Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE A. ./. DEUTSCHLAND (Nr. 4)
(Individualbeschwerde Nr. 9765/10)
URTEIL
STRASSBURG
20. September 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache A. ./. Deutschland (Nr. 4)
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 28. August 2018
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 9765/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, A. („der Beschwerdeführer“), am 8. Februar 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn E., Rechtsanwalt in P., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer behauptete, eine Unterlassungsanordnung, mit der ihm untersagt wurde, Passanten in unmittelbarer Nähe einer Arztpraxis anzusprechen und die von dem betreffenden Arzt vorgenommenen Abtreibungen als rechtswidrig zu bezeichnen, habe ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt.
4. Am 3. Januar 2017 wurde die Artikel 10 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in W. Er ist ein Abtreibungsgegner und betreibt eine Anti-Abtreibungs-Website.
6. Am 12. und 13. April 2005 verteilte der Beschwerdeführer Flugblätter in der Nähe der Arztpraxis von Dr. Y., in der dieser Abtreibungen vornahm. Auf den Flugblättern hieß es u. a., dass die Abtreibungen, die Dr. Y. in seiner Praxis – deren Anschrift der Beschwerdeführer nannte – vornehme, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig seien. Zusätzlich enthielt das Flugblatt folgende Äußerungen:
„Sinngemӓβ aus den internationalen Strafgesetzen: Mord ist das vorsӓtzliche “Zu-Tode-Bringen” eines unschuldigen Menschen!„“
„Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt.“
7. Der Beschwerdeführer sprach auch Passanten und mutmaßliche Patientinnen des Arztes an und versuchte, sie in Gespräche über Abtreibungen zu verwickeln.
8. Dr. Y. stellte einen Antrag auf Erlass einer Unterlassungsanordnung gegen den Beschwerdeführer, dem das Landgericht am 25. Oktober 2005 stattgab. Es verurteilte den Beschwerdeführer, es zu unterlassen, Passanten in unmittelbarer Nähe der Arztpraxis in Gespräche zu verwickeln und die vom Kläger durchgeführten Abtreibungen als rechtswidrig zu bezeichnen, um so Patientinnen zu irritieren und sie von dem Besuch der Praxis von Dr. Y. abzuhalten.
9. Am 24. Februar 2007 bestätigte das Oberlandesgericht die Entscheidung und änderte den Teil des Wortlauts geringfügig ab, in dem der geographische Bereich bestimmt wurde, auf den sich die Unterlassungsanordnung bezog. Außerdem ließ es die Revision nicht zu.
10. Sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht verwiesen auf eine vorangegangene Entscheidung des Bundesgerichtshofs, mit der er eine Unterlassungsanordnung wegen ähnlichen Verhaltens des Beschwerdeführers bestätigt hatte. Die Gerichte befanden, dass die vorliegende Rechtssache keine tatsächlichen oder rechtlichen Unterschiede aufweise, die ein Abweichen von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs rechtfertigen würden. Soweit der Arzt im vorliegenden Fall etwas bekannter sei als der Arzt in dem ursprünglichen Fall, war das Oberlandesgericht der Auffassung, dass dies von untergeordneter Bedeutung sei. Dass Dr. Y. vor vielen Jahren als Sachverständiger vor dem Deutschen Bundestag aufgetreten sei, habe keine wesentlichen Auswirkungen auf sein öffentliches Profil zur maßgeblichen Zeit gehabt. Ferner sei unerheblich, dass Dr. Y. an verschiedenen Rechtsstreitigkeiten beteiligt gewesen sei, denn es könne ihm nicht zum Nachteil gereichen, wenn er die ihm zustehenden Rechte in den hierfür vorgesehenen Verfahren geltend mache. Insgesamt habe der Beschwerdeführer die legale berufliche Tätigkeit von Dr. Y. herabgewürdigt, indem er den Eindruck erweckt habe, Dr. Y. begehe Straftaten, und er habe das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin gestört, das besonderen Schutz gegen Eingriffe durch Dritte genieße. Damit habe der Beschwerdeführer in schwerwiegender Weise in die Persönlichkeitsrechte von Dr. Y. eingegriffen. Dieser Eingriff sei durch die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nicht gerechtfertigt, und zwar in Anbetracht der massiven „Prangerwirkung“, die er erzeugt habe, indem er den Kläger als Einzelperson herausgegriffen und ihn in unmittelbarer Nähe seiner Praxis harsch kritisiert habe.
