Die vorliegende Rechtssache betrifft die Verurteilung des verstorbenen Ehemanns (N. A.) der ersten Beschwerdeführerin und die Verurteilung des zweiten und des dritten Beschwerdeführers wegen Drogendelikten im Zusammenhang mit der Einfuhr von Drogen, auf die der Staat Einfluss genommen hatte. Die innerstaatlichen Gerichte hatten festgestellt, dass N. A. und der zweite, nicht aber der dritte Beschwerdeführer von staatlichen Behörden zur Begehung der Straftaten verleitet worden seien. Daher setzten sie das Strafmaß für N. A. und den zweiten Beschwerdeführer erheblich herab und berücksichtigten diesen Umstand auch beim Urteil gegen den dritten Beschwerdeführer allgemein strafmildernd. Die Beschwerdeführer rügten insbesondere, dass das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden sei, da N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer wegen Straftaten verurteilt worden seien, zu denen sie von der Polizei verleitet worden seien.
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE A. UND ANDERE GEGEN DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 40495/15 und zwei weitere)
URTEIL
Artikel 34 • Opfer • Übertragbarkeit einer Rüge nach Artikel 6 wegen Tatprovokation des Ehemanns, der verstarb, bevor die Beschwerde beim Gerichtshof erhoben wurde • Mögliche Verletzung von Artikel 6 aufgrund rechtswidriger Tatprovokation durch die Polizei, wodurch die Beschwerdeführerin ein hinreichendes moralisches Interesse an der Erhebung einer Beschwerde im eigenen Namen hat • Möglicher Entschädigungsanspruch nach Artikel 41 stellt kein materielles Interesse dar • Fall, der Fragen von allgemeinem Interesse im Zusammenhang mit dem Rechtssystem und der Rechtspraxis des beschwerdegegnerischen Staats aufwirft
Artikel 6 Abs. 1 (Strafverfahren) • Faire Verhandlung • Nichtausschluss von Beweismitteln, die im Zusammenhang mit unmittelbarer oder mittelbarer polizeilicher Verleitung zur Begehung von Drogendelikten stehen • Kriterien zur Feststellung mittelbarer Verleitung • Versäumnis der innerstaatlichen Gerichte, die erforderlichen Schlüsse aus ihrer Feststellung zu ziehen, dass der erste und der zweite Beschwerdeführer zur Begehung einer Straftat verleitet wurden • Hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers, dessen Aktivitäten nicht durch das Verhalten der Polizei geleitet waren, werden keine Fragen aufgeworfen
STRASSBURG
15. Oktober 2020
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache A. und andere gegen Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Síofra O’Leary, Präsidentin,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Mārtiņš Mits,
Latif Hüseynov,
Lado Chanturia,
Anja Seibert-Fohr,
Mattias Guyomar,
und Victor Soloveytchik, Sektionskanzler,
im Hinblick auf
die Beschwerden (Nrn. 40495/15, 40913/15 und 37273/15), die die drei türkischen Staatsangehörigen Frau A. („die erste Beschwerdeführerin”), Herr S. („der zweite Beschwerdeführer”) und Herr U. („der dritte Beschwerdeführer”) jeweils am 11. August 2015 (Individualbeschwerden Nrn. 40495/15 und 40913/15) und am 24. Juli 2015 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention”) gegen die Bundesrepublik Deutschland beim Gerichtshof eingereicht hatten;
die Entscheidung, die Rügen von Frau A. nach Artikel 6 der Konvention an die deutsche Regierung („die Regierung”) zu übermitteln und die Beschwerde Nr. 40495/15 im Übrigen für unzulässig zu erklären;
die Entscheidung, die Beschwerden Nrn. 40913/15 und 37273/15 an die Regierung zu übermitteln;
die Schreiben an die türkische Regierung vom 19. Mai 2017 und vom 4. Juli 2017, mit denen diese über ihr Recht, sich als Drittbeteiligte am Verfahren über die Beschwerden nach Artikel 36 Abs. 1 der Konvention zu beteiligen, unterrichtet wurde; wobei die türkische Regierung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist die Absicht geäußert hat, von diesem Recht Gebrauch machen zu wollen;
die von der beschwerdegegnerischen Regierung und vom zweiten Beschwerdeführer vorgelegten Stellungnahmen; die Stellungnahmen der ersten Beschwerdeführerin und des dritten Beschwerdeführers hingegen sind nicht innerhalb der gesetzten Frist eingegangen und daher nicht in der Akte der Rechtssache enthalten;
nach nicht öffentlicher Beratung am 22. September 2020
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde:
EINLEITUNG
1. Die vorliegende Rechtssache betrifft die Verurteilung des verstorbenen Ehemanns (N. A.) der ersten Beschwerdeführerin und die Verurteilung des zweiten und des dritten Beschwerdeführers wegen Drogendelikten im Zusammenhang mit der Einfuhr von Drogen, auf die der Staat Einfluss genommen hatte. Die innerstaatlichen Gerichte hatten festgestellt, dass N. A. und der zweite, nicht aber der dritte Beschwerdeführer von staatlichen Behörden zur Begehung der Straftaten verleitet worden seien. Daher setzten sie das Strafmaß für N. A. und den zweiten Beschwerdeführer erheblich herab und berücksichtigten diesen Umstand auch beim Urteil gegen den dritten Beschwerdeführer allgemein strafmildernd. Die Beschwerdeführer rügten insbesondere, dass das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden sei, da N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer wegen Straftaten verurteilt worden seien, zu denen sie von der Polizei verleitet worden seien.
SACHVERHALT
2. Die erste Beschwerdeführerin, Frau A., wurde 19.. geboren und lebt in B.. Sie wurde vor dem Gerichtshof von Herrn C., Rechtsanwalt in B., vertreten. Der zweite Beschwerdeführer, Herr S., wurde 19.. geboren. Zum Zeitpunkt der Erhebung seiner Beschwerde befand er sich in G. in Haft. Er wurde vor dem Gerichtshof von Herrn N., Rechtsanwalt in B., vertreten. Der dritte Beschwerdeführer, Herr U., wurde 19.. geboren und lebt in B.. Er wurde von Herrn L., Rechtsanwalt in B., vertreten.
3. Die Regierung wurde von einem ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vertreten.
4. Die Umstände des Falles, so wie sie von den Parteien dargelegt worden sind, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
I. DAS ERMITTLUNGSVERFAHREN
5. Im September 2009 informierte eine Vertrauensperson aus dem kriminellen Milieu den Zoll in B. darüber, dass N. A. angeblich aus einem Café in B. heraus mit (mehreren Kilo) Heroin handele. Durch eine daraufhin durchgeführte Telefonüberwachung, bei der Gespräche in verschlüsselter Sprache über größere Geldbeträge abgehört wurden, konnte der Verdacht gegen N. A., der nicht vorbestraft war, weder bestätigt noch ganz ausgeräumt werden. Die Polizei beauftragte daher nach Einholung der Zustimmung der Staatsanwaltschaft eine andere Vertrauensperson aus dem kriminellen Milieu, M., mit Ermittlungen. Die Vertrauensperson sollte für ihre Tätigkeit eine Auslagenerstattung, ein Honorar für jeden Einsatztag sowie eine – vom Umfang der sichergestellten Menge abhängige – Erfolgsprämie erhalten.
6. Nach regelmäßigen Besuchen des von N. A. geführten Cafés ab November 2009, bei denen die Vertrauensperson N. A. kennenlernte, fragte sie N. A. im Februar 2010, ob er am Handel mit Heroin interessiert sei. Im Einklang mit den Anweisungen, die sie von den Ermittlungsbehörden bekommen hatte, erklärte die Vertrauensperson, sie könne Drogen über den Hafen B. in Containern einführen und sie mithilfe des Hafenarbeiters K. an der Zollkontrolle vorbei aus dem Hafenbereich schaffen. N. A. antwortete, er wolle nichts mit Heroin zu tun haben, Haschisch und Kokain hingegen seien etwas anderes für ihn.
7. Im Mai 2010 bot die Vertrauensperson N. A. an, ihn mit dem Hafenarbeiter bekannt zu machen, der bereit sei, mit N. A. zusammenzuarbeiten. N. A. erklärte sich zu einem Treffen mit dem Hafenarbeiter bereit und behauptete, über entsprechende Kontaktpersonen und finanzielle Mittel zur Einfuhr von Kokain zu verfügen, obwohl beides nicht der Wahrheit entsprach. Es hatten sich auch noch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass N. A. über derartige Kontakte zum Handel mit Heroin oder Kokain verfügte, als er im August 2010 nach wiederholten Angeboten der Vertrauensperson schließlich in ein Treffen mit dem Hafenarbeiter einwilligte, der in Wahrheit ein verdeckter Ermittler der Polizei war, um die Modalitäten der Einfuhr der Drogen über den Hafen zu besprechen. Die Vertrauensperson und der Hafenarbeiter sollten für ihre Dienste jeweils 50 000 EUR erhalten. N. A. war beeindruckt von K.s vermeintlichem Einfluss im Hafen und der scheinbar einfachen Möglichkeit der Drogeneinfuhr ohne Entdeckungsrisiko, und so erklärte er, er werde jemanden nach Südamerika schicken, um einen Kokaintransport in die Wege zu leiten, ohne jedoch tatsächlich über eine solche Kontaktperson zu verfügen.
8. Nach diesem Treffen wurde ab dem 24. September 2010 mit Zustimmung des zuständigen Amtsgerichts nach § 110b Abs. 2 StPO (siehe Rdnr. 41, unten) K. als verdeckt ermittelnder Polizeibeamter eingesetzt.
9. Daraufhin versuchte N. A., der sich durch die wiederholten Äußerungen der Vertrauensperson unter Druck gesetzt und sich seiner Ehre verpflichtet fühlte, bis im Frühjahr 2011 ohne Erfolg, Kontakte zu Personen aufzubauen, die in der Lage waren, im Ausland Drogen zu beschaffen. Unter anderem hatte N. A. den dritten Beschwerdeführer, mit dem er befreundet war, gebeten, über eine in der Türkei inhaftierte Person Kontakt zu Kokaindealern aufzunehmen, jedoch schlugen diese Versuche des dritten Beschwerdeführers fehl. Die Ermittlungsbehörden wussten von N. A.s gescheiterten Versuchen, die für die Lieferung von Kokain nach B. erforderlichen Kontakte aufzubauen. Die Vertrauensperson hatte ihren polizeilichen Führungsbeamten indessen wiederholt berichtet, N. A. sei begierig darauf, Drogenhandel über den Hafen zu betreiben.
10. Im Mai 2011 trafen sich N. A. und der zweite Beschwerdeführer, mit dem er ebenfalls befreundet war, mit einem Bekannten des zweiten Beschwerdeführers in den Niederlanden, den N. A. kurz zuvor zufällig kennengelernt und mit dem er über mögliche Drogengeschäfte gesprochen hatte. So trafen sich N. A. und der Bekannte des zweiten Beschwerdeführers mit dessen Kontaktpersonen und vereinbarten die Einfuhr von 100 kg Kokain aus Südamerika, das von Kontaktpersonen in den Niederlanden beschafft werden sollte. Die Drogen sollten mithilfe des Hafenarbeiters K. über den Hafen von B. eingeführt werden, da dies ein sicherer Einfuhrweg zu sein schien. Der zweite Beschwerdeführer fungierte als Mittelsmann zwischen N. A. und der Personengruppe in den Niederlanden. K. zerstreute daraufhin N. A.s Zweifel hinsichtlich des Transports.
11. Am 17. August 2011 trafen dann fast 100 kg Kokain in einem Container im Hafen von B. ein. Am 18. August 2011 holten N. A. und K. die Drogen aus dem Container im Hafen und brachten sie zu einer Wohnung, die N. A. mit K.s Hilfe zu diesem Zweck angemietet hatte. Wie mit N. A. vereinbart, begab sich der dritte Beschwerdeführer, den N. A. zuvor für den Transport der Drogen von B. nach B. angeworben hatte, zu der Wohnung, um die Drogen abzuholen. N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer wurden an diesem Tag festgenommen.
II. DAS VERFAHREN VOR DEM LANDGERICHT
12. Am 7. November 2012 verurteilte das Landgericht B. N. A. wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und fünf Monaten. Der zweite Beschwerdeführer wurde wegen Beihilfe zu N. A.s Drogendelikten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Der dritte Beschwerdeführer wurde des unerlaubten Besitzes der ihm von N. A. anvertrauten Betäubungsmittel sowie der Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Zwei weitere Angeklagte erhielten ebenfalls Freiheitsstrafen für ihre Beteiligung an den in Rede stehenden Drogendelikten.
13. Nach Feststellung des oben beschriebenen Sachverhalts (siehe Rdnrn. 5-11) stützte das Landgericht die Verurteilungen N. A.s und der Beschwerdeführer im Wesentlichen auf deren Geständnisse in der Hauptverhandlung.
14. Das Landgericht stellte fest, dass es nicht möglich gewesen sei, die Vertrauensperson M. als Zeugen in der Hauptverhandlung zu vernehmen, sondern nur deren polizeiliche Führungsbeamte. Insofern als die Vertrauensperson den Verlauf der Ereignisse und insbesondere das Ausmaß ihrer Einflussnahme auf N. A. in ihren Berichten an die Führungsbeamten der Polizei erheblich anders dargestellt hatte als N. A., stellte das Gericht fest, dass die Aussagen der Führungsbeamten in der Hauptverhandlung hinsichtlich dieser Berichte von geringem Beweiswert seien. Zudem könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Vertrauensperson, die sich im kriminellen Milieu bewege, N. A. aufgrund der beträchtlichen Prämie, die sie im Falle eines Schuldspruchs für N. A. erhalten würde, zum Handel mit Kokain verleitet habe. Bei seiner Beweiswürdigung habe das Gericht die Aussagen der Vertrauensperson daher nur als ergänzende Informationsquelle, insbesondere im Hinblick auf die zeitliche Einordnung der Ereignisse, insoweit berücksichtigt, als sie nicht im Widerspruch zu den Aussagen N. A.s gestanden hätten. Dadurch sei den Angeklagten kein Nachteil entstanden.
15. Ebenso seien andere Beweismittel wie die Aussage des verdeckten Ermittlers K. über Videozuschaltung nur ergänzend zu den Einlassungen der Angeklagten berücksichtigt worden. Das Landgericht stellte klar, dass es kein Beweisverwertungsverbot für die von K. bei seinem ersten Zusammentreffen mit N. A. im August 2010 erlangten Beweismittel für geboten hielt, als das zuständige Amtsgericht dem Einsatz K.s als verdeckter Ermittler nach § 110b Abs. 2 StPO (siehe Rdnr. 41 unten) noch nicht zugestimmt hatte. Im Einklang mit der gängigen Praxis könne ein verdeckt arbeitender Polizeibeamter bis zu drei Kontakte mit einem Verdächtigen haben, ohne dass eine richterliche Anordnung nach dieser Norm erforderlich sei.
16. Das Landgericht stellte fest, dass N. A. rechtsstaatswidrig zu der Straftat, derer er für schuldig befunden wurde, verleitet worden sei. Daher liege ein Verstoß gegen sein Recht auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 Abs. 1 der Konvention vor. Es führte aus, dass aufgrund der Informationen einer Vertrauensperson der Polizei und der Erkenntnisse aus einer Telefonüberwachung bereits zu Beginn der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen ein hinreichender Verdacht des Drogenhandels gegen N. A. bestanden habe, auch wenn dieser nicht vorbestraft gewesen sei. Danach habe die Vertrauensperson jedoch über einen sehr langen Zeitraum immer wieder versucht, N. A. zu verleiten, und sie habe Druck auf ihn ausgeübt, zum Teil entgegen der Anweisungen seiner Führungsbeamten, sich passiv zu verhalten.
