SAIDANI ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 17675/18

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 17675/18
S.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 4. September 2018 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger
und Lәtif Hüseynov
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 7. Mai 2018 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, S., ist tunesischer Staatsangehöriger. Vor dem Gerichtshof wurde er von Frau B., Rechtsanwältin in F., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

2. Der Sachverhalt, wie er von dem Beschwerdeführer vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

3. Der Beschwerdeführer reiste 2003 mit einem Studentenvisum nach Deutschland ein. Von 2005 bis 2009 war er mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet. 2010 wurde ihm unabhängig von der vorangegangenen Ehe eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Im April 2013 wurde er nach unbekannt abgemeldet, wobei die deutschen Behörden angaben, dass sie davon ausgingen, dass der Beschwerdeführer Deutschland verlassen habe. Im August 2015 reiste er erneut nach Deutschland ein.

1. Auslieferungsersuchen und strafrechtliche Vorwürfe in Deutschland

4. Am 3. Juni 2016 ersuchten die tunesischen Behörden um Auslieferung des Beschwerdeführers, da er im Verdacht stehe, Mitglied einer terroristischen Organisation zu sein, die terroristische Anschläge in Tunesien geplant und umgesetzt habe, unter anderem den Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis im März 2015 mit 24 Todesopfern und die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und Dschihadisten in der tunesisch-libyschen Grenzstadt Ben Guerdane. Am 15. August 2016 wurde der Beschwerdeführer festgenommen. Am 4. November 2016 ordnete das Oberlandesgericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft die Entlassung des Beschwerdeführers aus der Auslieferungshaft an, da die tunesischen Behörden nicht alle notwendigen Unterlagen für die Auslieferung vorgelegt hatten. Im April 2017 legten die tunesischen Behörden weitere Informationen vor, wonach sich der Beschwerdeführer 2013 in Syrien dem „Islamischen Staat“ angeschlossen habe.

5. Am 26. Januar 2017 erließ das Oberlandesgericht auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer, unter anderem wegen des Vorwurfs der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Am 1. Februar 2017 wurde er in Haft genommen. Am 17. August 2017 hob der Bundesgerichtshof den Haftbefehl wegen Mangels an Beweisen auf.

6. Über den Stand des Auslieferungsverfahrens oder des Strafverfahrens in Deutschland wurden dem Gerichtshof keine Informationen vorgelegt.

2. Erstes Ausweisungsverfahren und Asylverfahren

7. Am 9. März 2017 ordnete die Ausländerbehörde der Stadt F. die Ausweisung des Beschwerdeführers an, weil seine Niederlassungserlaubnis wegen seines Auslandsaufenthalts von 2013 bis 2015 erloschen sei. Die Behörde erklärte die Anordnung für sofort vollziehbar, da der Beschwerdeführer laut Informationen der Sicherheitsdienste Mitglied des „Islamischen Staats“ sei und terroristische Anschläge in Deutschland und Tunesien plane.

8. Am 22. März 2017 stellte der Beschwerdeführer einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zwei Tage später als offensichtlich unbegründet ablehnte.

9. Am 5. April 2017 lehnte das Verwaltungsgericht einen Antrag des Beschwerdeführers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Beschluss vom 9. März 2017 anzuordnen, mit der Maßgabe ab, dass die tunesischen Behörden vor seiner Abschiebung bestimmte diplomatische Zusicherungen abgeben.

10. Am 11. Juli 2017 übersandte das tunesische Außenministerium eine Verbalnote, der zufolge das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren geachtet werden würde, er im Einklang mit internationalen Menschenrechtsverpflichtungen behandelt und inhaftiert werden würde und in der Haftanstalt von seinen Rechtsanwälten und bestimmten Menschenrechtsorganisationen (der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter, der tunesischen Menschenrechtsliga, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte) besucht werden könne. Das Ministerium führte ferner aus, dass hinsichtlich der Vollstreckung der Todesstrafe ein Moratorium bestehe.

11. Am 26. Juli 2017 untersagte das Verwaltungsgericht die Abschiebung des Beschwerdeführers im Wege der einstweiligen Anordnung, da zweifelhaft sei, ob die am 11. Juli 2017 abgegebenen Zusicherungen die am 5. April 2017 festgelegten Bedingungen erfülle. Insbesondere seien keine Zusicherungen abgegeben worden, dass der Beschwerdeführer in Haft von deutschen konsularischen Vertretern besucht werden könne und dass nicht die Todesstrafe gegen ihn verhängt werden würde. Das derzeitige Moratorium im Hinblick auf Hinrichtungen könne auslaufen oder aufgehoben werden und stelle daher keinen hinreichenden Schutz dar.

