Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE A. ./. DEUTSCHLAND (Nr. 2)
(Individualbeschwerde Nr. 3682/10)
URTEIL
STRASSBURG
20. September 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache A. ./. Deutschland (Nr. 2)
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 28. August 2018
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 3682/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, A. („der Beschwerdeführer“), am 15. Januar 2010 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hat.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn E., Rechtsanwalt in P., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer behauptete, eine Unterlassungsanordnung der innerstaatlichen Behörden, mit der ihm untersagt wurde, auf seiner Website Abtreibungen als „Mord“ zu bezeichnen, habe ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt.
4. Am 3. Januar 2017 wurde die Artikel 10 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in W. Er ist ein Abtreibungsgegner und betreibt eine Anti-Abtreibungs-Website. Zum Zeitpunkt des nachstehend beschriebenen Verfahrens enthielt die Website u. a. folgende Inhalte:
6. Auf der Startseite wurde ein Bild mit Gräbern gezeigt und der Text darunter lautete: „damals Holocaust“. Klickte man auf das Bild, gelangte man auf eine Seite, die mit „Abtreibung – der neue Holocaust?“ überschrieben war und auf der der Holocaust mit Abtreibungen verglichen wurde. Am linken Rand der Startseite befanden sich mehrere Links, von denen einer „Leben oder Tod?“ hieß. Klickte man auf ihn, gelangte man zu einer Seite, die mit „Gebetsanliegen für Deutschland“ überschrieben war. Von dieser Seite aus gelangte man zu einer alphabetisch nach Orten sortierten Liste, auf der Ärzte mit Namen und Praxisanschrift genannt wurden, die in Deutschland Abtreibungen durchführten, zusammen mit der Aufforderung, für diese zu beten.
Ganz unten auf der Seite hieß es unter der hervorgehobenen Zeile „Deutsche Zeitgeschichte in Kurzform“:
„Pervertierte Ärzte ermorden im Auftrag der Mütter die ungeborenen Kinder“
Klickte man auf derselben Seite den Button „Fenster schließen“ an, gelangte man auf eine Seite, auf der es hieß:
„Beten Sie – wenn möglich regelmäßig – für die Mediziner …, welche den MORD der Abtreibungstötung selbst vornehmen …“ (Hervorhebung im Original)
Weiter unten auf derselben Seite hieß es, Beratungsstellen, die einen Beratungsschein ausstellten,
„ermöglichen und begünstigen einen straffreien Kindermord im Mutterschoß.“
7. Einer der auf der Website des Beschwerdeführers aufgeführten Ärzte, Dr. X., beantragte den Erlass einer Unterlassungsanordnung, mit der der Beschwerdeführer verpflichtet werden sollte, den Namen und die Anschrift von Dr. X. von der Website zu entfernen.
8. Am 23. Mai 2006 wies das Landgericht den Antrag von Dr. X. mit der Begründung zurück, es sei eine Tatsache, dass Dr. X. Abtreibungen vornehme, und der Rest des Inhalts des Website sei von der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers gedeckt. Es stellte insbesondere fest, dass die vorliegende Rechtssache nicht mit ähnlich gelagerten Fällen vergleichbar sei, die einen Eingriff in Persönlichkeitsrechte durch das Verteilen personalisierter Flugblätter betroffen hätten. Die Veröffentlichung des Namens eines Arztes auf einer Liste mit Ärzten, die Abtreibungen durchführten, habe keine vergleichbare „Prangerwirkung“.
9. Dr. X. legte daraufhin Berufung ein; im Laufe des Berufungsverfahrens änderte er seinen Antrag ab und beantragte den Erlass einer Unterlassungsanordnung, mit der dem Beschwerdeführer untersagt werden sollte, Abtreibungen, wie sie von Dr. X., vorgenommen werden, als „Mord“ zu bezeichnen.
