Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE A. ./. DEUTSCHLAND (Nr. 3)
(Individualbeschwerde Nr. 3687/10)
URTEIL
STRASSBURG
20. September 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache A. ./. Deutschland (Nr. 3)
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 28. August 2018
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 3687/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, A. („der Beschwerdeführer“), am 15. Januar 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn E., Rechtsanwalt in P., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer behauptete, eine Unterlassungsanordnung, mit der ihm untersagt wurde, die Behauptung aufzustellen, dass ein Arzt in seiner Praxis rechtswidrige Abtreibungen durchführe, habe ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt.
4. Am 3. Januar 2017 wurde die Artikel 10 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in W. Er ist ein Abtreibungsgegner und betreibt eine Anti-Abtreibungs-Website.
6. Am 25. November 2004 und 7. Dezember 2004 verteilte der Beschwerdeführer in unmittelbarer Nähe der Arztpraxis von Dr. X. Flugblätter. Auf der Vorderseite der Flugblätter stand unter anderem folgender Text:
„Wussten Sie schon, dass Dr X. [vollständiger Name und Anschrift] Abtreibungen durchführt, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrig sind?“
Darunter hieß es in kleinerer Schrift:
„Sinngemӓβ aus den internationalen Strafgesetzen: Mord ist das vorsӓtzliche “Zu-Tode-Bringen” eines unschuldigen Menschen!“
Auf der Rückseite des gefalteten Flugblatts stand folgender Text:
„Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord“ an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt.“
Der Beschwerdeführer zitierte ferner das Leiturteil des Bundesverfassungsgerichts zur Abtreibung vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203) (siehe Rdnr. 17) sowie eine Äußerung von Christoph Wilhelm Hufeland, dem Leibarzt von Goethe und Schiller. Darüber hinaus zitierte er § 12 Abs. 1 des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonkfliktgesetz – SchKG) (siehe Rdnr. 17) und forderte die Leser auf, auf diejenigen einzuwirken, die Abtreibungen durchführten bzw. daran mitwirkten.
7. In einem Schreiben vom 23. Dezember 2004 verlangte Dr. X., dass der Beschwerdeführer eine Unterlassungserklärung unterschreibe. Der Beschwerdeführer lehnte dies ab und veröffentlichte folgende Äußerung auf seiner Website:
„Wenn Dr X. mit der Durchführung von Abtreibungen öffentlich bekundet, dass er für Abtreibungen ist, dann sollte er auch dazu stehen. Stattdessen sieht Dr X. in der Flugblatt-Verteilaktion eine Rufmordkampagne, droht mit einer einstweiligen Verfügung und hat bereits seinem Rechtsanwalt die Vollmacht gegeben, eine Strafanzeige wegen Beleidigung/Verleumdung zu erwirken. Wir fragen uns: Ist Dr X. stand- und charakterlos?“
8. Im Anschluss beantragte Dr. X. beim Landgericht den Erlass einer Unterlassungsanordnung, mit der dem Beschwerdeführer untersagt werden sollte, im Internet die Behauptung aufzustellen, dass der Kläger rechtswidrige Abtreibungen durchführe, sowie Flugblätter zu verteilen, in denen der Kläger namentlich benannt werde und in denen behauptet werde, dass in seiner Arztpraxis rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt würden. Er machte auch einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 20.000 Euro sowie auf Erstattung vorgerichtlicher Anwaltsgebühren geltend.
9. Am 30. September 2005, dem Tag der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht, verbreitete der Beschwerdeführer unmittelbar vor der Praxis von Dr. X. ein zweites Flugblatt. Dieses zweite Flugblatt, auf dem Dr. X. nicht namentlich genannt war, warf er u. a. auch in Briefkästen in der unmittelbaren Umgebung der Praxis ein. Auf der Vorderseite des Flugblatts stand folgender Satz:
„In Ihrer Nähe: rechtswidrige ABTREIBUNGEN … und SIE schweigen zum MORD an unseren KINDERN?“ [Hervorhebung im Original]
Auf der Rückseite des gefalteten Flugblatts stand folgender Text:
„Diese vorgeburtlichen Kindstötungen haben mittlerweile Ausmaße angenommen, welche an einen „neuen HOLOCAUST“ erinnern!“ [Hervorhebung im Original]
Weiter unten hieß es auf dem Flugblatt:
„Noch weniger kann ich verstehen, dass Mediziner und Ärzte, welche helfen und Leben retten sollen, sich für’s Morden hergeben.“
10. Am 4. November 2005 gab das Landgericht dem Antrag auf Erlass einer Unterlassungsanordnung statt und verurteilte den Beschwerdeführer, es zu unterlassen, in der Öffentlichkeit im Rahmen von Flugblättern und im Internet mündlich oder schriftlich die Behauptung aufzustellen, der Kläger führe in seiner Arztpraxis rechtswidrige Abtreibungen durch. Das Landgericht erkannte ferner den vom Kläger geltend gemachten Ersatz für den materiellen Schaden (811,88 Euro) an und wies seinen Antrag auf Schmerzensgeld ab.