3. Das in Rede stehende Verfahren

12. Am 1. August 2017 ordnete das zuständige Landesministerium des Innern und für Sport gemäß § 58a des Aufenthaltsgesetzes (siehe Rdnr. 28) die Abschiebung des Beschwerdeführers an, weil er wegen seiner Aktivitäten zugunsten des „Islamischen Staates“ als Gefährder (potenzieller Straftäter, der eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt) gelte. Diese Anordnung war sofort vollziehbar.

13. Am 19. September 2017 lehnte das Bundesverwaltungsgericht einen Antrag des Beschwerdeführers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen diese Anordnung mit der Maßgabe ab, dass die tunesischen Behörden weitere Zusicherungen dahingehend abgeben, dass im Falle der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe die Möglichkeit einer Überprüfung der Strafe mit Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer bestehe. Das Gericht prüfte umfangreiche Beweismittel hinsichtlich einer Beteiligung des Beschwerdeführers am „Islamischen Staat“, die von den Sicherheitsdiensten bereitgestellt worden waren, und kam zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit bestehe, dass er einen terroristischen Anschlag in Deutschland begehen werde, ohne einen konkreten Plan oder ein bestimmtes Ziel zu benennen. Angesichts der dem Beschwerdeführer in Tunesien vorgeworfenen Straftaten, der nicht eindeutigen Verlautbarungen der tunesischen Behörden, der unzureichenden Qualität der Übersetzungen tunesischer Dokumente und wegen mangelnder Erfahrungen hinsichtlich der Anwendung des neuen tunesischen Antiterrorismusgesetzes von 2015 sei zugunsten des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass eine tatsächliche Gefahr bestehe, dass in Tunesien die Todesstrafe gegen den Beschwerdeführer verhängt werde. Allerdings stehe die Todesstrafe der Abschiebung des Beschwerdeführers nicht entgegen, da keine tatsächliche Gefahr bestehe, dass diese Strafe vollstreckt werde. So bestehe seit Jahren ein Moratorium im Hinblick auf die Vollstreckung der Todesstrafe und das tunesische Außenministerium habe in seiner Verbalnote vom 11. Juli 2017 entsprechende Zusicherungen abgegeben. In der Praxis würde die Todesstrafe de facto einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommen. Eine solche sei nur dann mit Artikel 3 der Konvention zu vereinbaren, wenn eine Möglichkeit der Überprüfung der Strafe mit Aussicht auf Umwandlung oder Herabsetzung der Haftdauer gegeben sei. Aus diesem Grund sei die Abschiebung des Beschwerdeführers von der Bedingung entsprechender diplomatischer Zusicherungen abhängig zu machen.

14. Am 21. Dezember 2017 teilte der tunesische Generalstaatsanwalt in einer Verbalnote mit, dass der (frühere) Präsident 2012 122 Personen begnadigt habe, wobei die Todesstrafen in lebenslange Haftstrafen umgewandelt worden seien, und dass der Beschwerdeführer im Falle einer derartigen Verurteilung in den Genuss einer präsidialen Begnadigung kommen könne.

15. Das Bundesverwaltungsgericht holte anschließend drei Mal weitere Auskünfte beim deutschen Auswärtigen Amt ein.

16. Das Auswärtige Amt übermittelte eine schriftliche Stellungnahme des tunesischen Justizministeriums, die ausdrücklich besagte, dass auch Personen, die auf Grundlage des Antiterrorismusgesetzes verurteilt worden seien, gemäß Artikel 4 dieses Gesetzes (das die Anwendbarkeit u. a. des tunesischen Strafgesetzbuchs und Strafprozessrechts auf Taten im Anwendungsbereich des Antiterrorismusgesetzes regele) in Verbindung mit den entsprechenden Bestimmungen der tunesischen Strafprozessordnung (Artikel 353 f.) nach Verbüßung von 15 Jahren in Haft einen Antrag auf Strafrestaussetzung stellen könnten. Nach Artikel 371 f. der tunesischen Strafprozessordnung bestehe auch die Möglichkeit einer Begnadigung durch den Präsidenten von Tunesien. Es sei nicht möglich, vorherzusagen, wie in ferner Zukunft über ein Begnadigungsersuchen entschieden werden würde. Der Wegfall des Gefühls einer terroristischen Bedrohung in der Zukunft könne dazu beitragen, dass diese Maßnahme eher in Erwägung gezogen werde. Unter den 122 begnadigten Personen im Jahr 2012 hätten sich auch terroristische Straftäter befunden. In derselben Stellungnahme führte das tunesische Justizministerium zu den strafrechtlichen Vorwürfen gegen den Beschwerdeführer in Tunesien aus, welche die Planung und Organisation des terroristischen Anschlags auf das Bardo-Museum und den Versuch der Eroberung der Stadt Ben Guerdane als Mitglied des „Islamischen Staats“ sowie die Planung terroristischer Anschläge auf zwei spezielle Militäreinrichtungen in Tunesien umfassten. Angesichts der Schlussfolgerungen, zu denen der Ermittlungsrichter in Tunis gelangt sei, sei es möglich, dass die Todesstrafe gegen den Beschwerdeführer verhängt werden würde.