17. Außerdem hätten die Ermittlungsbehörden mit der Darbietung einer scheinbar sicheren Einfuhrmöglichkeit über den Hafen B. einen erheblichen Anreiz zur Begehung der Tat geschaffen. Möglicherweise sei es allein diese sichere Einfuhrmöglichkeit gewesen, die N. A. in die Lage versetzt habe, den Kontakt zu einem Kokainlieferanten aufzubauen, denn zuvor habe er nicht über solche Kontakte verfügt. Darüber hinaus hätten diese Einfuhrmöglichkeit und das Geld, das die Vertrauensperson und der verdeckte Ermittler für ihre Hilfe bekommen sollten (jeweils 50 000 EUR), N. A. zum Handel mit einer großen Menge an Drogen verleitet, was bei Weitem über die Delikte hinausgegangen sei, für die nach der Telefonüberwachung ein begründeter Anfangsverdacht gegen N. A. bestanden habe.
18. Hinsichtlich des zweiten Beschwerdeführers, der zuvor nicht im Zusammenhang mit Drogendelikten in Erscheinung getreten war (er hatte zwei Vorstrafen wegen Verkehrsdelikten), stellte das Landgericht ebenfalls fest, dass er rechtswidrig zur Begehung der Tat provoziert worden sei und sein Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention daher ebenfalls verletzt worden sei. Auch wenn die Ermittlungsbehörden nur mittelbar auf ihn Einfluss genommen hätten, so habe seine Beteiligung an der Drogeneinfuhr eben darauf beruht, dass auch ihm – infolge der Einflussnahme der Ermittlungsbehörden auf N. A. – die Einfuhr sicher erschienen sei. N. A. habe dem zweiten Beschwerdeführer die Einfuhrmöglichkeit ausführlich beschrieben und argumentiert, dass sie sicher und sehr wertvoll sei, da seine einflussreiche Kontaktperson K. sämtliche Kontrollen im Hafen umgehen könne. Zudem habe die Polizei bestätigt, dass sie davon ausgegangen sei, dass N. A. die Einfuhr der Drogen nicht alleine durchführen, sondern Helfer haben würde, die ebenfalls aufgrund des scheinbar sicheren Einfuhrwegs zur Beteiligung verleitet werden könnten.
19. Im Hinblick auf den dritten Beschwerdeführer, der in Deutschland gar nicht vorbestraft war, allerdings 2007 in den Niederlanden schon einmal wegen Drogenhandels verurteilt worden war, stellte das Landgericht fest, dass er nicht zu der Tat provoziert worden sei und daher Artikel 6 Abs. 1 der Konvention in Bezug auf ihn nicht verletzt worden sei. Das Gericht stellte fest, dass der dritte Beschwerdeführer zunächst gezögert habe, sich an dem Drogengeschäft zu beteiligen, sich dann aber seinem Freund N. A. gegenüber, der ihm von der vermeintlich sicheren Einfuhr der Drogen über den Hafen von Bremerhaven erzählt hatte, verpflichtet gefühlt habe. Er habe gehofft, mit dem Transport der Drogen von der Wohnung in B. nach B. mehrere Tausend Euro verdienen zu können. Das Gericht war jedoch der Auffassung, die Tatsache, dass dem dritten Beschwerdeführer die ihm von N. A. beschriebene vorausgehende Einfuhr der Drogen sicher erschienen sei, habe keinen Einfluss auf seine Entscheidung zum Transport der Drogen gehabt. An diesem Transport seien die Ermittlungsbehörden nicht beteiligt gewesen.
20. In Anbetracht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (siehe Rdnrn. 46-50, unten), der wiederum die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigt hatte, lehnte es das Landgericht ab, das Verfahren aufgrund der unzulässigen Provokation zur Begehung der in Rede stehenden Taten einzustellen. Es berücksichtigte diese Tatprovokation jedoch im Rahmen der Strafzumessung (sogenannte „Strafzumessungslösung“).
21. Das Landgericht nahm daher bei der Strafzumessung für N. A. einen Strafabschlag von mindestens fünf Jahren und sieben Monaten vor; es gab an, dass es ohne die Tatprovokation eine Strafe von nicht weniger als zehn Jahren verhängt hätte. Auch bei der Strafzumessung für den zweiten Beschwerdeführer, der eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten erhielt, berücksichtigte das Landgericht insbesondere die in Bezug auf ihn mittelbare unzulässige Tatprovokation als strafmildernden Umstand. Es gab an, dass es ohne diese Tatprovokation eine Freiheitsstrafe von nicht weniger als sieben Jahren verhängt hätte. Im Hinblick auf den dritten Beschwerdeführer berücksichtigte das Landgericht die staatliche Einflussnahme auf die Durchführung des Drogengeschäfts als Ganzes bei der Strafzumessung als allgemein strafmildernd.
III. DAS VERFAHREN VOR DEM BUNDESGERICHTSHOF
22. In ihrer Revision gegen das Urteil des Landgerichts machten N. A. sowie der zweite und der dritte Beschwerdeführer geltend, dass das Verfahren gegen sie in Anbetracht der besonders schwerwiegenden rechtsstaatswidrigen Tatprovokation einzustellen gewesen wäre. Der zweite Beschwerdeführer machte hilfsweise geltend, dass im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sämtliche infolge einer Tatprovokation erlangten Beweismittel, einschließlich seines Geständnisses, nicht hätten verwertet werden dürfen und er folglich freizusprechen gewesen wäre. Der zweite und der dritte Beschwerdeführer machten weiter geltend, die Beteiligung des verdeckten Ermittlers an dem Polizeieinsatz habe gegen §§ 110a und 110b StPO (siehe Rdnrn. 40-41, unten) verstoßen, da die Zustimmung des Amtsgerichts erst nach dem ersten Treffen mit N. A. eingeholt worden sei. N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer argumentierten außerdem, für den Einsatz einer Vertrauensperson habe es keine ausreichende Rechtsgrundlage gegeben.
23. Am 11. Dezember 2013 verwarf der Bundesgerichtshof die Revisionen N. A.s und des zweiten und des dritten Beschwerdeführers (Aktenzeichen 5 StR 240/13). Er bestätigte die Feststellung des Landgerichts, dass N. A. und der zweite und dritte Beschwerdeführer rechtsstaatswidrig zur Begehung der in Rede stehenden Tat verleitet worden seien, und dass das Verfahren gegen sie nicht fair im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gewesen sei.
24. Bezugnehmend auf seine ständige Rechtsprechung (Näheres hierzu siehe Rdnrn. 46-50, unten) stellte es jedoch fest, dass diese Tatprovokation keine Einstellung des Strafverfahrens, sondern lediglich eine Strafmilderung gebiete. Es führte aus, dass selbst ein schwerwiegender Rechtsverstoß durch Anwendung einer der in § 136a StPO aufgeführten verbotenen Ermittlungsmethoden (siehe Rdnr. 44, unten) nach den Grundsätzen des deutschen Strafprozessrechts lediglich ein Verwertungsverbot der dadurch erlangten Beweismittel nach sich ziehe. Durch eine Verfahrenseinstellung könne der Schutz Dritter leiden sowie die Genugtuungsfunktion des Strafrechts verfehlt werden.
IV. DAS VERFAHREN VOR DEM BUNDESVERFASSUNGSGERICHT UND WEITERE ENTWICKLUNGEN
25. In ihren jeweiligen Verfassungsbeschwerden vom 29., 30. und 23. Januar 2014 machten N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer insbesondere geltend, dass gegen ihr verfassungsmäßiges Recht auf ein faires Verfahren verstoßen worden sei. Sie argumentierten, dass die Fachgerichte trotz der festgestellten grob rechtsstaatswidrigen Provokation der Straftaten das Verfahren nicht eingestellt und stattdessen nur eine unzureichende Entschädigung durch eine Strafmilderung gewährt hätten. Nach Ansicht des zweiten Beschwerdeführers hätte er alternativ nach Ausschluss sämtlicher durch die Tatprovokation erlangten Beweismittel freigesprochen werden müssen. N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer brachten insbesondere vor, dass die bei unzulässiger Tatprovokation angewandte Strafzumessungslösung des Bundesgerichtshofs mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht vereinbar sei. N. A. rügte außerdem, dass er entgegen Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention keine Möglichkeit gehabt habe, M. in der Verhandlung vor dem Landgericht direkt konfrontativ zu befragen.
26. Am 18. Dezember 2014 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerden N.A.s und des zweiten und des dritten Beschwerdeführers, die es zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hatte, zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 209/14, 2 BvR 262/14 und 2 BvR 240/14). Es stellte fest, dass die verfassungsmäßigen Rechte der Beschwerdeführer durch die Entscheidungen der Fachgerichte nicht verletzt worden seien.
27. Das Bundesverfassungsgericht vertrat die Auffassung, selbst wenn man annehme, dass eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation ein Verfahrenshindernis darstellen könne, so könne ein solches Verbot der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs allenfalls in ganz besonderen Ausnahmefällen aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden. In derartigen Fällen sei zu berücksichtigen, dass das Rechtsstaatsprinzip nicht nur die Belange des Beschuldigten, sondern auch das öffentliche Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schütze.
28. Auch wenn es bei der hiesigen Fallgestaltung nicht unangebracht gewesen wäre, einen solchen ganz besonderen Ausnahmefall anzunehmen, so sei es dennoch verfassungsrechtlich vertretbar gewesen, dass die Strafgerichte zu dem Schluss kamen, ein solcher Ausnahmefall liege nicht vor.
29. Das Gericht war der Auffassung, es habe von Anfang an hinreichende Gründe zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen N. A. gegeben. Zudem sei N. A.s kriminelles Verhalten nicht ausschließlich in dem durch die Ermittlungsbehörden geschaffenen Rahmen geblieben. Als die Vertrauensperson angefangen habe, auf N. A. einzuwirken, habe letzterer bereits im Verdacht gestanden, mit Drogen zu handeln. In seinem ersten Gespräch mit der Vertrauensperson habe N. A. außerdem erklärt, dass er bereit sei, mit Haschisch und Kokain zu handeln. Trotz der fortgesetzten Einwirkung der Vertrauensperson auf N. A sei dieser weder von der Vertrauensperson bedroht worden, noch habe sie eine besondere Notlage N. A.s ausgenutzt. Dass N. A. eine eigenverantwortliche Entscheidung zur Tatbegehung getroffen habe, zeige sich daran, dass die eigentliche Tat sich aus einer eher zufälligen Begegnung zwischen N. A. und einem Bekannten des zweiten Beschwerdeführers in den Niederlanden entwickelt habe. Als N. A. die sich aus diesem Treffen ergebende Möglichkeit zur Durchführung des Drogengeschäfts erkannt habe, habe er seine Entscheidung zur Tatbegehung mit erheblicher krimineller Energie weiterverfolgt. Dies gelte erst recht für den zweiten und den dritten Beschwerdeführer, auf die allenfalls mittelbar eingewirkt worden sei. Die nicht unerhebliche persönliche Schuld, die sie damit auf sich geladen hätten, müsse im Einklang mit dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit berücksichtigt werden.
30. Des weiteren sei auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Problematik der Tatprovokation nicht von einer Verletzung des verfassungsgemäßen Rechts auf ein faires Verfahren auszugehen. Der Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention im Ermittlungsverfahren sei durch die Strafgerichte ausreichend kompensiert worden.
31. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verfolge bei Fällen von Tatprovokation einen anderen dogmatischen Ansatz, bei dem die Zulässigkeit der Verfahrensdurchführung an sich und die der Beweisverwertung im Mittelpunkt stehe (vgl. unter anderem Ramanauskas ./. Litauen [GK], Individualbeschwerde Nr. 74420/01, EGMR 2008; Prado Bugallo ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 58496/00, 18. Februar 2003; F. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 54648/09, 23. Oktober 2014), während der Bundesgerichtshof in solchen Fällen die sogenannte „Strafzumessungslösung“ anwende.
32. Insbesondere könne für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte das öffentliche Interesse nicht die Verwertung von durch polizeiliche Tatprovokation gewonnenen Beweismitteln rechtfertigen (ebenda). Das innerstaatliche Rechtssystem müsse diesem dogmatischen Ansatz jedoch nicht zwingend folgen. Die Anforderungen nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention könnten im innerstaatlichen Rechtssystem in unterschiedlicher Weise umgesetzt sein, solange sichergestellt sei, dass die wesentlichen Voraussetzungen an die Fairness eines Verfahrens erfüllt seien.
33. Auch unter Berücksichtigung der Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 der Konvention verstoße die Art der Anwendung der „Strafzumessungslösung“ im vorliegenden Fall jedenfalls nicht gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz eines fairen Verfahrens.
34. Das Landgericht habe ausdrücklich einen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention eingeräumt. Des Weiteren habe es N. A. und dem zweiten Beschwerdeführer einen erheblichen, konkret bezifferten Strafabschlag gewährt (siehe Rdnr. 20, oben). Der Bundesgerichtshof habe diese Feststellungen bestätigt. Beide Gerichte hätten ihre Entscheidungen getroffen, bevor das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache F. ./. Deutschland (a.a.O.) ergangen sei.
35. Außerdem müsse die Art der Beweiswürdigung durch das Landgericht berücksichtigt werden. Es habe seine Tatsachenfeststellungen in erster Linie auf die – im Wesentlichen übereinstimmenden – glaubhaften Geständnisse gestützt, die N. A., der zweite und der dritte Beschwerdeführer sowie zwei weitere Angeklagte in der Verhandlung abgelegt hätten. Es habe nicht auf weitere Beweismittel zurückgegriffen, um Feststellungen zulasten der Angeklagten zu treffen, die nicht deren eigenen Geständnissen entsprochen hätten. Insbesondere habe das Landgericht, auch wenn es die Angaben der Vertrauensperson nicht von der Verwertung ausgeschlossen habe, diese Aussagen und die der ermittelnden Polizeibeamten nicht zum Nachteil der Angeklagten herangezogen, sondern nur ergänzend zu den vorliegenden Beweismitteln und zur Klärung der Frage, inwieweit die Vertrauensperson auf N. A. eingewirkt habe. Die Art der Beweiswürdigung durch das Landgericht käme daher in der Sache einem Verbot der Verwertung der belastenden Zeugenaussagen der Vertrauensperson und des verdeckten Ermittlers nahe.
36. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unterscheide sich dieser Fall in dieser Hinsicht von der Rechtssache F. ./. Deutschland (a.a.O.), bei der die Aussagen der verdeckten Ermittler dazu gedient hätten, die Einlassungen des Angeklagten in wesentlichen Teilen zu widerlegen.
37. Das Bundesverfassungsgericht führte weiter aus, dass die Strafgerichte unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gleichwohl künftig zu erwägen hätten, ob in vergleichbaren Fällen ein Verwertungsverbot für die unmittelbar durch die rechtsstaatswidrige Tatprovokation gewonnenen Beweismittel (insbesondere für die Zeugenaussagen der unmittelbar in die Tatprovokation verstrickten Zeugen, ausgesprochen werden sollte.
38. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde dem Anwalt des zweiten Beschwerdeführers am 11. Februar 2015 und dem Anwalt N. A.s und des dritten Beschwerdeführers am 12. Februar 2015 zugestellt.