11. Das Gericht befand, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers von der Meinungsfreiheit gedeckt seien und zu einer öffentlichen Debatte beitrügen. Ferner seien sie als Tatsachenbehauptungen einzuordnen, womit die Information, dass Abtreibungen rechtswidrig seien, im Einklang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts stehe und nicht unzutreffend sei. Im Zusammenhang mit dem Flugblatt insgesamt jedoch hätten die Äußerungen eine Prangerwirkung und stellten einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Dr. X. dar, der durch die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nicht gerechtfertigt sei. Zu diesem Schluss gelangte das Gericht aufgrund der Tatsache, dass der Beschwerdeführer Dr. X. als Einzelperson herausgegriffen habe, indem er ihn namentlich genannt und die Flugblätter in der Umgebung seiner Praxis verteilt habe, dass er ferner das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur teilweise zitiert und die Teile, in denen ausgeführt werde, dass Ärzte sich nicht strafbar machten, weggelassen habe, dass er darüber hinaus durch das Definieren des Begriffs des Mordes den Eindruck erweckt habe, Dr. X. habe diese Straftat begangen, und dass er Dr. X. mit dem Holocaust in Verbindung gebracht habe. Hinsichtlich des Schmerzensgeldes kam das Gericht dennoch zu dem Ergebnis, dass die Angriffe auf den Ruf von Dr. X. zwar so schwerwiegend gewesen seien, dass sie die Unterlassungsanordnung rechtfertigten, aber nicht schwerwiegend genug, um ein Schmerzensgeld zu begründen.
12. Gegen die Entscheidung des Landgerichts legten sowohl der Beschwerdeführer als auch Dr. X. Berufung ein. Dr. X. erweiterte seine Klage zudem um das zweite Flugblatt (siehe Rdnr. 9), das im Anschluss zum Gegenstand des Urteils des Oberlandesgerichts wurde.
13. Am 28. Februar 2007 bestätigte das Oberlandesgericht die Begründung des Landgerichts und wies beide Berufungen im Wesentlichen ab. Allerdings änderte es das Urteil des Landgerichts bezüglich des genauen Wortlauts der beantragten Unterlassungsanordnung ab. Es verurteilte den Beschwerdeführer, es zu unterlassen, in der Öffentlichkeit die Behauptung aufzustellen, Dr. X. führe in seiner Arztpraxis rechtswidrige Abtreibungen durch, und in unmittelbarem Zusammenhang damit zu äußern: „Mord ist das vorsätzliche „Zu-Tode-Bringen“ eines unschuldigen Menschen!“. Das Oberlandesgericht verurteilte den Beschwerdeführer ferner, es zu unterlassen, über Dr. X. zu behaupten, dieser führe rechtswidrige Abtreibungen durch und begehe damit „Mord an unseren Kindern“. Eingangs hob es hervor, dass die Ansicht des Beschwerdeführers, wonach Abtreibungen strafbar sein sollten und nicht mit höherrangigem Recht vereinbar seien, unter die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers falle. Das Gericht stellte jedoch auch fest, dass der Wortlaut der Äußerungen des Beschwerdeführers an sich bereits deutlich mache, dass er die vom Kläger vorgenommenen Abtreibungen als Mord bezeichne, was nicht hinnehmbar sei, unabhängig davon, ob man die Aussagen als Tatsachenbehauptung oder als Werturteil verstehe. Nach Ansicht des Gerichts habe der Beschwerdeführer eine nicht hinzunehmende „Prangerwirkung“ erzeugt, indem er den Kläger als Einzelperson herausgegriffen habe, ohne dass dieser ihm eine Veranlassung dazu gegeben hätte. Insoweit wies das Gericht darauf hin, dass Dr. X. in keiner Weise an der öffentlichen Debatte über Abtreibungen beteiligt gewesen sei.
