RECHTSSACHE KREBS gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 68556/13

Der Beschwerdeführer machte geltend, dass eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und 2 der Konvention vorliege, da bei der Beweiswürdigung im Rahmen der Strafzumessung nach seiner ersten Verurteilung durch Äußerungen der Strafkammer zu Betrugsvorwürfen gegen ihn, derentwegen ein gesondertes strafrechtliches Verfahren im Gange war, gegen die Unschuldsvermutung verstoßen worden sei. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 68556/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr K. („der Beschwerdeführer“), am 15. Oktober 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.


FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE K. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 68556/13)
URTEIL

Art. 6 Abs. 2 • Unschuldsvermutung • Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung durch das Gericht begründet mit eindeutiger Äußerung zur Schuld des Beschwerdeführers in Bezug auf weitere Straftaten, die Gegenstand eines vor einem anderen Gericht laufenden separaten Verfahrens sind • Verzicht des Beschwerdeführers auf Stellungnahme zu den weiteren separaten Tatvorwürfen • ordnungsgemäße Einhaltung der [Verfahrensvorschriften] nicht geeignet, einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung zu widerlegen

STRASSBURG
20. Februar 2020

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache K. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Síofra O’Leary, Präsidentin,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Ganna Yudkivska,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Lәtif Hüseynov und
Anja Seibert-Fohr
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

nach nicht öffentlicher Beratung am 14. Januar 2020

das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 68556/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr K. („der Beschwerdeführer“), am 15. Oktober 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn T., Rechtsanwalt in T., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und 2 der Konvention vorliege, da bei der Beweiswürdigung im Rahmen der Strafzumessung nach seiner ersten Verurteilung durch Äußerungen der Strafkammer zu Betrugsvorwürfen gegen ihn, derentwegen ein gesondertes strafrechtliches Verfahren im Gange war, gegen die Unschuldsvermutung verstoßen worden sei.

4. Am 6. Oktober 2017 wurde die Artikel 6 Abs. 1 und 2 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren.

6. Am 9. August 2010 sprach das Amtsgericht W. den Beschwerdeführer des Betrugs in 25 Fällen, davon in 22 Fällen in Tateinheit mit Fälschung von Daten, schuldig. Den Feststellungen des Gerichts zufolge hatte der Beschwerdeführer im Internet unter falschem Namen Druckerzeugnisse und Dienstleistungen bestellt und zur Zahlung die Bankverbindung fremder Konten angegeben.

7. Er wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, in der auch die Einzelstrafen wegen des Betrugs in 25 Fällen enthalten waren. Die Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt, da dem Beschwerdeführer keine günstige Legalprognose gestellt wurde. Es wurde als relevant erachtet, dass der Beschwerdeführer bereits einschlägig vorbestraft war und aufgrund einer früheren Verurteilung zum Tatzeitpunkt unter Bewährung stand. Der Beschwerdeführer und die Staatsanwaltschaft legten Berufung ein, die sie später auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten.

8. Im Februar und April 2011 wurde ein weiteres strafrechtliches Verfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet, nachdem mehrere Personen und Organisationen Strafanzeige wegen Betrugs erstattet hatten.

9. Am 17. Juni 2011 durchsuchte die Polizei die Wohnung des Beschwerdeführers und stellte Beweismittel im Zusammenhang mit diesen neuen Vorwürfen sicher.

10. Am 7. und am 21. Juni 2011 hielt das Landgericht W. im Rahmen des Berufungsverfahrens eine mündliche Verhandlung ab. Dabei wurde auch der Polizeibeamte P., der die neuen strafrechtlichen Ermittlungen leitete, als Zeuge vernommen (siehe Rdnr. 8). P. äußerte sich zu den neuen Tatvorwürfen und gab insbesondere an, dass im Rahmen der Durchsuchung in der Wohnung des Beschwerdeführers Gegenstände sichergestellt worden seien, die unter Verwendung einer falschen Identität im Internet bestellt worden seien. Bei seiner Befragung im Termin äußerte sich der Beschwerdeführer nicht zu den neuen Tatvorwürfen, sondern ließ über seinen Anwalt mitteilen, dass er sich an nichts erinnern könne.

11. Am 21. Juni 2011 verwarf das Landgericht die Berufungen. Bei der Beweiswürdigung im Zusammenhang mit der Strafzumessung nach der ersten Verurteilung wegen Betrugs und Fälschung stellte das Landgericht fest:

„Für die Berufungskammer besteht auch kein Zweifel daran, dass der Angeklagte seit der Verurteilung durch das Erstgericht am 09.08.2010 sich weiterer Vergehen des Betrugs schuldig gemacht hat. Dies folgt aus den glaubwürdigen Bekundungen des Zeugen P. [Polizeibeamter], der weitere Ermittlungen gegen den Angeklagten führt.