39. N. A. verstarb am 3. Juni 2015.
EINSCHLÄGIGER RECHTLICHER RAHMEN UND EINSCHLÄGIGE PRAXIS
I. STRAFPROZESSORDNUNG
A. Bestimmungen zu verdeckten polizeilichen Ermittlungen
40. Laut § 110a Abs. 1 Nr. 1 StPO dürfen verdeckte Ermittler zur Aufklärung von Straftaten eingesetzt werden, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung auf dem Gebiet des unerlaubten Betäubungsmittelverkehrs begangen worden ist. Der Einsatz ist nur zulässig, soweit die Aufklärung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Verdeckte Ermittler sind Beamte des Polizeidienstes, die unter einer ihnen verliehenen, auf Dauer angelegten, veränderten Identität (sogenannte Legende; siehe § 110a Abs. 2 StPO) ermitteln.
41. Gemäß § 110b Abs. 2 Nr. 1 StPO bedürfen Einsätze mit verdeckten Ermittlern, die sich gegen einen bestimmten Beschuldigten richten, der Zustimmung des Gerichts.
42. Der Einsatz von Vertrauenspersonen ist in der Strafprozessordnung nicht ausdrücklich geregelt, sondern richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen von §§ 161 und 163 StPO, die Polizei und Staatsanwaltschaft zur Erforschung von Straftaten befugen.
43. Anlage D der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, die sich an die Strafverfolgungsbehörden richten, enthalten Regeln zum Einsatz von Vertrauenspersonen, insbesondere Regeln über die Zusicherung der Vertraulichkeit.
B. Bestimmungen über Beweisverwertungsverbote und Verfahrenshindernisse
44. § 136a StPO regelt verbotene Vernehmungsmethoden und deren Folgen. Er sieht insbesondere vor, dass die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten nicht durch Methoden wie unter anderem Misshandlung, Ermüdung, körperlicher Eingriff oder Verabreichung von Mitteln beeinträchtigt werden darf (§ 136a Abs. 1). Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, dürfen auch dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte der Verwertung zugestimmt hat (§ 136a Abs. 3).
45. Nach § 260 Abs. 3 StPO ist die Einstellung des Verfahrens nach einer Hauptverhandlung im Urteil auszusprechen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht.
II. RECHTSPRECHUNG DES BUNDESGERICHTSHOFS
A. Vor dem Urteil in der Rechtssache F. ./. Deutschland entwickelte Rechtsprechung
46. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs war das Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt, wenn der Beschuldigte zu der abgeurteilten Straftat durch eine unzulässige, dem Staat zuzurechnende Tatprovokation verleitet worden war (siehe BGH, 1 StR 221/99, Urteil vom 18. November 1999, BGHSt 45, S. 321 ff., Rdnr. 8 (der Internetversion); bestätigt vom Bundesgerichtshof, 5 StR 240/13, Urteil vom 11. Dezember 2013, Rdnrn. 33 ff., unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofs im Fall Ramanauskas ./. Litauen [GK], Individualbeschwerde Nr. 74420/01, ECHR 2008).
47. Um festzustellen, ob eine unzulässige Tatprovokation vorlag, hielt der Bundesgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung die Berücksichtigung der folgenden Aspekte für geboten: Grundlage und Ausmaß des gegen die betroffene Person bestehenden Verdachts einer Beteiligung an den untersuchten Straftaten, Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme, Tatbereitschaft der betreffenden Person und Ausmaß ihres eigenen Tatbeitrags. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien als Ganzes habe das Strafgericht festzustellen, ob das tatprovozierende Verhalten des Lockspitzels ein solches Gewicht erlangt habe, dass demgegenüber der eigene Beitrag der betroffenen Person in den Hintergrund trete (siehe BGH, 1 StR 148/84, Urteil vom 23. Mai 1984, BGHSt 32, S. 345 f., Rdnr. 7).
48. Was die Folgen einer festgestellten Tatprovokation durch die Polizei angeht, stellte diese nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs selbst dann, wenn sie gegen das Rechtsstaatsprinzip verstieß, kein Verfahrenshindernis dar. Ihr war lediglich im Rahmen der Strafzumessung als erheblicher Strafmilderungsgrund Rechnung zu tragen (sogenannte Strafzumessungslösung; siehe BGH, 1 StR 148/84, a.a.O., Rdnrn. 10-35; 1 StR 453/89, a.a.O., Rdnr. 4; 1 StR 221/99, a.a.O., Rdnrn. 13 und 18; bestätigt in 5 StR 240/13, a.a.O., Rdnr. 37).
49. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs führte der Strafprozessordnung zufolge selbst ein massiver Verstoß gegen die Bestimmungen zu verbotenen Ermittlungsmethoden lediglich zu einem Verwertungsverbot für durch die verbotene Ermittlungsmethode zustande gekommenen Aussagen (siehe § 136a StPO in Rdnr. 44, oben). Darüber hinaus würde die Bejahung eines Verfahrenshindernisses die Rechte der Opfer der Straftat missachten (siehe BGH, 1 StR 221/99, a.a.O., Rdnrn. 43-44; und 5 StR 240/13, a.a.O., Rdnr. 37). Die Tatprovokation durch einen Lockspitzel bei der Strafzumessung als Grund für eine erhebliche Strafmilderung zu berücksichtigen, erlaube es dem Tatgericht, alle Umstände, die zur Tat geführt haben, angemessen in Betracht zu ziehen (siehe BGH, 1 StR 148/84, a.a.O., Rdnr. 31; und 1 StR 221/99, a.a.O., Rdnrn. 41-42). Sei Artikel 6 der Konvention verletzt worden, so hätten die Strafgerichte dies in der Urteilsbegründung darzulegen und die Strafe messbar zu mildern (siehe BGH, 1 StR 221/99, a.a.O., Rdnrn. 47 und 56).
50. Der Bundesgerichtshof vertrat die Auffassung, dass es durch die Strafzumessungslösung möglich sei, die für den Verstoß gegen Artikel 6 der Konvention erforderliche Entschädigung zu leisten (BGH, 1 StR 221/99, a.a.O., Rdnrn. 18 f.). Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Teixeira de Castro ./. Portugal legte er dar, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegen einiger anderslautender Andeutungen im Wortlaut des Urteils nicht die Einstellung des Verfahrens gegen eine durch polizeiliche Lockspitzel zur Begehung der in Rede stehenden Straftat verleitete Person oder ein Verwertungsverbot der durch die Lockspitzel erlangten Beweismittel verlange (ebenda, Rdnrn. 36-46 und 57-61).
B. Nach dem Urteil in der Rechtssache F. ./.Deutschland entwickelte Rechtsprechung
51. In einem Urteil vom 10. Juni 2015 stellte der Bundesgerichtshof (zweiter Senat) in Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung fest, dass die rechtsstaatswidrige Provokation einer Straftat durch Angehörige von Strafverfolgungsbehörden oder durch von ihnen gelenkte Dritte regelmäßig ein Verfahrenshindernis zur Folge habe; das Verfahren sei daher einzustellen sei (2 StR 97/14).
52. Der Bundesgerichtshof argumentierte, eine Abkehr von seiner Rechtsprechung sei geboten, um der Entscheidung in der Rechtssache F. Rechnung zu tragen, nach der die „Strafzumessungslösung“ zur Kompensation eines Verstoßes gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention infolge einer Tatprovokation nicht ausreichend sei.
53. Der Bundesgerichtshof merkte an, dass laut der Entscheidung in der Rechtssache F. ./. Deutschland entweder alle als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation gewonnenen Beweismittel ausgeschlossen werden müssten oder ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen gewählt werden müsse. Diese Rechtsprechung könne im deutschen Strafverfahrensrecht am besten berücksichtigt werden, indem festgestellt werde, dass eine unzulässige Tatprovokation anstelle eines Beweisverwertungsverbots ein Verfahrenshindernis nach sich ziehe. Es führte aus, dass die angegriffene Maßnahme der Tatprovokation nicht nur die Gewinnung von Beweisen betreffe, sondern überhaupt erst zu der Tat geführt habe. Die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses ziehe eine unmittelbare Konsequenz aus der Tatsache, dass eine Straftat provoziert worden sei und knüpfe damit an das rechtsstaatswidrige Handeln der Ermittlungsbehörden an. Es führe hinsichtlich dieser Tat zu einer Einstellung des Verfahrens (siehe insbesondere § 260 StPO, in Rdnr. 45, oben).
54. Allein der Ausschluss der Aussagen der Lockspitzel von der Beweisführung gewährleiste hingegen häufig nicht, dass die Ergebnisse der Tatprovokation beseitigt würden, wie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dies verlange, da der Verkauf der Drogen meist auch durch andere Polizeibeamte beobachtet werde, deren Zeugenaussagen ausreichend seien, um das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in der Verhandlung zu beweisen.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
VERBINDUNG DER BESCHWERDEN
55. Aufgrund des ähnlichen Gegenstands der Individualbeschwerden, die alle dasselbe Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten betreffen, entscheidet der Gerichtshof, die beiden Beschwerden zur gemeinsamen Entscheidung zu verbinden. (Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
II. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ART. 6 ABS. 1 DER KONVENTION
56. Die Beschwerdeführer rügten, das in Rede stehende Verfahren sei nicht fair gewesen, da N. A., der zweite und der dritte Beschwerdeführer wegen Drogendelikten verurteilt worden seien, zu deren Begehung sie von der Polizei verleitet worden seien. Sie bezogen sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit einschlägig, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass… über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage… von einem… Gericht in einem fairen Verfahren… verhandelt wird.“
A. Zulässigkeit
1. Beschwerdebefugnis der ersten Beschwerdeführerin
57. Laut dem Vorbringen der Regierung hatte die erste Beschwerdeführerin keine Beschwerdebefugnis. Sie könne nicht behaupten, Opfer einer Verletzung eines ihrer Rechte aus der Konvention für die Zwecke von Artikel 34 geworden zu sein, der, soweit einschlägig, wie folgt lautet:
„Der Gerichtshof kann von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe, die behauptet, durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein, mit einer Beschwerde befasst werden. …“
(a) Die Vorbringen der Parteien
(i) Die Regierung
58. Laut Vorbringen der Regierung war die erste Beschwerdeführerin kein direktes Opfer einer Verletzung ihrer durch die Konvention garantierten Rechte, da das in Rede stehende Strafverfahren, in dem angeblich gegen Artikel 6 verstoßen worden sei, nicht gegen sie selbst, sondern gegen ihren Ehemann eröffnet worden sei.
59. Die Regierung brachte weiter vor, die erste Beschwerdeführerin könne auch nicht geltend machen, indirekt Opfer eines der behaupteten Verstöße gegen die Konventionsrechte ihres Ehemanns geworden zu sein. Das mögliche direkte Opfer, N. A., sei verstorben, bevor die erste Beschwerdeführerin beim Gerichtshof Beschwerde erhoben habe. Jedenfalls seien die strikten Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs an die Beschwerdebefugnis eines Beschwerdeführers in derartigen Umständen zu stellen seien, nämlich die Behauptung eines schwerwiegenden Menschenrechtsverstoßes (beispielsweise gegen die in Artikel 2 und 3 der Konvention garantierten Rechte) nicht erfüllt.
60. Die Regierung vertrat diesbezüglich die Ansicht, dass die Opfereigenschaft nach Artikel 34 der Konvention als Zulässigkeitsvoraussetzung eng auszulegen sei, da das Konventionssystem auf dem Schutz individueller Rechte basiere. Der Zweck von Artikel 34 liege darin, eine Popularklage zu verhindern.
61. Die erste Beschwerdeführerin könne ihre Opfereigenschaft auch nicht auf ein eigenes materielles Interesse stützen, das aus der Tatsache erwachse, dass ihr Ehemann nach seiner Inhaftierung sein Café nicht mehr habe betreiben können, oder aus etwaigen Ansprüchen nach Artikel 41 der Konvention. Ein derartiges materielles Interesse komme nur in Fällen in Betracht, in denen ein direktes Opfer nach Erhebung einer Individualbeschwerde versterbe. Auch habe die erste Beschwerdeführerin keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Ruin ihres Ehemannes und dessen Inhaftierung oder Verurteilung darlegen können. Bei seinem Café habe es sich um einen eingetragenen Verein gehandelt, dem eine Gewinnerzielung nicht gestattet gewesen sei, und er habe Arbeitslosenleistungen bezogen.
62. Schließlich bestehe trotz des Todes des unmittelbaren Opfers im vorliegenden Fall kein allgemeines Interesse an einem Urteil. Insbesondere habe der Gerichtshof sich mit den in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen rechtlichen Fragen nach Artikel 6 bereits in F. ./. Deutschland und S. ./. Deutschland befasst. Außerdem habe der Bundesgerichtshof die Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache F. ./. Deutschland in einem jüngeren Urteil vom 10. Juni 2015 (2 StR 97/14, siehe Rdnrn. 51-54, oben) durch Änderung seiner Rechtsprechung bereits umgesetzt.
(ii) Die erste Beschwerdeführerin
63. Die erste Beschwerdeführerin vertrat in ihrer Individualbeschwerde die Auffassung, sie sei nach Artikel 34 der Konvention zur Erhebung einer Beschwerde in ihrem Namen befugt. Sie machte geltend, sie habe ein erhebliches moralisches und materielles Interesse daran, dass eine Verletzung von durch die Konvention garantierten Rechten ihres verstorbenen Ehemannes festgestellt werde. Dieser habe die Erhebung einer Individualbeschwerde beim Gerichtshof zur Verteidigung seiner Rechte gewünscht.
64. Die erste Beschwerdeführerin brachte vor, sie habe ein moralisches Interesse daran, dass ihrem verstorbenen Ehemann Gerechtigkeit zuteil werde, und daran, dass sein Ruf nach seiner ungerechtfertigten Verurteilung als Drogendealer wiederhergestellt werde.
65. Die erste Beschwerdeführerin machte weiter geltend, der Verstoß gegen Artikel 6 der Konvention im Strafverfahren gegen ihren Ehemann habe unmittelbare Auswirkungen auf ihre finanziellen Ansprüche als seine Erbin gehabt. Sie argumentierte, dass sie infolge der Inhaftierung ihres Ehemanns aufgrund dieses Verfahrens das von ihm betriebene Café und damit ihre Haupteinnahmequelle verloren hätten. Darüber hinaus würde die Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 6 die Möglichkeit eröffnen, einen Entschädigungsanspruch nach Artikel 41 der Konvention geltend zu machen.
66. Außerdem bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse an einem Urteil des Gerichtshofs hinsichtlich des in Rede stehenden Gegenstands. Das Bundesverfassungsgericht habe dem Urteil in der Rechtssache F. ./. Deutschland (Individualbeschwerde 54648/09, 23. Oktober 2014) in seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde des Ehemanns der ersten Beschwerdeführerin nicht Rechnung getragen.
(b) Würdigung durch den Gerichtshof
(i) Einschlägige Grundsätze
67. Damit eine Person nach Artikel 34 der Konvention eine Beschwerde erheben kann, muss sie in der Lage sein, darzulegen, dass sie von der beschwerdegegenständlichen Maßnahme „unmittelbar betroffen“ ist (siehe İlhan ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 22277/93, Rdnr. 52, ECHR 2000‑VII; Burden ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13378/05, Rdnr. 33, ECHR 2008, sowie Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 47848/08, Rdnr. 96, ECHR 2014). Darüber hinaus können Beschwerden im Einklang mit der Praxis des Gerichtshofs und mit Artikel 34 der Konvention nur von oder im Namen von lebenden Personen erhoben werden (siehe Varnava und andere ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 16064/90 sowie acht weitere, Rdnr. 111, ECHR 2009, und Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu, a.a.O., Rdnr. 96).
68. In Fällen, in denen ein unmittelbares Opfer einer behaupteten Konventionsverletzung verstorben ist, hat der Gerichtshof unterschieden zwischen Beschwerden, bei denen das Opfer nach Beschwerdeerhebung beim Gerichtshof verstorben ist und solchen, bei denen das Opfer bereits zuvor verstorben war.
