RECHTSSACHE MÜLLER GEGEN DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 24173/18

Die Beschwerde betrifft die Vereinbarkeit eines dem Beschwerdeführer, einem Rechtsanwalt, auferlegten Ordnungsgeldes mit Artikel 8 der Konvention. Der Beschwerdeführer hatte sich unter Berufung auf das rechtsanwaltliche Berufsgeheimnis geweigert, als Zeuge in einem Strafverfahren gegen die früheren Geschäftsführer von vier Unternehmen auszusagen, die er vor deren Insolvenz rechtlich beraten hatte. Der Beschwerdeführer war nur vom derzeitigen Geschäftsführer dieser Unternehmen von seiner Verschwiegenheitsverpflichtung entbunden worden, nicht jedoch von mehreren der früheren Geschäftsführer, gegen die das genannte Verfahren anhängig war.


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FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE M. GEGEN DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 24173/18)
URTEIL

Art. 8 • Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz • Ordnungsgeld wegen der Weigerung eines Rechtsanwalts, über im Rahmen seiner Berufsausübung erlangte Informationen als Zeuge in einem Strafverfahren auszusagen • Einschlägiges innerstaatliches Recht vorhersehbar trotz abweichender Rechtsprechung im örtlichen Zuständigkeitsbereich anderer Gerichte • Verzicht auf Vertraulichkeit durch die Mandanten, damit kein Zeugnisverweigerungsrecht des Rechtsanwalts nach innerstaatlichem Recht und kein Risiko der Begehung einer Straftat durch Offenbarung • Sanktion im Lichte der auf dem Spiel stehenden Interessen nicht übermäßig, ausreichende Schutzmechanismen hinsichtlich der Dauer einer Haft im Falle der Nichtzahlung • Relevante und ausreichende Begründung durch die innerstaatlichen Gerichte • Eingriff verhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig

STRASSBURG
19. November 2020

Dieses Urteil wird unter den in Artikel 44 Absatz 2 der Konvention aufgeführten Bedingungen endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache M. ./. Deutschland

verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Síofra O’Leary, Präsidentin,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Ganna Yudkivska,
Latif Hüseynov,
Lado Chanturia,
Anja Seibert-Fohr,
Mattias Guyomar, sowie Victor Soloveytchik, Sektionskanzler,
im Hinblick auf

die Individualbeschwerde (Nr. 24173/18) gegen die Bundesrepublik Deutschland, die der deutsche Staatsangehörige Herr M. („der Beschwerdeführer“) nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) am 18. Mai 2018 beim Gerichtshof erhoben hat;

die Entscheidung, die Beschwerde an die deutsche Regierung zu übermitteln;

die Stellungnahmen der Parteien;

nach nicht-öffentlicher Beratung am 29. September 2020

das folgende Urteil, das am selben Tag angenommen wurde:

EINLEITUNG

1. Die Beschwerde betrifft die Vereinbarkeit eines dem Beschwerdeführer, einem Rechtsanwalt, auferlegten Ordnungsgeldes mit Artikel 8 der Konvention. Der Beschwerdeführer hatte sich unter Berufung auf das rechtsanwaltliche Berufsgeheimnis geweigert, als Zeuge in einem Strafverfahren gegen die früheren Geschäftsführer von vier Unternehmen auszusagen, die er vor deren Insolvenz rechtlich beraten hatte. Der Beschwerdeführer war nur vom derzeitigen Geschäftsführer dieser Unternehmen von seiner Verschwiegenheitsverpflichtung entbunden worden, nicht jedoch von mehreren der früheren Geschäftsführer, gegen die das genannte Verfahren anhängig war.

SACHVERHALT

2. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in R. Er ist praktizierender Rechtsanwalt und vertritt sich selbst.

3. Die Regierung wurde von ihrer Verfahrensbevollmächtigten Frau N. Wenzel vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vertreten.

