RECHTSSACHE EVERS gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 17895/14

Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass er durch die im Rahmen eines Betreuungsverfahrens getroffene Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, ihm den Umgang mit einer geistig behinderten Frau zu untersagen, in seinen Rechten nach den Artikeln 6 und 8 der Konvention verletzt worden sei. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 17895/14) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr E. („der Beschwerdeführer“), am 25. Februar 2014 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.


FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE E. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 17895/14)
ENTSCHEIDUNG

Artikel 8 • Recht auf Privatleben • Beanstandung eines vorhersehbaren Kontaktverbots im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch einer geistig behinderten Frau, der Mutter des Kindes des Beschwerdeführers • Artikel 8 nicht anwendbar • Fehlen einer Familienverbindung • kein besonderes Interesse der Frau an Kontakt zu dem Beschwerdeführer • Schutzsystem für die widerstandsunfähige Frau • schwerwiegende Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte • Gefahr weiterer Verletzungen im Falle der Fortsetzung des Kontakts
Artikel 6 (zivilrechtlicher Aspekt) • faires Verfahren • hinreichende Beweisgrundlage für die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte • Anhörung der Frau und von Sachverständigen sowie Gelegenheit des Beschwerdeführers, seine Argumente schriftlich vorzutragen • mangels Feststellung des „vernünftigen Willens“ der geistig behinderten Frau Verletzung ihrer Rechte nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention
Artikel 6 (zivilrechtlicher Aspekt) • faires Verfahren • Weigerung der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer vollständige Einsicht in die Betreuungsakte zu gewähren • keine Beeinträchtigung der Verteidigung des Beschwerdeführers • relevante und ausreichende Gründe
Artikel 6 (zivilrechtlicher Aspekt) • mündliche Verhandlung • keine außergewöhnlichen Umstände, die den Verzicht auf eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers rechtfertigen • Verfahren, das die Würdigung seiner Person und seiner Beziehung zu der geistig behinderten Frau beinhaltet

STRASSBURG
28. Mai 2020

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache E. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Yonko Grozev, Präsident,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Síofra O’Leary,
Ganna Yudkivska,
André Potocki,
Lәtif Hüseynov,
Angelika Nußberger
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 10. März 2020

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 17895/14) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr E. („der Beschwerdeführer“), am 25. Februar 2014 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde zunächst durch Herrn S., Rechtsanwalt in M., und anschließend durch Herrn K., Rechtsanwalt in L., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch eine ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass er durch die im Rahmen eines Betreuungsverfahrens getroffene Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, ihm den Umgang mit einer geistig behinderten Frau zu untersagen, in seinen Rechten nach den Artikeln 6 und 8 der Konvention verletzt worden sei.

4. Am 21. März 2016 wurde die Beschwerde der Regierung zur Kenntnis gebracht.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

A. Der Hintergrund der Rechtssache

5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer lebt in B.

6. 2009 lebte er in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Partnerin P.B. und deren Tochter V. Die 19.. geborene V. war damals 22 Jahre alt und leidet an einer geistigen Behinderung. P.B. war 2007 als rechtliche Betreuerin von V. eingesetzt worden.

7. An einem nicht bezeichneten Datum im Jahr 2009 leitete die Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer ein Strafverfahren wegen mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person ein. P.B. hatte sexuelle Kontakte zwischen dem Beschwerdeführer und V. angezeigt. Zunächst hatte sie behauptet, dass sie den Beschwerdeführer und V. unbekleidet und einander berührend im Bett ertappt habe. Ferner hatte sie angegeben, der Beschwerdeführer habe die sexuellen Kontakte zu V. zugegeben und den Vorfall der Tatsache zugeschrieben, dass P.B. ihm in der Vergangenheit den Geschlechtsverkehr verweigert habe. P.B. hatte darüber hinaus behauptet, dass er sich wegen ihrer finanziellen Abhängigkeit von ihm in Bezug auf V. „Freiheiten herausgenommen“ habe. Später im Strafverfahren zog P.B. ihre Behauptungen zurück und gab an, V. habe ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und sie, P.B., habe einer geplanten Heirat von V. und dem Beschwerdeführer zugestimmt.

8. Die Staatsanwaltschaft stellte das Strafverfahren am 10. Dezember 2009 ein. Auf Grundlage einer Stellungnahme des Allgemeinarztes von V. vom 10. November 2009, wonach V. durchaus fähig gewesen sei, körperlichen Widerstand zu leisten, wenn sie mit der sexuellen Beziehung zu dem Beschwerdeführer nicht einverstanden gewesen wäre, vertrat die Staatsanwaltschaft die Auffassung, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass V. unfähig sei, Widerstand gegen sexuelle Handlungen zu leisten.

9. Am 20. September 2010 wurde V. durch Beschluss des Amtsgerichts E. im Wege der einstweiligen Anordnung in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen untergebracht, P.B. als ihre Betreuerin entlassen und ein Berufsbetreuer für V. bestellt. Das Gericht führte aus, dass das Verfahren eingeleitet worden sei, nachdem es von einer Klinik die Mitteilung erhalten habe, dass V. vermutlich sexuellen Missbrauch erlitten habe, da sie an einer mittelgradigen geistigen Behinderung leide und von dem 71-jährigen Partner von P.B. – dem Beschwerdeführer – schwanger sei. Die einstweilige Anordnung wurde im Wesentlichen darauf gestützt, dass P.B. den Beschwerdeführer nicht davon abgehalten habe, V. zu missbrauchen und zu schwängern, sowie darauf, dass P.B. und V. keinen Wunsch geäußert hätten, die Umstände, die zu dem Missbrauch von V. und zu ihrer Schwangerschaft geführt hätten, zu ändern. Vor Erlass seines Beschlusses hatte das Amtsgericht V. und P.B. und auch den Beschwerdeführer persönlich angehört.

10. Das Amtsgericht ordnete die Einholung dreier Sachverständigengutachten zum körperlichen und psychischen Gesundheitszustand von V. an.

11. Im Anschluss leitete die Staatsanwaltschaft, die vom Amtsgericht entsprechend in Kenntnis gesetzt worden war, ein Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs ein, und zwar erneut gegen den Beschwerdeführer und erstmals auch gegen P.B. (als Betreuerin von V. zur maßgeblichen Zeit).

12. Am 2. März 2011 brachte V. einen Sohn zur Welt, der seither in einer Pflegefamilie lebt. Zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung hatte der Beschwerdeführer, dessen Vaterschaft festgestellt worden war, etwa einmal im Monat begleiteten Umgang mit seinem Sohn. V. hatte getrennt davon etwa alle vier bis sechs Wochen Umgang mit ihrem Sohn.

13. Am 21. März 2011 bestätigte das Amtsgericht Erding die einstweilige Anordnung vom 20. September 2010. Unter Berufung auf drei Sachverständigengutachten vom 3. November 2010, 20. Dezember 2010 bzw. 2. März 2011, die in dem Beschluss ausführlich zusammengefasst und als bedeutsam erachtet wurden, sowie auf die Stellungnahme der betreffenden Behörde, die Strafakten der Staatsanwaltschaft, die Anhörung von V., P.B. und des Beschwerdeführers und die erneute Anhörung von V. im Beisein ihres Betreuers am 15. März 2011, stellte es fest, dass V. eines Betreuers bedürfe, weil sie nicht in der Lage sei, irgendwelche ihrer Angelegenheiten selbständig zu besorgen. Sie leide an einer mittelgradigen geistigen Behinderung und an Epilepsie. Sie zeige schwerste Störungen der Auffassung, der Aufmerksamkeit, der Orientierung und des Gedächtnisses. Ihre Fähigkeit, zu kommunizieren, beschränke sich auf bruchstückhafte Äußerungen, die jegliche sinnvolle Kommunikation ausschlössen. Ihre Kritik- und Urteilsfähigkeit sei vollständig aufgehoben, da sie sich auf dem intellektuellen Entwicklungsstand eines vierjährigen Kindes befinde (körperlich auf dem einer Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen).

14. Das Amtsgericht stellte ferner fest, dass V. im strafrechtlichen Sinne widerstandsunfähig sei, da sie für jegliches freundlich erscheinende Ansinnen empfänglich sei. Insoweit könne sie selbst unangemessene Annäherungsversuche weder erkennen, noch sich dagegen zur Wehr setzen. Zu dauerhaften Bindungen sei sie nicht fähig, sie könne die Angemessenheit (oder Nichtangemessenheit) sozialer Situationen nicht erkennen, habe keinen Zeitbegriff und keinerlei Bewusstsein für Verantwortung sowie die Bedürfnisse anderer. Sie habe keinerlei Vorstellung von einer geschlechtlichen Beziehung und Eheschließung, geschweige denn von ihrer Schwangerschaft. Aufgrund der Vorgänge, die zu ihrer Schwangerschaft geführt hätten, sei sie erheblich beeinträchtigt worden. Dieser Geisteszustand habe sich angesichts der geringen Gedächtnisspanne und des fehlenden Zeitbegriffs als vorübergehend erwiesen. Das Amtsgericht kam vor dem Hintergrund der vorgenannten Tatsachen und Entwicklungen zu dem Ergebnis, dass die Betreuung auf den bereits mit der einstweiligen Anordnung vom 20. September 2010 bestellten Berufsbetreuer zu übertragen sei.

15. Das Amtsgericht erläuterte ferner detailliert, warum das Gutachten der von P.B. beauftragten privaten Sachverständigen Z. nicht überzeugend sei und zu keinen anderen Ergebnissen führe. Insoweit befand es, dass das Gutachten wissenschaftliche Standards nicht erfülle, da es im Wesentlichen Informationen und Meinungen von P.B. wiedergebe, ohne deren Wahrheitsgehalt und Verlässlichkeit zu überprüfen und ohne verfügbare objektive Informationen aus anderen Quellen zu berücksichtigen. Das Amtsgericht stellte darüber hinaus fest, dass die vorgebliche Sachverständige den Beschwerdeführer und auch V. nie persönlich getroffen habe, und gelangte zu dem Schluss, dass das von Z. erstellte Sachverständigengutachten wertlos sei.

16. Was die (kurze) Anhörung des Beschwerdeführers angeht, bemerkte das Amtsgericht, dieser habe erklärt, dass angesichts der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, das Strafverfahren einzustellen (siehe Rdnr. 8), kein Grund bestehe, V. von ihrer Mutter oder von ihm zu trennen. Seiner Ansicht nach sei V. volljährig, habe einen freien Willen und könne Geschlechtsverkehr haben, mit wem sie wolle.

17. Am 24. Mai 2012 regte das Landgericht T. eine Einstellung des Strafverfahrens mit der Auflage der Zahlung einer Geldbuße in Höhe von 1.000 Euro im Falle von P.B. und in Höhe von 8.000 Euro im Falle des Beschwerdeführers an. Das Gericht regte diese Auflage aufgrund seiner Feststellung an, dass unabhängig davon, ob festgestellt werde, dass V. widerstandsfähig gewesen sei (was einer Bewertung im Hinblick auf die rechtliche Wirksamkeit einer von ihr gegebenen Einwilligung bedürfe), nicht auszuschließen sei, dass der Beschwerdeführer einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlegen sei. Insbesondere könne nicht ausgeschlossen werden, dass dem Beschwerdeführer nicht vorwerfbar sei, auf die Bewertung der Staatsanwaltschaft vom 10. Dezember 2009 vertraut zu haben, wonach nicht davon ausgegangen werden könne, dass V. unfähig sei, Widerstand gegen die Aufforderung zu sexuellen Handlungen zu leisten. Eine Strafbarkeit nach § 179 StGB (siehe Rdnr. 43) scheide daher in diesem Verfahren aus. Das Landgericht wies aber besonders darauf hin, dass sich diese Bewertung von Dezember 2009 angesichts der Feststellungen in dem vorliegenden Verfahren als falsch herausgestellt habe. In Betracht komme aber eine Strafbarkeit nach § 174c Abs. 1 StGB (siehe Rdnr. 43), weil der Beschwerdeführer die besondere Vertrauensbeziehung zwischen V. und ihrer Mutter ausgenutzt habe. Insoweit könne jedoch aufgrund der gegebenen Umstände und insbesondere der vorhandenen Unterhaltsansprüche und Erbansprüche durch die Zahlung der genannten Geldbeträge zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigt werden.

18. Nachdem die Staatsanwaltschaft, P.B. und der Beschwerdeführer zugestimmt hatten, stellte das Landgericht das Verfahren am 26. Juli 2012 vorläufig und nach Zahlung der Geldbußen am 14. September 2012 endgültig ein.

B. Das in Rede stehende Verfahren

1. Entwicklung bis zum Kontaktverbot

19. Am 2. September 2012 besuchten P.B. und der Beschwerdeführer V., um an einem Tag der offenen Tür auf dem Gelände der Einrichtung, in der sie nun lebte, teilzunehmen. Nachdem P.B. und der Beschwerdeführer gegangen waren, zeigte V. den vom Personal der Einrichtung vorgelegten Unterlagen zufolge klare Zeichen einer psychischen Verstörung, die medikamentös behandelt werden musste.

20. Mit Schreiben vom 4. September 2012 an den Beschwerdeführer untersagte der gesetzliche Betreuer von V. jeglichen Kontakt zwischen ihm und V. Er teilte dem Beschwerdeführer mit, angesichts dessen, dass er (der Beschwerdeführer) stets vorgetragen haben, eine Weiterführung der Intimbeziehung mit V. zu wollen, mache er (der Betreuer) von seinem gesetzlichen Recht Gebrauch, jeglichen weiteren Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und V. zu untersagen. Mit Schreiben vom selben Tag an P.B. untersagte der Betreuer auch ihr den Kontakt; ferner setzte er das Amtsgericht E. von diesen Entscheidungen in Kenntnis und beantragte, diese Kontaktverbote förmlich zu genehmigen.

21. Mit Schreiben vom 6. September 2012 antwortete der Beschwerdeführer dem Betreuer und forderte ihn auf, die Behandlung von V. mit Psychopharmaka zu unterlassen und die „gesundheitsschädigende Zwangsspirale“ bei ihr zu entfernen. Ferner wandte er sich gegen das Kontaktverbot, da seiner Auffassung nach kein Grund dafür bestehe. Am selben Tag antwortete P.B., die nach eigenen Angaben an der Adresse des Beschwerdeführers wohnhaft war, dem Betreuer, dass es nach der Einstellung des Strafverfahrens keinen Grund mehr gebe, Begegnungen zwischen ihrer Tochter und dem Beschwerdeführer zu untersagen. Das Kontaktverbot sei nicht im Interesse ihrer Tochter und stelle eine Freiheitsberaubung dar. Die Verstörung, von der der Betreuer in seinem Antrag gesprochen habe, resultiere aus der willkürlichen Unterbringung ihrer Tochter in dem Pflegeheim, obwohl sie nach Hause wolle.

22. Am 12. September 2012 bestellte das Amtsgericht einen Verfahrenspfleger für V., weil Gegenstand des Verfahrens eine gerichtliche Bestätigung des vom Betreuer ausgesprochenen Umgangsverbots sei und diese Entscheidung die Grundrechte von V. berühren könne.