69. In Fällen, in denen das unmittelbare Opfer verstorben war, bevor die Beschwerde beim Gerichtshof einging, ist der Gerichtshof im Allgemeinen restriktiv vorgegangen. Er hat die Beschwerdebefugnis in der Regel für alle anderen Personen verneint, es sei denn, diese konnten entweder eine unmittelbare Auswirkung auf ihre eigenen Rechte glaubhaft machen oder der bzw. die Beschwerdeführer warfen eine Frage von allgemeinem Interesse auf, die sich auf die „Achtung der Menschenrechte“ bezog, und der bzw. die Beschwerdeführer und deren Erben hatten ein berechtigtes Interesse an der Verfolgung der Beschwerde (siehe insbesondere Marie-Louise Loyen und Bruneel ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 55929/00, Rdnrn. 21-31, 5. Juli 2005; Micallef ./. Malta [GK], Individualbeschwerde Nr. 17056/06, Rdnr. 48, ECHR 2009, und Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu, a.a.O., Rdnr. 98).
70. Der Gerichtshof hat die Befugnis zur Erhebung einer Beschwerde im eigenen Namen für die nächsten Angehörigen des Opfers anerkannt, wenn der behauptete Konventionsverstoß in engem Zusammenhang mit dem Verschwinden oder dem Tod von Personen stand und somit Fragen aufgeworfen wurden, die Artikel 2 betrafen; wenn andere Konventionsrechte betroffen waren, ist er hingegen restriktiver vorgegangen (siehe Direkçi ./. Türkei (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 47826/99, 3. Oktober 2006; Nassau Verzekering Maatschappij N. V. ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 57602/09, Rdnrn. 19-20, 4. Oktober 2011, und Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu, a.a.O., Rdnrn. 98 und 100 mit weiteren Nachweisen).
71. In Fällen, die insbesondere Beschwerden nach den Artikeln 5, 6 oder 8 betrafen, hat der Gerichtshof die Opfereigenschaft für enge Verwandte anerkannt und sie damit in die Lage versetzt, Beschwerde zu erheben, sofern sie ein moralisches Interesse daran darlegen konnten, dass das verstorbene Opfer von jeglicher Schuldfeststellung befreit wird, oder daran, dass ihr eigener Ruf oder der Ruf ihrer Familie geschützt wird, oder wenn sie aufgrund der direkten Auswirkungen auf ihre finanziellen Ansprüche ein materielles Interesse glaubhaft machen konnten. Auch die Frage, ob ein allgemeines Interesse vorlag, das eine Prüfung der Beschwerden notwendig machen würde, wurde berücksichtigt (siehe Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu, a.a.O., Rdnr. 100 mit vielen Verweisen).
72. Die Beteiligung des Beschwerdeführers an den innerstaatlichen Verfahren ist nur eines von verschiedenen maßgeblichen Kriterien (siehe N. ./. Deutschland, 25. August 1987, Rdnr. 33, Serie A Nr. 123; Grădinar ./. Moldawien, Individualbeschwerde Nr. 7170/02, Rdnrn. 95-103, 8. April 2008; Micallef, a.a.O., Rdnrn 48-49; Kaburov ./. Bulgarien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 9035/06, Rdnrn. 53 und 58, 19. Juni 2012, und Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu, a.a.O., Rdnr. 100).
73. In Fällen, in denen es um Verstöße gegen Artikel 6 ging, der ein übertragbares Recht betrifft (siehe Sanles Sanles ./. Spanien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 48335/99, ECHR 2000‑XI, und Marie-Louise Loyen und Bruneel, a.a.O., Rdnr. 28), hat der Gerichtshof die Opfereigenschaft naher Verwandter aus diesem Grund beispielsweise dann festgestellt, wenn sie ein materielles und moralisches Interesse an einer Freisprechung des Opfers hatten, weil die Unschuld der verstorbenen Person nach deren Tod in Zweifel gezogen wurde (siehe N., a.a.O., Rdnr. 33 (hinsichtlich einer Beschwerde nach Artikel 6 Rdnr. 2), und Grădinar, a.a.O., Rdnrn. 95-98 (hier war das Strafverfahren gegen den Ehemann der Beschwerdeführerin nach seinem Tod auf ausdrücklichen Wunsch der Beschwerdeführerin fortgesetzt worden)).
74. Der Gerichtshof hat die Opfereigenschaft für nahe Verwandte in Fällen, in denen es um Rügen betreffend Artikel 6 ging, außerdem dann anerkannt, wenn diese Verwandten ein Interesse aufgrund der unmittelbaren Auswirkungen der angegriffenen Maßnahmen auf ihre finanziellen Ansprüche darlegen konnten. Ein solches Interesse wurde beispielsweise in Micallef (a.a.O., Rdnrn. 48-49) bejaht, wo der Beschwerdeführer als Erbe berechtigt war, sich am innerstaatlichen Verfahren zu beteiligen und dann die Kosten dafür tragen musste. In Grădinar (a.a.O.), Rdnrn. 95-103) gestattete es das innerstaatliche Recht der Beschwerdeführerin, sich am Strafverfahren gegen ihren verstorbenen Ehemann zu beteiligen, wobei der Ausgang dieses Verfahrens unmittelbare Auswirkungen auf das eigene Recht der Beschwerdeführerin hatte, eine Entschädigung zu verlangen.
75. In Makri und andere ./. Griechenland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 5977/03, 24. März 2005) hingegen versäumten es die Erben, sich an dem vom Verstorbenen in Gang gesetzten Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten zu beteiligen und es wurde festgestellt, sie hätten kein eigenes materielles oder moralisches Interesse an der Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 6 aufgrund der Dauer dieses Verfahrens. Ebenso wurde in Biç und andere ./. Türkei (Individualbeschwerde Nr. 55955/00, Rdnr. 23, 2. Februar 2006) und in Direkçi (a.a.O.) festgestellt, dass die nächsten Angehörigen nicht als persönlich betroffen von dem angeblich gegen Artikel 6 verstoßenden Strafverfahren gegen den Verstorbenen zu erachten seien.
76. Die Frage, ob die Beschwerde(n) eine Frage von allgemeinem Interesse im Zusammenhang mit der „Achtung der Menschenrechte“ aufwarf(en), und der bzw. die Beschwerdeführer damit ein berechtigtes Interesse an der Erhebung einer Beschwerde hatten, betrachtete der Gerichtshof im Lichte aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls (siehe unter anderem Marie-Louise Loyen und Bruneel, a.a.O., Rdnrn. 21-31; Biç und andere, a.a.O., Rdnr. 23; Direkçi, a.a.O., Micallef, a.a.O., Rdnrn. 48 und 50; Nassau Verzekering Maatschappij N.V., a.a.O., Rdnr. 20; Lacadena Calero ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 23002/07, Rdnr. 30, 22. November 2011; Centre for Legal Resources im Namen von Valentin Câmpeanu, a.a.O., Rdnr. 98). Der Gerichtshof bejahte ein solches allgemeines Interesse insbesondere in Fällen, in denen die aufgeworfene Hauptfrage über die verstorbene Person und die Interessen des Beschwerdeführers hinausging (siehe Karner ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 40016/98, Rdnr. 25, ECHR 2003‑IX; Fairfield und andere ./. das Vereinigte Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 24790/04, ECHR 2005‑VI, und Ressegatti ./. die Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 17671/02, Rdnr. 26, 13. Juli 2006). Ein solche Frage von allgemeinem Interesse ergibt sich vor allem dann, wenn eine Beschwerde die Gesetzgebung, die Rechtsordnung oder die Rechtspraxis des beschwerdegegnerischen Staats betrifft (siehe Micallef, a.a.O., Rdnr. 46).
77. Der Gerichtshof hat die oben genannten Kriterien üblicherweise kumulativ behandelt und die Frage, ob enge Verwandte beschwerdebefugt sind, unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des jeweiligen Falls beurteilt (vgl. Micallef, a.a.O., Rdnr. 51).
(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
78. Um über die Frage zu entscheiden, ob die erste Beschwerdeführerin im Sinne von Artikel 34 der Konvention zur Erhebung der vorliegenden Beschwerde befugt ist, stellt der Gerichtshof fest, dass das unmittelbare Opfer der von ihr behaupteten Verstöße gegen Artikel 6 ihr Ehemann N. A war. Dieser verstarb am 3. Juni 2015 und damit vor Erhebung der Beschwerde durch die erste Beschwerdeführerin am 11. August 2015.
79. Der Gerichtshof untersucht daher zunächst, ob die erste Beschwerdeführerin ausnahmsweise beschwerdebefugt ist, da das angeblich konventionswidrige Handeln der Behörden direkte Auswirkungen auf ihre eigenen Rechte hatte, weil sie ein moralisches oder materielles Interesse an der Erhebung einer Beschwerde darlegen kann.
80. Der Gerichtshof merkt an, dass die erste Beschwerdeführerin zunächst geltend gemacht hat, nach der ungerechtfertigten Verurteilung ihres Mannes ein moralisches Interesse an der Wiederherstellung seines guten Rufs zu haben. Er stellt fest, dass die vom Gerichtshof zu klärende Frage die Fairness des Strafverfahrens gegen N. A. betrifft, das zu dessen Verurteilung geführt hat. Sofern der Gerichtshof die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte teilt, dass eine gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verstoßende Tatprovokation vorlag, stellt sich die Frage, ob die innerstaatlichen Gerichte die entsprechenden Schlüsse im Einklang mit Artikel 6 gezogen haben, indem sie entweder sämtliche infolge der Provokation erlangten Beweismittel ausgeschlossen oder ein Verfahren mit vergleichbaren Ergebnissen angewandt haben (vgl. u. a. F. ./.Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 54648/09, Rdnr. 64, 23. Oktober 2014).
81. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass eine mögliche Verletzung von Artikel 6 aufgrund einer unzulässigen Provokation zu einer Straftat, die ohne diese Provokation nicht begangen worden wäre, Fragen aufwirft, die über reine Verfahrensmängel, die zu der Feststellung eines unfairen Verfahrens führen, hinausgehen. Angesichts der Tatsache, dass die Feststellung einer Tatprovokation den Ausschluss aller dadurch erlangten Beweismittel oder vergleichbare Ergebnisse nach sich ziehen muss, versetzt die Schlussfolgerung des Gerichts, dass Artikel 6 aus diesem Grund verletzt sei, die betroffene Person in die Lage, auf der nationalen Ebene die Gültigkeit der Verurteilung als solche anzugreifen, die auf solche Beweismittel gestützt wurde.
82. Unter diesen Umständen kann der Gerichtshof akzeptieren, dass die erste Beschwerdeführerin möglicherweise ein berechtigtes Interesse daran hat, im vorliegenden Verfahren letztendlich die Aufhebung der aufgrund solcher Beweise erfolgten Verurteilung N. A.s zu erreichen. Der Gerichtshof merkt außerdem an, dass N. A., der wegen eines schwerwiegenden Drogendelikts verurteilt worden war und bald darauf verstarb, kurz bevor die vorliegende Beschwerde erhoben wurde, ein enger Angehöriger der ersten Beschwerdeführerin war. Ein gewisses moralisches Interesse der ersten Beschwerdeführerin für die Zwecke von Artikel 34 kann daher als gegeben angesehen werden.
83. Die erste Beschwerdeführerin machte weiter geltend, das Strafverfahren gegen ihren Ehemann und seine infolgedessen erfolgte Inhaftierung habe Auswirkungen auf ihre finanziellen Ansprüche als Erbin ihres Ehemanns gehabt.
84. Insoweit die erste Beschwerdeführerin behauptet hat, das von ihrem Ehemann bis zu diesem Zeitpunkt betriebene Café und damit ihre Haupteinnahmequelle verloren zu haben, gelangt der Gerichtshof unter Berücksichtigung des Vorbringens der Regierung, demzufolge das fragliche Café ein gemeinnütziger Verein war (siehe Rdnr. 61, oben), und des ihm vorliegenden Materials zu der Auffassung, dass die erste Beschwerdeführerin in dieser Hinsicht nicht glaubhaft machen konnte, einen materiellen Schaden erlitten zu haben.
85. Hinsichtlich eines möglichen Entschädigungsanspruchs nach Artikel 41 der Konvention im Falle der Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 im Verfahren gegen N. A. stellt der Gerichtshof fest, dass sich aus seiner oben zitierten Rechtsprechung (siehe Rdnr. 74) ergibt, dass die erforderliche unmittelbare Auswirkung auf die finanziellen Ansprüche eines Beschwerdeführers durch die angegriffene Maßnahme solche finanziellen Ansprüche betreffen müssen, die auf nationaler Ebene bestehen. Diese könnten beispielsweise dann beeinträchtigt sein, wenn der Beschwerdeführer und seine Erben durch das gegen ihn ergangene Urteil eines innerstaatlichen Gerichts zur Zahlung von Schulden oder Kosten verpflichtet worden wären (wie z. B. in Micallef, a.a.O. in Rdnr. 74), oder wenn das eigene Recht des Beschwerdeführers zur Beanspruchung einer Entschädigung unmittelbar betroffen wäre (Grădinar, a.a.O., Rdnrn. 95-103). Ein potenzieller Entschädigungsanspruch nach Artikel 41 der Konvention, für den zunächst eine Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers festgestellt werden muss, reicht hingegen nicht aus, um den Beschwerdeführer zu einem potenziellen Opfer einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zu machen; vielmehr entsteht ein solcher Anspruch erst, wenn Artikel 6 Abs. 1 verletzt wurde. Ein potenzieller Entschädigungsanspruch nach Artikel 41 der Konvention kann deshalb kein materielles Interesse begründen, das es der ersten Beschwerdeführerin ermöglichen würde, die Beschwerde im eigenen Namen zu erheben.
86. Hinsichtlich der Frage, ob die Rügen der ersten Beschwerdeführerin in Anbetracht der Umstände der vorliegenden Rechtssache eine Frage von allgemeinem Interesse im Zusammenhang mit der Achtung der Menschenrechte aufgeworfen haben, aufgrund derer ihre Beschwerdebefugnis anerkannt werden müsste, verwies die erste Beschwerdeführerin auf das öffentliche Interesse an einem Urteil des Gerichtshofs über die Art der Auslegung und Anwendung des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache F. (a.a.O.) durch die innerstaatlichen Gerichte.
87. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass der von der ersten Beschwerdeführerin vorgelegte Fall in der Tat insbesondere die Frage aufwirft, welche Folgen eine von den innerstaatlichen Gerichten anerkannte und festgestellte Tatprovokation nach sich ziehen muss, damit dies mit Artikel 6 der Konvention vereinbar ist, insbesondere entsprechend der Auslegung in der Rechtssache F. ./. Deutschland. Diese Frage stellt sich in Bezug auf den Ehemann der ersten Beschwerdeführerin als dem Haupttäter ebenso wie hinsichtlich der vom zweiten und vom dritten Beschwerdeführer erhobenen Beschwerden, die beide in unterschiedlichem Ausmaß am selben Drogendelikt beteiligt waren. Die durch den Fall der ersten Beschwerdeführerin aufgeworfene Hauptfrage geht daher insofern über das Interesse der ersten Beschwerdeführerin hinaus, als sie das Rechtssystem und die Rechtspraxis des beschwerdegegnerischen Staats betrifft.
88. Der Gerichtshof übersieht nicht die Tatsache, dass der BGH in einem Urteil vom 10. Juni 2015 (2 StR 97/14) unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache F. ./. Deutschland von seiner früheren Rechtsprechung abgerückt ist und festgestellt hat, dass eine unzulässige Tatprovokation regelmäßig ein Verfahrenshindernis zur Folge hat. Diese Abkehr erfolgte jedoch erst kurz nach dem Ende des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht in der Rechtssache N. A. und hatte daher bei der Beurteilung seines Falls noch keine Berücksichtigung gefunden.
