise die Hälfte dieser Beträge hätte verlangen können, da er zu jener Zeit kein qualifizierter Rechtsanwalt, sondern noch Student der Rechtswissenschaften gewesen sei. Zwar sei Herr A. mittlerweile ein qualifizierter Rechtsanwalt, dennoch seien die im Hinblick auf das Verfahren vor dem Gerichtshof geltend gemachten Kosten und Auslagen unangemessen hoch. Sie brachte vor, dass die gesetzliche Vergütung 600,71 EUR betragen würde und dieser Betrag daher angemessen sei.

47. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, 2.500 EUR zur Deckung der unter allen Rubriken entstandenen Kosten zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.

C. Verzugszinsen

48. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ERKLÄRT DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Der Antrag der Regierung auf Streichung der Individualbeschwerde im Register wird abgelehnt;

2. die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

3. Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention ist verletzt worden, da die öffentliche Zustellung der Ladung nicht ausreichte, um dem Beschwerdeführer eine Teilnahme an der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht zu ermöglichen;

4. Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. b und c der Konvention ist verletzt worden, da dem Verteidiger des Beschwerdeführers nicht hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, die Verteidigung des Beschwerdeführers vorzubereiten und an der Berufungshauptverhandlung teilzunehmen;

5. die Feststellung einer Verletzung stellt bereits eine hinreichende gerechte Entschädigung für den vom Beschwerdeführer erlittenen immateriellen Schaden dar;

6. a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, 2.500 Euro (zweitausendfünfhundert Euro), zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuer, als Entschädigung für die Kosten und Auslagen zu zahlen;

b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

7. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 26. Juli 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                            Erik Møse
Kanzlerin                                           Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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