11. Am 29. Mai 2007 wies der Bundesgerichtshof einen Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers ab, weil seine beabsichtigte Revision keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Am 20. Juli 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 1670/07).
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
12. Die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes, des Strafgesetzbuchs (StGB) und des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sind in dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache A. (Nr. 2) (Individualbeschwerde Nr. 3682/10, Rdnrn. 13 bis 18, 20. September 2018) dargestellt.
13. Am 7. Dezember 2004 bestätigte der Bundesgerichtshof zudem eine Unterlassungsanordnung, mit der dem Beschwerdeführer untersagt wurde, Patientinnen sowie Passanten innerhalb eines bestimmtes Gebietes vor einer Arztpraxis anzusprechen und darauf hinzuweisen, dass in der Praxis Abtreibungen vorgenommen würden (VI ZR 308/03). Die Tätigkeit des Arztes sei legal und genieße den Schutz des verfassungsmäßigen Rechts auf Berufsfreiheit. Der Bundesgerichtshof betonte die wichtige Rolle, die der Gesetzgeber Gynäkologen im Zusammenhang mit dem Schutz ungeborenen Lebens und dem Schutz der Gesundheit der betroffenen Frauen gegeben habe. Es sei erforderlich, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin nicht durch das Dazwischentreten außenstehender Dritter belastet werde. Das Vorgehen des Beschwerdeführers stelle eine nicht hinzunehmende Behinderung der Tätigkeit des Klägers dar und habe diesen grundlos als Einzelperson herausgegriffen. Daher kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass unter den Umständen dieses konkreten Falls die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers hinter die Persönlichkeitsrechte des Arztes zurückzutreten habe. Eine gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION
14. Der Beschwerdeführer rügte, dass die gegen ihn erlassenen Anordnung, es zu unterlassen, Passanten in unmittelbarer Nähe der Arztpraxis von Dr. Y. anzusprechen und die vom Kläger vorgenommenen Abtreibungen als rechtswidrig zu bezeichnen, ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt habe, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […]“
A. Zulässigkeit
15. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig ist (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3690/10, Rdnrn. 37 bis 40, 26. November 2015) und auch nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
16. Der Beschwerdeführer brachte vor, die Unterlassungsanordnung habe in seine Meinungsfreiheit eingegriffen, ohne dass der Schutz der Persönlichkeitsrechte von Dr. Y. dies gerechtfertigt hätte. Er habe mit der Verteilung von Flugblättern und den beabsichtigten Gesprächen mit Passanten zu einer öffentlichen Debatte von hoher Bedeutung beigetragen. Mit seinem Vorgehen habe er Dr. Y. nicht persönlich angegriffen, sondern die Rechtslage in Deutschland in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche kritisiert, die innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis und nach der verpflichtenden Beratung von Ärzten durchgeführt würden. Diese Abtreibungen würden zwar als rechtswidrig erachtet, seien aber von der Strafdrohung ausgenommen. Ferner stehe es im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Abtreibungen, wie sie von Dr. Y. vorgenommen würden, als rechtswidrig zu bezeichnen. Der Beschwerdeführer trug ferner vor, die innerstaatlichen Gerichte hätten nicht hinreichend berücksichtigt, dass Dr. Y. – anders als der Arzt in dem vom Bundesgerichtshof zuvor entschiedenen Fall – der Öffentlichkeit nicht unbekannt gewesen sei, sondern als Sachverständiger vor dem Deutschen Bundestag aufgetreten und an mehreren Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Abtreibungsdebatte beteiligt gewesen sei.