89. In Anbetracht der Besonderheiten des Falles der ersten Beschwerdeführerin und der Tatsache, dass diese nicht nur ein gewisses moralisches Interesse an der Erhebung der Beschwerde darlegen konnte, sondern dass auch ein allgemeines Interesse im Zusammenhang mit der „Achtung der Menschenrechte“ zur Prüfung der Beschwerde gegeben war, gelangt der Gerichtshof in einer Gesamtbetrachtung zu der Auffassung, dass es außerordentliche, in den Umständen der vorliegenden Rechtssache liegende Gründe gab, die dazu führen, dass die Opfereigenschaft der ersten Beschwerdeführerin anzuerkennen ist.
90. Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Schluss, dass die erste Beschwerdeführerin unter den besonderen Umständen dieses Falles die erforderliche Befugnis nach Artikel 34 der Konvention hat und der diesbezügliche Einwand der Regierung zurückzuweisen ist.
2. Wegfall der Opfereigenschaft im Hinblick auf N. A. und den zweiten und den dritten Beschwerdeführer
91. Der Gerichtshof führt aus, dass das Landgericht in seinem in der Revision bestätigten Urteil, in dem es N. A. und den zweiten Beschwerdeführer wegen eines Drogendelikts verurteilt hat, festgestellt hat, dass N. A. und der zweite Beschwerdeführer von einer staatlichen Behörde zur Begehung der Straftat provoziert worden seien und dadurch Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt worden sei. Aufgrund dieser Provokation milderte es ihre Strafen. Hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers stellte das Landgericht zwar fest, er sei nicht unter Verletzung von Artikel 6 zur Begehung seines Drogendelikts provoziert worden, milderte jedoch auch dessen Strafe aufgrund der behördlichen Einflussnahme auf die Drogeneinfuhr insgesamt.
92. Daher stellt sich die Frage, ob N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer wie von der Regierung behauptet zumindest ihre Opfereigenschaft im Sinne von Artikel 34 der Konvention hinsichtlich eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 verloren haben. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist die Frage der Angemessenheit der Reaktion der Behörden auf die angegriffenen Polizeimaßnahmen im Lichte dessen zu betrachten, welches Ausmaß die mögliche Unfairness des Verfahrens des Beschwerdeführers infolge dieser Maßnahme erreichte. Die Frage, ob N. A. und der zweite und der dritte Beschwerdeführer ihre Opfereigenschaft verloren haben, wird daher im Zusammenhang mit der Begründetheit ihrer Rüge nach Artikel 6 Abs. 1 geprüft. (vgl. auch F. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 54648/09, Rdnr. 34, 23. Oktober 2014). Der Gerichtshof verbindet daher den Einwand der Regierung bezüglich des Wegfalls der Opfereigenschaft N. A.s sowie des zweiten und des dritten Beschwerdeführers mit der Prüfung der Begründetheit.
93. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerden nicht offensichtich unbegründet sind. Folglich sind sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Verstieß das Strafverfahren N.A.s sowie des zweiten und des dritten Beschwerdeführers gegen Artikel 6 der Konvention?
(a) Die Vorbringen der Parteien
(i) Die erste Beschwerdeführerin
94. In ihrer Beschwerde rügte die erste Beschwerdeführerin, das Strafverfahren gegen ihren Ehemann sei unfair gewesen, da er unter Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention wegen eines Drogendelikts verurteilt worden sei, zu dem er von einer Vertrauensperson der Polizei verleitet worden sei. Sie argumentierte, die innerstaatlichen Gerichte hätten den Verstoß gegen Artikel 6 aufgrund dieser Tatprovokation im Einklang mit dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache F. ./. Deutschland (a.a.O.) wiedergutmachen müssen, indem sie das Verfahren gegen N. A. einstellen. Außerdem hätten die Ermittlungsbehörden keine ausreichende Rechtsgrundlage für den Einsatz einer Vertrauensperson gehabt, und die Behörden hätten die Ermittlungen nur unzureichend überwacht.
(ii) Der zweite Beschwerdeführer
95. Auch der zweite Beschwerdeführer vertrat den Standpunkt, sein Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention sei dadurch verletzt worden, dass er wegen eines Drogendelikts verurteilt worden sei, zu dem ihn die Polizei verleitet habe. Er sei vor den verdeckten Maßnahmen nicht verdächtigt worden, mit Drogen zu handeln und sei nicht einschlägig vorbestraft gewesen. Er habe sich erst an der Einfuhr der Drogen beteiligt, nachdem die Tatprovokation durch die Polizei bereits begonnen habe, und er habe dies lediglich aufgrund der von der Polizei konstruierten scheinbar sicheren Einfuhrmöglichkeit über den Hafen Bremerhaven getan. Die innerstaatlichen Gerichte hätten ausdrücklich anerkannt, dass er Opfer einer gegen Artikel 6 Abs. 1 verstoßenden Tatprovokation geworden sei, ungeachtet der Tatsache, dass er nur mittelbar von den Maßnahmen betroffen gewesen sei, die die Vertrauensperson und der verdeckte Ermittler hinsichtlich N. A. getroffen hätten.
96. Der zweite Beschwerdeführer machte weiter geltend, dass er dennoch Opfer eines Verstoßes gegen Artikel 6 Abs. 1 sei. Die innerstaatlichen Gerichte hätten den schwerwiegenden Verstoß gegen Artikel 6 durch diese Tatprovokation mit der Milderung seiner Freiheitsstrafe nur unzureichend wiedergutgemacht. Eine solche Wiedergutmachung hätten sie nur durch die Einstellung des Verfahrens gegen ihn oder seinen Freispruch leisten können.
97. Der zweite Beschwerdeführer brachte vor, dass seit 1998 geklärt sei, dass eine bloße Milderung der Strafe nach der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs zu Tatprovokation nicht zum Verlust der Opfereigenschaft führe. Er bezog sich dabei insbesondere auf die Urteile des Gerichtshofs in Teixeira de Castro ./. Portugal, 1998, Ramanauskas ./. Litauen, Pyrgiotakis ./. Griechenland, Bannikova ./. Russland, Prado Bugallo ./. Spanien und F. ./. Deutschland. Er führte aus, dass im Einklang mit dieser Rechtsprechung alle als Ergebnis polizeilicher Tatprovokation gewonnenen Beweismittel ausgeschlossen werden müssten oder ein Verfahren mit vergleichbaren Folgen greifen müsse. Jedenfalls hätte er die Tat ohne die unzulässige Tatprovokation nicht begangen. Somit hätten also keinerlei Beweise gegen ihnen vorgelegen, und es wäre auch nicht zum Geständnis einer Straftat in der Verhandlung gekommen, da all dies Folgen der Tatprovokation gewesen seien.
98. Der zweite Beschwerdeführer führte in diesem Zusammenhang aus, er habe unter den gegebenen Umständen keine andere Wahl gehabt, als in der Verhandlung ein Geständnis abzulegen, obwohl er als Beschuldigter das Recht gehabt hätte zu schweigen. Die Vertrauensperson habe ihren Führungsbeamten gegenüber zum Teil unwahre Angaben gemacht, wodurch die Art und das Ausmaß der Einflussnahme der Vertrauensperson auf die Begehung des Drogendelikts verborgen geblieben seien. Diese Aussagen seien in der unvollständigen Fallakte abgelegt und von den Polizeibeamten in der Verhandlung wiedergegeben worden. Daher sei sein Geständnis, ebenso wie das von N. A., unverzichtbar gewesen, um das wahre Ausmaß der Tatprovokation offenzulegen. Dies gelte ganz besonders für ihn, da er zur Polizei und deren Vertrauensperson gar keinen unmittelbaren Kontakt gehabt habe, sondern nur mittelbar über N. A. verleitet worden sei. N. A. habe ihm die scheinbar sichere Einfuhrmöglichkeit für Drogen über den Hafen B. geschildert, wovon die Polizei keine Kenntnis gehabt habe, was jedoch ganz entscheidend sei, da es zeige, dass er, ebenso wie N. A., bei der Beteiligung an dem Drogendelikt Opfer einer Tatprovokation geworden sei.
99. Der zweite Angeklagte wies außerdem darauf hin, dass nach dem Ende des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten in der vorliegenden Rechtssache ein Senat des Bundesgerichtshofs in einem Urteil vom 10. Juni 2015 von der sogenannten „Strafzumessungslösung“ in Fällen von Tatprovokation abgerückt sei. Unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache F. ./. Deutschland habe der Bundesgerichtshof nunmehr die Ansicht vertreten, eine Tatprovokation unter Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention müsse in dem betreffenden Verfahren zu einem Verfahrenshindernis führen (siehe auch Rdnrn. 51-54, oben).
(iii) Der dritte Beschwerdeführer
100. Auch der dritte Beschwerdeführer machte geltend, sein Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention sei durch seine Verurteilung wegen eines Drogendelikts verletzt worden. Ebenso wie N. A. und der zweite Beschwerdeführer sei er rechtsstaatswidrig zur Begehung seiner Tat provoziert worden. Vor der Tatprovokation durch die staatlichen Behörden sei er nicht des Drogenhandels verdächtigt worden, und er hätte sich ohne diese Inszenierung durch die Behörden nicht an dem Drogendelikt beteiligt. Ebenso wie der zweite Beschwerdeführer sei er mittelbar zur Begehung der Tat verleitet worden, da N. A. ihn über die scheinbar sichere Einfuhrmöglichkeit informiert habe, was ihn überzeugt habe, sich an der Tat zu beteiligen. Die Provokation habe zu einem schweren Makel des Strafverfahrens wegen des Drogengeschäfts geführt, das ohne Beteiligung der Polizei gar nicht stattgefunden hätte. Daher hätte das Verfahren insgesamt eingestellt werden müssen, nicht nur in Bezug auf bestimmte Beteiligte.
(iv) Die Regierung
(1) Hinsichtlich N. A.s und des zweiten Beschwerdeführers
101. Hinsichtlich N. A.s und des zweiten Beschwerdeführers räumte die Regierung ein, dass ihr Recht auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention zunächst verletzt worden sei, wie das Landgericht, der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt hätten. Die Ermittlungsbehörden hätten sie unzulässig dazu verleitet, das Drogendelikt, dessen sie anschließend für schuldig befunden wurden, zu begehen.
102. Nach Auffassung der Regierung sei Artikel 6 Abs. 1 der Konvention jedoch nicht mehr verletzt, da N. A. und der zweite Beschwerdeführer nicht mehr Opfer eines Verstoßes gegen diese Bestimmung seien. Die innerstaatlichen Gerichte hätten nicht nur ausdrücklich anerkannt, dass sie Opfer einer gegen Artikel 6 Abs. 1 verstoßenden Tatprovokation geworden seien, sondern sie hätten auch eine ausreichende Entschädigung für diesen anfänglichen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 gewährt. Das Landgericht, dessen Urteil in der Revision bestätigt worden war, habe sämtliche infolge der Tatprovokation erlangten Beweise von der Verwertung ausgeschlossen bzw. ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen angewandt, wie die Rechtsprechung des Gerichtshofs es verlange (die Regierung verwies hier insbesondere auf die Rechtssache F. ./. Deutschland, a.a.O.)
103. Die Regierung brachte vor, das Landgericht habe tatsächlich keine durch die Tatprovokation erlangten Beweismittel verwertet. Es habe lediglich die Geständnisse, die sowohl N. A. als auch der zweite Beschwerdeführer in der Verhandlung gegen sie abgelegt hätten, verwendet. Weitere Beweismittel, insbesondere die Zeugenaussagen des verdeckten Ermittlers K. und der Führungsbeamten der polizeilichen Vertrauensperson sowie das Protokoll der Angaben, die die Vertrauensperson gegenüber diesen Führungsbeamten gemacht hatte, seien nur ergänzend und insoweit herangezogen worden, als sie den Aussagen N. A.s und des zweiten Beschwerdeführers nicht widersprachen. Die Beweiswürdigung durch das Landgericht käme daher einem Ausschluss der durch die Vertrauensperson und den verdeckten Ermittler gewonnenen Beweismittel gegen N. A. und den zweiten Beschwerdeführer nahe oder könne als ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen betrachtet werden.
104. Die Regierung führte aus, die Geständnisse N. A.s und des zweiten Beschwerdeführers hätten nicht von der Verwertung ausgeschlossen werden müssen. Als Beschuldigte in dem Verfahren hätten sie das Recht gehabt zu schweigen. Sie seien nicht gezwungen gewesen, die Tat zu gestehen, damit die Gerichte zu dem Schluss gelangen konnten, dass sie zu der in Rede stehenden Tat verleitet worden seien. Dass eine rechtswidrige Tatprovokation vorgelegen habe, sei aus der Fallakte hervorgegangen, die auch das von den Ermittlungsbehörden gesammelte Material enthielt.
105. Nach Auffassung der Regierung müsse der vorliegende Fall von der Rechtssache F. ./. Deutschland unterschieden werden. Anders als im vorliegenden Fall hätten die innerstaatlichen Gerichte in der genannten Rechtssache Aussagen der verdeckten Ermittler, die den Beschwerdeführer zur Tat verleitet hatten, gegen diesen verwendet.
106. Im Übrigen sei es unerheblich, dass der Bundesgerichtshof in einem späteren Fall, der am 10. Juni 2015, d. h. nach dem Urteil in der Rechtssache F. ./. Deutschland entschieden wurde, festgestellt habe, dass für eine gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verstoßende Tatprovokation in dem von ihm zu entscheidenden Fall anstelle eines umfassenden Ausschlusses von Beweismitteln Wiedergutmachung in Form eines Verfahrenshindernisses zu leisten sei. Im vorliegenden Fall habe der Bundesgerichtshof das Verfahren gegen N. A. und den zweiten Beschwerdeführer im Ganzen für fair erachtet.
(2) Hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers
107. Hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers argumentierte die Regierung, dieser sei nicht zur Begehung der Tat verleitet worden, wegen der er verurteilt worden sei, daher sei Artikel 6 Abs. 1 nicht verletzt worden. Der dritte Beschwerdeführer, der bereits 2007 in den Niederlanden wegen eines Drogendelikts verurteilt worden war, sei zur Begehung von Drogendelikten geneigt gewesen und habe lediglich die von den Behörden gebotene Gelegenheit ergriffen, eine solche Tat zu begehen, so wie dies auch bei einer Situation legaler Testkäufe der Fall sei. Die Behörden seien im Hinblick auf ihn im Wesentlichen passiv geblieben. Die Tatsache, dass die Ermittlungsbehörden N. A. und mittelbar auch den zweiten Beschwerdeführer dazu verleitet hatten, Kokain auf einem vermeintlich sicheren Weg über den Hafen B. einzuführen, sei nicht maßgeblich für die Entscheidung des dritten Beschwerdeführers gewesen, sich in einem späteren Stadium an dem Geschäft zu beteiligen, indem er die Drogen von einer Wohnung in B. nach B. transportierte.
108. Die innerstaatlichen Gerichte hätten sich auch an die nach Artikel 6 Abs. 1 zu erfüllenden Verfahrensvoraussetzungen für verdeckte Ermittlungen gehalten. Es habe ein eindeutiges und vorhersehbares Verfahren zur Genehmigung, Durchführung und Überwachung der verdeckten Maßnahmen gegeben (wie dies beispielsweise in der Rechtssache Ramanauskas ./. Litauen gefordert wurde). Der Einsatz des verdeckten Ermittlers sei auf der Grundlage von § 110a ff. StPO erfolgt (siehe Rdnrn. 40-41, oben). Grundlage für den Einsatz der Vertrauensperson seien §§ 161 Abs. 1 und 163 Abs. 1 StPO (siehe Rdnr. 42, oben) in Verbindung mit den geltenden Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (siehe Rdnr. 43, oben) gewesen, die für die Strafverfolgungsbehörden einschließlich der Polizei verbindlich seien.