17. Das deutsche Auswärtige Amt fügte hinzu, dass Artikel 353 f. der tunesischen Strafprozessordnung nur auf Personen unmittelbar anwendbar sei, gegen die eine Freiheitsstrafe verhängt worden sei. Dennoch könne der Beschwerdeführer von diesen Bestimmungen profitieren, da aufgrund des seit 1991 geltenden Moratoriums jede Todesstrafe früher oder später im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werde. Nach einer solchen Umwandlung seien die Vorschriften zur Strafrestaussetzung anwendbar. Das in Artikel 371 f. der tunesischen Strafprozessordnung geregelte Begnadigungsrecht des Präsidenten (das auch für Verurteilungen nach dem Antiterrorismusgesetz gelte) umfasse nicht nur die Umwandlung einer Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe, sondern auch die Gewährung einer Strafrestaussetzung. In der Praxis werde regelmäßig von diesem Recht Gebrauch gemacht.

18. Am 26. März 2018 änderte das Bundesverwaltungsgericht seinen Beschluss vom 19. September 2017 und lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner anhängigen Klage ohne Auferlegung einer Maßgabe ab. Es stellte fest, dass die tunesischen Behörden Informationen zu den verschiedenen Vorwürfen gegen den Beschwerdeführer vorgelegt hätten, und vertrat die Auffassung, dass eine tatsächliche Gefahr bestehe, dass die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe gegen ihn verhängt werden würde. Allerdings bestehe angesichts des Moratoriums und der Zusicherungen vom 11. Juli 2017 (siehe Rdnr. 10) keine tatsächliche Gefahr einer Hinrichtung des Beschwerdeführers. In der Praxis würde die Todesstrafe einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommen und dem Beschwerdeführer wäre die Möglichkeit gegeben, seine (lebenslange) Freiheitsstrafe gemäß objektiver und vorher bestimmter Kriterien, die ihm zum Zeitpunkt der Verhängung der Strafe bekannt wären, mit Aussicht auf Strafrestaussetzung überprüfen zu lassen.

19. Die Vorschriften der Strafprozessordnung zur Strafrestaussetzung, welche die Strafrestaussetzung vorsähen, wenn ein Gefangener durch sein Verhalten in Haft zeige, dass er sich geändert habe, oder wenn seine Entlassung im Interesse der Allgemeinheit sei, entsprächen den vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Artikel 3 der Konvention aufgestellten Grundsätzen und seien auch bei Verurteilungen nach dem Antiterrorismusgesetz anwendbar. Obgleich diese Vorschriften nicht unmittelbar auf zum Tode verurteilte Personen anwendbar seien, werde jede Todesstrafe im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt, wodurch die Vorschriften zur Strafrestaussetzung anwendbar würden. Das in Art. 371 f. der tunesischen Strafprozessordnung geregelte Begnadigungsrecht des Präsidenten (das auch für Verurteilungen nach dem Antiterrorismusgesetz gelte) umfasse nicht nur die Umwandlung einer Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe, sondern auch die Gewährung der Strafrestaussetzung. In der Praxis werde regelmäßig von diesem Recht Gebrauch gemacht.

20. Es gebe keinen Grund dafür, die von den tunesischen Behörden vorgelegten Informationen, wonach sich unter den 122 begnadigten Personen im Jahr 2012 auch terroristische Straftäter befunden hätten, anzuzweifeln. Was die Stellungnahme des deutschen Auswärtigen Amtes von Januar 2017 angehe, wonach wegen terroristischer Straftaten verurteilte Personen nicht in den Genuss einer präsidialen Begnadigung kommen könnten, habe das Auswärtige Amt diese Position explizit geändert und erklärt, dass seine frühere Position auf politischen Äußerungen beruht habe, die für den Präsidenten rechtlich nicht bindend seien. Medienberichte (von denen einer den Beschwerdeführer namentlich genannt habe), in denen der Präsident von Tunesien mit den Worten zitiert werde, dass wegen terroristischer Straftaten verurteilen Personen keine Amnestie gewährt werden würde und dass er ein „Gesetz der Reue“ ablehne, schlössen die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer nach Verbüßung einer beträchtlichen Zeit in Haft individuell begnadigt werde, nicht aus. Im politischen Kontext erfolgte Äußerungen wie die des tunesischen Justizministers, wonach Tunesien im Zuge einer Reform des Begnadigungsrechts weiterhin an der Nichtbegnadigung von Terroristen festhalte, seien für den Präsidenten rechtlich nicht bindend. Daraus ergebe sich nicht, dass die Umwandlung einer Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe dauerhaft ausgeschlossen oder unsicher sei. Sollte die Todesstrafe gegen den Beschwerdeführer verhängt werden, habe er realistische Aussicht auf Entlassung.