23. Am 18. Oktober 2012 hörte das Amtsgericht V. in dem Pflegeheim im Beisein ihres Betreuers und ihres Verfahrenspflegers an.

24. Am 22. November 2012 entschied das Amtsgericht unter Bezugnahme auf § 23 Abs. 2 und § 7 Abs. 2 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG, siehe Rdnrn. 40 und 41), den Antrag des Betreuers, zum Schutz von V. ein Kontaktverbot zu verhängen, dem Beschwerdeführer zur Stellungnahme zuzustellen, weil dieser durch die Entscheidung betroffen sei.

25. Am 22. November 2012 traf der Amtsrichter – ausweislich eines Aktenvermerks – V. anlässlich eines Besuchs in dem Pflegeheim in anderer Sache an. V. teilte ihm mit, dass der Beschwerdeführer an Weihnachten kommen werde. Auf die Fragen des Richters erwiderte sie zweimal, dass der Beschwerdeführer der Freund ihrer Mutter sei.

26. Am 24. November 2012 erhielt der Beschwerdeführer eine Abschrift des Antrags des Betreuers auf Erlass eines Kontaktverbots. Der zuständige Richter teilte ihm mit, dass er bei der Entscheidung über das Kontaktverbot (i) die Erkenntnisse des Betreuungsverfahrens und der Strafverfahren, (ii) die von P.B. erstellte Website, auf der sie den von ihr, V. und dem Beschwerdeführer geführten Kampf um ein gemeinsames „Familienleben“ darstelle, und (iii) die letzte persönliche Anhörung von V. am 18. Oktober 2012 durch das Amtsgericht berücksichtigen werde. Schließlich gab der Richter dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme bis zum 15. Dezember 2012. Der Beschwerdeführer reagierte darauf nicht.

2. Der Beschluss des Amtsgerichts bezüglich des Kontaktverbots

27. Am 10. Januar 2013 untersagte das Amtsgericht durch denselben Richter, der V., P.B. und den Beschwerdeführer vor der Entscheidung vom 20. September 2010 persönlich angehört hatte, und unter Bezugnahme auf die §§ 1908i Abs. 1, 1632 Abs. 2 BGB i. V. m. § 23 ff. FamFG (siehe Rdnrn. 38-40) jeglichen Umgang zwischen dem Beschwerdeführer und V. (einschließlich Kontaktaufnahmen persönlicher, brieflicher und telefonischer Art). Ferner drohte es für den Fall der Zuwiderhandlung gegen das Umgangsverbot ein Ordnungsgeld von bis zu 25.000 Euro, ersatzweise Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, an.

28. Das Amtsgericht befand, dass der behauptete Anspruch des Beschwerdeführers auf Umgang mit V. keine gesetzliche Grundlage habe, da das betreffende Gesetz einen Anspruch auf Umgang nur gegenüber minderjährigen, nicht aber volljährigen Personen vorsehe.

29. Ferner befand das Amtsgericht, dass der Beschwerdeführer seinen Anspruch auf Umgang auch nicht auf die Garantie des Familienlebens gemäß Artikel 6 Grundgesetz stützen könne. V. sei aufgrund ihrer Behinderung nicht geschäfts- und ehefähig. Das Kind, das der Beschwerdeführer mit V. habe, sei das Resultat einer schwerwiegenden Verletzung der Persönlichkeitsrechte von V., von massiven unerlaubten Handlungen und sogar des strafbaren sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger. V. könne gegen keinerlei scheinbar freundliche Vorschläge einen Widerstandswillen bilden. Ihre geistigen Störungen schlössen sogar aus, dass sie Art, Folgen und Risiken sexueller Handlungen und Schwangerschaft überhaupt erkenne, die zusätzlich persönlichkeitsbedingte Zutraulichkeit, Vertrauensseligkeit und Fügsamkeit bewirke, dass nicht einmal nennenswerte Aufwände erforderlich seien, sie zur Teilnahme an sexuellen Beziehungen zu bestimmen.

30. Nach Ansicht des Amtsgerichts würden diese Schlussfolgerungen nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass das erste Strafverfahren deshalb eingestellt worden sei, weil V. als widerstandsfähig eingeschätzt worden sei (siehe Rdnr. 8). Die Staatsanwaltschaft habe diese Entscheidung getroffen, ohne V. persönlich befragt und begutachtet zu haben. Dasselbe gelte auch für die Entscheidung des Landgerichts, das zweite Strafverfahren einzustellen (siehe Rdnrn. 15 und 16). Insoweit führte das Amtsgericht aus, dass auch die wechselhaften und widersprüchlichen Angaben von P.B. zu berücksichtigen seien. Danach bestünden Anhaltspunkte dafür, dass zunächst P.B. die sexuellen Annäherungsversuche des Beschwerdeführers zurückgewiesen habe, woraufhin der Beschwerdeführer eine sexuelle Beziehung mit V. angestrebt habe. Ferner erscheine es wahrscheinlich, dass P.B. deshalb anschließend den Wunsch nach der Gestattung eines normalen Familienlebens zwischen den Parteien (einschließlich einer Heirat) geäußert habe, weil sie gefürchtet habe, dass der Beschwerdeführer und sie selbst wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch einer widerstandsunfähigen Person strafrechtlich verfolgt würden.

31. Das Amtsgericht führte ferner aus, V. habe keinerlei Bindung zu dem Beschwerdeführer erkennen lassen. Vielmehr habe sie eine gefühlsfreie, flüchtige und wechselhafte Erinnerung an eine Person gezeigt, die sie bei ihrer persönlichen Anhörung durch das Amtsgericht beharrlich als Freund der Mutter bezeichnet habe. In den vergangenen zwei Jahren ihres Aufenthalts in dem vorgenannten Pflegeheim habe sie nicht nach dem Beschwerdeführer verlangt, Besuchswünsche geäußert oder seine Abwesenheit bemerkt.

32. Das Amtsgericht hob hervor, dass V. ein Umgangsrecht mit beliebigen Personen habe und dass das Umgangsbestimmungsrecht des Betreuers insoweit eingeschränkt werde durch Rechte Dritter sowie immanent durch den Betreuungsauftrag, insbesondere das Wohl von V. Es vertrat die Auffassung, dass bei der Entscheidung über die Verhängung eines Kontaktverbots das Wohl von V. ausreichend berücksichtigt worden sei. V. habe keinen Wunsch nach Umgang mit dem Beschwerdeführer; auch ihr Verfahrenspfleger sehe insoweit weder Notwendigkeit, noch Nützlichkeit schriftlicher oder persönlicher Kontakte zu dem Beschwerdeführer, noch einen entsprechenden Willen seitens V. Daher sei ein Umgang von V. mit dem Beschwerdeführer nicht nur deren Wohl nicht dienlich, sondern würde dieses schwerwiegend und nachhaltig gefährden. Das Amtsgericht führte insoweit aus, der Beschwerdeführer habe nach wie vor die Absicht, V. zu missbrauchen, was wahrscheinlich zu weiteren Schwangerschaften und damit zu besonderen Gefahren für V. führen würde, weil sie die Auswirkungen einer Schwangerschaft nicht verstehe und zu einer Geburt ohne Kaiserschnitt nicht in der Lage sei. Bei dieser Sachlage sei das Kontaktverbot nicht nur notwendig, sondern sogar zwingend geboten.

3. Der Beschluss des Amtsgerichts über die Akteneinsicht

33. Am 24. Januar 2013 beantragte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer Akteneinsicht im Betreuungsverfahren. Das Amtsgericht E. teilte ihm mit, dass die Akteneinsicht in Betreuungsakten gemäß § 13 FamFG (siehe Rdnr. 40) nur gewährt werden könne, soweit absolut notwendig, weil die Betreuungsakten hochsensible persönliche Daten enthielten, die den Gegenstand dieses Verfahrens beträfen.

34. Nachdem der Beschwerdeführer konkretisiert hatte, dass sein Antrag all diejenigen Aktenbestandteile betreffe, die im Zusammenhang mit dem Umgangsbeschluss des Amtsgerichts vom 10. Januar 2013 relevant gewesen seien, stellt ihm das Amtsgericht Kopien der Seiten 848-996 dieser Akte zur Verfügung, die u. a. Folgendes enthielten: seinen Beschluss vom 20. September 2010; seinen Beschluss vom 21. März 2011 (in dem die in seinen Entscheidungen herangezogenen Sachverständigengutachten ausführlich zusammengefasst waren); eine handschriftliche Stellungnahme des Personals des Heims von V. betreffend ihr Verhalten am 2. September 2012 und am darauffolgenden Tag; den Antrag des Betreuers auf Verhängung eines Kontaktverbots sowie ein ausführliches Protokoll der persönlichen Anhörung von V. am 18. Oktober 2012.

4. Das Rechtsmittelverfahren

35. Am 11. Februar 2013 legte der Beschwerdeführer gegen den Umgangsbeschluss vom 10. Januar 2013 Beschwerde ein. Am 4. März 2013 begründete er seine Beschwerde und beantragte eine Anhörung. Er rügte, dass er nicht persönlich angehört worden sei und dass ihm die notwendige Kenntnis des Inhalts der Verfahrensakte in dem V. betreffenden Betreuungsverfahren fehle. Ferner habe das Amtsgericht seine Entscheidung auf fehlerhafte und unzureichend ermittelte Schlussfolgerungen gestützt. Er beantragte eine weitere Beweiserhebung – insbesondere die Anhörung anderer Zeugen sowie die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens.

36. Am 15. März 2013 wies das Landgericht L. die Beschwerde zurück. Unter Bezugnahme auf die Sachverständigengutachten wiederholte es die Begründung des Amtsgerichts und schloss sich ihr an; es bestätigte, dass das Kontaktverbot in Anbetracht der Sachlage nicht nur rechtmäßig, sondern sogar zwingend geboten sei, um V. vor sexuellem Missbrauch zu schützen. Eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers sei nicht veranlasst gewesen. Er habe auf das Schreiben des Betreuers vom 4. September 2012 geantwortet, das Amtsgericht habe ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben (siehe Rdnr. 24) und er habe – mit anwaltlicher Unterstützung – eine 25-seitige Beschwerdebegründung vorgelegt. Einer persönlichen Anhörung des Beschwerdeführers habe es daher nicht bedurft. Auch § 34 Abs. 1 FamFG erfordere keine persönliche Anhörung, da dem Beschwerdeführer bereits auf andere Weise ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden sei. Das Landgericht ließ keine Rechtmittel gegen den Beschluss zu.

37. Am 3. Juni 2013 verwarf das Landgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers.

38. Am 25. August 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, eine Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1202/13).

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

A. Grundgesetz (GG)

39. Artikel 6 GG, soweit maßgeblich, lautet wie folgt:

„(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“

B. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)

40. In § 1896 ff. BGB sind die Voraussetzungen der Betreuung, die bei der Bestellung eines Betreuers herangezogenen Kriterien, der Umfang der Betreuung der betroffenen Person sowie die Rechte und Pflichten des Betreuers festgelegt. Gemäß § 1901 Abs. 2 BGB hat der Betreuer die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Schließlich sind gemäß § 1908i BGB eine Reihe anderer Vorschriften auf die Betreuung anwendbar. Diese Anwendbarkeit betrifft u. a. § 1632 Abs. 2 BGB, eine familienrechtliche Bestimmung, wonach die Personensorge das Recht umfasst, den Umgang des Kindes auch mit Wirkung für und gegen Dritte zu bestimmen.

C. Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)

41. § 1 FamFG sieht konkret vor, dass dieses Gesetz in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit gilt, soweit sie durch Bundesgesetz den Gerichten zugewiesen sind. Gemäß § 271 ff. FamFG handelt es sich bei Betreuungssachen um solche Angelegenheiten.

42. Die Verfahrensvorschriften gemäß FamFG unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von dem für das normale Zivilverfahren vorgesehenen Verfahren: Gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 FamFG sind diejenigen, deren Recht durch das Verfahren unmittelbar betroffen wird, als Beteiligte hinzuzuziehen. § 274 Abs. 1 FamFG sieht in Bezug auf das Betreuungsverfahren ausdrücklich vor, dass der Betroffene, der Betreuer und der Verfahrenspfleger zu beteiligen sind. Gemäß § 13 FamFG können die Verfahrensbeteiligten die Gerichtsakten auf der Geschäftsstelle einsehen, soweit nicht schwerwiegende Interessen eines Beteiligten oder eines Dritten entgegenstehen. Gemäß § 23 Abs. 2 FamFG soll das Gericht den Antrag an die übrigen Beteiligten übermitteln.

43. Die Gerichte können gemäß § 23 ff. FamFG bestimmte Verfahren von Amts wegen einleiten. Ferner hat das Gericht gemäß § 26 FamFG von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen. Gemäß § 32 Abs. 1 FamFG kann das Gericht die Sache mit den Beteiligten in einem Termin erörtern. Gemäß § 34 Abs. 1 FamFG hat das Gericht einen Beteiligten persönlich anzuhören, wenn dies zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs des Beteiligten erforderlich ist oder wenn dies in diesem oder in einem anderen Gesetz vorgeschrieben ist. Gemäß § 48 FamFG kann das Gericht des ersten Rechtszugs eine rechtskräftige Endentscheidung mit Dauerwirkung, gegebenenfalls auch von Amts wegen, aufheben oder ändern, wenn sich die zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich wesentlich geändert hat. Ferner kann gemäß § 65 FamFG eine Beschwerde gegen eine Entscheidung eines Gerichts des ersten Rechtszugs auf neue Tatsachen und Beweismittel gestützt werden.

D. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG)

44. Gemäß § 170 Abs. 1 GVG sind Verhandlungen, Erörterungen und Anhörungen in Familiensachen sowie in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht öffentlich. Das Gericht kann die Öffentlichkeit zulassen, jedoch nicht gegen den Willen eines Beteiligten. In Betreuungs- und Unterbringungssachen betreffend Erwachsene ist auf Verlangen des betroffenen Erwachsenen einer Person seines Vertrauens die Anwesenheit zu gestatten.

E. Strafgesetzbuch (StGB)

45. § 179 StGB stellt den sexuellen Missbrauch von Widerstandsunfähigen unter Strafe. Gemäß 174c Abs. 1 StGB ist sexueller Missbrauch unter Missbrauch u. a. des Betreuungsverhältnisses, das wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung eingerichtet wurde, strafbar.

III. EINSCHLÄGIGE MATERIALIEN DES VÖLKERRECHTS

46. Die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das Deutschland am 30. März 2007 unterzeichnet hat und das am 26. März 2009 in Kraft getreten ist, werden in A.‑M.V. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 53251/13, Rdnrn. 39‑48, 23. März 2017, und I.C. ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 36934/08, Rdnrn. 41‑44, 24. Mai 2016, dargestellt.