(b) Würdigung durch den Gerichtshof
(i) Einschlägige Grundsätze
(1) Beweise und Fairness von Strafverfahren
109. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Frage der Zulässigkeit der Verwertung von Beweisen vorrangig durch nationales Recht zu regeln ist, und dass es grundsätzlich den innerstaatlichen Gerichten obliegt, die ihnen vorliegenden Beweise zu würdigen. Der Gerichtshof muss seinerseits beurteilen, ob das Verfahren im Ganzen, einschließlich der Art der Beweisgewinnung, fair war (siehe u. a. Teixeira de Castro ./. Portugal, 9. Juni 1998, Rdnr. 34, Reports of Judgments and Decisions 1998‑IV; und Ramanauskas ./. Litauen [GK], Individualbeschwerde Nr. 74420/01, Rdnr. 52, ECHR 2008).
110. Wie der Gerichtshof bereits bei vielen Gelegenheiten betont hat, versteht er angesichts der verheerenden Auswirkungen von Drogen durchaus, weshalb die Behörden der Vertragsstaaten so entschieden gegen diejenigen vorgehen, die zur Verbreitung dieses Übels beitragen (siehe Medvedyev und andere ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 3394/03, Rdnr. 81, ECHR 2010). Gleichwohl ist der Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauenspersonen auch bei der Bekämpfung des Drogenhandels zu beschränken, und es müssen Schutzmechanismen greifen (siehe Teixeira de Castro, a.a.O. Rdnrn. 35-36; Vanyan ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 53203/99, Rdnr. 46, 15. Dezember 2005; und Pyrgiotakis ./. Griechenland, Individualbeschwerde. Nr. 15100/06, Rdnr. 20, 21. Februar 2008). Auch wenn die Zunahme des organisierten Verbrechens unzweifelhaft die Ergreifung geeigneter Maßnahmen erfordert, so ist das Recht auf eine faire Rechtsprechung dennoch ein überaus bedeutendes Gut, das nicht Zweckmäßigkeitserwägungen geopfert werden darf (siehe Teixeira de Castro, a.a.O., Rdnr. 36; und Bannikova ./. Russland, Individualbeschwerde. Nr. 18757/06, Rdnr. 33, 4. November 2010).
(2) Materiellrechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation
111. Wird der Gerichtshof mit einem Vorwurf der polizeilichen Provokation oder Anstiftung befasst, so versucht er im ersten Schritt festzustellen, ob eine derartige Provokation oder Anstiftung vorgelegen hat (materiellrechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation [substantive test of incitement]; siehe Bannikova, a.a.O., Rdnr. 37). Hat eine solche Anstiftung oder Provokation vorgelegen, so wirft die anschließende Verwertung der dadurch erlangten Beweise in einem Strafverfahren gegen die betroffene Person die Frage einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 auf (siehe u. a. Teixeira de Castro, a.a.O., Rdnrn. 35-36; und Matanović ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 2742/12, Rdnr. 145, 4. April 2017).
112. Eine polizeiliche Provokation liegt dann vor, wenn sich die beteiligten Beamten – gleich, ob es sich um Angehörige der Sicherheitskräfte oder um Personen handelt, die auf deren Anweisung handeln – nicht auf eine weitgehend passive Ermittlung von Straftaten beschränken, sondern die betroffene Person derart beeinflussen, dass diese zur Begehung einer Straftat verleitet wird, die sie andernfalls nicht begangen hätte, und zwar mit dem Zweck, die Feststellung einer Straftat zu ermöglichen, d. h. Beweise zu erbringen und eine Strafverfolgung einzuleiten (siehe Ramanauskas, a.a.O., Rdnr. 55 mit weiteren Verweisen; und Bannikova, a.a.O., Rdnr. 37; vgl. auch Pyrgiotakis ./. Griechenland, a.a.O., Rdnr. 20). Der Grund für das Verbot der polizeilichen Tatprovokation besteht darin, dass es die Aufgabe der Polizei ist, Straftaten zu verhindern und zu untersuchen, und nicht, diese zu provozieren (siehe F., a.a.O., Rdnr. 48).
113. Für die Differenzierung zwischen polizeilicher Provokation oder Anstiftung und dem Einsatz rechtmäßiger verdeckter Ermittlungsmethoden hat der Gerichtshof die folgenden Kriterien entwickelt.
114. Bei seiner Entscheidung, ob die Ermittlung „weitgehend passiv“ war, prüft der Gerichtshof die Gründe, auf denen die verdeckte Maßnahme beruhte, sowie das Vorgehen der Behörden, die die Maßnahme durchgeführt haben. Der Gerichtshof stützt sich darauf, ob es objektive Anhaltspunkte für den Verdacht gab, dass der Beschwerdeführer an kriminellen Tätigkeiten beteiligt oder tatgeneigt war (siehe Bannikova, a.a.O., Rdnr. 38).
115. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang insbesondere festgestellt, dass die innerstaatlichen Behörden keinen Grund hatten, eine Person der Beteiligung am Rauschgifthandel zu verdächtigen, wenn diese Person nicht vorbestraft war, kein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden war und nichts darauf hindeutete, dass sie einer Beteiligung am Rauschgifthandel schon zugeneigt war, bevor sie von den Polizeibeamten kontaktiert wurde (siehe Teixeira de Castro, a.a.O., Rdnr. 38; bestätigt in Edwards und Lewis ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nr. 39647/98 und 40461/98, Rdnrn. 46 und 48, ECHR 2004‑X; Khudobin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 59696/00, Rdnr. 129, ECHR 2006‑XII (auszugsweise); Ramanauskas, a.a.O., Rdnr. 56; und Bannikova, Rdnr. 39; siehe auch Pyrgiotakis, a.a.O., Rdnr. 21). Je nach den Umständen eines konkreten Falls können auch die folgenden Kriterien als Hinweis auf bestehende kriminelle Tätigkeit oder Tatgeneigtheit verstanden werden: die erwiesene Vertrautheit des Beschwerdeführers mit aktuellen Preisen von Betäubungsmitteln und seine Fähigkeit zu deren kurzfristiger Beschaffung (vgl. Shannon ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 67537/01, ECHR 2004-IV) sowie seine Beteiligung am Gewinn des Geschäfts (siehe Khudobin, a.a.O., Rdnr. 134; und Bannikova, a.a.O., Rdnr. 42).
116. Bei der Differenzierung zwischen einem rechtmäßigen Einschleusen von Polizisten und der Provokation einer Straftat befasst sich der Gerichtshof ferner mit der Frage, ob auf den Beschwerdeführer Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. In Rauschgiftfällen hat er festgestellt, dass die Ermittlungsbehörden sich unter anderem dann nicht mehr passiv verhalten, wenn sie von sich aus Kontakt zu dem Beschwerdeführer aufnehmen, wenn sie ihr Angebot trotz einer anfänglichen Ablehnung seitens des Beschwerdeführers erneuern oder darauf beharren, wenn sie ihn mit Preisen, die den Marktwert übersteigen, ködern oder wenn sie durch Vorspiegelung von Entzugserscheinungen das Mitleid des Beschwerdeführers erregen (siehe u. a. Bannikova, a.a.O., Rdnr. 47; und Veselov u. a. ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 23200/10 und zwei weitere, Rdnr. 92, 2. Oktober 2012).
117. Der Gerichtshof hat außerdem anerkannt, dass eine Person auch dann provoziert worden sein kann, wenn sie keinen unmittelbaren Kontakt zu den verdeckt ermittelnden Polizeibeamten hatte, sondern durch einen Mittäter in die Tat verstrickt wurde, der unmittelbar von der Polizei zur Begehung der Straftat angestiftet worden war (vgl. Lalas ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 13109/04, Rdnrn. 41 ff., 1. März 2011). Unter solchen Umständen wurde festgestellt, dass eine Provokation vorgelegen hat und keine rechtmäßigen verdeckten Ermittlungsmethoden im Strafverfahren eingesetzt wurden, wenn das Handeln der Polizei auch für diese weitere Person eine Verleitung zur Begehung der Tat darstellte (vgl. Lalas, a.a.O. Rdnr. 45; und Grba ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 47074/12, Rdnr 95, 23. November 2017). Der Gerichtshof hat diesbezüglich berücksichtigt, ob es für die Polizei vorhersehbar war, dass die unmittelbar zur Tat provozierte Person wahrscheinlich weitere Personen kontaktieren würde, die sich an der Tat beteiligen würden, ob die Aktivitäten dieser Personen auch durch das Verhalten der Polizeibeamten geleitet wurde und ob die beteiligten Personen von den innerstaatlichen Gerichten als Mittäter angesehen wurden (vgl. Lalas, ebenda; siehe auch Ciprian Vlăduț und Ioan Florin Pop ./. Rumänien, Individualbeschwerden Nrn. 43490/07 und 44304/07, Rdnrn. 84-94, 16. Juli 2015, in denen der Gerichtshof offensichtlich zu der Ansicht gekommen war, dass sowohl der Beschwerdeführer, der unmittelbar mit dem verdeckten Ermittler in Kontakt stand, als auch sein Mittäter zur Begehung des Drogendelikts provoziert worden waren).
118. Bei der Anwendung der oben genannten Kriterien erlegt der Gerichtshof den Behörden die Beweislast auf. Soweit die vom Angeklagten vorgebrachten Behauptungen nicht völlig unplausibel sind, hat die Staatsanwaltschaft zu beweisen, dass keine Tatprovokation stattgefunden hat. In der Praxis kann es so sein, dass die Behörden diese Beweispflicht nicht erfüllen können, wenn die verdeckte Maßnahme nicht förmlich genehmigt und überwacht wurde (siehe Bannikova, a.a.O., Rdnr. 48). Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit eines eindeutigen und vorhersehbaren Verfahrens für die Genehmigung von Ermittlungsmaßnahmen sowie deren ordnungsgemäßer Überwachung unterstrichen. Bei verdeckten Maßnahmen hielt er die gerichtliche Überwachung für das am besten geeignete Mittel (siehe Bannikova, a.a.O., Rdnrn. 49-50; und Matanović, a.a.O., Rdnr. 124; vgl. auch Edwards und Lewis, a.a.O., Rdnrn. 46 und 48).
119. Soweit der Gerichtshof nach der materiellrechtlichen Prüfung auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Informationen mit ausreichender Sicherheit festgestellt hat, dass die innerstaatlichen Behörden die Aktivitäten des Beschwerdeführers im Wesentlichen passiv ermittelt und ihn nicht zur Begehung einer Straftat provoziert haben, so war dies normalerweise ausreichend für die Folgerung des Gerichtshofs, dass die anschließende Verwertung der durch die verdeckten Maßnahmen gewonnenen Beweismittel im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer keinen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention darstellte (siehe beispielsweise S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 14212/10, Rdnr. 90, 18. Dezember 2014, und Matanović, a.a.O., Rdnr. 133).
(3) Verfahrensrechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation
120. In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der Gerichtshof außerdem klargestellt, dass es zur Klärung der Frage, ob das Verfahren fair war, im zweiten Schritt einer verfahrensrechtlichen Prüfung des Vorliegens einer Provokation bedarf, und zwar nicht nur dann, wenn der Gerichtshof bei der materiellrechtlichen Prüfung aufgrund nicht ausreichender Informationen in der Akte, aufgrund fehlender Offenlegung oder aufgrund von Widersprüchen bei der Interpretation der Ereignisse durch die Parteien nicht zu einem schlüssigen Ergebnis gekommen ist, sondern auch dann, wenn der Gerichtshof aufgrund der materiellrechtlichen Prüfung zu der Feststellung gelangt ist, dass der Beschwerdeführer zu der Tat provoziert wurde (siehe Matanović, a.a.O., Rdnr. 134; und Ramanauskas ./. Litauen (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 55146/14, Rdnr. 62, 20. Februar 2018).
121. Der Gerichtshof wendet diese verfahrensrechtliche Prüfung an, um festzustellen, ob von den innerstaatlichen Gerichten die notwendigen Schritte zur Aufdeckung der Umstände eines plausiblen Vorwurfs der Anstiftung unternommen wurden, und ob im Falle der Feststellung einer Anstiftung oder in einem Fall, in dem die Anklage nicht nachweisen konnte, dass keine Anstiftung stattgefunden hat, entsprechende Schlussfolgerungen im Einklang mit der Konvention gezogen wurden (siehe Ramanauskas, a.a.O., Rdnr. 70; Ciprian Vlăduț und Ioan Florin Pop, a.a.O., Rdnrn. 87-88; und Matanović, a.a.O., Rdnr. 135).
122. Zwar überlässt es der Gerichtshof im Allgemeinen den innerstaatlichen Behörden, zu entscheiden, wie vorzugehen ist, wenn die Gerichte mit dem Vorwurf der Anstiftung konfrontiert sind, er hat aber erkennen lassen, dass die innerstaatlichen Gerichte eine Beschwerde wegen Anstiftung dann in einer mit dem Recht auf eine faire Verhandlung vereinbaren Weise behandeln, wenn die Rüge der Anstiftung eine materiellrechtliche Einrede darstellt, sie das Gericht dazu verpflichtet, das Verfahren, einzustellen, da dessen Durchführung einen Verfahrensmissbrauch darstellen würde, oder durch die Provokation erlangte Beweismittel auszuschließen, oder wenn sie zu vergleichbaren Konsequenzen führt (vgl. Bannikova, a.a.O. Rdnrn. 54-56; Matanović, a.a.O. Rdnr. 126; und Ramanauskas (Nr. 2), a.a.O. Rdnr. 59).
123. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang wiederholt auf seine ständige Rechtsprechung hingewiesen, insbesondere seine Auffassung, dass die Verbrechensbekämpfung nicht die Verwertung von Beweisen rechtfertigen kann, die infolge polizeilicher Anstiftung erlangt wurden, weil dies den Beschuldigten der Gefahr aussetzen würde, dass ihm sein Recht auf ein faires Verfahren von vorneherein endgültig vorenthalten wird (siehe unter anderem Teixeira de Castro, a.a.O., Rdnrn. 35-36; Edwards und Lewis, a.a.O., Rdnrn. 46 und 48; Vanyan, a.a.O., Rdnr. 46; Ramanauskas, a.a.O., Rdnr. 54; Bannikova, a.a.O., Rdnr. 34; und F., a.a.O., Rdnrn. 47 und 64). Damit ein Verfahren im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fair ist, müssen sämtliche infolge einer polizeilichen Anstiftung erlangten Beweismittel von der Verwertung ausgeschlossen werden, oder es muss ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen greifen (siehe Lagutin und andere ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 6228/09 und vier weitere, Rdnr. 117, 24. April 2014 mit weiteren Verweisen, und F., a.a.O., Rdnr. 64). Niemand darf wegen einer kriminellen Aktivität (oder eines Teils einer solchen) bestraft werden, die das Ergebnis einer Anstiftung durch die staatlichen Behörden war (siehe Grba, a.a.O., Rdnr. 103).
124. Der Gerichtshof ist daher zu der Auffassung gelangt, dass in Fällen, in denen die Verurteilung eines Beschwerdeführers wegen einer Straftat auf durch polizeiliche Provokation erlangte Beweismittel gestützt wird, selbst eine erhebliche Milderung der Strafe des Beschwerdeführers nicht als ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen wie der Ausschluss der angegriffenen Beweismittel angesehen werden kann (siehe F., a.a.O., Rdnrn. 68-69). Darüber hinaus hat er klargestellt, dass das Geständnis einer Straftat, die infolge einer Provokation begangen wurde, weder die Provokation noch deren Auswirkungen beseitigen kann (siehe Ramanauskas, a.a.O., oben, Rdnr. 72; und Bannikova, a.a.O., Rdnr. 60).