[…]

Für die Berufungskammer besteht kein Zweifel daran, dass der Angeklagte für diese weiteren Straftaten verantwortlich ist. An der Glaubwürdigkeit des Zeugen P. besteht kein Zweifel. Der Zeuge hat sachlich und ohne jeglichen Belastungseifer [gegenüber dem Angeklagten] ausgesagt. Es gibt keinen Hinweis dafür, dass seine Ermittlungsergebnisse nicht zutreffend wären.

[…]

Da die unter missbräuchlicher Verwendung eines fremden Kontos bestellten Waren an den [Wohnsitz des] Angeklagten geliefert und dort sichergestellt wurden, ist der Beweis geführt, dass der Angeklagte sich erneut mehrerer Vergehen des Betrugs schuldig gemacht hat.“

12. Hinsichtlich der zehnmonatigen Freiheitsstrafe führte das Landgericht aus, dass diese aufgrund der ungünstigen Legalprognose des Beschwerdeführers nicht zur Bewährung ausgesetzt werden könne. Obwohl der Psychotherapeut des Beschwerdeführers diesem eine günstige Prognose bescheinigt hatte, befand das Gericht in diesem Zusammenhang:

„Die Beweisaufnahme der Berufungshauptverhandlung hat jedoch ergeben, dass der Angeklagte noch während seiner psychotherapeutischen Behandlung und trotz der bevorstehenden Berufungshauptverhandlung sich erneut straffällig gemacht hat. Gerade dieses Verhalten zeigt ein hohes Maß an Unbelehrbarkeit.“

13. Der Beschwerdeführer legte Revision ein. Er trug vor, dass die Feststellungen des Landgerichts einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darstellten, denn er habe die Begehung der weiteren Straftaten, für die er nicht rechtskräftig verurteilt worden sei, bestritten. Die Staatsanwaltschaft führte hierzu aus, dass dem innerstaatlichen Recht zufolge ein Gericht die nach der Anklageerhebung wegen der ursprünglichen Taten erfolgten weiteren Taten eines Angeklagten berücksichtigen könne, wenn im Rahmen der Hauptverhandlung dazu eine Beweiserhebung erfolgt sei und zur Überzeugung des Gerichts feststehe, dass der Angeklagte diese weiteren Taten begangen habe. Folglich habe das Landgericht die weiteren Taten des Beschwerdeführers bei der Beurteilung der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung berücksichtigen dürfen.

14. Am 11. Januar 2012 verwarf das Oberlandesgericht N., das sich den Ausführungen der Staatsanwaltschaft anschloss, die Revision als unbegründet und das Urteil erlangte Rechtskraft.

15. Am 31. Januar 2012 verwarf das Oberlandesgericht die von dem Beschwerdeführer daraufhin eingelegte Anhörungsrüge.

16. Am 20. Februar 2012 wurde wegen weiterer Betrugsdelikte förmlich Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben.

17. Am 16. August 2012 sprach das Amtsgericht W. den Beschwerdeführer u. a. des Betrugs in zehn Fällen, davon in fünf Fällen in Tateinheit mit Fälschung von Daten, schuldig. Diese Verurteilung beinhaltete die weiteren Taten, die das Landgericht bei der Strafzumessung berücksichtigt hatte und bezüglich derer das Landgericht die unter den Randnummern 11 und 12 wiedergegeben Ausführungen gemacht hatte. Der Beschwerdeführer hatte diese weiteren Taten gestanden, nachdem das Amtsgericht eine Zeugenvernehmung durchgeführt hatte.

18. Er wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. In die Gesamtstrafe einbezogen waren die Einzelstrafen für die zehn Fälle von Betrug sowie auch die fünfundzwanzig Einzelstrafen, die vom Amtsgericht W. am 9. August 2010 verhängt und vom Landgericht W. am 21. Juni 2011 bestätigt worden waren (siehe Rdnrn. 7 bzw. 11-12). Das Amtsgericht setzte die Gesamtfreiheitsstrafe nicht zur Bewährung aus, da sich die Legalprognose des Beschwerdeführers angesichts seiner vorangegangenen Straffälligkeit ungünstig darstelle.

19. Am 18. Dezember 2012 nahm der Beschwerdeführer seine Berufung zurück und das Urteil des Amtsgerichts wurde rechtskräftig.

20. Am 31. Juli 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde, die der Beschwerdeführers gegen die ursprüngliche Verurteilung zu insgesamt zehn Monaten Freiheitsstrafe eingelegt hatte, zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 333/12).