47. 2015 gab der VN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen seine abschließenden Bemerkungen zum ersten Staatenbericht Deutschlands ab. Darin brachte der Ausschuss die Besorgnis zum Ausdruck, dass das im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch dargestellte und geregelte Rechtsinstrument der Betreuung mit dem Übereinkommen unvereinbar sei. Er empfahl, in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 (2014) des Ausschusses zur gleichen Anerkennung vor dem Recht alle Formen der ersetzenden Entscheidung abzuschaffen und durch ein System der unterstützten Entscheidung zu ersetzen, professionelle Qualitätsstandards für Mechanismen der unterstützten Entscheidung zu entwickeln und (in enger Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen) in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 des Ausschusses auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene für alle Akteure (einschließlich öffentliche Bedienstete, Richter, Sozialarbeiter, Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialbereich, und für die Gesellschaft im weiteren Sinne) Schulungen zu Artikel 12 des Übereinkommens anzubieten.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

48. Der Beschwerdeführer rügte das gegen ihn verhängte Verbot des Kontakts mit V., der geistig behinderten Tochter seiner ehemaligen Partnerin, mit der er ein Kind gezeugt hat. Ferner machte er geltend, dass das Verfahren betreffend das Kontaktverbot mit mehreren Mängeln behaftet sei. Er berief sich auf Artikel 8 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, […].

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

49. Die Regierung machte geltend, dass Artikel 8 der Konvention nicht anwendbar sei. Der Beschwerdeführer könne sich weder auf den Begriff des „Familienlebens“, noch auf den des „Privatlebens“ berufen. Wenn die Zeugung eines Kindes ein Familienleben schaffen könnte, dann könnte jeder erzwungene Sexualkontakt zwei Personen zu einer Familie zusammenbinden und es ermöglichen, dass jemand durch Zwang den Schutz von Artikel 8 der Konvention herbeiführe. V. habe sich nicht aus freien Stücken dazu entschlossen, mit ihm zusammen zu sein, da ihr aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die hierfür notwendige Fähigkeit fehle. Dass V. eine Zeitlang mit dem Beschwerdeführer in einem gemeinsamen Haushalt gelebt habe, habe nicht auf einer freien Willensentscheidung von V. beruht. Sie hätten vielmehr zufällig zusammengewohnt, weil der Beschwerdeführer der Partner von P.B. gewesen sei und mit dieser einen gemeinsamen Haushalt begründet habe. Ferner habe sie auch im Anschluss keinen Wunsch geäußert, Kontakt zu dem Beschwerdeführer zu haben. Der Beschwerdeführer könne nicht einseitig erklären, dass V. ein Teil seines Privatlebens sei.

50. Die Regierung betonte, dass zwei Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis gelangt seien, dass V. geschäfts-, einwilligungs- und widerstandsunfähig sei. Das Landgericht T. weise in seinem Beschluss, in dem es die Einstellung des Strafverfahrens angeregt habe, ausdrücklich darauf hin, dass nach Aktenlage von der Widerstandsunfähigkeit von V. auszugehen sei. Die Regierung kam zu dem Schluss, dass, wenn der Beschwerdeführer daran festhalten wollte, weiterhin eine sexuelle Beziehung zu V. führen zu wollen, dies einer Ankündigung der Begehung einer Straftat gleichkommen würde.

51. Der Beschwerdeführer vertrat die Ansicht, dass Artikel 8 anwendbar sei, und trug vor, dass V. und er eine Familie seien, die den Schutz nach Artikel 8 der Konvention verdiene. Sie seien ein Paar mit einem gemeinsamen Kind; beide wünschten sich intimen (auch sexuellen) Kontakt. Abgesehen davon sei zumindest sein Privatleben betroffen, weil das Kontaktverbot auch jegliche andere Form des Kontakts ausschließe.

52. Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass in dem vorliegenden Verfahren kein Aspekt des Familienlebens des Beschwerdeführers in Rede steht. Die bloße Tatsache, dass der Beschwerdeführer in einem gemeinsamen Haushalt mit P.B. und deren Tochter V. gelebt hatte und er der leibliche Vater des Kindes von V. ist, stellt unter den Umständen des vorliegenden Falles keine Familienverbindung dar, die in den Schutzbereich von Artikel 8 der Konvention unter dem Aspekt des „Familienlebens“ fallen würde. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Frage der Unterbringung des Sohnes des Beschwerdeführers in einer Pflegefamilie und des Umgangs mit ihm nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Gerichtshof ist.

53. Was den Aspekt des „Privatlebens“ angeht, hatte der Gerichtshof bereits bei früherer Gelegenheit darauf hingewiesen, dass der Begriff des „Privatlebens“ weitgefasst und einer abschließenden Definition nicht zugänglich ist. Er erfasst die physische und psychische Unversehrtheit einer Person. Daher kann er zahlreiche Aspekte ihrer physischen und sozialen Identität umfassen. Artikel 8 schützt zusätzlich das Recht auf persönliche Entwicklung und das Recht, Beziehungen zu anderen Menschen und zur Außenwelt einzugehen und zu entwickeln (siehe mit weiteren Nachweisen Denisov ./. Ukraine [GK], Individualbeschwerde Nr. 76639/11, Rdnr. 95, 25. September 2018). Die weite Fassung des Artikels 8 bedeutet jedoch nicht, dass er jegliche Handlung schützt, die eine Person mit anderen Menschen anstrebt, um solche Beziehungen einzugehen und zu entwickeln (Friend u .a. ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 16072/06 und 27809/08, Rdnr. 41, 24. November 2009; Gough ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 49327/11, Rdnr. 183, 28. Oktober 2014).

54. Jedoch kann Artikel 8 unter dem Aspekt des Privatlebens nicht so verstanden werden, dass er das Recht an sich schützt, eine Beziehung mit einer bestimmten Person einzugehen. Der Gerichtshof ist bisher in der Regel davon ausgegangen, dass der Kontakt zu einer bestimmten anderen Person in erster Linie unter dem Aspekt des Familienlebens einen grundlegenden Bestandteil von Artikel 8 darstellt (siehe z. B. E. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnr. 43, ECHR 2000‑VIII (betreffend Eltern und Kinder); Kruškić ./. Kroatien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 10140/13, Rdnr. 111, 25. November 2014 (betreffend Großeltern und ihre Enkelkinder), und Messina ./. Italien (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 25498/94, Rdnr. 61, 28. September 2000 (betreffend Gefangene und ihre engeren Familienmitglieder). Nach Ansicht des Gerichtshofs kommt das Privatleben in der Regel nicht in Betracht, wenn ein Beschwerdeführer in Bezug auf diese Person kein „Familienleben“ im Sinne von Artikel 8 zusteht und wenn die Person den Wunsch nach Kontakt nicht teilt. Dies gilt umso mehr, wenn die Person, zu der der Kontakt aufrechterhalten werden soll, das Opfer eines Verhaltens ist, das von den innerstaatlichen Gerichten als schädlich eingestuft wurde.

55. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass Artikel 8 nicht dazu herangezogen werden kann, einen Ansehensverlust zu rügen, wenn dieser eine vorhersehbare Folgeerscheinung eigenen Handelns, beispielsweise der Begehung einer Straftat, ist. Diese Regel beschränkt sich nicht auf den Ansehensverlust, sondern wurde zu einem breiter gefassten Grundsatz erweitert, wonach persönliches, soziales, seelisches und wirtschaftliches Leid, das eine vorhersehbare Folgeerscheinung der Begehung einer Straftat sein könnte, nicht zur Untermauerung der Rüge herangezogen werden kann, dass eine strafrechtliche Verurteilung an sich einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens darstelle. Dieser erweiterte Grundsatz erfasst nicht nur Straftaten, sondern auch anderes Fehlverhalten, das mit einem gewissen Maß an rechtlicher Verantwortlichkeit und vorhersehbaren negative Auswirkungen auf das Privatleben einhergeht (siehe Denisov, a. a. O., Rdnr. 98).

56. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass das Kontaktverbot nicht Beziehungen des Beschwerdeführers zu anderen Menschen im Allgemeinen betrifft, sondern lediglich den Kontakt zu V., und zwar jegliche Art von Kontakt. Er stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer darauf besteht, Kontakt zu V. zu haben, wohingegen die innerstaatlichen Gerichte festgestellt haben, dass V. kein besonderes Interesse an einem Kontakt zu dem Beschwerdeführer geäußert habe. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus fest, dass der Kontakt zwischen dem Beschwerdeführer und V. als schädlich für V. eingestuft wurden, die nach seinem Besuch im Heim Zeichen einer psychischen Verstörung gezeigt und Medikamente benötigt hatte. Er kommt zu dem Schluss, dass sich der Beschwerdeführer nicht auf Artikel 8 berufen kann, um die Anordnung des Kontaktverbots in Bezug auf V. zu beanstanden.

57. Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass den Zivilgerichten zufolge, die ihre Entscheidungen auf die Schlussfolgerungen von drei Sachverständigen stützten, das gemeinsame Kind des Beschwerdeführers und von V. das Resultat einer schwerwiegenden Verletzung der Persönlichkeitsrechte von V. sei, die die Folgen und Risiken sexueller Handlungen und Schwangerschaft nicht verstehen könne, und dass der Beschwerdeführer nach wie vor die Absicht habe, V. zu missbrauchen, was wahrscheinlich zu weiteren Schwangerschaften und zu besonderen Gefahren für V. führen würde. In seinem Beschluss vom 24. Mai 2012, in dem es die Einstellung des Strafverfahrens anregte, wies das Landgericht Traunstein den Beschwerdeführer und P.B. ausdrücklich darauf hin, dass V. als widerstandsunfähig anzusehen sei (siehe Rdnr. 15). Die Entscheidung, das Kontaktverbot zu verhängen, und deren Folgen konnten daher als vorhersehbare Folgeerscheinung der Absicht des Beschwerdeführers betrachtet werden, weiterhin Umgang mit V. zu pflegen.

58. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Beanstandung des Kontaktverbots durch den Beschwerdeführer nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 8 der Konvention unter dem Aspekt des Privatlebens fällt.

59. Daraus folgt, dass diese Rüge im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a ratione materiae mit Artikel 8 der Konvention unvereinbar und nach Artikel 35 Abs. 4 zurückzuweisen ist.

II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION

60. Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren. Insbesondere rügte er, dass das Kontaktverbot auf eine fehlerhafte Beweisgrundlage gestützt worden sei, dass ihm nicht ausreichend Einsicht in die Betreuungsakte gewährt worden sei und dass er insbesondere vor dem Landgericht nicht persönlich angehört worden sei. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit für die vorliegende Rechtssache maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich … verhandelt wird. […]“

61. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.

A. Zulässigkeit

62. Die Regierung machte geltend, dass Artikel 6 Abs.1 auf das Verfahren im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Zwar erkannte sie an, dass es für die Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 1 ausreiche, dass eine Streitigkeit über einen vom innerstaatlichen Recht gewährten Anspruch bestand, jedoch gebe es einen solchen Anspruch des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall nicht. Wie das Amtsgericht und das Landgericht ausgeführt hätten, habe der Beschwerdeführer nach innerstaatlichem Recht keinen Anspruch auf Umgang mit der volljährigen V.

63. Der Beschwerdeführer vertrat die Ansicht, dass Artikel 6 Abs. 1 auf das Gerichtsverfahren im vorliegenden Fall anwendbar sei. Nach dem innerstaatlichen Recht habe er einen Anspruch darauf, keinen ungerechtfertigten Kontaktverboten unter Androhung einer Strafe unterworfen zu werden.

64. Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass Artikel 6 nicht unter dem strafrechtlichen Aspekt auf das vorliegende Verfahren anwendbar ist, weil das Kontaktverbot nicht die Folge eines Strafverfahrens war und keine strafrechtliche Sanktion darstellte, auch wenn im Falle der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld (oder Ordnungsstrafe) gegen den Beschwerdeführer verhängt werden konnte.

65. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Artikel 6 Abs. 1 unter seinem „zivilrechtlichen“ Aspekt nur anwendbar ist, wenn eine „Streitigkeit“ über einen „Anspruch“ – oder eine „Verpflichtung“ – vorliegt, der bzw. die zumindest bei vertretbarer Begründung als nach innerstaatlichem Recht anerkannt angesehen werden kann, ungeachtet dessen, ob der Anspruch oder die Verpflichtung nach der Konvention geschützt ist. Es muss sich dabei um eine tatsächliche und erhebliche Streitigkeit handeln; sie kann sich nicht nur auf das tatsächliche Bestehen eines Anspruchs, sondern auch auf dessen Umfang und die Art seiner Geltendmachung beziehen; schließlich muss der Ausgang des Verfahrens für den in Rede stehenden Anspruch unmittelbar entscheidend sein; ein lediglich schwacher Zusammenhang oder nur geringfügige Folgen reichen nicht aus, um Artikel 6 Abs. 1 zum Tragen zu bringen (siehe u. v. a. Boulois ./. Luxemburg [GK], Individualbeschwerde Nr. 37575/04, Rdnr. 90, ECHR 2012, und Regner ./. Tschechische Republik [GK], Individualbeschwerde Nr. 35289/11, Rdnr. 99, ECHR 2017).

66. Was das Bestehen eines Anspruchs angeht, erinnert der Gerichtshof daran, dass der Ausgangspunkt die Bestimmungen des maßgeblichen innerstaatlichen Rechts und deren Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte sein muss. Artikel 6 Abs. 1 garantiert keine konkreten zivilrechtlichen „Ansprüche und Verpflichtungen“ im materiellen Recht der Vertragsstaaten: Der Gerichtshof kann nicht durch seine Auslegung von Artikel 6 Abs. 1 ein materielles Recht begründen, das in dem betreffenden Staat keine Rechtsgrundlage hat (Regner, a. a. O., Rdnr. 100 und die darin zitierten Quellen).

67. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer nach Auffassung der innerstaatlichen Gerichte keinen Anspruch auf Umgang mit der volljährigen V. hat, weil das innerstaatliche Recht einen Anspruch volljähriger Personen auf Umgang nur gegenüber Kindern vorsieht. Die Frage des Bestehens eines Anspruchs auf Umgang ist nach dem innerstaatlichen Recht jedoch von der Frage zu unterscheiden, ob die Verhängung eines Kontaktverbots gerechtfertigt war. Es ist möglich, dass eine Person keinen Anspruch auf Umgang mit einer anderen Person hat, ohne dass jedoch von einer staatlichen Stelle ein Verbot jeglichen Umgangs mit dieser Person gegen sie verhängt wird. Der Anspruch auf Umgang ist nur ein Aspekt der weiter gefassten Frage, um die es in dem innerstaatlichen Verfahren ging, nämlich, ob die von ihrem Betreuer vertretene V. die Verhängung eines Kontaktverbots beantragen konnte und ob der Beschwerdeführer einer entsprechenden Verpflichtung unterworfen werden konnte, keinen Kontakt zu ihr aufzunehmen.