(ii) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
(1) Hinsichtlich N. A.s und des zweiten Beschwerdeführers
‒ Materiellrechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation
125. Unter Zugrundelegung der oben genannten Grundsätze muss der Gerichtshof als erstes prüfen, ob N. A. und der zweite Beschwerdeführer von der Polizei zu dem Drogendelikt, wegen dem sie verurteilt wurden, provoziert wurden, das heißt, ob die Polizei derartig auf sie eingewirkt hat, dass sie sie zur Begehung dieser Tat angestiftet hat, die sie andernfalls nicht begangen hätten. Der Gerichtshof hält zunächst fest, dass die innerstaatlichen Gerichte anerkannt haben, dass sowohl N. A. als auch der zweite Beschwerdeführer von der Polizei angestiftet wurden. Während N. A. unmittelbar mit dem verdeckten Ermittlungsbeamten der Polizei und der auf Weisung der Polizei handelnden Vertrauensperson in Kontakt stand, hatte der zweite Beschwerdeführer keinen direkten Kontakt zu ihnen. Er wurde von N. A. in die Drogeneinfuhr einbezogen und wegen Beihilfe zu der Straftat N. A.s verurteilt. Der Gerichtshof muss für N. A und für den zweiten Beschwerdeführer feststellen, ob das Handeln der Polizei in Bezug auf N. A. nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Provokation zur Begehung der Straftat im autonomen Sinne dieser Rechtsfigur darstellte.
126. Hinsichtlich N. A. stellt der Gerichtshof fest, dass es laut Feststellung des Landgerichts zu Beginn der verdeckten Maßnahmen aufgrund von Hinweisen einer Vertrauensperson und Informationen aus einer Telefonüberwachung (siehe Rdnr. 5, oben) einen gewissen Anfangsverdacht gegen N. A., der jedoch nicht vorbestraft war, dahingehend gab, dieser handele eventuell mit Heroin. Nachdem die Vertrauensperson M. Kontakt zu N. A. aufgenommen hatte, bestätigte sich der Verdacht eines laufenden Drogenhandels jedoch über einen Zeitraum von vielen Monaten nicht, und den Behörden wurde klar, dass N. A. nicht über bestehende Kontakte verfügte, die es ihm ermöglicht hätten, Drogen zu erwerben und Handel damit zu treiben.
127. Trotzdem trat die Polizei über etwa eineinhalb Jahre immer wieder durch die Vertrauensperson M. an N. A. heran und veranlasste ihn so dazu, die Einfuhr der Drogen über die scheinbar sichere, vollständig von den Behörden kontrollierte Einfuhrschiene zu organisieren. Aufgrund der Honorare und der von der Polizei in Aussicht gestellten Erfolgsprämie hatte die handelnde Vertrauensperson M. ein erhebliches finanzielles Interesse daran, dass N. A. – und eventuelle Mittäter – bei einem schweren Drogendelikt gefasst werden würden. Mit der scheinbar sicheren Einfuhrschiene hatte die Polizei nicht nur einen erheblichen Anreiz zum Handeln mit Betäubungsmitteln geschaffen: Die Tatsache, dass die Drogen problemlos aus großen Versandcontainern entnommen werden konnten, und die an die Vertrauensperson M. und den verdeckten Ermittler K. für ihre Dienste dabei zu zahlenden Geldsummen (50 000 EUR für jeden von ihnen) hatte auch in vorhersehbarer Weise dazu geführt, dass eine große Menge von Drogen eingeführt werden würde. So mag es letztendlich nur diese sichere Einfuhrmöglichkeit gewesen sein, die N. A. und seine Mittäter in die Lage versetzt hatte, einen Drogenimport zusammen mit den Personen, die er zufällig in den Niederlanden kennengelernt hatte, zu organisieren (siehe Rdnrn. 5-11 und 16-17, oben).
128. Hinsichtlich des zweiten Beschwerdeführers, der mit N. A. befreundet war, bemerkt der Gerichtshof, dass er den Feststellungen des Landgerichts zufolge in die Drogeneinfuhr verstrickt wurde, da es sein Bekannter in den Niederlanden war, über den N. A. es dann durch Zufall schaffte, die Einfuhr zu organisieren. Der zweite Beschwerdeführer war weder einschlägig wegen Straftaten im Zusammenhang mit Drogen vorbestraft, noch hatte es zuvor Ermittlungen gegen ihn oder irgendwelche Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er geneigt war, mit Drogen zu handeln.
129. Wie die Polizei selbst bestätigte, war es für sie absehbar gewesen, dass N. A., zu dem sie in direktem Kontakt stand, weitere Personen kontaktieren würde, um sie an der Straftat zu beteiligen, insbesondere Personen, über die er mit Drogenlieferanten in Kontakt kommen konnte (siehe Rdnr. 18, oben).
130. Hinsichtlich der Prüfung, ob die Beteiligung des zweiten Beschwerdeführers an dem Drogendelikt auf das Verhalten der Polizei zurückzuführen war, merkt der Gerichtshof an, dass sich der zweite Beschwerdeführer den Feststellungen des Landgerichts zufolge eben aufgrund der vermeintlich sicheren, durch die Polizei geschaffenen Einfuhrmöglichkeit dazu entschlossen hatte, sich an N. A.s Drogenimport über den Hafen Bremerhaven zu beteiligen. N. A. hatte ihm diese Einfuhr, die auf der Mithilfe des Hafenarbeiters beruhte, genau beschrieben, und sie schien eine sichere und einfache Möglichkeit zu sein, viel Geld zu verdienen (siehe Rdnr. 18, oben). Der zweite Beschwerdeführer wurde wegen unmittelbarer Beihilfe zum Drogendelikt von N. A. verurteilt. Daher ist davon auszugehen, dass die Aktivitäten des zweiten Beschwerdeführers durch die Zurverfügungstellung der Einfuhrschiene durch die Polizei geleitet wurden.
131. Der Gerichtshof schließt daraus – in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte (siehe Rdnrn. 18, 23 und 34, oben) und mit der Regierung (siehe Rdnr. 101, oben) – dass sowohl N. A. als auch der zweite Beschwerdeführer die von ihnen verübten Straftaten ohne die behördliche Einwirkung nicht begangen hätten. Damit wurden sie im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 6 Abs. 1 von der Polizei zu den Drogendelikten provoziert, wegen denen sie später verurteilt wurden.
‒ Verfahrensrechtliche Prüfung des Vorliegens einer Provokation
132. Nachdem der Gerichtshof auf der Grundlage der materiellrechtlichen Prüfung festgestellt hat, dass sowohl N. A. als auch der zweite Beschwerdeführer zu ihren Taten provoziert wurden, muss der Gerichtshof zur Klärung der Frage, ob das Verfahren fair war, als nächstes prüfen, ob die innerstaatlichen Gerichte aus dieser Feststellung die entsprechenden Schlüsse im Einklang mit der Konvention gezogen haben, insbesondere indem sie entweder das Verfahren eingestellt, die Verwertung der durch Provokation erlangten Beweise ausgeschlossen oder vergleichbare Konsequenzen aus der Feststellung der Tatprovokation gezogen haben (siehe Rdnrn. 122-124, oben).
133. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht im vorliegenden Fall im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur damaligen Zeit (siehe Rdnrn. 46-50, oben) und vor dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache F. ./. Deutschland (a.a.O.). weder das Verfahren eingestellt noch die infolge der Provokation erlangten Beweismittel von der Verwertung ausgeschlossen hat. Es setzte lediglich das Strafmaß für N. A. und den zweiten Beschwerdeführer erheblich und messbar herab: N. A. wurde zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und fünf Monaten verurteilt; ohne das Vorliegen einer Provokation wäre er zu einer mindestens zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden (siehe Rdnrn. 12 und 21, oben). Den zweiten Beschwerdeführer verurteilte das Gericht zu drei Jahren und sieben Monaten Freiheitsstrafe; ohne die polizeiliche Tatprovokation hätte es eine mindestens siebenjährige Freiheitsstrafe verhängt (siehe Rdnrn. 20-21, oben).
134. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Regierung vorgebracht hat, dass das Verfahren vor dem Landgericht dennoch mit Artikel 6 Abs. 1 vereinbar sei, da der vorliegende Fall sich von der Rechtssache F. unterscheide. Dies war auch der Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts, das ebenfalls auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache F. ./. Deutschland Bezug nahm (siehe Rdnrn. 30-36, oben).
135. Der Gerichtshof merkt dazu an, dass das Landgericht im vorliegenden Fall, ebenso wie in der Rechtssache F. (a.a.O., oben, Rdnrn. 59, 69), unmittelbar infolge der Provokation erlangte Beweismittel berücksichtigte und damit verwertete, nämlich die Aussagen der Vertrauensperson der Polizei und des verdeckten Ermittlers, auch wenn diese Beweismittel im vorliegenden Fall weniger stark gewichtet wurden. Es stellt außerdem fest, dass die erstinstanzlichen Gerichte ihre Schuldfeststellung in beiden Fällen im Wesentlichen auf die Geständnisse stützten, die die Angeklagten vor ihnen abgelegt hatten (siehe F., a.a.O., Rdnr. 14 und Rdnr. 13, oben).
136. Der Gerichtshof stellte in der Rechtssache F. fest, dass sämtliche infolge einer polizeilichen Provokation erlangten Beweise ausgeschlossen werden müssen oder ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen greifen muss. Dies ist dann der Fall, wenn ein Zusammenhang zwischen dem angegriffenen Beweismittel und der Provokation besteht, der den Gerichtshof zu der Folgerung veranlasst, dass dem Beschuldigten kein faires Verfahren zuteil wurde. In der Rechtssache F. ./. Deutschland, in dem der Beschwerdeführer verurteilt worden war, nachdem er die Straftaten in der Hauptverhandlung gestanden hatte und die schriftlichen Berichte der verdeckten Ermittler verlesen worden waren (siehe Rdnr. 14 dieses Urteils), stellte der Gerichtshof fest, dass dies der Fall war.
137. Im vorliegenden Fall verwertete das Landgericht die Aussagen des verdeckten Ermittlers sowie der Führungsbeamten der Vertrauensperson und das Protokoll des Berichts der Vertrauensperson. Wenngleich die Regierung vorgebracht hat, dass diese Angaben letztendlich nur insoweit zur Verurteilung N. A.s und des zweiten Beschwerdeführers herangezogen wurden, als sie nicht im Widerspruch zu deren Geständnissen standen, so weist der Gerichtshof insbesondere darauf hin, dass der zweite Beschwerdeführer vorgebracht hat, dass er deshalb ein Geständnis ablegt habe, weil die Vertrauensperson ihren Führungsbeamten gegenüber teilweise unrichtige Angaben gemacht habe, die dann in der Verhandlung von den Polizeibeamten wiedergegeben worden seien. Das Landgericht bestätigte, dass die Vertrauensperson die Ereignisse, die zu der Drogeneinfuhr führten, zum Teil erheblich abweichend von den Geständnissen geschildert hatte, die die Angeklagten in der Verhandlung ablegten. Dies galt insbesondere für den Einfluss, den die Vertrauensperson auf N. A. ausgeübt hatte, und der für die Feststellung des Vorliegens einer Provokation maßgeblich war. Daher entsteht der Eindruck, dass sowohl N. A. als auch der zweite Beschwerdeführer keine andere Wahl hatten, als die Straftat zunächst zu gestehen, um das tatsächliche Ausmaß der Provokation sichtbar zu machen.
138. Weil zwischen den Geständnissen, die Straftat begangen zu haben, und der Provokation, die zu ihrer Begehung geführt hatte, ein enger Zusammenhang bestand, hätte das Landgericht nicht nur die Aussagen des verdeckten Ermittlers und der Führungsbeamten sowie das Protokoll des Berichts der Vertrauensperson ausschließen müssen, sondern auch die Geständnisse N. A.s und des zweiten Beschwerdeführers, oder es hätte ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen anwenden müssen. Das Versäumnis des vorinstanzlichen Gerichts, die erforderlichen Schlüsse aus der Provokation zu ziehen, wurde vom Bundesgerichtshof wiederholt, der seine ständige Rechtsprechung hinsichtlich eines Strafnachlasses anwandte. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass die Urteile dieser beiden Gerichte vor dem Urteil dieses Gerichtshofs in der Rechtssache F. (a.a.O.) ergingen. Dies trifft nicht auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu, dessen Urteil mehrere Monate nach dem letztgenannten Urteil des Gerichtshofs erging. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass das Bundesverfassungsgericht sich eingehend mit der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs einschließlich des Urteils in der Rechtssache F. auseinandergesetzt und sich bemüht hat, aus dem genannten Urteil Lehren für das künftige Vorgehen der vorinstanzlichen Gerichte zu ziehen. Obgleich das Bundesverfassungsgericht anerkannte, dass die Beweismittel gegen den zweiten Beschwerdeführer, die als Ergebnis der Provokation erlangt worden waren, nicht vollständig von der Verwertung ausgeschlossen worden waren, versuchte es im Fall von N. A. und dem zweiten Beschwerdeführer, einen Unterschied zu der genannten Rechtssache zu sehen. Auf der Grundlage des vorliegenden Materials und den obigen Ausführungen sieht der Gerichtshof keinen Grund, zwischen diesen beiden Fällen zu unterscheiden.
139. Demnach haben die innerstaatlichen Gerichte aus ihrer Feststellung einer Tatprovokation nicht die erforderlichen Schlüsse im Einklang mit Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gezogen, und das Argument der Regierung, die innerstaatlichen Gerichte hätten alle infolge der Provokation erlangten Beweismittel ausgeschlossen oder ein Verfahren mit vergleichbaren Konsequenzen angewandt, greift hier nicht.
‒ Schlussfolgerungen
140. Der Gerichtshof erinnert daran, dass er sich die Prüfung der Frage vorbehalten hat, ob N. A. und der zweite Beschwerdeführer ihre Eigenschaft, Opfer eines Verstoßes gegen Artikel 6 Abs. 1 geworden zu sein, verloren haben, weil ihre Strafe als Folge der polizeilichen Tatprovokation gemildert worden war, und er hat den Einwand der Regierung hinsichtlich des Wegfalls der Opfereigenschaft mit der Frage der Begründetheit verbunden (siehe Rdnr. 92, oben).
141. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er in Übereinstimmung mit seiner jüngeren Rechtsprechung (siehe Rdnr. 120, oben) die Frage, ob die innerstaatlichen Gerichte die erforderlichen Schlussfolgerungen aus ihrer Feststellung gezogen haben, dass N. A. und der zweite Beschwerdeführer zur Begehung der Straftat provoziert wurden, bereits im Zusammenhang mit der verfahrensrechtlichen Prüfung des Vorliegens einer Provokation nach Artikel 6 Abs. 1. geprüft hat. Da der Gerichtshof zu der Auffassung gelangt ist, dass dies nicht der Fall war (siehe Rdnr. 139, oben), können N. A. und der zweite Beschwerdeführer noch immer geltend machen, Opfer einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 geworden zu sein. Die vorgängige prozessuale Einrede der Regierung hinsichtlich des Wegfalls der Opfereigenschaft ist somit zurückzuweisen.
142. Daher ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention sowohl hinsichtlich der Rüge der ersten Beschwerdeführerin als auch der Rüge des zweiten Beschwerdeführers verletzt worden.