17. Die Regierung brachte vor, dass der Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers, der auf § 823 Abs. 1 i. V. m. § 1004 Abs. 1 BGB beruht habe, zum Schutz der Persönlichkeitsrechte von Dr. Y. aus Artikel 8 der Konvention notwendig gewesen sei. Indem er Abtreibungen als rechtswidrig bezeichnet habe, habe der Beschwerdeführer den falschen Eindruck erweckt, dass Dr. Y. sich bei der Durchführung von Abtreibungen außerhalb des gesetzlichen Rahmens bewege. Anders als das Flugblatt in der Rechtssache A. (a. a. O.) habe das vorliegende Flugblatt keinen Hinweis darauf enthalten, dass Abtreibungen in Deutschland unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB erlaubt seien und dementsprechend nicht unter Strafe gestellt würden. Zudem habe der Beschwerdeführer mit seinem Ziel der aufgedrängten „Gehsteigberatung“ das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin empfindlich gestört. Der Gerichtshof habe bereits eine frühere Beschwerde desselben Beschwerdeführers gegen eine Unterlassungsanordnung wegen ähnlichen Verhaltens zurückgewiesen (siehe A. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 2373/07 und 2396/07, 30. März 2010). Im vorliegenden Fall hätten die innerstaatlichen Gerichte das Urteil des Bundesgerichtshofs herangezogen, das bereits Gegenstand der vorangegangenen Unzulässigkeitsentscheidung des Gerichtshofs gewesen sei, und seien zu dem Schluss gekommen, dass die Umstände vergleichbar seien und kein Abweichen von der bestehenden Rechtsprechung gerechtfertigt hätten. Bei dieser Schlussfolgerung hätten die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigt, dass Dr. Y. in der Abtreibungsdebatte öffentlich Stellung bezogen habe.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
18. Zunächst stellt der Gerichtshof fest – und dies ist zwischen den Parteien unstrittig –, dass die Unterlassungsanordnung in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingriff, eine Rechtsgrundlage hatte und das rechtmäßige Ziel des Schutzes der Rechte und des guten Rufs von Dr. Y. sowie der Rechte von Patientinnen auf ärztliche Beratung verfolgte. Es bleibt daher noch festzustellen, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war und ob die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien stand.
19. Die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der Frage, ob ein Eingriff in die Meinungsfreiheit „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung fest etabliert und jüngst wie folgt zusammengefasst (siehe Delfi AS ./. Estland [GK], Individualbeschwerde Nr. 64569/09, Rdnr. 131, 16. Juni 2015 m. w. N.):
„(i) Die Freiheit der Meinungsäußerung stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen dar. Vorbehaltlich Artikel 10 Abs. 2 gilt sie nicht nur für „Informationen“ oder „Ideen“, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch für solche, die beleidigen, schockieren oder verstören. Dies sind die Erfordernisse des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist. Diese Freiheit unterliegt den in Artikel 10 aufgeführten Ausnahmen, […] die jedoch eng auszulegen sind, und die Notwendigkeit einer Einschränkung muss überzeugend nachgewiesen werden […].
(ii) Das Adjektiv „notwendig“ im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 impliziert das Bestehen eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch mit einer europäischen Überwachung einher, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, in denen sie angewendet wird, auch wenn die Entscheidungen von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Der Gerichtshof ist daher befugt, abschließend darüber zu entscheiden, ob eine „Einschränkung“ mit der durch Artikel 10 geschützten Freiheit der Meinungsäußerung in Einklang zu bringen ist.
(iii) Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, bei der Ausübung seiner Überwachungsfunktion an die Stelle der zuständigen innerstaatlichen Stellen zu treten; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Das bedeutet nicht, dass sich die Überwachung darauf beschränkt festzustellen, ob der beschwerdegegnerische Staat sein Ermessen vernünftig sorgfältig und in gutem Glauben ausgeübt hat; vielmehr hat der Gerichtshof den gerügten Eingriff im Lichte des Falles insgesamt zu prüfen und zu entscheiden, ob er „in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig“ war und ob die von den innerstaatlichen Stellen zu seiner Rechtfertigung angeführten Gründe „relevant und ausreichend“ sind […]. Dabei muss sich der Gerichtshof davon überzeugen, dass die von den innerstaatlichen Stellen angewendeten Regeln mit den in Artikel 10 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind und dass die sie die erheblichen Tatsachen nachvollziehbar bewertet haben […].“
20. Der Gerichtshof erinnert überdies daran, dass das Recht auf Schutz des guten Rufes durch Artikel 8 der Konvention im Rahmen des Rechts auf Achtung des Privatlebens geschützt ist (siehe Chauvy u. a.. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 64915/01, Rdnr. 70, ECHR 2004-VI; Pfeifer ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 12556/03, Rdnr. 35, 15. November 2007; und Polanco Torres und Movilla Polanco ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 34147/06, Rdnr. 40, 21. September 2010). Um den Anwendungsbereich von Artikel 8 zu eröffnen, muss ein Angriff auf den Ruf einer Person jedoch einen bestimmten Schweregrad erreichen und in einer Art und Weise erfolgen, die die persönliche Wahrnehmung des Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigt (siehe A. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 28070/06, Rdnr. 64, 9. April 2009; S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 83, 7. Februar 2012 und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 137). In Fällen, die den Vorwurf strafbaren Verhaltens betrafen, hat der Gerichtshof auch berücksichtigt, dass Personen nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention das Recht haben, bis zum Beweis ihrer Schuld als unschuldig zu gelten (siehe u. a. Worm ./. Österreich, 29. August 1997, Rdnr. 50, Reports of Judgments and Decisions 1997‑V; und Du Roy und Malaurie ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 34000/96, Rdnr. 34, ECHR 2000-X).
21. Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft zum „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ notwendig ist, muss der Gerichtshof unter Umständen feststellen, ob die innerstaatlichen Stellen einen gerechten Ausgleich herbeigeführt haben, als es darum ging, zwei durch die Konvention garantierte Werte zu schützen, die in bestimmten Fällen in Konflikt miteinander geraten können, nämlich auf der einen Seite die durch Artikel 10 geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und auf der anderen das in Artikel 8 verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens (siehe Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 71111/01, Rdnr. 43, 14. Juni 2007; MGN Limited ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 39401/04, Rdnr. 142, 18. Januar 2011; S., a. a. O., Rdnr. 84 und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 138).
22. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Unterlassungsanordnung im Wesentlichen mit drei Punkten rechtfertigten, die einen Eingriff in das Privat- und Berufsleben des Arztes dargestellt hätten und zusammengenommen über das hinausgegangen seien, was Dr. Y. hinnehmen müsse. Erstens habe der Beschwerdeführer Dr. Y. herabgewürdigt, indem er den Eindruck erweckt habe, dass dieser Straftaten begangen habe; zweitens habe er Dr. Y. aus allen Ärzten, die Abtreibungen vorgenommen hätten, als Einzelperson herausgegriffen und damit eine „Prangerwirkung“ erzeugt; schließlich habe der Beschwerdeführer in das besonders geschützte Vertrauensverhältnis zwischen Dr. Y. und seinen Patientinnen eingegriffen.
23. In Bezug auf den ersten Aspekt erinnert der Gerichtshof an seine Feststellung in einer vorangegangenen Entscheidung (siehe A. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 2373/07, 2396/07, 30. März 2010), dass
„[…] das deutsche Recht in § 218a StGB eine feine Unterscheidung trifft zwischen Schwangerschaftsabbrüchen, die zwar als „rechtswidrig“ gelten, aber von der Strafandrohung ausgenommen sind, und solchen, die als gerechtfertigt und somit „rechtmäßig“ angesehen werden. Daraus folgt, dass die Äußerung des Beschwerdeführers, der Arzt führe u. a. „rechtswidrige Abtreibungen“ durch, aus streng juristischer Sicht zutreffend war. Allerdings erkennt der Gerichtshof im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer sich mit seinen Äußerungen vorrangig an juristische Laien gewandt hat, an, dass die innerstaatlichen Gerichte auch die Sichtweise einer vernünftigen, durchschnittlich einsichtigen Person berücksichtigt haben, die davon ausgehen würde, dass die „rechtswidrigen“ Abtreibungen im engeren Sinne verboten und strafbar seien.“
Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Urteil des Gerichtshof in der Rechtssache A. (a. a. O.) in Frage gestellt, denn in jenem Fall enthielt das betreffende Flugblatt eine hinreichend klare Erläuterung, dass die Abtreibungen nicht strafbar seien. Der Gerichtshof stimmt daher mit der Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte in Bezug auf den ersten Aspekt überein.
24. Was das Herausgreifen von Dr. Y. als Einzelperson angeht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass laut dem Vortrag des Beschwerdeführers Dr. Y. der Öffentlichkeit bekannt gewesen sei, er als Sachverständiger vor dem Deutschen Bundestag aufgetreten sei und an mehreren Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Abtreibungsdebatte beteiligt gewesen sei. Jedoch nimmt der Gerichtshof auch zur Kenntnis, dass sich die innerstaatlichen Gerichte mit diesen Punkte befassten und zu dem Ergebnis gelangten, dass sie von untergeordneter Bedeutung seien. Dass Dr. Y. vor dem Deutschen Bundestag aufgetreten sei, liege bereits viele Jahre zurück und habe daher keine wesentlichen Auswirkungen auf sein öffentliches Profil gehabt. Die Tatsache, dass er an verschiedenen Rechtsstreitigkeiten beteiligt gewesen sei, sei unerheblich, denn es könne ihm nicht zum Nachteil gereichen, wenn er die ihm zustehenden Rechte in den hierfür vorgesehenen Verfahren geltend mache.