68. Es lag also unabhängig davon, ob nach der innerstaatlichen Rechtsordnung ein Anspruch auf Umgang vorgesehen ist, im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 eine „Streitigkeit“ über eine „Verpflichtung“ zur Einhaltung des Kontaktverbots vor. Diese im Rahmen eines familiengerichtlichen Betreuungsverfahrens angeordnete Verpflichtung war auch zivilrechtlicher Natur, und das mögliche Ordnungsgeld, das im Falle der Nichteinhaltung des Kontaktverbots gegen den Beschwerdeführer verhängt werden konnte, gehörte nicht anderweitig zu den normalen bürgerlichen Pflichten in einer demokratischen Gesellschaft (vgl. Schouten und Meldrum ./. Niederlande, 9. Dezember 1994, Rdnr. 50, Serie A Bd. 304; Ferazzini ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 44759/98, Rdnr. 25, 12. Jul 2001).

69. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass die Rüge nach Artikel 6 der Konvention nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

(a) Das Vorbringen des Beschwerdeführers

70. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass das Verfahren aus verschiedenen Gründen nicht fair gewesen sei. Zunächst seien Beweise nicht erhoben worden, obwohl er dies beantragt habe. Insbesondere wäre die Bestellung eines weiteren Sachverständigen zu der Frage erforderlich gewesen, ob V. angesichts ihrer geistigen Behinderung in der Lage war, zu verstehen, dass Kontakt zu dem Beschwerdeführer ihrem Wohl nicht dienlich war. Ferner hätten weitere Zeugen angehört werden müssen. Schließlich hätten die innerstaatlichen Gerichte V. ihr Recht auf Selbstbestimmung verwehrt, indem sie ihren Willen entgegen ihren tatsächlichen Wünschen bestimmt hätten.

71. Der Beschwerdeführer trug weiter vor, dass ihm keine Einsicht in die gesamte Betreuungsakte gewährt worden sei, einschließlich der Sachverständigengutachten, und dass er nicht nur unvollständige, sondern teilweise auch unleserliche Kopien der Gerichtsakte erhalten habe. Er machte geltend, dass einem Richter nicht gestattet sein sollte, eine Vorauswahl der ihm zur Verfügung zu stellenden Akteninhalte zu treffen. Ohne Einsicht in die Originalakte könne er nicht überprüfen, ob Gerichtsentscheidungen unter Einhaltung der Formerfordernisse ergangen seien, so etwa der Beschluss des Amtsgerichts vom 12. September 2012 über die Bestellung eines Verfahrenspflegers für V. Der Beschwerdeführer argumentierte, die Gerichtsakte hätte zumindest seinem Rechtsanwalt zur Verfügung gestellt werden sollen.

72. Darüber hinaus trug der Beschwerdeführer vor, dass es die innerstaatlichen Gerichte abgelehnt hätten, ihn persönlich anzuhören. Eine persönliche Anhörung sei notwendig gewesen, zum einen wegen der weitreichenden Folgen der Entscheidung für ihn und seine Familie – V. und ihr Sohn eingeschlossen –, zum anderen aber auch, weil der Ausgang des Verfahrens größtenteils davon abhängig gewesen sei, welchen persönlichen Eindruck das Gericht von ihm gehabt habe. Der Beschwerdeführer betonte, eine mündliche Verhandlung hätte zwingend erforderlich sein sollen, nachdem ihm die Gerichte vollständige Akteneinsicht verwehrt hätten. Nur eine persönliche Anhörung, die ihm Gelegenheit gegeben hätte, V. und dem Betreuer Fragen zu stellen, wäre im Hinblick auf seinen Anspruch auf rechtliches Gehör ausreichend gewesen. In diesem Zusammenhang trug der Beschwerdeführer vor, dass in dem in Rede stehenden Verfahren entgegen der Annahme der Regierung nicht das Wohl von V. im Mittelpunkt gestanden habe, sondern das gegen ihn verhängte Kontaktverbot.

73. Nach Ansicht des Beschwerdeführers seien diese Verfahrensmängel das Resultat der – unrechtmäßigen – Anwendung der verhältnismäßig ungünstigen materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des FamFG anstelle der allgemein anwendbaren materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) gewesen.

(b) Das Vorbringen der Regierung

74. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass das Verfahren im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fair gewesen sei. Sie trug vor, dass die Besonderheiten der Anwendbarkeit des FamFG berücksichtigt werden müssten. Die im FamFG verankerten Verfahrensgarantien seien so ausgestaltet worden, dass sie eine bestimmte Art der Rechtsfürsorge für Menschen ermöglichten, die – aufgrund einer erheblichen Schutzbedürftigkeit – dieser in besonderer Weise bedürften. Im Mittelpunkt solcher Verfahren stünden (im Unterschied zum üblichen Verfahren) nicht die Ermöglichung der unparteiischen Streitentscheidung zwischen zwei Parteien in einem kontradiktorischen Verfahren, sondern die Prüfung, ob bestimmte Maßnahmen im Einklang mit dem Willen und dem Wohl der betreuten Person stünden. Vor diesem Hintergrund seien Betreuungsverfahren dadurch gekennzeichnet, dass der Amtsermittlungsgrundsatz gelte, dass es im Ermessen des Gerichts stehe, ob eine (mündliche) Verhandlung mit den Parteien stattfinde, und dass das Recht der Beteiligten auf Akteneinsicht gerechtfertigten Beschränkungen unterliege (siehe Rdnr. 40).

75. Die Regierung führte aus, das Amtsgericht habe V. persönlich angehört, einen Verfahrenspfleger für sie bestellt und drei Sachverständigengutachten aus dem vorangegangenen Betreuungsverfahren herangezogen. Einer weiteren Beweiserhebung habe es daher nicht bedurft. Die Regierung gelangte zu dem Ergebnis, dass die innerstaatlichen Gerichte die Tatsachen festgestellt hätten, ohne das Selbstbestimmungsrecht von V. zu missachten.

76. Hinsichtlich der Akteneinsicht durch den Beschwerdeführer wies die Regierung darauf hin, dass dem (anwaltlich vertretenen) Beschwerdeführer nach Erlass des Beschlusses des Amtsgerichts vom 10. Januar 2013 Einsicht in die erheblichen Bestandteile der Betreuungsakte gewährt worden sei, insbesondere den Beschluss des Amtsgerichts vom 21. März 2011, in dem die Sachverständigengutachten ausführlich zusammengefasst seien (siehe Rdnr. 13). Bezüglich der verbleibenden Aktenbestandteile, insbesondere der Sachverständigengutachten, machte die Regierung geltend, dass die Nichtgewährung der Einsichtnahme gerechtfertigt gewesen sei, da sie dem Schutz von V. gedient habe.

77. Was schließlich die nicht erfolgte persönliche Anhörung des Beschwerdeführers angeht, trug sie vor, dass sich zunächst der Betreuer an den Beschwerdeführer gewandt habe, dass er vom Amtsgericht über das laufende Verfahren unterrichtet worden sei und dass ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden sei. Im Rechtsmittelverfahren habe er eine umfassende schriftliche Stellungnahme abgegeben. Es habe daher keine Notwendigkeit bestanden, dem Beschwerdeführer noch einmal persönlich zu begegnen.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

78. Der Gerichtshof erinnert an seine Rechtsprechung, wonach das in Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vorgesehene Recht auf ein faires Verfahren und öffentliche Verhandlung ein allgemeines Erfordernis begründet, dass das innerstaatliche Verfahren kontradiktorischer Natur ist (Regner, a. a. O., Rdnr. 146 ff.). Der Gerichtshof verweist insbesondere auf seine Rechtsprechung zur Beweisführung (siehe mit weiteren Nachweisen E. a. a. O., Rdnr. 66). Darüber hinaus hat der Gerichtshof jüngst seine Rechtsprechung zu der Frage der persönlichen Anhörung (siehe Ramos Nunes de Carvalho e Sá ./. Portugal ([GK], Individualbeschwerden Nrn. 55391/13 und 2 weitere, Rdnr. 187 ff., 6. November 2018) und zu der Frage der Offenlegung von Unterlagen (siehe Regner, a. a. O., Rdnr. 148 ff.) zusammengefasst.

(a) Beweisgrundlage der Entscheidung

79. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer das Unterlassen einer weiteren Beweiserhebung geltend machte. Er habe die Einholung weiterer Sachverständigengutachten und die Anhörung weiterer Zeugen beantragt. Ferner trug er vor, dass der Wille von V. unter Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts bestimmt worden seien.

80. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es nicht seine Aufgabe ist, die Sachverhalts- und Beweiswürdigung der innerstaatlichen Gerichte durch seine eigene zu ersetzen. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention legt keine Regeln über die Zulässigkeit oder den Beweiswert von Beweismitteln oder über die Beweislast fest, die im Wesentlichen durch das innerstaatliche Recht zu regeln sind (T. ./. Frankreich und Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 47457/98 und 47458/99, 27. April 2000). Auch obliegt es den innerstaatlichen Gerichten, die Relevanz der vorgelegten Beweismittel zu beurteilen (Centro Europa 7 S.R.L. und Di Stefano ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 38433/09, Rdnr. 198, 7. Juni 2012). Nach der Konvention besteht die Aufgabe des Gerichtshofs vielmehr darin, festzustellen, ob das Verfahren insgesamt fair war, einschließlich der Art und Weise der Beweisaufnahme (Elsholz, a. a. O., Rdnr. 66).

81. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die innerstaatlichen Gerichte V. persönlich angehört haben, ihnen drei Sachverständigengutachten sowie weitere Beweismittel vorgelegen haben und sie dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben haben, seine Argumente schriftlich vorzutragen. Vor diesem Hintergrund deutet nichts darauf hin, dass es dem Verfahren insgesamt an einer ausreichenden Beweisgrundlage mangelte.

82. Was die Behauptung des Beschwerdeführers angeht, dass das Selbstbestimmungsrecht von V. verletzt worden sei, stellt der Gerichtshof fest, dass die ihm vorliegende Rüge ausschließlich den Beschwerdeführer, insbesondere seine Verfahrensrechte, betrifft, wenn auch in einem V. betreffenden Betreuungsverfahren. Es ist jedoch nicht Sache des Beschwerdeführers, das geltend zu machen, was seiner Meinung nach die Rechte und Interessen von V. sind. Wie die Regierung berücksichtigt auch der Gerichtshof die Fragen, die sich in unterschiedlichen Verfahren im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht geistig behinderter Personen stellen können. In seiner bisherigen Rechtsprechung hat er bereits betont, dass die innerstaatlichen Stellen in jedem Einzelfall einen Ausgleich zwischen der Achtung der Würde und Selbstbestimmung der betroffenen Person und dem Erfordernis, ihre Interessen zu schützen und zu wahren, schaffen müssen, insbesondere wenn es um eine besonders schutzbedürftige Person geht (A.-M.V. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 53251/13, Rdnrn. 89-90, 23. März 2017). Im Zusammenhang mit dem Betreuungsverfahren, in dem der Beschwerdeführer seine Verfahrensrechte missachtet sieht, scheinen die innerstaatlichen Stellen genau dies in Bezug auf V. angestrebt zu haben.

83. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass die innerstaatlichen Gerichte insbesondere drei Sachverständigengutachten, die konkrete Situation von V. sowie mehrere objektive Anhaltspunkte berücksichtigt haben, die dafür sprechen, dass es vorliegend zu einer erheblichen Abweichung von der Art von Beziehung gekommen ist, die eine geistig behinderte Person normalerweise eingehen würde. Sie stützten ihre Entscheidung über das Kontaktverbot nicht auf den Status von V. als Person mit einer Behinderung, sondern auf die Feststellung, dass ihre Behinderung dergestalt war, dass sie nicht in der Lage war, die Bedeutung und die Auswirkungen des in Rede stehenden Umgangs wie auch die Besonderheiten ihrer Beziehung – u. a. die Tatsache, dass der Beschwerdeführer zuvor der Partner ihrer Mutter war – in angemessener Weise zu begreifen, und schließlich darauf, dass ihr jegliche andere Art des Kontakts ebenfalls nicht zuträglich wäre. Ferner wurde V. mehrmals persönlich angehört und es gab wirksame Schutzmaßnahmen, um im Verlauf des innerstaatlichen Verfahrens jegliche Art des Missbrauchs auszuschließen – insbesondere die Beteiligung des Betreuers und des Verfahrenspflegers. Soweit dies für den Fall des Beschwerdeführers überhaupt erheblich ist, gibt es insgesamt keine Anhaltspunkte dafür, dass der „vernünftige Wille“ von V. unter Verletzung ihrer Rechte nach Artikel 8 Abs. 1 der Konvention bestimmt wurde.

84. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass nichts darauf hindeutet, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidungen auf unzureichende Gründe gestützt oder es willkürlich abgelehnt haben, relevante Beweise zu erheben.

85. Folglich ist Artikel 6 der Konvention insoweit nicht verletzt worden.

(b) Einsicht in die Verfahrensakte

86. Was die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der Einsicht in die Verfahrensakte angeht, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und der Grundsatz der Waffengleichheit, die eng miteinander verbunden sind, grundlegende Bestandteile des Begriffs des fairen Verfahrens im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention sind. Jedoch gelten die aus diesen Grundsätzen abgeleiteten Rechte nicht absolut. Der Gerichtshof hat bereits Fälle entschieden, in denen den übergeordneten staatlichen Interessen Vorrang eingeräumt wurde, wenn einer Partei ein vollständig kontradiktorisches Verfahren verwehrt wurde, und er hat anerkannt, dass den Vertragsstaaten in diesem Bereich ein bestimmter Beurteilungsspielraum zukommt (vgl. Regner, a. a. O., Rdnrn. 146‑147).

87. Ferner hat er die Auffassung vertreten, dass auch der Anspruch auf die Offenlegung von maßgeblichen Beweismitteln kein absolutes Recht darstellt. Maßnahmen, die die Rechte einer Verfahrenspartei beschränken, sind nur gestattet, wenn sie den Wesensgehalt dieser Rechte nicht beeinträchtigen (ebd., Rdnr. 148). In Fällen, in denen der antragstellenden Partei Beweismittel aus Gründen des öffentlichen Interesses vorenthalten wurden, muss der Gerichtshof den Prozess der Entscheidungsfindung prüfen, um sicherzustellen, dass er so weit wie möglich dem Erfordernis der Gewährleistung eines kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit entsprach und angemessene Schutzvorkehrungen beinhaltete, um die Interessen der betroffenen Person zu schützen (ebd., Rdnr. 149).

88. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer erst dann Einsicht in die Betreuungsakte beantragte, nachdem der Beschluss des Amtsgerichts, ein Kontaktverbot zu verhängen, bereits ergangen war. Im Anschluss gewährte das Amtsgericht Einsicht nur in diejenigen Aktenbestandteile, die es als relevant für seine Entscheidung ansah. Diese Aktenbestandteile wurden dem Beschwerdeführer in Form von Papierkopien zur Verfügung gestellt (siehe Rdnr. 32). Dem Beschwerdeführer wurde somit keine Einsicht in die Verfahrensakte selbst und in ihrer Gesamtheit gewährt. Berücksichtigt man die Ankündigung des Amtsgerichts, welche Beweismittel es bei seiner Entscheidungsfindung als erheblich ansehen werde (Rdnr. 24), wurde ihm darüber hinaus auch keine Einsicht in die Sachverständigengutachten gewährt.

89. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass das Amtsgericht tatsächlich einen Großteil der relevanten Unterlagen zur Verfügung stellte. Soweit es das nicht tat, stellte es zumindest Zusammenfassungen der in den entscheidungserheblichen Unterlagen enthaltenen relevanten Informationen zur Verfügung. Die zur Verfügung gestellten Informationen umfassten etwa 150 Seiten.

90. Was das Betreuungsverfahren insgesamt angeht, ist der Gerichtshof überzeugt, dass der Beschwerdeführer ausreichend Kenntnis von den Sachverständigengutachten betreffend V. hatte, die besonders sensible Informationen enthalten haben und gleichzeitig von besonderen Bedeutung für die Entscheidung über die Verhängung des Kontaktverbots gewesen sein mussten. Die innerstaatlichen Gerichte hatten dem Beschwerdeführer eine frühere Entscheidung zur Verfügung gestellt, die eine Zusammenfassung der Sachverständigengutachten sowie Hinweise auf die Schlussfolgerungen enthielt, die das Gericht aus diesen Gutachten hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit von V. im Zusammenhang mit den intimen Annäherungsversuchen des Beschwerdeführers ziehen könnte.

91. Der Gerichtshof nimmt ferner zur Kenntnis, dass die Verfahrensakte Teil eines größeren Komplexes war, nämlich des Betreuungsverfahrens mit höchstpersönlichen Informationen betreffend V., insbesondere Informationen über ihre geistige Behinderung, die im Rahmen von psychologischen und medizinischen Begutachtungen und ausführlichen Sachverständigengutachten erbracht worden waren. Das anwendbare innerstaatliche Recht beschränkt die Akteneinsicht insoweit, als nicht schwerwiegende Interessen eines Beteiligten oder eines Dritten entgegenstehen dürfen (siehe Rdnr. 40). Es zielte also auf den Schutz der persönlichen Daten besonders schutzbedürftiger Personen ab, die an einem Betreuungsverfahren beteiligt sind, in dem ein Kontaktverbot ausgesprochen wurde. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vorschrift gegenüber dem Beschwerdeführer willkürlich angewendet wurde.

92. Unter diesen Umständen deutet nichts darauf hin, dass die Beschränkungen der Einsicht des Beschwerdeführers in den Inhalt der Betreuungsakte derart waren, dass sie seine Fähigkeit, seinen Standpunkt hinsichtlich des im Raum stehenden Kontaktverbots zu verteidigen, im Kern beeinträchtigt haben oder dass sie nicht auf relevante und ausreichende Gründe gestützt wurden.

93. Die vorstehenden Erwägungen sind ausreichend, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass die Ablehnung seitens der innerstaatlichen Gerichte, dem Beschwerdeführer vollständige Einsicht in die Verfahrensakte zu gewähren, nicht gegen Artikel 6 der Konvention verstoßen hat. Folglich liegt kein Verstoß gegen diese Bestimmung vor.

(c) Persönliche Anhörung des Beschwerdeführers

94. Was die nicht erfolgte persönliche Anhörung des Beschwerdeführers angeht, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass in Verfahren vor einem Gericht des ersten und einzigen Rechtszugs das Recht auf eine „öffentliche Verhandlung“ im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 einen Anspruch auf eine „mündliche Verhandlung“ beinhaltet, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor, die es rechtfertigen, von einer solchen abzusehen. In Verfahren, die sich über zwei Instanzen erstrecken, muss im Allgemeinen mindestens eine Instanz eine solche Verhandlung vorsehen, sofern keine entsprechenden außergewöhnlichen Umstände vorliegen (F. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 23621/11, Rdnr. 34, 16. März 2017; Salomonsson ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 38978/97, Rdnr. 36, 12. November 2002).

95. Der Gerichtshof hat solche außergewöhnlichen Umstände in Fällen festgestellt, in denen es keine Glaubwürdigkeitsfragen oder strittige Fragen gab, und auch in Fällen, die rein juristische oder sehr technische Fragestellungen zum Gegenstand hatten (Ramos Nunes de Carvalho e Sá, a. a. O., Rdnr. 190, mit weiteren Nachweisen). Dagegen hat er die Durchführung einer Verhandlung dann als erforderlich erachtet, wenn geprüft werden musste, ob die staatlichen Stellen die Tatsachen zutreffend festgestellt hatten, wenn die Umstände es für den Gerichtshof erforderlich machten, sich einen eigenen Eindruck von den Prozessparteien zu machen, indem er ihnen das Recht einräumte, ihre persönliche Situation zu erläutern, oder wenn die Gerichte zu bestimmten Punkten Aufklärungsbedarf sahen, u. a. durch eine Verhandlung (ebd., Rdnr. 191, mit weiteren Nachweisen).

96. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Amtsgericht dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gab, die dieser jedoch nicht nutzte. In dem anschließenden Rechtsmittelverfahren beantragte der Beschwerdeführer eine persönliche Anhörung, die das Landgericht jedoch ablehnte. Es befand, dass der Beschwerdeführer ausreichend Gelegenheit gehabt habe, seine Sache schriftlich darzustellen. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache von Fällen, in denen die innerstaatlichen Gerichte keine Begründung dafür gaben, weshalb sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ablehnten (siehe Mirovni Inštitut ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 32303/13, Rdnr. 44, 13. März 2018; Pönkä ./. Estland, Individualbeschwerde Nr. 64160/11, Rdnrn. 37-40, 8. November 2016).

97. Der Gerichtshof ist sich des besonderen Hintergrunds des Betreuungsverfahrens bewusst, vor dem, wie die Regierung betonte, die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte gegen eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers zu sehen war. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass V. als die primär von dem Kontaktverbot Betroffene von dem Amtsrichter persönlich angehört wurde, wohingegen der Standpunkt des Beschwerdeführers, der zu den sonstigen Interessen gehörte, die von den Gerichten bei der Prüfung der Reichweite des Umgangsbestimmungsrechts des Betreuers zu berücksichtigen waren, geringeres Gewicht hatte und in seinen Schriftsätzen sowie in den vom Amtsgericht in Bezug genommenen Beweismitteln zum Ausdruck kam (siehe Rdnr. 23).

98. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass das Kontaktverbot weitreichend war. Ferner beinhalteten die Fragen, die im Mittelpunkt des hier gegenständlichen Verfahrens standen, die Würdigung der Person des Beschwerdeführers sowie seines Verhältnisses zu V., dessen Natur der Beschwerdeführer bestritt. Daher kommt der Gerichtshof nicht umhin festzustellen, dass, auch wenn der Beschwerdeführer an seinen Standpunkt festhielt, weiterhin sexuelle Kontakte zu V. haben wollen, und auch wenn das Amtsgericht ihn während des gesamten Betreuungsverfahrens persönlich angehört hatte (siehe Rdnr. 9), die in dem Verfahren zu klärende Fragestellung nicht rein rechtlicher und technischer Natur war, sondern den innerstaatlichen Gerichten erlaubt hätte, sich einen eigenen Eindruck von dem Beschwerdeführer zu machen, und dem Beschwerdeführer, seine persönliche Situation zu erklären.

99. Es lagen somit keine außergewöhnlichen Umstände vor, die den Verzicht auf eine persönliche Anhörung durch die innerstaatlichen Gerichte gerechtfertigt hätten. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention insoweit verletzt worden.

(d) Gesamtergebnis

100. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass Artikel 6 Abs. 1 nicht verletzt wurde, was die Rügen bezüglich der Beweisgrundlage der Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte und ihre Ablehnung, dem Beschwerdeführer vollständige Akteneinsicht zu gewähren, angeht, dass eine Verletzung dieser Bestimmung jedoch vorliegt, was die Ablehnung einer persönlichen Anhörung des Beschwerdeführers betrifft.

 

III. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

101. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

102. Der Beschwerdeführer forderte eine Entschädigung in Höhe von mindestens 12.000 Euro und machte geltend, seit September 2012 von seiner Lebenspartnerin V. getrennt zu sein, was angesichts der Tatsache, dass sein Sohn seine Eltern nicht zusammen sehen könne, umso belastender sei.

103. Die Regierung hob hervor, dass es ausschließlich um den Umgang des Beschwerdeführers mit V. gehe, und betrachtete die geforderte Summe als deutlich überhöht.

104. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen hat, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem festgestellten Verstoß und der Begründung für den von ihm geltenden gemachten immateriellen Schaden besteht. Was die nicht erfolgte mündliche Anhörung des Beschwerdeführers angeht, befindet er, dass unter den konkreten Umständen der Rechtssache die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 der Konvention ausreicht.

B. Kosten und Auslagen

105. Der Beschwerdeführer forderte 35.761,74 Euro (einschließlich Mehrwertsteuer) für Kosten und Auslagen in dem Verfahren vor dem Gerichtshof, darin enthalten 8.942,27 Euro für die anwaltliche Vertretung vor dem Amtsgericht und dem Rechtsmittelgericht, 10.443,44 Euro für die anwaltliche Vertretung vor dem Bundesverfassungsgericht sowie weitere 14.700,67 Euro für die anwaltliche Vertretung vor diesem Gerichtshof. Er machte ferner Beträge in Höhe von 76 Euro für innerstaatliche Gerichtsgebühren und 1.599,36 Euro für die Übersetzung seiner Schriftsätze geltend.

106. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die bezifferten Kosten und Auslagen unangemessen hoch seien, insbesondere, weil sie die nach der innerstaatlichen Rechtsordnung gestatteten Rechtsanwaltskosten (838,96 Euro für die Vertretung vor dem Amtsgericht und jeweils 490,38 Euro für die Vertretung vor dem Bundesverfassungsgericht und vor diesem Gerichtshof) erheblich überschritten.

107. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur so weit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. In Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen, der vorgenannten Kriterien und seiner Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen (siehe M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 44164/14, Rdnr. 46, 9. Juni 2016) hält der Gerichtshof es für angemessen, dem Beschwerdeführer 500 Euro in Bezug auf die Kosten und Auslagen im Zusammenhang mit dem Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten und 2.500 Euro in Bezug auf die Kosten und Auslagen im Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Gerichtshof zuzusprechen.

C. Verzugszinsen

108. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:

1. Er erklärt die Rügen nach Artikel 6 der Konvention mit Stimmenmehrheit für zulässig;

2. er erklärt die Rügen nach Artikel 8 der Konvention mit Stimmenmehrheit für unzulässig;

3. er erkennt einstimmig, dass Artikel 6 der Konvention in Bezug auf die Beweisgrundlage für die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte nicht verletzt worden ist;

4. er erkennt einstimmig, dass Artikel 6 der Konvention in Bezug auf die Akteneinsicht des Beschwerdeführers im Betreuungsverfahren nicht verletzt worden ist;

5. er erkennt mit vier zu drei Stimmen, dass Artikel 6 der Konvention in Bezug auf die nicht erfolgte mündliche Anhörung des Beschwerdeführers verletzt worden ist;

6. er erkennt einstimmig, dass die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 der Konvention eine hinreichende gerechte Entschädigung für den immateriellen Schaden darstellt;

7. er erkennt mit vier zu drei Stimmen,

(a) dass er beschwerdegegnerische Staat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig wird, 3.000 Euro (dreitausend Euro), zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuer, als Entschädigung für die Kosten und Auslagen zu zahlen hat;

(b) dass nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung für den obengenannten Betrag einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes anfallen, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

8. er weist die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung im Übrigen einstimmig zurück.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 28. Mai 2020 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                        Yonko Grozev
Kanzlerin                                          Präsident

____________

Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sind diesem Urteil die folgenden Sondervoten beigefügt:

(a) teilweise abweichende Meinung von Richter Grozev;

(b) teilweise abweichende Meinung von Richterin Yudkivska;

(c) abweichende Meinung von Richterin O’Leary, der sich Richter Grozev teilweise angeschlossen hat.

Y.G.
C.W.

TEILWEISE ABWEICHENDE MEINUNG VON RICHTER GROZEV

1. Ich habe in der vorliegenden Rechtssache dafür gestimmt, dass Artikel 8 anwendbar ist, aber nicht verletzt wurde, da der Beschwerdeführer hinreichend Gelegenheit hatte, seine Behauptungen in Bezug auf Artikel 8 vor den innerstaatlichen Gerichten geltend zu machen. Ich schließe mich der Analyse von Richterin O’Leary in Bezug auf Artikel 8 an, der ich voll und ganz zustimme. Insbesondere schließe ich mich ihrem Argument an, wonach das Hauptanliegen der innerstaatlichen Stellen in der vorliegenden Rechtssache der Schutz der Rechte von V. war. Der Ermessensspielraum, der dem beschwerdegegnerischen Staat nach Artikel 8 zusteht, berechtigte diesen, ein innerstaatliches Verfahren einzuleiten, dessen Schwerpunkt auf dem Schutz von V.s Rechten lag. In diesem Verfahren kam der Beschwerdeführer zugegebenermaßen nicht in den Genuss der vollen Bandbreite an Verfahrensrechten, wie es in einem kontradiktorischen Verfahren der Fall gewesen wäre. Allerdings wurden die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 in hinreichendem Maße berücksichtigt, so dass keine Verletzung seiner Konventionsrechte vorlag.

2. Was die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 6 angeht, so ist dieser meiner Meinung nach nicht anwendbar. Bei ihrer Feststellung, dass Artikel 6 anwendbar sei, stützte sich die Mehrheit auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Hinblick auf Sozialversicherungsbeiträge (siehe Schouten und Meldrum ./. die Niederlande, 9. Dezember 1994, Serie A Bd. 304) und Steuerpflichten (siehe Ferazzini ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 44759/98, Rdnr. 25, ECHR 2001‑VII). Unter Anwendung seines standardmäßigen Bewertungsschemas unter dem zivilrechtlichen Aspekt von Artikel 6 hat der Gerichtshof festgestellt, dass Artikel 6 auf Sozialversicherungsbeiträge anwendbar ist, da sie genügend Merkmale privatrechtlicher Vertragsverhältnisse aufweisen. Im Gegensatz dazu hat der Gerichtshof im Hinblick auf Steuerpflichten festgestellt, dass diese zu den „normalen Bürgerpflichten“ in einer demokratischen Gesellschaft zählen und daher komplett öffentlich-rechtlicher und nicht „zivilrechtlicher“ Natur im Sinne von Artikel 6 sind.

3. Was im Hinblick auf die Bewertung des Gerichtshofs bei diesen Fällen meiner Meinung nach von Bedeutung ist, ist sein Bestehen auf eine eindeutige Unterscheidung zwischen Verpflichtungen privater und öffentlich-rechtlicher Natur. Zur Beschreibung von Fällen typisch öffentlich-rechtlicher Natur hat der Gerichtshof unter Verwendung der nachstehenden Formulierung die folgenden Beispiele: durch „strafrechtliche Sanktion“ verhängte Geldstrafen und Verpflichtungen finanzieller Art, die sich aus Steuergesetzen ergeben oder anderweitig Teil der normalen Bürgerpflichten in einer demokratischen Gesellschaft sind (siehe Schouten und Meldrum, a. a. O., Rdnr. 50).