II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND INNERSTAATLICHE PRAXIS

A. Die maßgeblichen Vorschriften des Strafgesetzbuchs (StGB)

21. Die §§ 53 bis 55 StGB betreffen die Bildung einer Gesamtstrafe, wenn verschiedene oder mehrmalige Taten, die Gegenstand ein und derselben oder einer früheren Verurteilung sind, abgeurteilt werden. Das Gericht muss die Gesamtstrafe durch Erhöhung der schwersten Einzelstrafe bilden. Die Gesamtstrafe darf jedoch die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen. Bei der Zumessung der Gesamtstrafe erfolgt eine umfassende Beurteilung der Täterpersönlichkeit und der einzelnen Taten.

22. Werden in die Bildung der Gesamtstrafe auch frühere Verurteilungen einbezogen, so hat das zuständige Gericht gemäß § 56 Abs. 1 StGB erneut zu prüfen, ob die Gesamtstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen für eine Aussetzung zur Bewährung lauten, soweit maßgeblich, wie folgt:

§ 56
Strafaussetzung

„(1) Bei der Verurteilung zu Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr setzt das Gericht die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung aus, wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Dabei sind namentlich die Persönlichkeit des Verurteilten, sein Vorleben, die Umstände seiner Tat, sein Verhalten nach der Tat, seine Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für ihn zu erwarten sind.

(2) Das Gericht kann unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 auch die Vollstreckung einer höheren Freiheitsstrafe, die zwei Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn nach der Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten besondere Umstände vorliegen. Bei der Entscheidung ist namentlich auch das Bemühen des Verurteilten, den durch die Tat verursachten Schaden wiedergutzumachen, zu berücksichtigen.

(3) […]“

23. Wird eine frühere Gesamtstrafe Teil einer neugebildeten Gesamtstrafe, so wird die frühere Gesamtstrafe gegenstandslos.

B. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

24. In einem Beschluss vom 10. Mai 2017 (2 StR 117/17) hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zur Frage der Voraussetzungen einer Berücksichtigung von Vorwürfen aus schwebenden strafrechtlichen Verfahren, deren rechtskräftiges Urteil noch aussteht, bestätigt. Er stellte fest, dass ein Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung solche Vorwürfe nicht zum Nachteil des Angeklagten verwerten dürfe, wenn es zur Richtigkeit dieser Beschuldigungen keine eigenen, prozessordnungsgemäßen Feststellungen getroffen habe.

25. Aufgrund der Unschuldsvermutung dürfe ein Verdacht bezüglich solcher Vorwürfe nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 DER KONVENTION

26. Der Beschwerdeführer rügte, dass das Landgericht bei der Beweiswürdigung im Zusammenhang mit der Strafzumessung nach seiner ersten Verurteilung mit seinen Ausführungen zu weiteren, ihm vorgeworfenen Betrugsdelikten, die Gegenstand eines separaten, noch anhängigen strafrechtlichen Verfahrens waren, gegen die Unschuldsvermutung verstoßen habe. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 und 2 der Konvention. Der Gerichtshof stellt fest, dass Artikel 6 Abs. 2 zu den zentralen Elementen eines fairen Verfahrens gehört, wie es von Artikel 6 Abs. 1 verlangt wird (siehe B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 37568/97, Rdnr. 53, 3. Oktober 2002). Der Gerichtshof, der Herr über die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist (siehe bspw. W. u. a. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 68125/14 und 72204/14, Rdnr. 44, 22. März 2018), hält es für angemessen, diese Rüge unter Schwerpunktsetzung auf Artikel 6 Abs. 2 der Konvention zu prüfen, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

A. Zulässigkeit

1. Anklage wegen einer Straftat

27. Die Regierung trug vor, dass Artikel 6 Abs. 2 der Konvention nicht anwendbar sei, da der Beschwerdeführer in Bezug auf die weiteren Straftaten nicht vor dem Landgericht angeklagt gewesen sei. Die strafrechtlichen Ermittlungen wegen dieser weiteren Taten seien separat geführt worden und das Landgericht habe über die entsprechenden Vorwürfe nicht zu entscheiden gehabt. Es habe einzig im Zusammenhang mit der Strafzumessung eine Legalprognose des Beschwerdeführers erstellen müssen, dabei habe jedoch keine abschließende Beurteilung seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit stattgefunden.

28. Der Beschwerdeführer führte aus, dass er durch die parallel laufenden strafrechtlichen Ermittlungen als eine wegen einer Straftat angeklagte Person im Sinne der autonomen Bedeutung dieses Begriffs in der Konvention habe gelten können.