10. Am 28. Februar 2007 gab das Oberlandesgericht dem Antrag auf Unterlassung statt. Das Gericht stellte fest, dass die Website des Beschwerdeführers zu einem Verständnis dahingehend führe, dass von Dr. X. vorgenommene Abtreibungen „Mord“ darstellten. Zwar sei es denkbar, dass der Begriff „Mord“ nicht im rein rechtstechnischen Sinn zu verstehen sei, sondern auch als moralisches Urteil gedeutet werden könne, jedoch werde durch die Darstellung der Website insgesamt die Deutung zumindest nicht ausgeschlossen, dass Dr. X. die Straftat des Mordes begangen habe. Zwar habe der Beschwerdeführer auf die Straffreiheit von Abtreibungen hingewiesen, er habe sich aber nicht auf § 218a des Strafgesetzbuchs (StGB) bezogen (siehe Rdnr. 14), wonach Abtreibungen, wie sie von Dr. X. vorgenommen würden, straflos seien. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer den Begriff „Mord“ an den relevanten Stellen der Website hervorgehoben und Abtreibungen mit dem Holocaust verglichen. Insgesamt könnten die Äußerungen auf der Website als ein gegen Dr. X. persönlich gerichteter Vorwurf des Mordes verstanden werden.
11. Am 29. Mai 2007 wies der Bundesgerichtshof einen Prozesskostenhilfeantrag des Beschwerdeführers ab, weil seine beabsichtigte Revision keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.
12. Am 2. Juli 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen, weil sie unzulässig sei (1 BvR 1663/07).
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
13. Artikel 5 des Grundgesetzes lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. […]
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“
14. Die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs lauten:
§ 211
Mord
“(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
„(2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.“
§ 218
Schwangerschaftsabbruch
„(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
1. gegen den Willen der Schwangeren handelt oder
2. leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht.
(3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
(4) Der Versuch ist strafbar. Die Schwangere wird nicht wegen Versuchs bestraft.”
§ 218a
Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs
„(1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn
1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
(2) Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“
15. In seinem Leiturteil vom 28. Mai 1993 (BVerfGE 88, 203) akzeptierte das Bundesverfassungsgericht Schwangerschaftsabbrüche, soweit sie von Ärzten vorgenommen werden, nachdem die schwangere Frau sich von einem Dritten hat beraten lassen, und entwickelte einen ziemlich einzigartigen Ansatz, indem es bestimmte Schwangerschaftsabbrüche als rechtswidrig, aber nicht strafbar qualifizierte. „Schwangerschaftsabbrüche, die ohne Feststellung einer Indikation nach der Beratungsregelung vorgenommen werden, dürfen nicht für gerechtfertigt (nicht rechtswidrig) erklärt werden.“ Jedoch werden Schwangerschaftsabbrüche, die innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis und nach der verpflichtenden Beratung von Ärzten durchgeführt werden, zwar als rechtswidrig erachtet, sind aber von der Strafdrohung ausgenommen.
16. Die einschlägige Bestimmung des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG) lautet:
§ 12
Weigerung
„(1) Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken. […]“
17. Die einschlägigen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) lauten wie folgt:
§ 823
„(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. […]“
§ 1004
„(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen. […]“
18. Nach der Rechtsprechung der deutschen Zivilgerichte sieht § 823 Abs. 1 und 2 BGB i. V. m. § 1004 BGB (in analoger Anwendung) für jede Person, deren Persönlichkeitsrechte oder strafrechtlich geschützten Rechte durch eine andere Person konkret gefährdet sind, einen entsprechenden Unterlassungsanspruch gegen diese andere Person vor.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION
19. Der Beschwerdeführer rügte, dass er durch die vom Oberlandesgericht gegen ihn erlassene Anordnung, es zu unterlassen, Abtreibungen auf seiner Website als „Mord“ zu bezeichnen, in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt worden sei, der wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind … zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, […]“
A. Zulässigkeit
20. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe unzulässig ist (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3690/10, Rdnrn. 37 bis 40, 26. November 2015) und auch nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
21. Der Beschwerdeführer brachte vor, die Unterlassungsanordnung des Oberlandesgerichts habe in seine Meinungsfreiheit eingegriffen, ohne dass der Schutz der Persönlichkeitsrechte von Dr. X. dies gerechtfertigt hätte. Seine Website habe zu einer öffentlichen Debatte beigetragen und er habe Dr. X., der nur einer der auf der Website genannten Ärzte gewesen sei, nicht persönlich angegriffen. Eine Gesamtbetrachtung der Website zeige, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, einen bestimmten Arzt zu verleumden, sondern die Rechtslage in Deutschland zu kritisieren, wonach Schwangerschaftsabbrüche, die innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis und nach der verpflichtenden Beratung von Ärzten durchgeführt würden, zwar als rechtswidrig erachtet würden, aber von der Strafbarkeit ausgenommen seien. In Anbetracht dessen, dass er einen Beitrag zu einer öffentlichen Debatte von hoher Bedeutung geleistet habe, seien Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte von Ärzten gerechtfertigt gewesen.