4. Die Mehrheit wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer nach dem innerstaatlichen Recht kein Recht auf Umgang mit V. habe, da ein solches Umgangsrecht nach dem innerstaatlichen Recht auf Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern beschränkt sei (Rdnr. 67 des Urteils). Sie unterschied jedoch zwischen der Frage eines Umgangsrechts nach dem innerstaatlichen Recht und der Frage eines Kontaktverbots. Sie kam dann zu dem Schluss, dass ein Kontaktverbot nicht als Teil der normalen Bürgerpflichten in einer demokratischen Gesellschaft verstanden werden könne und deshalb eine zivilrechtliche Verpflichtung im Sinne von Artikel 6 vorliege, der daher anwendbar sei.

5. Bei allem Respekt erscheint mir diese Bewertung allzu eingeschränkt, denn sie lässt drei wesentliche Elemente der vorliegenden Rechtssache unbeachtet.

Erstens ist das finanzielle Element der zivilrechtlichen Verpflichtung des Beschwerdeführers ein nicht abschätzbares künftiges Ereignis, das nur eintritt, wenn er gegen das Kontaktverbot verstößt und eine Geldstrafe gegen ihn verhängt wird. Zu dem jetzigen Zeitpunkt des Verfahrens vor dem Gerichtshof weist das Verbot eindeutig kein finanzielles Element auf.

6. Zweitens wiese eine Geldstrafe, wenn man denn davon ausginge, dass eine Geldstrafe wegen Nichteinhaltung des Kontaktverbots nach dem innerstaatlichen Recht so automatisch verhängt wird, dass die finanzielle Natur dieser Strafe in den Anwendungsbereich unserer Bewertung nach Artikel 6 fällt, immer noch eine größere Nähe zu einer „durch strafrechtliche Sanktion verhängten Geldstrafe“ – und damit dem Bereich des öffentlichen Rechts auf – als zu einer privatrechtlichen Verpflichtung. Die Art der von den innerstaatlichen Stellen eingeleiteten Verfahren, die Rolle des Betreuers und anderer Stellen in diesen Verfahren, einschließlich einer potentiellen künftigen Geldstrafe, sowie die Art der Sanktion – eine Geldstrafe – deuten klar darauf hin, dass der Schutz der öffentlichen Ordnung im Vordergrund stand und nicht eine privatrechtliche Verteidigung der individuellen Rechte von V. Demnach kämen sowohl das Kontaktverbot als auch eine potentielle künftige Geldstrafe näher an eine öffentlich-rechtliche „strafrechtliche Sanktion“ als an die Durchsetzung privater Rechte. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs würde die Rüge des Beschwerdeführers demnach nicht unter den eine „zivilrechtliche Verpflichtung“ betreffenden Aspekt von Artikel 6 fallen.

7. Drittens kann das gegen den Beschwerdeführer verhängte Kontaktverbot angesichts dessen, dass der Beschwerdeführer nach dem innerstaatlichen Recht gar keinen Anspruch auf Umgang mit V. hat, keine zivilrechtliche Verpflichtung nach sich ziehen, denn ihm liegt kein zivilrechtlicher Anspruch zugrunde. Wie Richterin Yudkivska in ihrem Sondervotum zutreffend ausführt, hat der Gerichtshof bei der Prüfung vergleichbarer Rügen in einer Rechtssache, bei der es um ein Verbot der Berichterstattung über Gerichtsverfahren ging, die Auffassung vertreten, dass „das Recht zur Berichterstattung über in öffentlichen Verfahren geäußerte Sachverhalte keinen zivilrechtlichen Anspruch darstellt und daher ein Eingriff in dieses Recht keine zivilrechtliche Verpflichtung im Sinne von Artikel 6 nach sich ziehen kann“ (siehe Mackay und BBC Scotland ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 10734/05, Rdnr. 22, 7. Dezember 2010).

8. In Anbetracht der obigen Ausführungen habe ich dafür gestimmt, dass Artikel 6 in der vorliegenden Rechtssache nicht anwendbar ist.

TEILWEISE ABWEICHENDE MEINUNG VON RICHTERIN YUDKIVSKA

1. Ich habe gemeinsam mit meinen verehrten Kolleginnen und Kollegen für die Nichtanwendbarkeit von Artikel 8 in der vorliegenden Rechtssache gestimmt. Da ich davon überzeugt bin, dass Artikel 6 gleichermaßen nicht anwendbar ist, habe ich gegen Punkt 1 des Urteilstenors gestimmt.

2. Die hier in Rede stehende Frage ist, ob ein 70 Jahre alter Mann einen „zivilrechtlichen Anspruch“ auf Umgang mit einer Person hat, deren geistige Entwicklung der eines vierjährigen Kindes entspricht und die er in der Vergangenheit sexuell missbraucht hat. Wie die Mehrheit im Zusammenhang mit Artikel 8 festgestellt hat, hatte der Beschwerdeführer kein Recht auf Herstellung einer Beziehung zu V., die sein Opfer war. Auf das Recht auf Privatleben konnte nicht abgestellt werden, da sie vor seinem rechtswidrigen Verhalten geschützt werden musste, das sich als schädlich für sie erwiesen hatte (siehe Rdnr. 54 des Urteils).

3. Die Absicht des Beschwerdeführers, die Beziehung zu V. fortzusetzen, war demnach der Wunsch nach Fortsetzung ihres Missbrauchs. Rechtswidrige Absichten dieser Art können per definitionem nicht von der Konvention geschützt werden. Sie fallen ganz klar nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 8 und können auch nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 6 fallen – sie sind einfach überhaupt kein „Recht“.

4. Dies hat das Amtsgericht unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, indem es darauf hinwies, dass der behauptete Anspruch des Beschwerdeführers auf Umgang mit V. keine gesetzliche Grundlage habe, da das betreffende Gesetz einen Anspruch auf Umgang nur gegenüber minderjährigen Personen vorsehe (siehe Rdnr. 28 des Urteils).

5. Der Gerichtshof hat bei zahlreichen Gelegenheiten festgestellt, dass Artikel 6 Abs. 1 keine speziellen zivilrechtlichen „Ansprüche und Verpflichtungen“ im materiellen Recht der Vertragsstaaten garantiert: Der Gerichtshof kann nicht durch seine Auslegung von Artikel 6 Abs. 1 ein materielles Recht begründen, das in dem betreffenden Staat keine rechtliche Grundlage hat (siehe Roche ./. das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 32555/96, Rdnr. 117, ECHR 2005‑X). Ausgangspunkt müssen die Bestimmungen des maßgeblichen innerstaatlichen Rechts und deren Auslegung durch die innerstaatlichen Gerichte sein (siehe Masson und Van Zon ./. die Niederlande, 28. September 1995, Rdnr. 49, Reihe A Bd. 327-A).

6. In der vorliegenden Rechtssache behauptet der Beschwerdeführer, einen Anspruch darauf zu haben, keine in seinen Augen ungerechtfertigten Kontaktverbote auferlegt zu bekommen. In seiner Stellungnahme gegenüber dem Gerichtshof nahm er auf § 1908i Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 1632 Abs. 2 BGB Bezug. Allerdings sieht die letztgenannte Bestimmung Folgendes vor: „Die Personensorge umfasst ferner das Recht, den Umgang des Kindes auch mit Wirkung für und gegen Dritte zu bestimmen.“ Es ist eindeutig, dass sich diese Vorschrift auf den Umgang mit einem Kind und auf das Recht auf Bestimmung des Umgangs mit einem Kind bezieht. V. war kein Kind, folglich hätte der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Umgang. Die Feststellung der Mehrheit in Randnummer 67, wonach „es möglich [ist], dass eine Person keinen Anspruch auf Umgang mit einer anderen Person hat, ohne dass jedoch von einer staatlichen Stelle ein Verbot jeglichen Umgangs mit dieser Person gegen sie verhängt wird“ scheint ein rein sprachlicher Balanceakt zu sein, der nichts am Kerngehalt der Fragestellung vor den innerstaatlichen Gerichten ändert. Wenn der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Umgang mit V. hat – was der Fall ist, da V. kein Kind ist und das Umgangsrecht des Beschwerdeführers daher keine Grundlage im innerstaatlichen Recht hat –, dann hat er keinen Anspruch auf irgendeine Art des Kontakts zu ihr; folglich ist hier kein zivilrechtlicher Anspruch betroffen.

7. Gleichermaßen kann ich mich der Schlussfolgerung der Mehrheit, dass „im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 eine ‚Streitigkeit’ über eine ‚Verpflichtung’ zur Einhaltung des Kontaktverbots“ vorlag (siehe Rdnr. 68 des Urteils), nicht anschließen. Meiner Ansicht nach ist diese Schlussfolgerung rechtlich falsch: Wenn es keinen „Anspruch“ auf Umgang gibt, kann ein Eingriff in diesen Anspruch keine zivilrechtliche Verpflichtung im Sinne von Artikel 6 begründen. Entgegen der Auffassung der Mehrheit kann ein Eingriff einer staatlichen Stelle im Hinblick auf den Wunsch des Beschwerdeführers, V. zu besuchen, keine zivilrechtliche Verpflichtung zur Unterlassung des Umgangs begründen, wenn es keinen entsprechenden zivilrechtlichen Anspruch auf Umgang gibt (siehe sinngemäß Mackay und BBC Scotland ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 10734/05, Rdnr. 22, 7. Dezember 2010). Eine potentielle spätere Geldstrafe, die im Falle eines Verstoßes gegen das Kontaktverbot gegen den Beschwerdeführer verhängt werden könnte und auf die die Mehrheit Bezug nimmt, wäre Gegenstand eines separaten Verfahrens, in dem sie als Strafe, keinesfalls jedoch als zivilrechtliche Verpflichtung betrachtet werden könnte.

8. Wie bereits mehrmals wiederholt wurde, bedürfte es gewichtiger Gründe, damit der Gerichtshof von den Schlussfolgerungen der höheren innerstaatlichen Gerichte abweicht und entgegen deren Auffassung feststellt, dass das innerstaatliche Recht womöglich doch einen Anspruch vorsieht (siehe Boulois ./. Luxemburg [GK], Individualbeschwerde Nr. 37575/04, Rdnr. 91, ECHR 2012). Solche gewichtigen Gründe kann ich im vorliegenden Fall nicht erkennen. Vielmehr bin ich der Meinung, dass in der vorliegenden Rechtssache aufgrund der tragischen Missbrauchsvorgänge gewichtige Gründe dafür sprechen, nicht von den Schlussfolgerungen der innerstaatlichen Gerichte abzuweichen.

9. Ich halte es für angemessen, Milan Kundera zu zitieren, der in seinem Roman „Die Unsterblichkeit“ Folgendes schrieb:

„… der Kampf für die Menschenrechte [verlor] immer mehr an konkretem Inhalt, je größer seine Popularität wurde, und wurde schließlich zu einer allgemeinen Haltung aller gegen alles, zu einer Art Energie, die jeden menschlichen Wunsch in ein Recht verwandelte. Die Welt ist zu einem Recht des Menschen geworden, und alles in ihr ist zu einem Recht geworden: der Wunsch nach Liebe zu einem Recht auf Liebe, der Wunsch nach Ruhe zu einem Recht auf Ruhe, der Wunsch nach Freundschaft zu einem Recht auf Freundschaft, der Wunsch, mit überhöhter Geschwindigkeit zu fahren, zu einem Recht, mit überhöhter Geschwindigkeit zu fahren, der Wunsch nach Glück zu einem Recht auf Glück, der Wunsch, ein Buch zu veröffentlichen zu einem Recht, ein Buch zu veröffentlichen, der Wunsch, nachts auf einem Platz zu schreien, zu einem Recht, nachts auf einem Platz zu schreien.“

10. Es herrscht der falsche Eindruck, dass jedweder menschliche Wunsch aus dem Blickwinkel der Menschenrechte betrachtet und gelöst werden kann. Der Beschwerdeführer hat in seiner Beschwerde uns gegenüber sein Interesse an einer Beziehung zu einer behinderten Person, die er lediglich als Sexspielzeug benutzt hat, als Menschenrecht hingestellt; und behauptet aufgrund dessen, ein Recht auf ein faires Verfahren zur Beurteilung dieses „Anspruchs“ zu haben. Die Konvention kann aber nicht als unerschöpflicher Quell verschiedenster Privilegien ausgelegt werden, für deren Gewährleistung niemals eine Absicht bestand. Jeder Versuch, die Position des Beschwerdeführers zu verteidigen, würde den Wert dessen schmälern, was ein „Grundrecht“ eigentlich sein sollte, und zwar auch im Hinblick auf die in Artikel 6 garantierten Verfahrensrechte bei „Streitigkeiten in Bezug auf […] zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“.

11. Ich bin daher der Auffassung, dass die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 6 Abs. 1 ratione materiae mit den Bestimmungen der Konvention unvereinbar ist.

ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTERIN O’LEARY,
DER SICH RICHTER GROZEV TEILWEISE ANGESCHLOSSEN HAT

1. Die Mehrheit der Kammer hat für die Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention unter den Umständen des vorliegenden Falles gestimmt und festgestellt, dass Artikel 8 der Konvention, auf den sich der Beschwerdeführer ebenfalls berufen hatte, nicht anwendbar ist.

2. Aus den unten genannten Gründen kann ich mich keiner dieser Feststellungen der Mehrheit anschließen.

3. Richter Grozev teilt meine Auffassung, dass eine Prüfung der Rügen des Beschwerdeführers unter den besonderen Umständen dieser Rechtssache bestenfalls aus dem Blickwinkel von Artikel 8 der Konvention hätte erfolgen müssen und dass jeder Eingriff in das begrenzte Recht des Beschwerdeführers auf Privatleben nach dieser Bestimmung rechtmäßig und verhältnismäßig war.

4. Ich wiederum schließe mich seinen Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention an. Allerdings wäre ich nach der Feststellung der Anwendbarkeit aus den unten genannten Gründen in keinem Fall zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Bestimmung verletzt wurde.

I. Kurze Zusammenfassung der Umstände, aus denen sich die Rügen des Beschwerdeführers ergaben

5. Die Rügen vor dem Gerichtshof ergaben sich nach der Verhängung eines Kontaktverbots zwischen dem 19.. geborenen Beschwerdeführer und einer 19.. geborenen geistig behinderten jungen Frau, V. Mit V., der Tochter seiner früheren Lebensgefährtin, hatte der Beschwerdeführer ein Kind gezeugt und wollte auch später die intime Beziehung mit ihr aufrechterhalten.

6. Das Kontaktverbot war im Rahmen eines von den innerstaatlichen Stellen veranlassten Betreuungsverfahrens verhängt worden, nachdem V. in einem Heim untergebracht worden war und der Beschwerdeführer kontinuierlich versucht hatte, persönlich und auf anderem Wege Kontakt zu ihr aufzunehmen. Dieses Verfahren diente ihrem Wohl und sollte sie schützen (siehe Rdnrn. 9-38 des Urteils im Hinblick auf das Verfahren betreffend V. und Rdnrn. 40-42 im Hinblick auf das deutsche Betreuungsverfahrensrecht).