21. Schließlich vertrat das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung, dass der Mechanismus für die Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit Aussicht auf eine mögliche Freilassung die von dem Gerichtshof nach Artikel 3 der Konvention festgelegten Kriterien erfülle, dass es sich nämlich um einen Überprüfungsmechanismus handle, der auf objektiven und vorher bestimmten Kriterien beruhe, die dem Gefangenen zum Zeitpunkt der Verhängung der Freiheitsstrafe bekannt seien. Da jede Todesstrafe früher oder später im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werde, wäre dem Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Verhängung der Todesstrafe bekannt, dass diese Strafe früher oder später in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werde. Die Vorschriften zur präsidialen Begnadigung besagten eindeutig, dass ein Gefangener jederzeit um Begnadigung ersuchen und der Präsident jederzeit eine Begnadigung aussprechen könne. Die Tatsache, dass zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilte Personen nach Verbüßung von fünfzehn Jahren ihrer Strafe eine Strafrestaussetzung beantragen könnten, zeige, dass das Begnadigungsrecht ausgeübt werde. Die Praxis der Begnadigung und Strafumwandlung, die über einen langen Zeitraum hinweg entstanden sei, biete diesbezüglich eine hinreichende Garantie und es gebe keine Hinweise darauf, dass sich an dieser Praxis etwas ändern werde. Sobald die Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt sei, unterliege die Möglichkeit einer anschließenden Strafrestaussetzung nicht nur den Bestimmungen zur Begnadigung (Artikel 371 ff. der tunesischen Strafprozessordnung), sondern auch den entsprechenden Bestimmungen der Strafprozessordnung (Artikel 353 f.), die objektive und vorher bestimmte Kriterien darstellten.

22. Der Tenor dieses Beschlusses wurde der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers am Morgen des 27. März 2018 per Fax übermittelt. Am selben Tag um 13:00 Uhr wurde der Beschwerdeführer, noch bevor die Gründe des Beschlusses zugestellt worden waren, zum Zweck seiner Abschiebung zum Flughafen gebracht. Die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung und erhob Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, das am selben Tag die Abschiebung des Beschwerdeführers bis zur Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung untersagte.

23. Am 3. April 2018 legte die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers die Begründung für die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vor, wobei sie geltend machte, dass es in Tunesien keinen Mechanismus für die Überprüfung der de facto lebenslangen Freiheitsstrafe gebe, die dem Beschwerdeführer angesichts der Nichtvollstreckung der Todesstrafe drohe. Es gebe keine Möglichkeit einer Herabsetzung der Strafe auf Grundlage objektiver und vorher bestimmter Kriterien, die dem Gefangenen zum Zeitpunkt der Verhängung der Strafe bekannt seien. Die Todesstrafe könne nicht umgewandelt werden und die Bestimmungen der tunesischen Strafprozessordnung zur Strafrestaussetzung seien nicht anwendbar. Für Letztere bedürfe es einer präsidialen Begnadigung als Voraussetzung für eine Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe. Angesichts der eindeutigen öffentlichen Äußerungen des Präsidenten und hochrangiger Regierungsbeamter, dass es keine Amnestie für wegen terroristischer Handlungen verurteilte Tunesier geben werde, sei offensichtlich, dass der Beschwerdeführer nicht in den Genuss einer solchen Begnadigung kommen würde. Die Möglichkeit einer präsidialen Begnadigung sei in seinem Fall rein theoretischer Natur. Darüber hinaus sei die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts willkürlich gewesen, da sie auf die Information des deutschen Auswärtigen Amtes gestützt worden sei, dass jede Todesstrafe im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werde. Angesichts der anderslautenden öffentlichen Äußerungen des tunesischen Präsidenten und hochrangiger Regierungsbeamter sowie eines früheren Berichts des deutschen Auswärtigen Amtes wäre es notwendig, die Sache weiter zu untersuchen oder diesbezüglich diplomatische Zusicherungen von den tunesischen Behörden zu verlangen.