29. Im Hinblick auf den Geltungszeitraum der Unschuldsvermutung weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Artikel 6 Abs. 2 für jede Person gilt, die im Sinne der autonomen Bedeutung dieses Begriffs in der Konvention „einer Straftat angeklagt ist“, d. h. ab der amtlichen Mitteilung der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm die Begehung einer Straftat angelastet wird (siehe B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 76607/13, Rdnr. 30, 25. Januar 2018) oder ab dem Zeitpunkt, zu dem die Maßnahmen, die die Behörden aufgrund des Verdachts gegen ihn ergriffen haben, ernsthafte Auswirkungen auf seine Situation haben (siehe Simeonovi ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 21980/04, Rdnrn. 110-111, 12. Mai 2017 und darin zitierte Rechtsprechung).

30. Der Gerichtshof stimmt mit der Regierung dahingehend überein, dass in dem Verfahren vor dem Landgericht bezüglich der weiteren Taten nicht über eine strafrechtliche Anklage im Sinne der autonomen Bedeutung dieses Begriffs in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entschieden wurde (siehe Allen ./. das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 25424/09, Rdnrn. 95-96, ECHR 2013). Das Landgericht war nicht dafür zuständig, den Beschwerdeführer wegen der weiteren Taten zu verurteilen. Bezüglich dieser Tatvorwürfe musste nach Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen in einem separaten Strafverfahren vor dem zuständigen Amtsgericht Anklage erhoben werden, was auch geschah (siehe Rdnr. 17).

31. Entsprechend der Notwendigkeit, sicherzustellen, dass das in Artikel 6 Abs. 2 der Konvention garantierte Recht praktikabel und wirksam ist, findet der Grundsatz der Unschuldsvermutung allerdings nicht nur im Zusammenhang mit Strafverfahren Anwendung, bei denen das Strafgericht zur Aburteilung der Tatvorwürfe berufen ist. Die Bestimmung zielt darauf ab, zu verhindern, dass die Fairness eines Strafverfahrens untergraben wird, indem in engem Zusammenhang mit diesem Verfahren präjudizierende Äußerungen getätigt werden (siehe Mokhov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 28245/04, Rdnr. 28, 4. März 2010; und D. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17103/10, Rdnr. 41, 27. Februar 2014).

32. Äußerungen von Amtsträgern, und auch Gerichten, welche die Öffentlichkeit dahingehend beeinflussen, den Verdächtigen für schuldig zu halten, und der Tatsachenbewertung durch die zuständige gerichtliche Instanz vorgreifen, eröffnen den Anwendungsbereich von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention, wenn der Beschwerdeführer einen entsprechenden Zusammenhang nachweisen kann (siehe sinngemäß Allen, a.a.O., Rdnr. 104; und K., a.a.O., Rdnr. 41).

33. Im Zusammenhang mit gleichzeitig anhängigen Strafverfahren ist Artikel 6 Abs. 2 anwendbar, wenn eine Gerichtsentscheidung, die in einem Verfahren ergeht, das nicht gegen den Betroffenen als „Angeklagten“ gerichtet ist, ihn aber dennoch betrifft und mit einem gleichzeitig gegen ihn geführten Strafverfahren in Verbindung steht, eine vorzeitige Bewertung seiner Schuld implizieren kann (siehe E.K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 2130/10, Rdnr. 37, 12. November 2015; und K., a.a.O., Rdnr. 41).

34. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass zwischen den Parteien unstreitig ist, dass ein separates strafrechtliches Verfahren, das auch eine Wohnungsdurchsuchung beinhaltete, im Gange war. Dieses separate strafrechtliche Verfahren war infolge weiterer Betrugsvorwürfe eingeleitet worden und das Landgericht hatte im Rahmen der Strafzumessung auf diese weiteren Tatvorwürfe Bezug genommen (siehe Rdnrn. 8-12).

35. In den angegriffenen Äußerungen setzte sich das Landgericht eindeutig mit den Tatsachen und Vorwürfen auseinander, die später dem dann zuständigen Amtsgericht W. zur Beurteilung vorgelegt werden sollten (siehe Rdnr. 17).

36. Der Gerichtshof schließt daraus, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verfahren zur Festsetzung der Strafe durch das Landgericht nach der ersten Verurteilung wegen Betrugs und Fälschung und dem gleichzeitig laufenden strafrechtlichen Verfahren wegen der gegen den Beschwerdeführer erhobenen weiteren Betrugsvorwürfe bestand, auch wenn noch nicht förmlich Anklage erhoben worden war (siehe Rdnrn. 8-9 und 16). Somit fiel das Strafverfahren vor dem Landgericht in den Anwendungsbereich von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention. Die diesbezügliche Einwendung der Regierung ist folglich zurückzuweisen.