7. Diesem Verfahren gingen zwei Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer wegen des mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person voraus. Beide Verfahren wurden unter den in Rdnrn. 8 sowie 17-18 des Urteils genannten Umständen eingestellt. Insbesondere stellte das Landgericht im zweiten Verfahren fest, dass angesichts der vorausgegangenen Einschätzung durch die Staatsanwaltschaft, wonach nicht davon ausgegangen werden könne, dass V. unfähig sei, Widerstand gegen sexuelle Handlungen zu leisten – eine Einschätzung, die das Landgericht für nicht zutreffend erachtete – eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers anhand der Bestimmung des Strafgesetzbuchs, die seiner Anklage zugrunde lag, nicht festgestellt werden konnte (siehe Rdnr. 17 des Urteils). Nach Auffassung des Gerichts wäre es jedoch möglich gewesen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit in Bezug auf eine andere Form des sexuellen Missbrauchs festzustellen. Stattdessen wurde entschieden, dass das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung des Beschwerdeführers angesichts der Umstände der Rechtssache und des laufenden Verfahrens in Bezug auf das Kind mit der Zahlung einer Geldstrafe durch den Beschwerdeführer und die Mutter von V. befriedigt werden könne (ebenda).

8. Gegenstand der Rügen nach Artikel 6 und 8 vor diesem Gerichtshof sind die „Verteidigungsrechte“, die dem Beschwerdeführer angeblich zustehen und die in dem Betreuungsverfahren in Bezug auf V. angeblich verletzt wurden, insbesondere während des Verfahrenszeitraums in Bezug auf die Verhängung des Kontaktverbots, das der Betreuer und der Verfahrenspfleger von V. beantragt hatten.

9. Es muss hervorgehoben werden, dass sich der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache nicht mit den Rechten einer geistig behinderten Person auseinandersetzen muss, sondern lediglich mit der Rüge des Beschwerdeführers in Bezug auf die Beendigung jeglicher Umgangsmöglichkeit mit V. und dem diesbezüglichen Entscheidungsfindungsprozess. V. ist keine Beschwerdeführerin vor dem Gerichtshof.

10. Und doch bestand das Hauptziel der in Rede stehenden innerstaatlichen Verfahren in dem Schutz der Rechte und Interessen von V. Das sollte bei der Beurteilung der Rügen des Beschwerdeführers nicht vergessen werden. Wie sich an dem Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer ebenfalls deutlich zeigt, waren die innerstaatlichen Stellen mit einer Situation konfrontiert, bei der sie einer positiven Verpflichtung unterlagen, die Konventionsrechte von V. zu schützen. Zwar ist Letzteres formell betrachtet keine Fragestellung vor dem Gerichtshof, aber eine Beurteilung der Sache, die den Umstand außer Acht lässt, dass die innerstaatlichen Stellen widerstreitende Konventionsrechte in Ausgleich zu bringen hatten, droht einseitig zu werden.

II. Fragen bezüglich der Anwendbarkeit von Artikel 8 der Konvention

11. Es ist klar, dass die Zeugung eines Kindes allein nicht ausreicht, um ein Familienleben im Sinne von Artikel 8 der Konvention zu schaffen. Wie die beschwerdegegnerische Regierung unterstreicht, können erzwungene Sexualkontakte zwei Personen nicht zu einer Familie verbinden und jemanden dazu befähigen, durch Zwangsausübung den Schutz von Artikel 8 der Konvention herbeizuführen.

12. Ich stimme der Mehrheit zu, dass das vom Beschwerdeführer beschriebene „Familienleben“ nicht in den Schutzbereich von Artikel 8 der Konvention fällt. Was seine Bezugnahme auf seine (und V.s) Beziehung zu ihrem Sohn angeht, so sind dessen Unterbringung bei einer Pflegefamilie und der Zugang zu ihm – zu dem der Beschwerdeführer nach deutschem Recht berechtigt ist – nicht Gegenstand vor dem Gerichtshof. Der Beschwerdeführer ist auch nicht in einer Position, in der er die Rechte von V. unmittelbar oder mittelbar verteidigen könnte.

13. Den Aspekt des „Privatlebens“ aus Artikel 8 der Konvention hält die Mehrheit für nicht anwendbar (siehe Rdnrn. 53-58 des Urteils).

14. Eine Rüge in Bezug auf ein Kontaktverbot nach Artikel 8 zu prüfen, ist zweifellos ein heikles Unterfangen, wenn, wie unter den Umständen des vorliegenden Falles, ein innerstaatliches Gericht im Zuge der Einstellung eines auf einer bestimmten Bestimmung des Strafgesetzbuchs beruhenden Verfahrens darauf hinweist, dass nach einer anderen Bestimmung womöglich eine strafrechtliche Verantwortlichkeit für sexuellen Missbrauch hätte festgestellt werden können. Schon mehrfach, und teilweise zu Recht, wurde kritisiert, dass Artikel 8 recht weit dehnbar sei, wodurch sich der Geltungsbereich der Konvention immer stärker ausweite. In der vorliegenden Rechtssache hätte es allerdings möglich sein müssen, die Rügen des Beschwerdeführers vor dem Hintergrund der bestehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 8 zu betrachten – dieser hat wiederholt festgestellt, dass das Privatleben einer Person zahlreiche Aspekte ihrer „physischen und sozialen Identität“ betreffen kann (siehe Denisov ./. Ukraine [GK], Individualbeschwerde Nr. 76639/11, Rdnr. 95, 25. September 2018). Damit meine ich nicht, dass der Beschwerdeführer einen Anspruch auf Umgang mit einer bestimmten anderen Person geltend machen konnte, weil ein solches Recht – im Wesentlichen unter dem Aspekt des Familienlebens – bereits als ein Element von Artikel 8 gilt. Außerdem behaupte ich auch ganz sicher nicht, dass Artikel 8 als Grundlage dafür herangezogen werden kann, dass eine Person wie der Beschwerdeführer auf Umgang mit einer anderen Person bestehen kann, wenn diese Person den Wunsch nach Umgang nicht teilt. Des Weiteren hat der Gerichtshof richtigerweise festgestellt, dass Artikel 8 nicht dazu herangezogen werden kann, einen Ansehensverlust zu rügen, wenn dieser eine vorhersehbare Folgeerscheinung des eigenen Handelns wie beispielsweise der Begehung einer Straftat ist. Die Schwierigkeit in der vorliegenden Rechtssache liegt jedoch darin, dass der Zweck des angegriffenen Verfahrens genau in der Feststellung dessen bestand, ob V. wirklich keinen Umgang mit dem Beschwerdeführer wollte, und dass die innerstaatlichen Gerichte die Feststellung einer durch den Beschwerdeführer begangenen Straftat versäumt haben. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer keinen Ansehensverlust gerügt, sondern die Auswirkungen des Kontaktverbots auf das, was er als engsten Familienkreis betrachtete, sowie auf sein Recht, Beziehungen zur Außenwelt zu entwickeln, was auch und insbesondere V. umfasse.

15. Nach meiner und Richter Grozevs Auffassung hätte sich die Kammer mehr mit der zentralen Anwendbarkeitsfrage auseinandersetzen müssen: Hat sich das Verbot auf einen Aspekt der sozialen Identität des Beschwerdeführers selbst ausgewirkt, so dass sein Recht auf Privatleben nach Artikel 8 in diesem begrenzten Umfang hätte herangezogen werden können? Dass das deutsche Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit bei Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten Personen wie den Beschwerdeführer, deren Rechte durch Entscheidungen auf Grundlage dieses Gesetzes unmittelbar betroffen wären, einschließt, bedeutet offenbar die Anerkennung dieses begrenzten Rechts. Letzteres könnte sogar als „reflexives“ Recht beschrieben werden; als Recht, das sich auf den Beschwerdeführer und seinen Wunsch auf externe Ausübung seiner sozialen Identität bezieht und für sich genommen keine Auswirkung auf V. hat. Bei ihrer Schlussfolgerung, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention in der vorliegenden Rechtssache anwendbar sei – und zwar nicht, weil der Beschwerdeführer nach dem innerstaatlichen Recht einen „Anspruch“ auf Umgang hatte, sondern weil eine staatliche Stelle eine Verpflichtung zur Vermeidung jeglichen Umgangs mit einer bestimmten Person gegen den Beschwerdeführer verhängt hat, wobei ein Verstoß dagegen zur Verhängung einer Strafe oder Zwangshaft geführt hätte –, hat die Mehrheit wohl unter Artikel 6 subsumiert, was der Beschwerdeführer auch nach Artikel 8 geltend gemacht hat. Meines Erachtens hätte die Heranziehung von Artikel 8 der Konvention unter diesen Umständen akzeptiert werden können, ohne dessen Anwendungsbereich auszudehnen oder die offensichtlich inakzeptable Vorstellung aufkommen zu lassen, dass der Beschwerdeführer gegen den Willen einer anderen Person einen Anspruch auf Umgang mit ihr geltend machen könnte.

16. Der Umstand, dass V. den Gerichtshof hätte anrufen können, weil der Staat seiner positiven Verpflichtung aus Artikel 8 in Bezug auf sie nicht nachgekommen ist (bspw. wegen Untätigkeit, der Einstellung des Strafverfahrens oder des Betreuungsverfahrens), bedeutet nicht, dass eine Prüfung nach Artikel 8 des von dem Beschwerdeführer gerügten negativen Eingriffs (in einem Fall, der sich aus dem selben Sachverhalt heraus ergibt) bereits bei der Prüfung der Anwendbarkeit auszuschließen war.

III. Prüfung der Begründetheit nach Artikel 8 der Konvention

17. Lohnt es sich angesichts dessen, dass der Anwendungsbereich von Artikel 8 der Konvention sorgfältig abgesteckt, ja sogar kontrolliert werden muss, und angesichts der Risiken, die mit der Prüfung einer Argumentationslinie wie der oben beschriebenen einhergehen, überhaupt, diesen Weg zu verfolgen?

18. Nach meiner und Richter Grozevs Auffassung liegt die Antwort hierauf in der Art und dem Zweck des Betreuungsverfahrens, in den Zielen, die damit verfolgt wurden (nämlich der Schutz der Rechte und Interessen von V.), in den nach innerstaatlichem Recht ausgewählten verfahrensrechtlichen Mitteln zur Durchsetzung dieser Ziele und in dem Ermessensspielraum, den die einschlägigen innerstaatlichen Stellen bei Verfahren dieser Art genießen.

19. Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ist der Ermessensspielraum in der Regel groß, wenn der Staat einen Ausgleich zwischen widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen oder Konventionsrechten herbeiführen muss (siehe Odièvre ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 42326/98, Rdnrn. 44-49, 13. Februar 2003; und Evans ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 6339/05, Rdnr. 77, 10. April 2007) und insbesondere, wenn zum Schutz verletzlicher Personen verschiedene Mechanismen, materiellrechtliche Schranken und Verfahren etabliert wurden.

20. Zusammengefasst hätte eine Prüfung des Entscheidungsfindungsprozesses aus dem Blickwinkel von Artikel 8 der Konvention sichergestellt, dass die Rechte der abwesenden „Partei“ – V. – weiterhin im Fokus geblieben wären. Die Schwerpunktverschiebung auf Artikel 6 der Konvention bedeutete hingegen, dass der Beschwerdeführer der hauptsächliche, wenn nicht sogar der einzige Fokuspunkt der Bewertung durch den Gerichtshof zu werden drohte. Darüber hinaus hätte der Gerichtshof bei der Prüfung des von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommenen Ausgleichs anhand von Artikel 8 unterstreichen können, in welch begrenztem Maße er sich nach dieser Bestimmung auf sein Privatleben berufen konnte – nämlich auf seine eigene soziale Identität – und dass ihm kein einseitiges Recht zustand, auf Umgang mit einer Person wie V. zu bestehen. Die positive Pflicht des Staates, V. als verletzliche Person vor Missbrauch zu schützen, wäre ebenfalls vollständig zum Tragen gekommen.

21. Was die Rüge des Beschwerdeführers angeht, dass das innerstaatliche Gericht ihn nicht persönlich angehört habe, ist es wichtig zu unterstreichen, dass das Amtsgericht, das mit dem Antrag befasst war, das von dem Betreuer verhängte Kontaktverbot gerichtlich zu bestätigen, dem Beschwerdeführer als von einer ggf. zu fällenden Entscheidung betroffenen Person Gelegenheit dazu gab, innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich zu dem von dem Betreuer beantragten Kontaktverbot Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer nahm dieses Angebot jedoch nicht wahr (siehe Rdnrn. 22 und 24 des Urteils). Er hat weder inhaltlich vorgetragen noch beantragt, dass das Amtsgericht ihn persönlich anhört. Was die Behauptung des Beschwerdeführers gegenüber dem Gerichtshof angeht, wonach er die Aufforderung des Amtsgerichts zur schriftlichen Stellungnahme nicht verstanden habe, ist festzuhalten, dass er am 4. September 2012 von dem Betreuer über das Kontaktverbot informiert wurde, also bevor das Amtsgericht das Verfahren zur Prüfung einer Bestätigung dieses Verbots aufnahm, und dass er auf das Schreiben des Betreuers geantwortet hat (siehe Rdnr. 21 des Urteils). Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer nicht nachgewiesen, dass er nicht in der Lage war, sich von einem Rechtsanwalt beraten zu lassen oder das Amtsgericht gegebenenfalls um Klarstellung zu bitten.

22. Im Beschwerdeverfahren hatte der Beschwerdeführer abermals Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme, wovon er mit Hilfe eines Rechtsbeistands Gebrauch machte. Er ersuchte auch um vollständige Akteneinsicht in dem Betreuungsverfahren betreffend V., einschließlich hochgradig persönlicher und sensibler Daten zu ihrer Person, und beantragte ausdrücklich eine persönliche Anhörung. Das Landgericht vertrat jedoch die Auffassung, dass angesichts der Umstände der Rechtssache und des zur Verfügung stehenden Materials keine Notwendigkeit einer Anhörung bestehe, um in dem Fall eine Entscheidung zu fällen, und dass der Beschwerdeführer hinreichend Gelegenheit gehabt habe, anderweitig Gehör zu finden (siehe Rdnr. 36 des Urteils). Das innerstaatliche Recht sah die Möglichkeit einer persönlichen Anhörung vor, gewährte den Gerichten diesbezüglich jedoch einen Ermessensspielraum (siehe Rdnr. 43 des Urteils). Eine solche Anhörung war nur durchzuführen, „wenn dies zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs des Beteiligten erforderlich war“. Meiner Auffassung nach ist es sowohl für die Prüfung nach Artikel 8 als auch für eine etwaige alternative Prüfung nach Artikel 6 der Konvention von entscheidender Bedeutung, zu verstehen, dass dieser Ermessensspielraum der Natur des Betreuungsverfahrens geschuldet ist. Wie die beschwerdegegnerische Regierung erklärt hat, hatten die innerstaatlichen Gerichte hier keinen Streit zwischen zwei Parteien in einem kontradiktorischen Verfahren zu lösen, sondern mussten im Rahmen des Betreuungsverfahrens, das durch die Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes geprägt ist, prüfen, ob das Kontaktverbot mit dem Willen und dem Wohl von V. im Einklang stand. Weiterhin ist eine persönliche Anhörung nach § 34 Abs. 1 Nr. 2 FamFG verpflichtend, „wenn dies in diesem oder in einem anderen Gesetz vorgeschrieben ist.“ Das Argument des Beschwerdeführers in der vorliegenden Rechtssache, wonach die normalen Bestimmungen des deutschen Zivilrechts Anwendung hätten finden müssen, fand jedoch weder bei den innerstaatlichen Gerichten, noch in der Darstellung des innerstaatlichen Rechts durch die beschwerdegegnerische Regierung, noch bei der Mehrheit der Kammer Widerhall. Nach § 37 FamFG darf ein Gericht eine Entscheidung, die die Rechte eines Beteiligten beeinträchtigt, nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen dieser Beteiligte sich äußern konnte. Angesichts des begrenzten (reflexiven) Interesses nach Artikel 8, das der Beschwerdeführer geltend machen wollte, hatte er jedoch hinreichend Gelegenheit, sich zu Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, auf denen die Gerichtsentscheidung zur Bestätigung des Kontaktverbots beruhte.