24. Mit Beschluss vom 4. Mai 2018, der den Parteien am 7. Mai 2018 zugestellt wurde, lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 632/18). Es führte zunächst aus, dass das Bundesverwaltungsgericht den Sachverhalt umfassend aufgeklärt habe, insbesondere im Hinblick auf die Konsequenzen der Verhängung der Todesstrafe in Tunesien. Der Umstand, dass weder die tunesischen Behörden noch das deutsche Auswärtige Amt konkrete und detaillierte Angaben zur Begnadigungspraxis im Falle von nach dem Antiterrorismusgesetz zum Tode verurteilten Personen gemacht hätten, sei nicht dem Bundesverwaltungsgericht zuzurechnen. Vielmehr sei eine volle Aufklärung dieser Frage unmöglich gewesen, da das Antiterrorismusgesetz erst 2015 in Kraft getreten sei und es für eine etablierte Praxis zu Begnadigungen oder Strafrestaussetzungen noch zu früh sei. Das Bundesverfassungsgericht vertrat die Auffassung, dass die politischen Äußerungen des tunesischen Präsidenten und seines Staatssekretärs, dass diese eine „Amnestie“ für Terroristen ablehnten, dahingehend zu verstehen seien, dass sie sich auf eine allgemeine Praxis des Straferlasses für wegen terroristischer Straftaten verurteilte Personen bezögen. Sie enthielten keine Hinweise auf Begnadigungen im Einzelfall, bei denen es sich um Ermessensentscheidungen handle. Das deutsche Auswärtige Amt habe hinreichende Gründe dafür vorgebracht, dass es seine Position hinsichtlich der Möglichkeit der Begnadigung terroristischer Straftäter geändert habe. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich daher auf die geänderte Position berufen können.

25. Angesichts des hinsichtlich der Vollstreckung der Todesstrafe bestehenden Moratoriums, das seit 1991 ununterbrochen beachtet worden sei und im Hinblick auf welches diplomatische Zusicherungen der tunesischen Behörden eingegangen seien, schloss sich das Bundesverfassungsgericht der Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts an, dass der Beschwerdeführer nicht hingerichtet werden würde. Zwar bestehe eine tatsächliche Gefahr, dass in Tunesien die Todesstrafe gegen den Beschwerdeführer verhängt werden würde, seine Abschiebung würde Artikel 2 der Konvention aber nicht verletzen. Genauso wenig würde sie einen Verstoß gegen Artikel 3 der Konvention oder Artikel 1 des Zusatzprotokolls Nr. 13 zur Konvention darstellen, da der Beschwerdeführer keine begründete Befürchtung einer Hinrichtung hätte.

26. Ebenso wenig würde die lebenslange Freiheitsstrafe, die dem Beschwerdeführer angesichts der Nicht-Vollstreckung der Todesstrafe drohe, Artikel 3 der Konvention verletzen. Das Bundesverwaltungsgericht habe seinen Wertungsspielraum nicht überschritten, als es davon ausgegangen sei, dass die Strafe, die dem Beschwerdeführer in Tunesien drohe, sowohl de jure als auch de facto reduzierbar sei und dass er nach Verbüßung einer gewissen Zeit in Haft realistische Aussicht auf Entlassung habe. Übereinstimmenden Berichten zufolge bedürfe es eines zweistufigen Verfahrens, um nach einer Verurteilung zum Tode aus der Haft entlassen zu werden. Zunächst müsse die Todesstrafe im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werden, was nicht auf bestimmte Gründe oder Umstände begrenzt sei. Laut Information des deutschen Auswärtigen Amtes werde jede Todesstrafe in Tunesien im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Anschließend könne die lebenslange Freiheitsstrafe entweder durch ein Verfahren zur Strafrestaussetzung (Artikel 353 und 354 der tunesischen Strafprozessordnung) oder durch eine weitere präsidiale Begnadigung (Artikel 371 und 372 der tunesischen Strafprozessordnung) herabgesetzt werden, wobei Strafrestaussetzungen auf Grundlage präsidialer Begnadigungen in der Praxis häufiger seien. Beide Instrumente stellten gleichwertige Möglichkeiten für die Herabsetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe dar und kämen zum Tragen, nachdem die Person mindestens fünfzehn Jahre ihrer Freiheitsstrafe verbüßt habe. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass die bestehenden Möglichkeiten der Umwandlung einer Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe und der anschließenden Herabsetzung dieser Strafe nicht für Personen gelten würden, die auf Grundlage des Antiterrorismusgesetzes verurteilt worden seien, da die Strafprozessordnung auf Verurteilungen auf Grundlage dieses Gesetzes anwendbar sei. Auch wenn der Zeitpunkt, zu dem der tunesische Präsident eine zum Tode verurteilte Person begnadigen würde, nach diesem Gesetz nicht vorhersehbar sei, gebe es keine Anzeichen dafür, dass der Präsident die bestehende Praxis der Begnadigung von wegen terroristischer Straftaten verurteilten Personen ändern würde; 2012 seien derartige Begnadigungen ausgesprochen worden. Sollte in Tunesien die Todesstrafe gegen den Beschwerdeführer verhängt werden, wären ihm die Bedingungen, unter denen diese Strafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werden würde und unter denen eine Strafrestaussetzung in Frage käme, zum Zeitpunkt der Verhängung dieser Strafe bekannt.