4. Die Umstände des Falles, so wie sie von den Parteien dargelegt worden sind, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

I. Hintergrund der Rechtssache

5. Von 1996 bis 2014 war die Kanzlei des Beschwerdeführers für die Rechtsberatung von vier Unternehmen mandatiert: die Aktiengesellschaft H. und die Gesellschaften mit beschränkter Haftung L., W. und G., die alle im Jahr 2014 insolvent wurden. Im Wesentlichen war es der Beschwerdeführer, der die Unternehmen bei verschiedenen Geschäften beriet.

6. Im Jahr 2017 leitete das Landgericht M. gegen die ehemaligen Geschäftsführer der Unternehmen ein Strafverfahren unter anderem wegen Betrugs ein. In diesem Verfahren wurden die Geschäftsführer von unterschiedlichen Rechtsanwälten vertreten. Das Gericht lud den Beschwerdeführer als Zeugen. Er sollte als Zeuge zu bestimmten von diesen Unternehmen durchgeführten Verkaufstransaktionen aussagen. Das Gericht teilte dem Beschwerdeführer mit, dass der derzeitige Geschäftsführer der vier Unternehmen, D., eine Erklärung abgegeben habe, die ihn von seiner anwaltlichen Schweigepflicht entbinde. Der Insolvenzverwalter hatte einer Zeugenaussage des Beschwerdeführers vor Gericht ebenfalls zugestimmt. Zudem stimmte der frühere Geschäftsführer des Unternehmens L. der Entbindung des Beschwerdeführers von seiner anwaltlichen Schweigepflicht zu.

7. Bei der Verhandlung vor dem Landgericht am 18. Mai 2017 verweigerte der Beschwerdeführer unter Berufung auf § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 der Strafprozessordnung (StPO) (siehe Rdnr. 26, unten) die Aussage. Er war der Ansicht, an seine anwaltliche Schweigepflicht gebunden zu sein. Er argumentierte, dass sämtliche Personen, die zu der Zeit, zu der er für die Unternehmen als Anwalt tätig gewesen sei, deren Geschäftsführer gewesen seien, und die in dem aktuellen Strafverfahren angeklagt seien, ihn ebenfalls von seiner Schweigepflicht entbinden müssten, damit er als Zeuge aussagen dürfe.

8. Das Landgericht wies den Beschwerdeführer darauf hin, dass die Schweigepflichtentbindung durch den aktuellen Geschäftsführer der vier Unternehmen aus Sicht des Gerichts ausreichend sei. Da der Beschwerdeführer gleichwohl die Zeugenaussage verweigerte, ordnete das Gericht unter Berufung auf § 70 Abs. 1 StPO (siehe Rdnr. 27, unten) ein Ordnungsgeld in Höhe von 150 EUR gegen den Beschwerdeführer an, ersatzweise – für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden könne – einen Tag Ordnungshaft pro 50 EUR.

9. Am 17. August 2017 hob das Oberlandesgericht H. den Beschluss des Landgerichts auf. Zwar schloss es sich der Ansicht des Landgerichts an, dass eine Schweigepflichtentbindung durch den aktuellen Geschäftsführer eines Unternehmens ausreichend sei, soweit ein Rechtsanwalt nur von dem Unternehmen mandatiert worden sei; es bedürfe keiner zusätzlichen Schweigepflichtentbindung durch den bzw. die früheren Geschäftsführer. Das Oberlandesgericht hob den Beschluss des Landgerichts jedoch aus einem anderen Grund auf. Es war der Auffassung, die Entbindung von der Schweigepflicht durch den bzw. die früheren Geschäftsführer sei ausnahmsweise dann erforderlich, wenn ein Rechtsanwalt sowohl von dem Unternehmen als auch von dessen früherem Geschäftsführer bzw. dessen früheren Geschäftsführern als natürliche Person(en) mandatiert worden sei und daher ein vertragliches Verhältnis mit beiden bestehe. Das Landgericht habe es jedoch versäumt festzustellen, ob der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall zusätzlich von den früheren Geschäftsführern der Unternehmen persönlich beauftragt worden sei.