14. In Bezug auf das zweite Flugblatt stellte das Oberlandesgericht fest, dass Dr. X. darin zwar nicht namentlich genannt werde, es sich aber dennoch auf ihn bezogen habe, weil es vor seiner Praxis verteilt und in Briefkästen in der Umgebung eingeworfen worden sei. Ähnlich wie beim ersten Flugblatt habe ein nicht unerheblicher Teil der Leser das Flugblatt vermutlich dahingehend verstanden, dass die berufliche Tätigkeit von Dr. X. Mord dargestellt habe. Selbst wenn das Flugblatt nicht im rechtstechnischen Sinne verstanden worden sei, habe es doch zu verstehen gegeben, dass der Kläger illegale und strafbare Abtreibungen vorgenommen habe. Da der Beschwerdeführer nicht klargestellt habe, dass er nur Abtreibungen kritisiert habe, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe Rdnr. 17) rechtswidrig, aber nicht strafbar seien, sei er über den Rahmen noch zulässiger Kritik hinausgegangen. Was den Entschädigungsanspruch angeht, bestätigte das Oberlandesgericht das erstinstanzliche Urteil. Außerdem ließ es die Revision nicht zu.
15. Am 29. Mai 2007 wies der Bundesgerichtshof einen Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers bezüglich seiner Nichtzulassungsbeschwerde ab, weil seine beabsichtigte Revision keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.
16. Am 2. Juli 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 1659/07).
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
17. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis sind in dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache A. (Nr. 2) (Individualbeschwerde Nr. 3682/10, Rdnrn. 13 bis 18, 20. September 2018) dargestellt.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION
18. Der Beschwerdeführer rügte, dass die gegen ihn erlassene Anordnung, die Behauptung zu unterlassen, dass Dr. X. in seiner Praxis rechtswidrige Abtreibungen durchführe, ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt habe, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […]“
A. Zulässigkeit
19. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig ist (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3690/10, Rdnrn. 37 bis 40, 26. November 2015) und auch nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
20. Der Beschwerdeführer brachte vor, die Unterlassungsanordnung des Oberlandesgerichts habe in seine Meinungsfreiheit eingegriffen, ohne dass der Schutz der Persönlichkeitsrechte von Dr. X. dies gerechtfertigt hätte. Seine Flugblätter hätten zu einer öffentlichen Debatte beigetragen und Dr. X. nicht persönlich angegriffen, sondern die Rechtslage in Deutschland kritisiert, wonach Schwangerschaftsabbrüche, die innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis und nach der verpflichtenden Beratung von Ärzten durchgeführt würden, zwar als rechtswidrig erachtet würden, aber von der Strafdrohung ausgenommen seien. Die Verwendung des Begriffs „Mord“ sei nicht als rechtliche Einordnung der beruflichen Tätigkeit von Dr. X. zu verstehen gewesen, sondern als Kritik an der „Tötung“ ungeborener Kinder. Der Beschwerdeführer trug ferner vor, Abtreibungen könnten als Mord im rechtlichen Sinne verstanden werden, weil das Töten wehrloser ungeborener Babys als heimtückisch im Sinne von § 211 des Strafgesetzbuchs (StGB) angesehen werden könne. Jedenfalls müssten angesichts dessen, dass er zu einer öffentlichen Debatte von hoher Bedeutung beitrage, Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte von Ärzten gerechtfertigt sein.
21. Die Regierung trug vor, dass die Unterlassungsanordnung des Oberlandesgerichts die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nicht verletzt habe. Die Gerichte hätten die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers sorgfältig mit den Rechten von Dr. X. aus Artikel 8 Abs. 1 der Konvention abgewogen. Sie hätten anerkannt, dass der Beschwerdeführer seine Äußerung im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte über Abtreibung getätigt habe. Im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums seien die innerstaatlichen Gerichte zu dem überzeugenden Ergebnis gelangt, dass die in den von dem Beschwerdeführer verbreiteten Flugblättern enthaltenen Äußerungen die Persönlichkeitsrechte von Dr. X. so schwerwiegend verletzt hätten, dass eine Einschränkung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers gerechtfertigt gewesen sei.