22. Die Regierung trug vor, dass die Unterlassungsanordnung des Oberlandesgerichts die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers nicht verletzt habe. Das Gericht habe die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers sorgfältig mit den Rechten des betroffenen Arztes aus Artikel 8 Abs. 1 der Konvention abgewogen. Es habe dabei die Bedeutung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers gerade auch im Rahmen der öffentlichen Debatte zum Thema Abtreibung anerkannt. Im Rahmen seines Beurteilungsspielraums sei das Oberlandesgericht zu dem überzeugenden Ergebnis gelangt, dass die Inhalte der Website des Beschwerdeführers die Persönlichkeitsrechte von Dr. X. so schwerwiegend verletzt hätten, dass eine Einschränkung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers gerechtfertigt gewesen sei.
23. Die Regierung trug ferner vor, dass, anders als im Fall A. (a. a. O.), das Oberlandesgericht hier eine umfassende inhaltliche Analyse der Inhalte der Website durchgeführt und dies in Teilen durch Screenshots dokumentiert habe. Dabei habe es die Äußerungen des Beschwerdeführers einer hinreichenden Würdigung im Lichte des Rechts auf freie Meinungsäußerung unterzogen und sich auch mit alternativen Deutungsmöglichkeiten auseinandergesetzt. Im Ergebnis sei das Gericht zu dem Schluss gelangt, dass in der Bezeichnung der ärztlichen Tätigkeit von Dr. X. als „Mord“ und deren Gleichsetzung mit dem Holocaust ein schwerwiegender persönlicher Angriff und damit eine Verletzung von dessen Persönlichkeitsrechten liege.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
24. Zunächst stellt der Gerichtshof fest – und dies ist zwischen den Parteien unstrittig –, dass die Unterlassungsanordnung in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingriff, eine Rechtsgrundlage hatte und das rechtmäßige Ziel des Schutzes der Rechte und des guten Rufes von Dr. X. verfolgte. Es bleibt daher noch festzustellen, ob der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war und ob die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien stand.
25. Die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der Frage, ob ein Eingriff in die Meinungsfreiheit „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung fest etabliert und jüngst wie folgt zusammengefasst (siehe Delfi AS ./. Estland [GK], Individualbeschwerde Nr. 64569/09, Rdnr. 131, 16. Juni 2015 m. w. N.):
„(i) Die Freiheit der Meinungsäußerung stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen dar. Vorbehaltlich Artikel 10 Abs. 2 gilt sie nicht nur für „Informationen“ oder „Ideen“, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch für solche, die beleidigen, schockieren oder verstören. Dies sind die Erfordernisse des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist. Diese Freiheit unterliegt den in Artikel 10 aufgeführten Ausnahmen, […] die jedoch eng auszulegen sind, und die Notwendigkeit einer Einschränkung muss überzeugend nachgewiesen werden […].
(ii) Das Adjektiv „notwendig“ im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 impliziert das Bestehen eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch mit einer europäischen Überwachung einher, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, in denen sie angewendet wird, auch wenn die Entscheidungen von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Der Gerichtshof ist daher befugt, abschließend darüber zu entscheiden, ob eine „Einschränkung“ mit der durch Artikel 10 geschützten Freiheit der Meinungsäußerung in Einklang zu bringen ist.