25. Der Gerichtshof möchte erneut darauf hinweisen, dass zwischen Privatpersonen und Personen, die im öffentlichen Kontext agieren, wie Politikern oder Personen des öffentlichen Lebens, unterschieden werden muss und dass eine der Öffentlichkeit unbekannte Privatperson einen besonderen Schutz ihres Rechts auf Privatleben verlangen kann (siehe S. ./. Deutschland [GC], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr, 91, 7. Februar 2012, mit weiteren Nachweisen). Dennoch obliegt es aufgrund des direkten und ständigen Kontakts zu ihren Gesellschaften in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten, zu beurteilen, wie bekannt eine Person ist, vor allem, wenn es sich um eine hauptsächlich im Inland bekannte Persönlichkeit handelt (a. a. O., Rdnr. 98). Im Ergebnis hält der Gerichtshof die Begründung der innerstaatlichen Gerichte, wonach das frühere Verhalten von Dr. Y. für die vorliegende Bewertung nur von untergeordneter Bedeutung sei, für vertretbar und sieht keine Veranlassung, die Schlussfolgerungen der Gerichte bezüglich des Bekanntheitsgrads von Dr. Y. in Frage zu stellen.
26. Was die Frage angeht, ob der Beschwerdeführer in das Vertrauensverhältnis zwischen Dr. Y. und seinen Patientinnen eingegriffen hat, erinnert der Gerichtshof daran, dass er in einer vorgangegangenen Sache bereits akzeptiert hat, dass eine Unterlassungsanordnung insbesondere darauf gestützt wurde, dass der Beschwerdeführer die Patientinnen des Arztes in unmittelbarer Nähe seiner Praxis ansprach und damit die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit erheblich störte (siehe A. ./. Deutschland (Entsch.), a. a. O.). Der Gerichtshof stellt fest, dass diese „Gehsteigberatung“ durch den Beschwerdeführer, die das Landgericht als „Spießrutenlauf“ beschrieb, nicht nur in die legale berufliche Tätigkeit von Dr. Y. eingriff, sondern es den Patientinnen auch erschwerte, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Gerichtshof sieht daher keine Veranlassung, in der vorliegenden Rechtssache von seinen früheren Feststellungen abzuweichen.
27. Die vorstehenden Ausführungen reichen aus, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass die für den gerügten Eingriff angeführten Gründe „relevant“ und „ausreichend“ waren.
28. Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nicht wegen Verleumdung strafrechtlich verurteilt oder zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt wurde (im Gegensatz dazu Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 93, ECHR 2004-XI), sondern lediglich davon abgehalten wurde, Passanten in unmittelbarer Nähe der Praxis von Dr. Y. anzusprechen und die vom Kläger vorgenommenen Abtreibungen als rechtswidrig zu bezeichnen. Daher war die Unterlassungsanordnung in räumlicher Hinsicht und von ihrem Umfang her beschränkt. Hinsichtlich ihres Umfangs stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer nicht per se verboten wurde, sich gegen Abtreibungen zu engagieren, Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, zu kritisieren oder Flugblätter zu verteilen. Insgesamt gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Intensität des Eingriffs in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers relativ gering und „in Bezug auf die verfolgten rechtmäßigen Ziele verhältnismäßig war“.
29. Was schließlich die Gründlichkeit angeht, mit der die innerstaatlichen Gerichte die widerstreitenden Interessen geprüft haben, stellt der Gerichtshof fest, dass sie sich im Wesentlichen auf das vorangegangene Urteil des Bundesgerichtshofs bezogen (siehe Rdnr. 13) und geprüft haben, ob im vorliegenden Fall eine Abweichung von der bestehenden Rechtsprechung geboten war. Wenn bereits in einem vergleichbaren Fall eine Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Persönlichkeitsrechten erfolgt ist, sieht der Gerichtshof kein Problem darin, auf das entsprechende Urteil zu verweisen und sich lediglich mit den tatsächlichen und rechtlichen Unterschieden der Fälle zu befassen. Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte die widerstreitenden Interessen gründlich geprüft haben.
30. Folglich ist Artikel 10 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 10 wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 10 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. September 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Yonko Grozev
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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