2. Opfereigenschaft

37. Nach Ansicht der Regierung konnte der Beschwerdeführer nicht bzw. nicht mehr geltend machen, im Sinne von Artikel 34 der Konvention Opfer eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung zu sein. Die vom Landgericht am 21. Juni 2011 festgesetzte Gesamtstrafe sei zu keinem Zeitpunkt vollstreckt worden und mit Verhängung der neuen Gesamtstrafe durch das Amtsgericht am 16. August 2012 letztendlich gegenstandslos geworden (siehe Rdnrn. 18 und 23).

38. Der Beschwerdeführer wandte sich gegen diese Auffassung und trug vor, dass es nicht von Belang sei, dass die ursprüngliche Gesamtstrafe gegenstandslos geworden sei.

39. Der Gerichtshof stellt fest, dass es sich nicht auf die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers auswirkt, dass die ursprüngliche Gesamtstrafe nicht vollstreckt wurde. Nicht die Freiheitsstrafe, sondern die vorzeitige Bewertung seiner Schuld in Bezug auf Vorwürfe, die Gegenstand eines laufenden strafrechtlichen Verfahrens waren, könnte Anlass zu einem Verstoß gewesen sein. Dass der Beschwerdeführer letzten Endes der weiteren Taten schuldig gesprochen und eine neue Gesamtstrafe verhängt wurde, stellte keine Heilung der Verletzung seines Rechts dar, in dem strafrechtlichen Verfahren, das später vor dem Amtsgericht W. verhandelt wurde, bis zum gesetzlichen Beweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten (siehe sinngemäß Matijašević ./. Serbien, Individualbeschwerde Nr. 23037/04, Rdnr. 49, ECHR 2006‑X; und B., a.a.O., Rdnr. 68). Der Gerichtshof schließt daraus, dass der Beschwerdeführer geltend machen kann, Opfer eines potenziellen Verstoßes der Unschuldsvermutung zu sein.

3. Schlussfolgerung

40. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Er stellt weiter fest, dass sie auch nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Die Stellungnahmen der Parteien

41. Der Beschwerdeführer behauptete, dass das Landgericht in Bezug auf die weiteren Taten unter Verletzung der Unschuldsvermutung die Rolle des zur Entscheidung berufenen Strafgerichts eingenommenen habe. Die angegriffenen Äußerungen im Urteil vom 21. Juni 2011 würden die Auffassung des Landgerichts wiedergeben, dass der Beschwerdeführer sich auch der Begehung der weiteren Taten schuldig gemacht habe. Es komme nicht darauf an, inwiefern ihm im Hinblick auf diese weiteren Taten ein rechtsstaatliches Verfahren zuteil geworden sei.

42. Die Regierung trat dem Vorbringen des Beschwerdeführers entgegen. Das Landgericht habe hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortung des Beschwerdeführers in Bezug auf die weiteren Taten keine rechtskräftige Entscheidung erlassen; diese Taten seien lediglich einer von mehreren Aspekten bei der Beurteilung der Legalprognose gewesen. Der vorliegende Fall sei auch nicht mit den Umständen der Rechtssache Böhmer (a.a.O.), in welcher der Gerichtshof auf eine Verletzung erkannt hatte, vergleichbar, da es nicht um den Widerruf einer Strafaussetzung gegangen sei, sondern das Landgericht W. die ursprüngliche Entscheidung über die Strafaussetzung zu treffen gehabt habe. Auch reiche zur Einschätzung des künftigen Legalverhaltens des Beschwerdeführers ein bloßer Verdacht weiterer Straftaten nicht aus. Das Landgericht habe die Vorwürfe aus dem gleichzeitig laufenden Verfahren nur berücksichtigen dürfen, da es eigene Feststellungen zur Richtigkeit dieser Vorwürfe getroffen habe. Es habe demnach prozessordnungsgemäß alle maßgeblichen Feststellungen getroffen, die es ihm erlaubten, zu dem Schluss zu gelangen, dass der Beschwerdeführer die weiteren Straftaten begangen habe. Dem Beschwerdeführer sei vor dem Landgericht außerdem die Wahrnehmung sämtlicher Verteidigungsrechte möglich gewesen, so wie sie ihm auch als Angeklagter in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht im Hinblick auf diese weiteren Straftaten zugestanden hätten. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer habe insbesondere die Möglichkeit gehabt, den Polizeibeamten P. in der Hauptverhandlung zu befragen.