(iii) Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, bei der Ausübung seiner Überwachungsfunktion an die Stelle der zuständigen innerstaatlichen Stellen zu treten; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Das bedeutet nicht, dass sich die Überwachung darauf beschränkt festzustellen, ob der beschwerdegegnerische Staat sein Ermessen vernünftig sorgfältig und in gutem Glauben ausgeübt hat; vielmehr hat der Gerichtshof den gerügten Eingriff im Lichte des Falles insgesamt zu prüfen und zu entscheiden, ob er „in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig“ war und ob die von den innerstaatlichen Stellen zu seiner Rechtfertigung angeführten Gründe „relevant und ausreichend“ sind […]. Dabei muss sich der Gerichtshof davon überzeugen, dass die von den innerstaatlichen Stellen angewendeten Regeln mit den in Artikel 10 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind und dass die sie die erheblichen Tatsachen nachvollziehbar bewertet haben […].“
26. Der Gerichtshof erinnert überdies daran, dass das Recht auf Schutz des guten Rufes durch Artikel 8 der Konvention im Rahmen des Rechts auf Achtung des Privatlebens geschützt ist (siehe Chauvy u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 64915/01, Rdnr. 70, ECHR 2004-VI; Pfeifer ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 12556/03, Rdnr. 35, 15. November 2007; und Polanco Torres und Movilla Polanco ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 34147/06, Rdnr. 40, 21. September 2010). Um den Anwendungsbereich von Artikel 8 zu eröffnen, muss ein Angriff auf den Ruf einer Person jedoch einen bestimmten Schweregrad erreichen und in einer Art und Weise erfolgen, die die persönliche Wahrnehmung des Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigt (siehe A. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 28070/06, Rdnr. 64, 9. April 2009; S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 83, 7. Februar 2012 und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 137). In Fällen, die den Vorwurf strafbaren Verhaltens betrafen, hat der Gerichtshof auch berücksichtigt, dass Personen nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention das Recht haben, bis zum Beweis ihrer Schuld als unschuldig zu gelten (siehe u. a. Worm ./. Österreich, 29. August 1997, Rdnr. 50, Reports of Judgments and Decisions 1997‑V; und Du Roy und Malaurie ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 34000/96, Rdnr. 34, ECHR 2000-X).
27. Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft zum „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ notwendig ist, muss der Gerichtshof unter Umständen feststellen, ob die innerstaatlichen Stellen einen gerechten Ausgleich herbeigeführt haben, als es darum ging, zwei durch die Konvention garantierte Werte zu schützen, die in bestimmten Fällen in Konflikt miteinander geraten können, nämlich auf der einen Seite die durch Artikel 10 geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und auf der anderen das in Artikel 8 verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens (siehe Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 71111/01, Rdnr. 43, 14. Juni 2007; MGN Limited ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 39401/04, Rdnr. 142, 18. Januar 2011; S., a. a. O., Rdnr. 84 und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 138).
28. Die Meinungen zum Ausgang einer Rechtssache können zwar auseinandergehen, es würde für den Gerichtshof aber gewichtiger Gründe dafür bedürfen, die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen, wenn die innerstaatlichen Stellen die Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen haben (siehe Lillo-Stenberg und Sæther ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 13258/09, Rdnr. 44, 16. Januar 2014; mit Verweisen auf S., a. a. O., Rdnr. 88, und H. ./. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnr. 107, ECHR 2012).
29. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das Oberlandesgericht im Unterschied zu den Gerichten in der Rechtssache A. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 3690/10, Rdnrn. 19, 71 bis 75, 26. November 2015) die Website mit Bezug auf die zur maßgeblichen Zeit gegebene Situation beurteilte. Der Gerichtshof gelangt daher zu der Schlussfolgerung, dass der Rechtsschutz, der dem Beschwerdeführer auf der innerstaatlichen Ebene zuteil wurde, mit den Verfahrenserfordernissen von Artikel 10 der Konvention vereinbar war.
30. Was die Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und den Persönlichkeitsrechten des Arztes betrifft, erkennt der Gerichtshof, wie auch das Oberlandesgericht, an, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers Fragen des öffentlichen Interesses betrafen.
31. Er nimmt ferner zur Kenntnis, dass das Oberlandesgerichts feststellte, der Beschwerdeführer habe auf seiner Website geäußert, dass die ärztliche Tätigkeit von Dr. X. „Mord“ darstelle, und dass es eingehend prüfte, wie der Begriff „Mord“ zu verstehen sei. Es gelangte zu dem Ergebnis, dass die Inhalte der Website mehrdeutig gewesen seien und dass die Äußerungen als ein gegen Dr. X. persönlich gerichteter Vorwurf verstanden werden könnten, den Straftatbestand des Mordes verwirklicht zu haben. Daher kam es zu dem Schluss, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers als Tatsachenbehauptungen verstanden werden könnten. Da die Äußerungen offensichtlich unzutreffend seien, erließ das Oberlandesgericht die Unterlassungsanordnung.
32. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Frage, ob eine Äußerung als Tatsachenbehauptung oder Werturteil einzuordnen ist, zunächst innerhalb des Beurteilungsspielraums der innerstaatlichen Stellen, insbesondere der innerstaatlichen Gerichte, liegt (siehe Prager und Oberschlick ./. Österreich, 26. April 1995, Rdnr. 36, Serie A Nr. 313). In Anbetracht der von der Regierung vorgelegten Screenshots der Website, der Äußerungen des Beschwerdeführers und der Darstellung dieser Äußerungen hält der Gerichtshof die vom Oberlandesgericht vorgenommene Einordnung für vertretbar.
33. Der Gerichtshof stimmt auch mit der Schlussfolgerung des Oberlandesgerichts überein, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers als ein gegen Dr. X. gerichteter Vorwurf verstanden werden könnten, den Straftatbestand des Mordes verwirklicht zu haben. Das Oberlandesgericht führte zur Begründung aus, der Beschwerdeführer habe nicht hinreichend deutlich gemacht, dass Ärzte, die Abtreibungen im Einklang mit § 218a StGB vornähmen, von der Strafdrohung ausgenommen seien. Deshalb ist der vorliegende Fall von der Rechtssache A. (a. a. O.) zu unterscheiden, die ein Flugblatt des Beschwerdeführers betraf, auf dem er Abtreibungen zwar als rechtswidrig bezeichnet, aber eindeutig eine zusätzliche Erklärung hinzugefügt hatte, dass sie nicht strafbar seien. Im vorliegenden Fall jedoch gab der Beschwerdeführer eine solche zusätzliche Erklärung nicht, sondern erklärte lediglich, dass Abtreibungen Mord darstellten, und erwähnte nur einmal, dass sie „straffrei“ seien (siehe Rdnr .6). Dieser einmalige Hinweis im Zusammenhang mit Beratungsstellen konnte leicht übersehen werden und musste nicht als Darstellung der Rechtslage in Deutschland verstanden werden, wonach Ärzte, die Abtreibungen im Einklang mit § 218a StGB vornehmen, von der Strafdrohung ausgenommen sind.
34. Was die Tatsachengrundlage der Äußerungen des Beschwerdeführers angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer weder vor den innerstaatlichen Gerichten noch vor dem Gerichtshof geltend gemacht hat, dass die von Dr. X. vorgenommenen Abtreibungen Mord im rechtlichen Sinne des § 211 StGB darstellten. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass es keinerlei Tatsachengrundlage für die Behauptung gab, dass Dr. X. den Straftatbestand des Mordes verwirklicht habe. Ferner möchte der Gerichtshof hinzufügen, dass auch eine Äußerung, die ein Werturteil darstellt, einer hinreichenden Tatsachengrundlage bedarf; anderenfalls ist sie überzogen (siehe Jerusalem ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 26958/95, Rdnr. 43, ECHR 2001‑II). Folglich befindet der Gerichtshof, dass es selbst unter der Annahme, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers als Werturteile anzusehen wären, keine hinreichende Tatsachengrundlage dafür gäbe, Abtreibungen, wie sie von Dr. X. vorgenommen werden, als „Mord“ zu bezeichnen. In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof auch an, dass die Vorwürfe nicht nur sehr schwerwiegend waren, was sich daran zeigt, dass eine Verurteilung wegen Mordes mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, sondern sie auch zu Hass und Aggression anstiften könnten.
35. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nicht wegen Verleumdung strafrechtlich verurteilt oder zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt wurde (im Gegensatz dazu Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 93, ECHR 2004‑XI), sondern er lediglich verurteilt wurde, es zu unterlassen, Abtreibungen, wie sie von Dr. X., vorgenommen werden, als „Mord“ zu bezeichnen, und es damit zu unterlassen, den Eindruck zu erwecken, dass Dr. X. diese Straftat begehe.
36. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen und insbesondere die Schwere der gegen Dr. X. gerichteten Vorwürfe ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Unterlassungsanordnung in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel nicht unverhältnismäßig war und dass die vom Oberlandesgericht angeführten Gründe relevant und ausreichend waren. Die innerstaatlichen Gerichte konnten den Eingriff in die Ausübung des Rechts des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung daher in nachvollziehbarer Weise als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zum Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer ansehen.
37. Folglich ist Artikel 10 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 10 wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 10 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. September 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Yonko Grozev
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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