22. Die Regierung trug ferner vor, dass die innerstaatlichen Gerichte die Flugblätter umfassend analysiert und verschiedene Deutungsmöglichkeiten erörtert hätten und zu dem überzeugenden Ergebnis gelangt seien, dass Dr. X. als vermeintlicher Rechtsbrecher angeprangert worden sei. Aufgrund dieses Ergebnisses habe es eine Unterlassungsanordnung erlassen, die sich darauf beschränkt habe, zu behaupten, dass Dr. X. rechtswidrige Abtreibungen durchgeführt habe, und diese in einen Kontext mit „Mord“ zu stellen bzw. ausdrücklich als „Mord an unseren Kindern“ zu bezeichnen. Dem Beschwerdeführer sei nicht verboten worden, sich öffentlich – auch in deutlicher Form – gegen Abtreibung zu wenden, und das Oberlandesgericht habe sogar das von der Meinungsfreiheit geschützte Recht des Beschwerdeführers betont, Abtreibungen als strafwürdiges Unrecht zu bezeichnen. Auch die persönliche und scharf formulierte Kritik an der Tätigkeit von Abtreibungen durchführenden Ärzten wie Dr. X. sei ihm nicht per se verboten worden.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
23. Zunächst stellt der Gerichtshof fest – und dies ist zwischen den Parteien unstrittig –, dass die Unterlassungsanordnung in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingriff, eine Rechtsgrundlage hatte und das rechtmäßige Ziel des Schutzes der Rechte und des guten Rufs von Dr. X. verfolgte. Es bleibt daher noch festzustellen, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war und ob die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien stand.
24. Die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der Frage, ob ein Eingriff in die Meinungsfreiheit „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung fest etabliert und jüngst wie folgt zusammengefasst (siehe Delfi AS ./. Estland [GK], Individualbeschwerde Nr. 64569/09, Rdnr. 131, 16. Juni 2015 m. w. N.):
„(i) Die Freiheit der Meinungsäußerung stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen dar. Vorbehaltlich Artikel 10 Abs. 2 gilt sie nicht nur für „Informationen“ oder „Ideen“, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch für solche, die beleidigen, schockieren oder verstören. Dies sind die Erfordernisse des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist. Diese Freiheit unterliegt den in Artikel 10 aufgeführten Ausnahmen, […] die jedoch eng auszulegen sind, und die Notwendigkeit einer Einschränkung muss überzeugend nachgewiesen werden […].
(ii) Das Adjektiv „notwendig“ im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 impliziert das Bestehen eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch mit einer europäischen Überwachung einher, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, in denen sie angewendet wird, auch wenn die Entscheidungen von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Der Gerichtshof ist daher befugt, abschließend darüber zu entscheiden, ob eine „Einschränkung“ mit der durch Artikel 10 geschützten Freiheit der Meinungsäußerung in Einklang zu bringen ist.
(iii) Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, bei der Ausübung seiner Überwachungsfunktion an die Stelle der zuständigen innerstaatlichen Stellen zu treten; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Das bedeutet nicht, dass sich die Überwachung darauf beschränkt festzustellen, ob der beschwerdegegnerische Staat sein Ermessen vernünftig sorgfältig und in gutem Glauben ausgeübt hat; vielmehr hat der Gerichtshof den gerügten Eingriff im Lichte des Falles insgesamt zu prüfen und zu entscheiden, ob er „in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig“ war und ob die von den innerstaatlichen Stellen zu seiner Rechtfertigung angeführten Gründe „relevant und ausreichend“ sind […]. Dabei muss sich der Gerichtshof davon überzeugen, dass die von den innerstaatlichen Stellen angewendeten Regeln mit den in Artikel 10 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind und dass die sie die erheblichen Tatsachen nachvollziehbar bewertet haben […].“
25. Der Gerichtshof erinnert überdies daran, dass das Recht auf Schutz des guten Rufes durch Artikel 8 der Konvention im Rahmen des Rechts auf Achtung des Privatlebens geschützt ist (siehe Chauvy u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 64915/01, Rdnr. 70, ECHR 2004-VI; Pfeifer ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 12556/03, Rdnr. 35, 15. November 2007; und Polanco Torres und Movilla Polanco ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 34147/06, Rdnr. 40, 21. September 2010). Um den Anwendungsbereich von Artikel 8 zu eröffnen, muss ein Angriff auf den Ruf einer Person jedoch einen bestimmten Schweregrad erreichen und in einer Art und Weise erfolgen, die die persönliche Wahrnehmung des Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigt (siehe A. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 28070/06, Rdnr. 64, 9. April 2009; S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 83, 7. Februar 2012 und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 137). In Fällen, die den Vorwurf strafbaren Verhaltens betrafen, hat der Gerichtshof auch berücksichtigt, dass Personen nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention das Recht haben, bis zum Beweis ihrer Schuld als unschuldig zu gelten (siehe u. a. Worm ./. Österreich, 29. August 1997, Rdnr. 50, Reports of Judgments and Decisions 1997‑V; und Du Roy und Malaurie ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 34000/96, Rdnr. 34, ECHR 2000-X).
26. Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft zum „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ notwendig ist, muss der Gerichtshof unter Umständen feststellen, ob die innerstaatlichen Stellen einen gerechten Ausgleich herbeigeführt haben, als es darum ging, zwei durch die Konvention garantierte Werte zu schützen, die in bestimmten Fällen in Konflikt miteinander geraten können, nämlich auf der einen Seite die durch Artikel 10 geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und auf der anderen das in Artikel 8 verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens (siehe Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 71111/01, Rdnr. 43, 14. Juni 2007; MGN Limited ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 39401/04, Rdnr. 142, 18. Januar 2011; S., a. a. O., Rdnr. 84 und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 138).
27. Die Meinungen zum Ausgang einer Rechtssache können zwar auseinandergehen, es würde für den Gerichtshof aber gewichtiger Gründe dafür bedürfen, die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen, wenn die innerstaatlichen Stellen die Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen haben (siehe Lillo-Stenberg und Sæther ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 13258/09, Rdnr. 44, 16. Januar 2014; mit Verweisen auf S., a. a. O., Rdnr. 88, und H. ./. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnr. 107, ECHR 2012).
28. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass während das Landgericht die Äußerungen als Tatsachenbehauptungen betrachtete, das Oberlandesgericht diese Frage offen ließ, weil die Äußerungen des Beschwerdeführers in beiden Fällen nicht gerechtfertigt gewesen seien. Es vertrat die Auffassung, dass die Bezeichnung von Abtreibungen als widerrechtlich streng genommen zwar zutreffend sei, die Äußerung im Zusammenhang mit dem Rest des Flugblatt jedoch als Behauptung verstanden werden könne, dass die berufliche Tätigkeit von Dr. X. Mord darstelle.
29. Der Gerichtshof erinnert an seine Feststellung in einer vorangegangenen Entscheidungen (siehe A. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 2373/07 und 2396/07, 30. März 2010), dass:
„[…] das deutsche Recht in § 218a StGB eine feine Unterscheidung trifft zwischen Schwangerschaftsabbrüchen, die zwar als „rechtswidrig“ gelten, aber von der Strafandrohung ausgenommen sind, und solchen, die als gerechtfertigt und somit „rechtmäßig“ angesehen werden. Daraus folgt, dass die Äußerung des Beschwerdeführers, der Arzt führe u.a. „rechtswidrige Abtreibungen“ durch, aus streng juristischer Sicht zutreffend war. Allerdings erkennt der Gerichtshof im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer sich mit seinen Äußerungen vorrangig an juristische Laien gewandt hat, an, dass die innerstaatlichen Gerichte die Sichtweise einer vernünftigen, durchschnittlich einsichtigen Person berücksichtigt haben, die davon ausgehen würde, dass die „rechtswidrigen“ Abtreibungen im engeren Sinne verboten und strafbar seien.
30. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist der vorliegende Fall mit der Rechtssache A. ./. Deutschland (Entsch.) (a. a. O.) vergleichbar, weil die Flugblätter keine weitere Erklärung dazu enthielten, dass Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, sich nach § 218a StGB nicht strafbar machen. Der Beschwerdeführer hingegen bestärkte den Leser sogar in der Annahme, dass die von Dr. X. vorgenommenen Abtreibungen strafbar seien, indem er in dem ersten Flugblatt seine eigene Definition des Begriffs Mord nach dem Völkerrecht formulierte und in dem zweiten Flugblatt Abtreibung als „Mord an unseren Kindern“ bezeichnete. Der Gerichtshof stimmt daher mit den innerstaatlichen Gerichten darin überein, dass bei einer Gesamtbetrachtung der Flugblätter diese so verstanden werden konnten, dass darin behauptet wurde, die berufliche Tätigkeit von Dr. X. stelle Mord dar. Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache A. (a. a. O.) in Frage gestellt, denn in jenem Fall enthielt das betreffende Flugblatt eine hinreichend klare Erläuterung, dass die Abtreibungen nicht strafbar seien.
31. Der Gerichtshof möchte ferner erneut darauf hinweisen, dass zwar das Vorliegen von Tatsachen nachgewiesen werden kann, ein Werturteil jedoch keinem Wahrheitsbeweis zugänglich ist. Jedoch bedarf auch eine Äußerung, die ein Werturteil darstellt, einer hinreichenden Tatsachengrundlage; anderenfalls ist sie überzogen (siehe Jerusalem ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 26958/95, Rdnr. 43, ECHR 2001-II). Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer weder im innerstaatlichen Verfahren noch vor dem Gerichtshof Anhaltspunkte dafür vorgetragen hat, dass Dr. X. Mord begangen hat oder dass die von ihm vorgenommenen Abtreibungen strafbar waren. Soweit der Beschwerdeführer vor dem Gerichtshofs vorgetragen hat, dass Abtreibungen als Mord im Sinne von § 211 StGB angesehen werden könnten, stellt der Gerichtshof darüber hinaus fest, dass es im innerstaatlichen Recht und in der innerstaatlichen Rechtsprechung keine Grundlage für diese These gibt. Im Gegenteil sind in § 218 StGB Abtreibungen, die nicht nach § 218a StGB von der Strafbarkeit ausgenommen sind, klar definiert. Insgesamt stellt der Gerichtshof fest, dass es selbst unter der Annahme, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers als Werturteile anzusehen sind, keine hinreichende Tatsachengrundlage dafür gab, Abtreibungen, wie sie von Dr. X. vorgenommen werden, als „Mord“ zu bezeichnen. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof auch fest, dass diese Vorwürfe nicht nur sehr schwerwiegend waren, was sich darin zeigt, dass eine Verurteilung wegen Mordes mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, sondern sie auch zu Hass und Aggression anstiften könnten.
32. Was die Schwere der gegen den Beschwerdeführer verhängten Sanktion angeht, merkt der Gerichtshof an, dass er nicht wegen Verleumdung strafrechtlich verurteilt wurde oder zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt wurde (im Gegensatz dazu Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK] Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 93, ECHR 2004‑XI). Ferner war die Unterlassungsanordnung in ihrem Umfang beschränkt und untersagte dem Beschwerdeführer „nur“, zu behaupten, dass Dr. X. rechtswidrige Abtreibungen durchführe, und diese in einen Kontext mit „Mord“ zu stellen bzw. ausdrücklich als „Mord an unseren Kindern“ zu bezeichnen. Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer nicht per se verboten wurde, gegen Abtreibung einzutreten oder Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, zu kritisieren.
33. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Flugblätter eingehend analysiert und verschiedene Deutungsmöglichkeiten der darin enthaltenen Äußerungen erörtert haben. Er ist daher überzeugt, dass der Rechtsschutz, der dem Beschwerdeführer auf der innerstaatlichen Ebene zuteil wurde, mit den Verfahrenserfordernissen von Artikel 10 der Konvention vereinbar war.
34. Unter diesen Umständen gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Unterlassungsanordnung in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel, nämlich der Schutz der Rechte und des guten Rufs von Dr. X., nicht unverhältnismäßig war und dass die von den innerstaatlichen Gerichten angeführten Gründe relevant und ausreichend waren. Die innerstaatlichen Gerichte konnten den Eingriff in die Ausübung des Rechts des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung daher in nachvollziehbarer Weise als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ansehen.
35. Folglich ist Artikel 10 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 10 der Konvention wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 10 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. September 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Yonko Grozev
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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