2. Würdigung durch den Gerichtshof

a) Allgemeine Grundsätze

43. Wird festgestellt, dass zwischen den beiden gleichzeitig laufenden strafrechtlichen Verfahren ein Zusammenhang bestand (siehe Rdnr. 36), muss der Gerichtshof prüfen, ob bei der Beweiswürdigung und den Äußerungen des Landgerichts die Unschuldsvermutung beachtet wurde (siehe Allen, a.a.O., Rdnr. 119).

44. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es zur Bestimmung der Umstände, unter denen eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention vorliegt, in hohem Maße auf die Art und den Kontext des Verfahrens ankommt, in dem die angegriffene Entscheidung ergangen ist (siehe K., a.a.O., Rdnr. 63, betreffend vorzeitiger Äußerungen; sowie allgemeiner Allen, a.a.O., Rdnr. 125).

45. Gleichwohl geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass dem Sprachgebrauch der innerstaatlichen Gerichte entscheidende Bedeutung zukommt (siehe M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 54963/08, Rdnr. 46, 27. März 2014 betreffend eine Entscheidung über die Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung; sowie allgemeiner Allen, a.a.O., Rdnr. 126).

46. Da Artikel 6 Abs. 2 der Konvention darauf abzielt, zu verhindern, dass die Fairness eines Strafverfahrens untergraben wird, indem Amtsträger, die nicht dem zur Entscheidung berufenen Gremium angehören, in engem Zusammenhang mit diesem Verfahren vorzeitige Äußerungen tätigen, muss, wie bereits erwähnt, besonderes Augenmerk auf die Art und den Kontext des konkreten Verfahrens gelegt werden (siehe K., a.a.O., Rdnr. 63; N. A. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 27473/11, Rdnrn. 41-49, 18. Dezember 2014; Reeves ./. Norwegen (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 4248/02, 8. Juli 2004; und Ringvold ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 34964/97, Rdnr. 38, ECHR 2003 II). Das gilt nicht nur für Fälle unglücklichen Sprachgebrauchs (siehe Allen, a.a.O., Rdnr. 126), sondern auch für Fälle, bei denen die beanstandeten Äußerungen eindeutig Zweifel an der Unschuld des Beschwerdeführers wecken, obwohl seine Schuld noch nicht erwiesen ist (siehe sinngemäß B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 76607/13, Rdnrn. 51 und 52, 25. Januar 2018).

47. Im Hinblick auf vorzeitige Äußerungen hat der Gerichtshof in Fällen, in denen Gerichte separate Taten bei der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt hatten, auf eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention erkannt (Kangers ./. Lettland, Individualbeschwerde Nr. 35726/10, Rdnrn. 55-62, 14. März 2019; und Hajnal ./. Serbien, Individualbeschwerde Nr. 36937/06, Rdnrn. 129-131, 19. Juni 2012). In der Rechtssache Kangers hat der Gerichtshof anerkannt, dass eine jede Rechtsordnung Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art kennt, und dass die Konvention dem nicht grundsätzlich entgegensteht. Er hat jedoch von den Vertragsstaaten verlangt, diese angemessen einzugrenzen, so dass der Bedeutung des Streitgegenstands Rechnung getragen wird und die Verteidigungsrechte gewahrt bleiben (Kangers, a.a.O., Rdnr. 56).

48. Demgegenüber hat der Gerichtshof in der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnr. 48) aufgrund der konkreten Umstände des Falles keine Verletzung erkennen können. Dort ging es um eine Beweiswürdigung entsprechend der für Serientaten im Bereich des sexuellen Missbrauchs geltenden Besonderheiten und alle Tatvorwürfe waren ursprünglich vor dem zur Entscheidung berufenen Gericht anhängig. Folglich war dieses Gericht auch hinsichtlich der weiteren Vorwürfe das zuständige Tatgericht. Außerdem wurde das Strafverfahren hinsichtlich der weiteren Tatvorwürfe im Verlauf der Hauptverhandlung, in der später die angegriffenen Äußerungen getätigt wurden, eingestellt.

49. Im Hinblick auf die Art und den Kontext des Verfahrens hat der Gerichtshof insbesondere geprüft, ob eine angegriffene Äußerung ausdrücklich und umfassend auf die strafrechtliche Schuld des Beschwerdeführers abstellte (siehe Lagardère ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 18851/07, Rdnrn. 85-87, 12. April 2012) oder ob das urteilende Gericht sich lediglich auf die Prüfung bestimmter Aspekte einer Strafvorschrift beschränkte (siehe N. A. ./. Norwegen, a.a.O., Rdnrn. 42-49).