4. Antrag auf Erlass einer vorläufigen Maßnahme durch den Gerichtshof

27. Am 7. Mai 2018 hat der Gerichtshof (der Dienst habende Richter) einen Antrag des Beschwerdeführers nach Artikel 39 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs auf Aussetzung seiner Abschiebung nach Tunesien für die Dauer des Verfahrens vor dem Gerichtshof abgelehnt.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht

28. Die Abschiebung eines sogenannten Gefährders ist in § 58a des Aufenthaltsgesetzes (Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – AufenthG) geregelt. Dieser lautet wie folgt:

„(1) Die oberste Landesbehörde kann gegen einen Ausländer auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Die Abschiebungsanordnung ist sofort vollziehbar; einer Abschiebungsandrohung bedarf es nicht.

[…]“

C. Einschlägige Landesinformationen über Tunesien

29. In dem Bericht der für das Allgemeine Periodische Überprüfungsverfahren für Tunesien zuständigen Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen vom 11. Juli 2017 (A/HRC/36/5) heißt es wie folgt:

„80. […] Die Anzahl der Fälle, in denen die Todesstrafe verhängt wurde, belief sich aktuell auf 26, wobei in 35 weiteren Fällen noch Rechtsmittelverfahren anhängig sind. Tunesien hatte die Todesstrafe jedoch seit 1991 nicht vollstreckt […]“

RÜGE

30. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine Abschiebung nach Tunesien gegen Artikel 2 und 3 der Konvention und Artikel 1 des Zusatzprotokolls Nr. 13 verstoßen würde. Aus dem Vortrag der tunesischen Behörden und der Beurteilung durch die deutschen Behörden gehe hervor, dass in Tunesien die Todesstrafe gegen ihn verhängt werden würde. Das aktuelle Moratorium bezüglich der Vollstreckung dieser Strafe könne auslaufen oder aufgehoben werden. Unter derartigen Umständen inhaftiert zu sein, würde intensives psychisches Leiden hervorrufen. Darüber hinaus würde die Todesstrafe, sofern er nicht hingerichtet werden sollte, de facto einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommen. Es gebe keinen hinreichenden Mechanismus für die Überprüfung und potentielle Herabsetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe von Personen, gegen die ursprünglich die Todesstrafe verhängt worden sei. Angesichts der ihm zur Last gelegten Straftaten werde er nicht in den Genuss einer Begnadigung durch den Präsidenten von Tunesien kommen, was de jure eine Voraussetzung für die Umwandlung einer Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe und für die Möglichkeit einer anschließenden Überprüfung und Herabsetzung dieser lebenslangen Freiheitsstrafe sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

31. Artikel 2 und 3 der Konvention und auf Artikel 1 des Zusatzprotokolls Nr. 13 lauten wie folgt:

Artikel 2

„(1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist. […]“

Artikel 3

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

Artikel 1 des Zusatzprotokolls Nr. 13

„Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden.“

32. Der Gerichtshof stellt fest, dass Tunesien wegen Vorwürfen mit Bezug auf terroristische Straftaten in Tunesien um Auslieferung des Beschwerdeführers ersucht hat. Die Zurückschiebung im vorliegenden Fall basierte jedoch auf der Entscheidung der deutschen Behörden, die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Tunesien anzuordnen, weil sie ihn für einen Gefährder hielten (siehe auch X ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 54646/17, 7. November 2017), und das der Individualbeschwerde vorausgehende Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten betraf ebendiese Entscheidung. In Tunesien wird der Beschwerdeführer weiterhin wegen der Vorwürfe, wegen derer die tunesischen Behörden bereits um seine Auslieferung aus Deutschland ersucht hatten (siehe Rdnrn. 4 und 16), strafrechtlich verfolgt. In diesem Szenario besteht kaum ein Unterschied zwischen einer Auslieferung und einer Abschiebung und es muss erneut hervorgehoben werden, dass die Beurteilung der Frage, ob eine Verpflichtung nach der Konvention besteht, eine Person nicht an einen anderen Staat auszuliefern oder dorthin abzuschieben, nicht von der rechtlichen Grundlage dieser Maßnahme abhängt (siehe Babar Ahmad u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerden Nr. 24027/07 und 4 weitere, Rdnrn. 168 und 176, 10 April 2012, und Trabelsi ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 140/10, Rdnr. 116, ECHR 2014 (Auszüge)). Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 2 der Konvention und Artikel 1 des Zusatzprotokolls Nr. 13 die Auslieferung einer Person an oder die Abschiebung einer Person in einen anderen Staat verbieten, wenn gewichtige Gründe für die Annahme dargelegt wurden, dass diese Person dort tatsächlich Gefahr laufen würde, der Todesstrafe ausgesetzt zu werden; Artikel 3 der Konvention enthält ein entsprechendes Verbot im Hinblick auf die tatsächliche Gefahr einer Artikel 3 zuwiderlaufenden Behandlung (siehe Al-Saadoon und Mufdhi ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 61498/08, Rdnr. 123, ECHR 2010, m. w. N.; siehe auch Othman (Abu Qatada) ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 8139/09, Rdnrn. 183-189, ECHR 2012 (Auszüge) im Hinblick auf die Abschiebung von Personen, die als Gefahr für die nationale Sicherheit gelten).