23. Es mag stimmen, dass die Rolle und die Pflichten des Betreuers in gewissem Umfang durch die Rechte des Beschwerdeführers als Drittem begrenzt wurden. Allerdings war es sicher wichtig, anzuerkennen, dass die Position des Beschwerdeführers in dem Verfahren nicht das gleiche Gewicht hatte wie V.s Interessen und nicht die gleichen Verfahrensrechte begründete oder erforderte. Insofern mussten die innerstaatlichen Gerichte in erster Linie sicherstellen, dass der Beschwerdeführer hinreichend Gelegenheit hatte, seine Argumente hinsichtlich des Kontaktverbots vorzubringen, und dass diese Argumente ordnungsgemäß berücksichtigt wurden. Die innerstaatlichen Gerichte gründeten ihre Entscheidungen im Wesentlichen auf den Umstand, dass der Kontakt zu dem Beschwerdeführer für V. nachteilig wäre. Diese Einschätzung beruhte unter anderem auf dem Bericht des Heims, in dem V. untergebracht war, den Sachverständigengutachten und den schriftlichen Stellungnahmen des Beschwerdeführers, die alle Teil der Akte waren. In seiner Antwort auf das Schreiben des Betreuers, in dem dieser ihn über das beantragte Kontaktverbot informierte, forderte der Beschwerdeführer explizit, dass die Verabreichung von Verhütungsmitteln an V. beendet werde. Der Beschwerdeführer signalisierte damit – trotz des eindeutigen Hinweises des Strafgerichts vom 26. Juli 2012 darauf, dass V. der Akte zufolge widerstandsunfähig sei (siehe Rdnr. 15 des Urteils) –, dass er an seinem Anspruch festhält, in Fragen zu V.s Sexualität einbezogen zu werden. Darüber hinaus wurde das Kontaktverbot im Rahmen eines Betreuungsverfahrens verhängt, bei dem das Amtsgericht (unter Vorsitz desselben Richters) den Beschwerdeführer bereits im September 2010 persönlich angehört hatte, als V. erstmals in der Betreuung untergebracht wurde. Vor diesem Hintergrund ist – wie die innerstaatlichen Gerichte ausgeführt haben – nur schwer zu erkennen, wie eine mündliche Verhandlung unter Beteiligung des Beschwerdeführers die Grundlage dieser Entscheidung über den Kontakt hätte ausweiten sollen. Eine solche Verhandlung war nicht notwendig, um die Interessen des Beschwerdeführers zu schützen. Darüber hinaus ist dem Vorbringen des Beschwerdeführers gegenüber dem Gerichtshof zu entnehmen, dass er im Wesentlichen eine „Gerichtsverhandlung für alle Beteiligten“ anstrebte, während derer er V. und ihren Betreuer befragen wollte.

24. Bei einer Prüfung der Rüge des Beschwerdeführers hinsichtlich des Entscheidungsfindungsprozesses unter Bezugnahme auf Artikel 8 der Konvention hätte die Kammer unter Betonung des stark begrenzten Umfangs, in dem diese Bestimmung unter den Umständen des Falles des Beschwerdeführers zum Tragen kam, zu dem Schluss gelangen können, dass die innerstaatlichen Stellen das Verfahren in einer Weise führten, die V.s Interessen als besonders schutzbedürftige Person im richtigen Maße Gewicht beimaß, während sie gleichzeitig die Rechte des Beschwerdeführers hinreichend beachteten, indem sie ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme gaben und ihm Einsicht in die einschlägigen Teile der Betreuungsakte gewährten. Das hätte dazu geführt, dass keine Verletzung von Artikel 8 der Konvention festgestellt worden wäre, und hätte der Kammer die Schlussfolgerung ermöglicht, dass eine separate Prüfung der identischen Rügen des Beschwerdeführers nach Artikel 6 nicht notwendig ist.

IV. Fragen bezüglich der Anwendbarkeit von Artikel 6 der Konvention

25. Ich verweise auf die von Richterin Yudkivska und Richter Grozev in Bezug auf die Anwendbarkeit von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention geäußerten Bedenken, die auch ich unter den Umständen dieses Falles in Frage stellen würde.

V. Alternative Prüfung der Begründetheit nach Artikel 6 der Konvention

26. Musste die Mehrheit trotz der Schlussfolgerung, dass Artikel 8 der Konvention unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht anwendbar ist, zu dem Schluss kommen, dass Artikel 6 Abs. 1, nachdem er für anwendbar erklärt war, verletzt wurde, weil der Beschwerdeführer in dem späteren Stadium des Betreuungsverfahren nicht persönlich zu dem Kontaktverbot angehört wurde?

27. Es ist zutreffend, dass der Gerichtshof festgestellt hat, dass in Verfahren vor einem Gericht des ersten und einzigen Rechtszugs das Recht auf eine „öffentliche Verhandlung“ im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 einen Anspruch auf eine mündliche Verhandlung beinhaltet, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor, die es rechtfertigen, von einer solchen Verhandlung abzusehen. Darüber hinaus muss in Verfahren, die sich über zwei Instanzen erstrecken, im Allgemeinen mindestens eine Instanz eine solche Verhandlung vorsehen, sofern keine entsprechenden außergewöhnlichen Umstände vorliegen (F. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 23621/11, Rdnr. 34, 16. März 2017; Salomonsson ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 38978/97, Rdnr. 36, 12. November 2002). Der Begriff des fairen Verfahrens umfasst das Grundrecht auf ein kontradiktorisches Verfahren, was wiederum mit dem Grundsatz der Waffengleichheit einhergeht.

28. Das reine Zitieren von allgemeinen Grundsätzen kann allerdings oftmals dazu führen, dass ihr Ursprung und die Gründe für ihre Entwicklung in Vergessenheit geraten. Auch wenn die öffentliche Verhandlung einen in Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verankerten Grundsatz darstellt, ist die Pflicht eine solche durchzuführen nicht absolut (siehe De Tommaso ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 43395/09, Rdnr. 163, 23. Februar 2017 und Jussila ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 73053/01, Rdnrn. 41-42, ECHR 2006‑XIV). Wie bei allen Fällen im Zusammenhang mit Artikel 6 Abs. 1 besteht das Ziel in der Erwirkung eines fairen „Verfahrens“, und bei der Prüfung, ob die innerstaatlichen Gerichte berechtigterweise auf eine mündliche Verhandlung verzichteten, hat der Gerichtshof „die Besonderheiten des Verfahrens insgesamt“ zu würdigen (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 8273/78, Rdnr. 28, 8. Dezember 1983).

29. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Entscheidungsfindungsprozess im Zusammenhang mit dem Kontaktverbot fair sein musste. Der Beschwerdeführer musste als beteiligter Dritter Kenntnis von den herangezogenen Beweisereignissen haben und dazu Stellung nehmen können, damit seine Position den Gerichten bekannt war und er ggf. Einfluss auf deren Entscheidung nehmen konnte. Allerdings kann angesichts des Materials, das dem Gerichtshof vorliegt, kein Zweifel daran bestehen, dass dem Beschwerdeführer hinreichend Gelegenheit gegeben wurde, seine Sicht der Dinge darzulegen, und dass er gegenüber einer anderen Partei nicht benachteiligt wurde. Darüber hinaus handelte es sich bei dem Betreuungsverfahren wie oben dargelegt nicht um ein typisches kontradiktorisches Verfahren mit sich gegenüberstehenden Parteien, dem Szenario, auf dessen Grundlage die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Recht auf eine mündliche Verhandlung entstand und entwickelt wurde. Die Mehrheit geht in ihrem Urteil zurecht auf die Bedeutung dieses Rechts ein, unterstellt jedoch eine absolute Geltung. Damit lässt sie außer acht, wie sorgfältig die innerstaatlichen Gerichte geprüft haben, was die Fairness in dem konkreten Verfahren erforderte.

30. In der Rechtssache Vilho Eskelinen u. a. ./. Finnland (Individualbeschwerde Nr. 63235/00, Rdnrn. 72-75, 19. April 2007) hat der Gerichtshof – zugegebenermaßen im Hinblick auf ein deutlich anders gelagertes Verfahren – keine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 festgestellt. Den Beschwerdeführern war es nicht benommen, eine mündliche Verhandlung zu beantragen, die Entscheidung über die Notwendigkeit einer solchen Verhandlung oblag jedoch den Gerichten. Die Verwaltungsgerichte hatten sich mit der Frage befasst und Gründe für die Ablehnung angegeben. Da die Beschwerdeführer in jenem Fall genug Gelegenheit hatten, ihre Sicht schriftlich vorzutragen und zu dem Vortrag der Gegenseite Stellung zu nehmen, befand der Gerichtshof, dass die Erfordernisse des fairen Verfahrens erfüllt worden waren. Das strenge Vorgehen der Mehrheit in diesem Fall folgt auch nicht anderen Beispielen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Der Gerichtshof hat zwar besonders auf die außergewöhnliche Natur der Umstände, die einen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung rechtfertigen können, hingewiesen, er hat allerdings auch betont, dass das „nicht bedeutet, dass die Ablehnung einer mündlichen Verhandlung nur in seltenen Fällen gerechtfertigt sein kann“ (Miller ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 55853/00, Rdnr. 29, 8. Februar 2005). Darüber hinaus hat der Gerichtshof einen weniger strengen Maßstab angesetzt, wenn in der ersten Instanz auf eine mündliche Verhandlung verzichtet worden war und erst im Rechtsbehelfsverfahren eine solche beantragt wurde (siehe die ebenda zitierten Stellen, Rdnr. 31).

31. Im vorliegenden Fall hätten die bereits oben angeführten Gründe für die Feststellung einer Nichtverletzung von Artikel 8 der Konvention in Bezug auf den angefochtenen Entscheidungsprozess ggf. im Zusammenhang mit Artikel 6 erneut zum Tragen kommen müssen, sobald dieser als anwendbar erachtet wurde. Allerdings war das, wie bereits erwähnt, nicht möglich. Die Betrachtung der dem Gerichtshof vorliegenden Rechtssache aus dem Blickwinkel von Artikel 6 bedeutete, dass das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör im Mittelpunkt stand, da er laut diesem Artikel das „Opfer“, der „Rechtssuchende“, die „Partei“ war, dessen bzw. deren Rechte in Rede standen. V. blieb damit größtenteils außen vor, genauso die Natur und der Zweck des Verfahrens, an dem ihr Betreuer, der Verfahrenspfleger, das Amtsgericht und das Landgericht beteiligt waren. Wie bereits erwähnt ergibt sich der Ermessensspielraum der innerstaatlichen Gerichte daraus, dass sie in diesen Fällen keinen Streit zwischen zwei Parteien in einem kontradiktorischen Verfahren zu lösen hatten, sondern im Rahmen eines Betreuungsverfahrens, das durch die Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes geprägt ist, zu prüfen hatten, ob das Kontaktverbot mit dem Willen und dem Wohl von V. im Einklang stand. Wenn schon Artikel 6 der Konvention als bevorzugte Grundlage zur Prüfung der Rüge des Beschwerdeführers herangezogen werden musste, dann wäre es wichtig gewesen, dass die Kammer den besonderen Hintergrund und die Natur des in Rede stehenden Verfahrens bei der Betrachtung der Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte, den Beschwerdeführer nicht persönlich anzuhören, berücksichtigt.

32. Wie bereits erläutert geht bei der Analyse nach Artikel 6 auch verloren, dass der Beschwerdeführer Gelegenheit erhalten hat, innerhalb einer bestimmten Frist schriftlich zum Antrag des Betreuers auf ein Kontaktverbot Stellung zu nehmen. Das hat er nicht getan; genauso wenig hat er das Amtsgericht um persönliche Anhörung ersucht. Sollte es sich hierbei nicht um einen Verzicht gehandelt haben, der Auswirkungen auf seinen späteren Antrag auf rechtliches Gehör im Beschwerdeverfahren hatte, so hätte die Mehrheit dies erklären müssen. Darüber hinaus war der Beschwerdeführer in einem früheren Stadium des Betreuungsverfahrens von demselben Richter angehört worden und er hat durchweg darauf bestanden, dass V. keine Verhütungsmittel erhält. Diese Position steht eindeutig im Widerspruch zu der Einschätzung, zu der das Landgericht im Rahmen der Einstellung des zweiten Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer im Hinblick auf V.s Widerstandsfähigkeit kam. Unter diesen Umständen und angesichts der Beweislage, auf der das Kontaktverbot beruhte, ist es schwer nachzuvollziehen, welche Fragen hinsichtlich der Glaubhaftigkeit des Beschwerdeführers noch zu klären waren.

33. Der in Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verankerte übergreifende Grundsatz der Fairness ist hier maßgeblich und meiner Meinung nach wurde er beachtet. Die Mehrheit hat sich davon beeinflussen lassen, dass der Beschwerdeführer mit der „roten Karte“ der Glaubhaftigkeit gewedelt hat, und hat so das Recht auf eine mündliche Verhandlung in kontradiktorischen Verfahren (so erforderlich) in ein absolutes Recht auch in Verfahren mit einem anderen bzw. besonderen Charakter umgewandelt. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn das Landgericht den Beschwerdeführer persönlich angehört hätte, und sei es nur, um die Gefahr eines Verfahrens in Straßburg zu vermeiden. Seine Entscheidung dagegen war jedoch begründet und offensichtlich nicht willkürlich und hätte unter den Umständen dieser Rechtssache nicht zu einer Verantwortlichkeit des beschwerdegegnerischen Staates vor einem internationalen Gerichtshof führen dürfen.

34. Es ist schwierig, unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht den Eindruck zu gewinnen, dass in der falschen Rechtssache mit dem falschen Beschwerdeführer ein falsches Ergebnis erzielt wurde.

Zuletzt aktualisiert am Mai 17, 2021 von eurogesetze

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