(2) Hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers
143. Hinsichtlich der Klärung der Frage, ob auch der dritte Beschwerdeführer von der Polizei zur Begehung der Straftat, wegen der er verurteilt wurde, verleitet wurde, stellt der Gerichtshof fest, dass auch dieser nicht in direktem Kontakt zur Polizei oder nach deren Anweisungen handelnden Personen gestanden hatte. Auch wenn er in jüngerer Zeit in den Niederlanden wegen Drogenhandels verurteilt worden war, so hatten die Behörden doch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er an einem Drogenhandel mit N. A. beteiligt war, als sie ihre Aktion gegen letzteren planten. Der dritte Beschwerdeführer war von N. A. angeworben worden.
144. Bei der Prüfung der Frage, ob das Vorgehen der Polizei im Hinblick auf N. A. für den dritten Beschwerdeführer eine Verleitung zur Begehung der Straftat darstellte, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es, wie oben festgestellt, für die Polizei vorhersehbar war, dass N. A. vermutlich weitere Personen kontaktieren würde, um sie am Drogenhandel zu beteiligen, wie eben beispielsweise den dritten Beschwerdeführer, dem der Transport der Drogen von B. nach B. zur Last gelegt wurde.
145. Hinsichtlich der Frage, ob die Aktivitäten des dritten Beschwerdeführers vom Verhalten der Polizei geleitet waren, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass dieser vorgebracht hat, dass jedenfalls die Verleitung N. A.s zur Begehung der Tat in Bezug auf alle an dem Drogengeschäft Beteiligten zu einem schweren Makel des Strafverfahrens wegen dieses Drogengeschäfts geführt habe. Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass gemäß seiner Rechtsprechung (siehe insbesondere Rdnr. 117, oben) Strafverfahren nach verdeckten Ermittlungsmaßnahmen nur Fragen nach Artikel 6 aufwarfen, soweit eine unmittelbare oder mittelbare Provokation der Person vorlag, die anschließend in einem solchen Verfahren angeklagt wurde. Aus dieser Rechtsprechung kann jedoch nicht hergeleitet werden, dass in Fällen, in denen verdeckte Maßnahmen zu einer Tatprovokation für einen der Täter geführt haben, das Verfahren automatisch auch hinsichtlich der anderen Täter, die weder unmittelbar noch mittelbar gezielt durch das Verhalten der Polizei zur Beteiligung verleitet wurden, eine Frage nach Artikel 6 aufgeworfen wird.
146. Der Gerichtshof merkt außerdem an, dass der dritte Beschwerdeführer seinen Einlassungen zufolge ebenso von der vermeintlich sicheren Drogeneinfuhrschiene wusste, nachdem N. A. ihm die geplante Straftat beschrieben hatte, was ihn dazu gebracht habe, sich an dieser Straftat zu beteiligen. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass der dritte Beschwerdeführer verurteilt worden war, weil er sich bereit erklärt hatte, die Drogen in einer Wohnung in B. abzuholen – nachdem sie über den Hafen eingeführt, mithilfe des Hafenarbeiters aus dem Hafen herausgeschafft und zu der Wohnung gebracht worden waren – und sie nach B. zu transportieren. Im Gegensatz zu der Einfuhr über den Hafen waren diese nachfolgenden Transportaktivitäten weder durch die Polizei beeinflusst worden, noch war diese auf irgendeine Weise daran beteiligt. Auch wenn die Tatsache, dass die vorausgehende Einfuhr der Drogen scheinbar sicher war, eine gewisse Rolle für den dritten Beschwerdeführer gespielt haben mag, da dies das Risiko einer Entdeckung beim Abholen der Drogen in der Wohnung in B. generell verringerte, ergriff der dritte Beschwerdeführer die Gelegenheit, ohne dass die Polizei ihn derart beeinflusst hätte, dass man sagen könnte, sie habe ihn dazu verleitet, die Drogen von der Wohnung in B. nach B. zu transportieren. Zwar war der dritte Beschwerdeführer des unerlaubten Besitzes der ihm von N. A. anvertrauten Drogen und der Beihilfe zu N. A.s Drogenhandel für schuldig gesprochen worden, seine Beteiligung und seine Aktivitäten können jedoch nicht als vom Verhalten der Polizei geleitet erachtet werden, die ja auch keinen Druck auf ihn ausgeübt hatte.
147. Daher gelangt der Gerichtshof in Übereinstimmung mit den diesbezüglichen Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte (siehe Rdnrn. 19, 23 und 26, oben) und der Regierung (siehe Rdnr. 107, oben) zu dem Schluss, dass der dritte Beschwerdeführer nicht im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 6 Abs. 1 durch die Polizei zur Begehung der Straftat, wegen der er anschließend verurteilt wurde, provoziert worden war. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Einsatz der Vertrauensperson M. nach entsprechender Genehmigung durch die Staatsanwaltschaft von der Polizei überwacht wurde und von den allgemeinen Bestimmungen der §§ 161 Abs. 1 und 163 Abs. 1 StPO in Verbindung mit den geltenden Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (siehe Rdnrn. 42-43, oben) gedeckt war. Der Einsatz des verdeckten Ermittlers K. war mit Zustimmung des zuständigen Amtsgerichts im Einklang mit den innerstaatlichen gesetzlichen Vorschriften gemäß § 110b Abs. 2 StPO (siehe Rdnrn. 15 und 41, oben) erfolgt. Durch diese Zustimmung und die – wenn auch verbesserungsfähige – Überwachung der verdeckten Maßnahmen waren die Behörden von ihrer Beweislast, zeigen zu müssen, dass im Falle des dritten Beschwerdeführers keine Tatprovokation vorgelegen hatte, befreit. Die anschließende Verwertung der durch die verdeckten Maßnahmen erlangten Beweismittel gegen den dritten Beschwerdeführer wirft daher in dieser Hinsicht keine Frage nach Artikel 6 Abs. 1 auf.
148. In Anbetracht der Schlussfolgerung, dass der dritte Beschwerdeführer nicht Opfer einer Tatprovokation geworden ist, erübrigt sich die Prüfung der von der Regierung ersatzweise vorgebrachten prozessualen Einrede hinsichtlich des Wegfalls der Opfereigenschaft.
149. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers nicht verletzt worden.
2. Schlussfolgerung
150. Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass Artikel 6 Abs. 1 der Konvention hinsichtlich der Rügen der ersten Beschwerdeführerin und des zweiten Beschwerdeführers verletzt worden ist, hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers ist Artikel 6 Abs. 1 jedoch nicht verletzt worden.
III. DIE ÜBRIGEN RÜGEN
151. Die erste Beschwerdeführerin rügte außerdem, dass das Strafverfahren gegen N. A. nicht fair gewesen sei, da er wegen eines Drogendelikts verurteilt worden sei, ohne eine Möglichkeit gehabt zu haben, die Vertrauensperson der Polizei, die ihn zur Begehung der Straftat verleitet habe, in der Verhandlung konfrontativ zu befragen. Darüber hinaus seien N. A.s Verteidigungsrechte nicht gewahrt worden, da die Fallakte zunächst nicht alle Informationen hinsichtlich der Vertrauensperson der Polizei enthalten habe, um deren Vertraulichkeit zu gewährleisten, wodurch es N. A. erschwert worden sei, zu beweisen, dass eine Tatprovokation vorgelegen hat. Die erste Beschwerdeführerin berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstaben c und d der Konvention.
152. Die Regierung bestritt dieses Vorbringen.
153. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er festgestellt hat, dass N. A. zur Begehung einer Straftat provoziert worden war und dass die innerstaatlichen Gerichte daraus nicht die entsprechenden Schlussfolgerungen im Einklang mit Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gezogen haben, insbesondere dadurch, dass sie unter anderem den Bericht der Vertrauensperson zu den Ereignissen nicht ausgeschlossen haben. Die übrigen Rügen der ersten Beschwerdeführerin nach Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstaben c und d betreffen die Schwierigkeiten, diese Tatprovokation zu beweisen und die konfrontative Befragung eines Zeugen, dessen Aussagen aufgrund der Provokation ohnehin nicht hätten verwertet werden dürfen. Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass es angesichts der Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 nicht notwendig ist, die Zulässigkeit und Begründetheit der übrigen Rügen der ersten Beschwerdeführerin nach Artikel 6 Abs. 1 und Abs. 3 Buchstaben c und d der Konvention zu prüfen.
IV. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION
154.Artikel 41 der Konvention lautet:
„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese, Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“
A. Die erste Beschwerdeführerin
155. Die erste Beschwerdeführerin machte keinen Anspruch auf eine gerechte Entschädigung nach Artikel 41 der Konvention geltend. Der Gerichtshof spricht ihr daher eine solche Entschädigung nicht zu.
B. Der zweite Beschwerdeführer
1. Schaden
156. Der zweite Beschwerdeführer forderte insgesamt 40 700 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden. Er machte geltend, er habe aufgrund seiner Verurteilung, die das Ergebnis einer rechtswidrigen Tatprovokation gewesen sei und infolge derer er mehrere Jahre im Gefängnis verbracht habe, gelitten.
157. Die Regierung hielt die vom zweiten Beschwerdeführer in Bezug auf den immateriellen Schaden geforderte Summe für überzogen.
158. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der zweite Beschwerdeführer infolge seiner Verurteilung aufgrund einer von der Polizei provozierten Straftat und der Verhängung einer Freiheitsstrafe in einem Verfahren, das gegen Artikel 6 Abs.1 verstieß, Leid erfahren haben muss. Der Gerichtshof spricht dem zweiten Beschwerdeführer nach billigem Ermessen eine Summe von 18 000 EUR in Bezug auf den immateriellen Schaden zu, zuzüglich einer etwa zu entrichtenden Steuer.
2. Kosten und Auslagen
159. Der zweite Beschwerdeführer forderte zudem unter Vorlage entsprechender Belege 3 000 EUR für Anwaltskosten und Auslagen für das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof sowie 1 190 EUR für das Verfahren vor diesem Gerichtshof. Diese Beträge, die auch die Mehrwertsteuer enthalten, seien rechtmäßig mit dem Anwalt des zweiten Beschwerdeführers vereinbart und vom zweiten Beschwerdeführer bezahlt worden. Außerdem forderte er die Erstattung der Kosten für die Übersetzung seiner Stellungnahmen vor dem Gerichtshof in die englische Sprache, ohne diese Kosten jedoch zu beziffern.
160. Darüber hinaus beantragte der zweite Beschwerdeführer die Freistellung von sämtlichen Gerichtskosten sowie von den Auslagen für seinen Pflichtverteidiger im Verfahren vor dem Landgericht. Diese Kosten und Auslagen seien ihm von diesem Gericht in dessen Urteil aufgrund seiner Verurteilung auferlegt worden, er habe diese jedoch nicht bezahlt.
161. Die Regierung machte geltend, dass sich die Kosten für das Honorar des Anwalts des zweiten Beschwerdeführers im Verfahren vor diesem Gerichtshof nur auf 600,71 EUR einschließlich Mehrwertsteuer belaufen hätten, wenn dieser sie im Einklang mit dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz kalkuliert hätte. Auch könne der zweite Beschwerdeführer keine Übersetzungskosten fordern, da er hierfür keinerlei Belege vorgelegt habe.
162. Die Regierung brachte weiter vor, der genaue Betrag der Kosten und Auslagen für das Verfahren vor dem Landgericht, die der zweite Beschwerdeführer aufgrund seiner Verurteilung zu zahlen gehabt hätte, sei nicht festgesetzt worden. Diese Kosten seien zum Teil verjährt und die Durchsetzung der Forderung sei bis zur Verkündung des Urteils dieses Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache ausgesetzt worden.
163. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese tatsächlich und notwendigerweise entstanden und der Höhe nach angemessen sind. Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof es in Anbetracht der ihm vorliegenden Unterlagen und der vorgenannten Kriterien für angebracht, dem zweiten Beschwerdeführer die geforderten Beträge von 3 000 EUR für Kosten und Auslagen des Verfahrens vor den innerstaatlichen Gerichten sowie 1 190 EUR für die durch das Verfahren vor diesem Gerichtshof entstandenen Kosten – darin ist die Mehrwertsteuer enthalten – zuzusprechen, d. h. insgesamt 4 190 EUR einschließlich Mehrwertsteuer, zuzüglich der dem zweiten Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern. Hinsichtlich der im Verfahren vor diesem Gerichtshof angefallenen Übersetzungskosten spricht der Gerichtshof keine Erstattung zu, da diese Kosten weder durch Belege nachgewiesen noch beziffert wurden.
164. Hinsichtlich des Antrags des zweiten Beschwerdeführers auf Befreiung von allen Gerichtskosten und Auslagen für seinen Pflichtverteidiger, die ihm vom Landgericht auferlegt wurden, verweist der Gerichtshof darauf, dass die Höhe dieser Kosten und Auslagen, deren Zahlung dem zweiten Beschwerdeführer aufgrund seiner Verurteilung allgemein auferlegt worden war, nicht festgesetzt wurde. Der zweite Beschwerdeführer hat diese Kosten und Auslagen, die zum Teil verjährt sind und deren Durchsetzung gegenwärtig ausgesetzt ist, nicht bezahlt.
165. Unter Berücksichtigung dieser Umstände und seiner Feststellung einer Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 im Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten stellt der Gerichtshof fest, dass der zweite Beschwerdeführer gegenwärtig nicht zur Zahlung dieser Kosten und Auslagen verpflichtet ist. Ferner geht er davon aus, dass er auch nach Verkündung des Urteils dieses Gerichtshofs nicht zur Zahlung dieser Kosten und Auslagen aufgefordert wird; diese Frage kann gegebenenfalls in der Phase der Urteilsvollstreckung angesprochen werden, wenn das Urteil des Gerichtshofs endgültig wird.
3. Verzugszinsen
166. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. die Beschwerden werden verbunden;
2. der Einwand der Regierung betreffend die Opfereigenschaft der ersten Beschwerdeführerin hinsichtlich der Beschwerde nach Artikel 6 Abs. 1 in Bezug auf die polizeiliche Tatprovokation wird zurückgewiesen;
3. im Übrigen wird die prozessuale Einrede der Regierung im Zusammenhang mit der Begründetheit geprüft und nach Prüfung der Begründetheit zurückgewiesen;
4. die Rüge der ersten Beschwerdeführerin nach Artikel 6 Abs. 1 sowie die Rügen des zweiten und des dritten Beschwerdeführers werden für zulässig erklärt;
5. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist sowohl hinsichtlich der ersten Beschwerdeführerin als auch hinsichtlich des zweiten Beschwerdeführers verletzt worden;
6. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist hinsichtlich des dritten Beschwerdeführers nicht verletzt worden;
7. die Prüfung der Zulässigkeit oder Begründetheit der übrigen Rügen der ersten Beschwerdeführerin ist nicht erforderlich;
8.
(a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem zweiten Beschwerdeführer binnen drei Monaten nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird, die folgenden Beträge zu zahlen:
(i) 18 000 EUR (achtzehntausend Euro), zuzüglich der gegebenenfalls zu berechnenden Steuern, für den immateriellen Schaden;
(ii) 4 190 EUR (viertausendeinhundertneunzig Euro) einschließlich Mehrwertsteuer, zuzüglich der dem zweiten Beschwerdeführer gegebenenfalls zu berechnenden Steuern, für Kosten und Auslagen;
(b) nach Ablauf der genannten Frist von drei Monaten bis zur Auszahlung fallen für die genannten Beträge einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem Spitzenrefinanzierungssatz der Europäischen Zentralbank im Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;
9. im Übrigen wird die Forderung des zweiten Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung zurückgewiesen.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 15. Oktober 2020 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Victor Soloveytchik Síofra O’Leary
Sektionskanzler Präsidentin
Zuletzt aktualisiert am Mai 17, 2021 von eurogesetze
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