33. Der Gerichtshof stellt fest, dass die dem Beschwerdeführer in Tunesien zur Last gelegten Straftaten mit der Todesstrafe belegt sind und die tunesischen Behörden selbst bestätigt haben, dass tatsächlich die Gefahr bestehe, dass diese Strafe gegen ihn verhängt werden würde (siehe Rdnr. 16). Es ist jedoch unstreitig, dass hinsichtlich der Vollstreckung der Todesstrafe in Tunesien ein Moratorium besteht, das seit 1991 ununterbrochen beachtet wurde, und dass die tunesischen Behörden im Fall des Beschwerdeführers diesbezüglich diplomatische Zusicherungen abgegeben haben. Vor diesem Hintergrund und in Abgrenzung zum Fall Al‑Saadoon und Mufdhi (a. a. O., Rdnrn. 137 und 144) sieht der Gerichtshof im vorliegenden Fall keine Veranlassung, von der Beurteilung durch die innerstaatlichen Gerichte abzuweichen, der zufolge für den Beschwerdeführer in Tunesien keine tatsächliche Gefahr einer Hinrichtung bestehe und er nicht behaupten könne, eine begründete Befürchtung einer Hinrichtung zu haben, welche intensives psychisches Leiden zur Folge hätte (siehe Rdnrn. 13, 18 und 25). Die mögliche Verhängung der Todesstrafe in Tunesien hat daher für sich genommen kein Verbot der Abschiebung des Beschwerdeführers zur Folge, und zwar weder nach Artikel 2 der Konvention und Artikel 1 des Zusatzprotokolls Nr. 13 noch nach Artikel 3 der Konvention.

34. Der Gerichtshof schließt sich der Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte an, dass die Todesstrafe, sollte diese in Tunesien gegen den Beschwerdeführer verhängt werden, de facto einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommen würde (siehe Rdnrn. 13, 18 und 26). Die einschlägigen allgemeinen Grundsätze bezüglich der Voraussetzungen, unter denen die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe gegen einen erwachsenen Straftäter mit Artikel 3 der Konvention vereinbar ist, wurden jüngst in der Rechtssache Murray ./. Niederlande ([GK], Individualbeschwerde Nr. 10511/10, Rdnrn. 99-104, ECHR 2016; im Hinblick auf die Bedeutung dieser Grundsätze im Zusammenhang mit Auslieferungen oder Abschiebungen an/in einen Staat, der kein Vertragsstaat der Konvention ist, siehe Trabelsi, a. a. O., Rdnr. 119) zusammengefasst.

35. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Bundesverwaltungsgericht wiederholt um Informationen und Zusicherungen ersucht hat, unter anderem zu der Möglichkeit der Überprüfung einer solchen de facto lebenslangen Freiheitsstrafe und deren Herabsetzung de facto und de jure (siehe Rdnrn. 13 und 15). Auf der Grundlage der erhaltenen Informationen hat das Gericht detailliert begründet, warum es die Strafe, die der Beschwerdeführer in Tunesien zu erwarten hatte, sowohl de jure als auch de facto für reduzierbar hielt, und warum er realistische Aussicht auf Entlassung nach Verbüßung einer gewissen Dauer in Haft habe (siehe Rdnrn. 18-21). Diese Feststellungen hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt, wobei es seinen diesbezüglichen Beschluss umfassend begründet hat (siehe Rdnrn. 24 und 26).

36. Der Gerichtshof sieht keine Veranlassung, von den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich der Reduzierbarkeit de jure einer nach dem tunesischen Antiterrorismusgesetz verhängten Todesstrafe, die dem Beschwerdeführer drohe, abzuweichen. Das Gesetz sah die Anwendbarkeit der tunesischen Strafprozessordnung explizit vor und die tunesischen Behörden haben dies in diplomatischen Zusicherungen bestätigt (siehe Rdnrn. 16, 17, 19 und 26). Demnach bedarf es für eine Entlassung des Beschwerdeführers aus der Haft zweier Schritte. Zunächst muss die Todesstrafe im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werden, was für sich genommen keine Fragen nach Artikel 3 aufwirft, da eine solche Umwandlung nicht an Voraussetzungen wie Krankheit, körperliches Unvermögen oder hohes Alter geknüpft ist (siehe Murray, a. a. O., Rdnrn. 99-100, m. w. N.). Anschließend könnte die lebenslange Freiheitsstrafe entweder durch das in der tunesischen Strafprozessordnung vorgesehene Strafrestaussetzungsverfahren oder durch eine weitere präsidiale Begnadigung reduziert werden, wobei beide Instrumente gleichwertige Möglichkeiten für die Herabsetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe darstellen (siehe Rdnrn. 19, 21 und 26).