50. In Fällen, die einen Strafaussetzungswiderruf betrafen, war die Unschuldsvermutung nicht verletzt, wenn das Gericht keine eigenen Feststellungen zur Schuld des Beschwerdeführers traf, sondern seiner Entscheidung entweder nur dessen Geständnis zugrunde legte (siehe G. S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 15871/89, Kommissionsentscheidung vom 9. Oktober 1991, unveröffentlicht; sowie im Gegensatz dazu E.K., a.a.O., Rdnr. 59, wo der Beschwerdeführer sein ursprüngliches Geständnis zurücknahm) oder – in einem Fall betreffend einer Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrests zur vorzeitigen Haftentlassung – die Feststellungen ein direktes Zitat aus dem Sachverständigengutachten waren (siehe M., a.a.O., Rdnr. 52).

51. Insbesondere hat der Gerichtshof auf eine Verletzung erkannt, als das innerstaatliche Recht beim Widerruf einer Strafaussetzung ausdrücklich verlangte, dass das Gericht sich in seiner Beurteilung auf die Feststellung stützen müsse, dass der Verurteilte weitere Straftaten begangen hat (siehe B., a.a.O., Rdnrn. 63 und 64). Er hat gleichermaßen eine Verletzung festgestellt, als ein Strafverfahren aufgrund der Annahme, dass die streitgegenständliche Tat erwiesenermaßen begangen worden sei, eingestellt wurde (siehe Virabyan ./. Armenien, Individualbeschwerde Nr. 40094/05, Rdnr. 191, 2. Oktober 2012). Im Gegensatz dazu hat der Gerichtshof in einem Fall, in dem die Strafvollstreckungskammer nicht feststellen musste, ob der Beschwerdeführer eine weitere Straftat begangen hatte, sondern die angegriffenen Ausführungen Bestandteil einer Gesamtprognose waren (M., a.a.O., Rdnrn. 50 und 53), keine Verletzung festgestellt.

b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

52. Im Hinblick auf den Sprachgebrauch des Landgerichts, der den Ausgangspunkt der Beurteilung der Vereinbarkeit der angefochtenen Äußerung mit Artikel 6 Abs. 2 der Konvention darstellt, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass das Urteil vom 21. Juni 2011 Äußerungen enthielt, denen zufolge der Beschwerdeführer „sich weiterer Vergehen des Betrugs schuldig gemacht“ habe und bewiesen sei, dass er „sich erneut mehrerer Vergehen des Betrugs schuldig gemacht“ und sich trotz der bevorstehenden Berufungshauptverhandlung „erneut straffällig gemacht“ habe (siehe die unter den Rdnrn. 11 und 12 wiedergegebenen bzw. zusammengefassten Textpassagen).

53. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Äußerungen für sich betrachtet nahelegen, dass das Landgericht den Beschwerdeführer der Begehung weiterer Betrugstaten für schuldig befand. Die Äußerungen sind nicht mehrdeutig. Es ist unbestritten (siehe Rdnr. 42), dass sich das Landgericht nicht auf die Beschreibung einer Verdachtslage beschränkt hat (siehe C. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 48144/09, Rdnr. 53, 15. Januar 2015).

54. In diesem Zusammenhang merkt der Gerichtshof an, dass die Äußerungen keinen ausdrücklichen Vorbehalt dahingehend enthielten, dass die weiteren Betrugsvorwürfe bis dato noch in einem separaten strafrechtlichen Verfahren geprüft wurden (sinngemäß M. M. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 23091/93, Kommissionsentscheidung vom 30. November 1993, unveröffentlicht).

55. Zur Beurteilung der Frage, ob die beanstandeten Äußerungen einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dargestellt haben, prüft der Gerichtshof in einem zweiten Schritt die Art und den Kontext des Verfahrens, in dem die Äußerungen getätigt wurden.

56. Der Gerichtshof teilt nicht die Auffassung der Regierung, dass der vorliegende Fall mit der Rechtssache M. (a.a.O., Rdnr. 53, bei der der Gerichtshof keine Verletzung festgestellt hat) vergleichbar sei. Wie bereits ausgeführt, waren die angegriffenen Ausführungen im vorliegenden Fall nicht mehrdeutig (siehe Rdnr. 53) und beschränkten sich auch nicht auf die Legalprognose des Beschwerdeführers oder eine Beurteilung „sein[es] Verhalten[s] nach der Tat“, wegen der die Strafzumessung erfolgte.

57. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass das Landgericht sich umfassend zur strafrechtlichen Schuld des Beschwerdeführers hinsichtlich der weiteren Straftaten, die Gegenstand eines laufenden strafrechtlichen Verfahrens waren, geäußert hat (siehe B., a.a.O., Rdnrn. 63 und 65; und Lagardère, a.a.O., Rdnrn. 85-87). Es hat sich nicht auf die Prüfung bestimmter Aspekte einer Strafvorschrift im Zusammenhang mit einem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch beschränkt (im Gegensatz dazu N. A. ./. Norwegen, a.a.O., Rdnr. 49) oder sich lediglich auf ein Schuldeingeständnis des Beschwerdeführers gestützt (siehe G. S. ./. Deutschland, a.a.O.; und M., a.a.O., Rdnr. 52, in Bezug auf Zitate aus einem Sachverständigengutachten).

58. Während der Beschwerdeführer davon absah, sich zu den neuen Ermittlungen und Vorwürfen zu äußern, hat das Landgericht hinsichtlich dieser weiteren Taten vielmehr die Funktion eines Strafgerichts eingenommen und den Polizeibeamten P. als Zeugen gehört (siehe Rdnr. 10), bevor es zu der eindeutigen Schlussfolgerung gelangte, dass der Beschwerdeführer die ihm vorgeworfenen weiteren Straftaten begangen habe.

59. Schließlich nimmt der Gerichtshof die Argumentation der Regierung zur Kenntnis, wonach das Landgericht in der vorliegenden Rechtssache die Strafverfahrensvorschriften eingehalten und dem Beschwerdeführer sämtliche Verfahrensrechte gewährt habe, die er auch als Angeklagter in der Hauptverhandlung zu den weiteren Straftaten gehabt hätte (siehe Rdnr. 42). Aber die ordnungsgemäße Einhaltung der Verfahrensvorschriften vor einem Gericht, das nicht zur Aburteilung der in Rede stehenden weiteren Straftaten berufen ist, ist nicht geeignet, einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung zu widerlegen (siehe B., a.a.O., Rdnr. 67; und demgegenüber die besonderen Umstände in B., a.a.O., Rdnr. 53, wo das Gericht auch für die Entscheidung über die weiteren Tatvorwürfe zuständig war).

60. Die vorstehenden Ausführungen reichen aus, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass die Äußerungen des Landgerichts, der Beschwerdeführer habe sich der Begehung der weiteren Straftaten schuldig gemacht, im Hinblick auf das laufende strafrechtliche Verfahren zu diesen weiteren Taten im Gegensatz zur Unschuldsvermutung gestanden haben. Dementsprechend ist Artikel 6 Abs. 2 der Konvention verletzt worden.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

61. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

62. Der Beschwerdeführer forderte 10.000 Euro (EUR) in Bezug auf den immateriellen Schaden. Ihm sei durch die Verletzung seines Rechts, bis zum Beweis seiner Schuld als unschuldig zu gelten, Kummer und Frustration zugefügt worden.

63. Die Regierung trug vor, dass dem Beschwerdeführer durch das Urteil des Landgerichts weder körperliche noch psychische Unannehmlichkeiten entstanden seien. Die ursprüngliche, nicht zur Bewährung ausgesetzte Gesamtstrafe sei nie vollstreckt, sondern später gegenstandslos geworden. Überdies sei dem Beschwerdeführer bewusst gewesen, dass er die weiteren Taten begangen habe, da er sie schließlich in dem anschließenden Verfahren vor dem Amtsgericht W. gestanden habe.

64. Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles spricht der Gerichtshof dem Beschwerdeführer 5.000 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden zu

B. Kosten und Auslagen

65. Der Beschwerdeführer verlangte außerdem 3.570 EUR für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof. Ausweislich der von dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers ausgestellten Rechnungen wurde dieser Betrag auf der Grundlage von 20 Arbeitsstunden bei einem Stundensatz von 150 EUR zzgl. Mehrwertsteuer berechnet.

66. Die Regierung wandte sich gegen diese Forderung. Zwanzig Stunden seien überzogen und es sei auch kein Beleg dafür vorgelegt worden, dass ein Stundensatz von 150 EUR vereinbart worden sei.

67. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur soweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, 3.570 EUR (inkl. Mwst.) zur Deckung der in dem Verfahren vor dem Gerichtshof entstandenen Kosten und Auslagen zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern zuzusprechen.

C. Verzugszinsen

68. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 6 Abs. 2 der Konvention ist verletzt worden;

3.

a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, folgende Beträge zu zahlen:

i) 5.000 EUR (fünftausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich gegebenenfalls zu berechnender Steuern;

ii) 3.750 EUR (dreitausendsiebenhundertfünfzig Euro) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;

b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. Februar 2020 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Claudia Westerdiek                               Síofra O’Leary
Kanzlerin                                                Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Mai 17, 2021 von eurogesetze

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