37. Im Hinblick auf die de facto-Reduzierbarkeit hat das deutsche Auswärtige Amt auf die konkrete Anfrage des Bundesverwaltungsgerichts hin mitgeteilt, dass jede Todesstrafe in Tunesien früher oder später im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werde (siehe Rdnr. 17). Unter anderem unter Berücksichtigung der Gründe, die das Auswärtige Amt im Hinblick auf die Änderung seines früheren Standpunkts angeführt hat (siehe Rdnrn. 20 und 24), stellt der Gerichtshof fest, dass es keine internationalen oder anderweitigen Berichte gibt, die das Gegenteil nahelegen würden. Insoweit als der Beschwerdeführer geltend gemacht hat, dass er angesichts der Art der ihm zur Last gelegten Straftaten und der öffentlichen Stellungnahmen des Präsidenten und hochrangiger Regierungsbeamter nicht in den Genuss einer Begnadigung kommen würde, waren die innerstaatlichen Gerichte der Auffassung, dass es sich bei diesen Stellungnahmen um politische Äußerungen handle, die für den Präsidenten rechtlich nicht bindend seien (siehe Rdnrn. 20 und 24). Darüber hinaus bezögen sich diese Äußerungen auf eine allgemeine Praxis des Straferlasses für wegen terroristischer Straftaten verurteilte Personen und enthielten keine Hinweise hinsichtlich der Begnadigung im Einzelfall, bei der es sich um eine Ermessensentscheidung handle (siehe Rdnrn. 20 und 24). Die innerstaatlichen Gerichte vertraten die Auffassung, dass wegen terroristischer Straftaten verurteilte Personen bereits in der Vergangenheit begnadigt worden seien, dass es noch keine Erfahrungswerte im Hinblick auf Personen gebe, die auf Grundlage des Antiterrorismusgesetzes verurteilt worden seien, da seit dessen Verabschiedung noch nicht genügend Zeit vergangen sei, und dass es keine Anzeichen dafür gebe, dass die Praxis der präsidialen Begnadigung geändert werden würde oder auf Personen, die auf Grundlage des Antiterrorismusgesetzes verurteilt worden seien, keine Anwendung finden würde (siehe Rdnrn. 19, 20, 24 und 26). Der Gerichtshof sieht keinen Anlass, von den diesbezüglichen Feststellungen und der entsprechenden Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte abzuweichen.

38. Schließlich schließt sich der Gerichtshof den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts an, wonach der Mechanismus für die Überprüfung einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit Aussicht auf eine mögliche Freilassung die von dem Gerichtshof nach Artikel 3 der Konvention festgelegten Kriterien erfülle (siehe Rdnrn. 18, 21 und 26; siehe auch Murray, a. a. O., Rdnr. 100, m. w. N.). Sollte die Todesstrafe gegen den Beschwerdeführer verhängt werden, wird es zum Zeitpunkt der Verhängung dieser Strafe hinreichend vorhersehbar für ihn sein, dass diese Strafe früher oder später in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werden wird, da jede Todesstrafe in Tunesien früher oder später im Wege der präsidialen Begnadigung in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wird (siehe Rdnrn. 21 und 26). Die Vorschriften zur präsidialen Begnadigung besagen eindeutig, dass ein Gefangener jederzeit um Begnadigung ersuchen und der Präsident jederzeit eine Begnadigung aussprechen kann (siehe Rdnr. 21; sinngemäß siehe auch Hutchinson ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 57592/08, Rdnrn. 44 und 69, ECHR 2017). Sobald die Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt ist, unterliegt die Möglichkeit einer anschließenden Strafrestaussetzung nicht nur den Bestimmungen zur Begnadigung (Artikel 371 ff. der tunesischen Strafprozessordnung), sondern auch den entsprechenden Bestimmungen der Strafprozessordnung (Artikel 353 f.), die objektive und vorher bestimmte Kriterien darstellen (siehe Rdnrn. 21 und 26).

39. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass zwar die tatsächliche Gefahr besteht, dass in Tunesien die Todesstrafe gegen den Beschwerdeführer verhängt werden wird, jedoch keine tatsächliche Gefahr besteht, dass diese Strafe, die de facto einer lebenslangen Freiheitsstrafe gleichkommen würde, in einer Art und Weise verhängt werden würde, die mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 3 der Konvention aufgestellten Anforderungen unvereinbar wäre.

40. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 27. September 2018.

Milan Blaško                                                      Yonko Grozev
Stellvertretender Sektionskanzler                        Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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