II. Die in Rede stehenden Verfahren

A. Das Verfahren vor dem Landgericht M.

10. Bei der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht M. am 9. November 2017 verweigerte der Beschwerdeführer, der als Zeuge geladen war, um über die rechtliche Beratung Auskunft zu geben, die er den vier Unternehmen zu einer Reihe bestimmter Transaktionen erteilt hatte, erneut die Aussage, da er der Ansicht war, er sei an seine anwaltliche Schweigepflicht gebunden.

11. Nachdem das Landgericht den Beschwerdeführer belehrt hatte, dass es der Auffassung sei, er sei zur Zeugenaussage verpflichtet, und ihm rechtliches Gehör gewährt hatte, setzte es unter Verweis auf § 70 Abs. 1 StPO ein Ordnungsgeld in Höhe von 600 EUR gegen den Beschwerdeführer fest, ersatzweise – für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden könne – einen Tag Ordnungshaft pro 50 EUR. Außerdem legte es dem Beschwerdeführer die durch seine Zeugnisverweigerung entstandenen Kosten auf.

12. Das Landgericht stellte fest, dass dem Beschwerdeführer kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO zustehe. Es bekräftigte seine Auffassung, dass die Schweigepflichtentbindung durch den aktuellen Geschäftsführer der vier Unternehmen, d. h. durch die Person, die zu dem Zeitpunkt, als die Schweigepflichtentbindungserklärung abgegeben wurde, Geschäftsführer war, ausreichend sei. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer nicht substantiiert dargelegt, dass die Rechtsberatungsverträge, die er mit zwei der früheren Geschäftsführer persönlich abgeschlossen habe, Themen umfasst hätten, zu denen das Gericht den Beschwerdeführer als Zeugen befragen wolle, und dass sich aus diesem Vertragsverhältnis ein Zeugnisverweigerungsrecht hätte ergeben können.

B. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht H.

13. Am 20. November 2017 legte der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts Beschwerde ein. Er machte geltend, ihm habe in dem Verfahren ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO zugestanden.

14. Der Beschwerdeführer argumentierte, er hätte auch von den Personen von seiner Schweigepflicht entbunden werden müssen, die zu der Zeit Geschäftsführer der Unternehmen gewesen seien, in der die geschäftlichen Transaktionen, wegen derer er als Zeuge geladen gewesen sei, stattgefunden hätten. § 53 StPO schütze Vertrauensverhältnisse, die ein Rechtsanwalt nur mit natürlichen, nicht aber mit juristischen Personen aufbauen könne. Ein Rechtsanwalt könne ein Unternehmen nur dann umfassend rechtlich beraten, wenn der oder die es vertretenden Geschäftsführer die relevanten Tatsachen ihm gegenüber vollständig offenlegten. Insbesondere könne ein Rechtsanwalt ein Unternehmen nicht hinsichtlich des Risikos beraten, dass bestimmte Handlungen dazu führen könnten, dass seine Vertreter sich strafbar machen, wenn der oder die Geschäftsführer ihm nicht auch Informationen geben würden, die in einem späteren Strafverfahren gegen ihn oder sie relevant werden könnten. Für ein funktionierendes Mandatsverhältnis mit einem Unternehmen sei es daher von wesentlicher Bedeutung, dass dem Geschäftsführer bzw. den Geschäftsführern auch weiterhin das Recht zustehe, darüber zu entscheiden, ob ein Rechtsanwalt, mit dem sie zusammengearbeitet hätten, von seiner Schweigepflicht entbunden werden solle oder nicht.

15. Zudem würden die Auffassungen verschiedener Oberlandesgerichte in Deutschland zu der Frage, wer einen Rechtsanwalt unter Umständen wie denen im vorliegenden Fall von seiner anwaltlichen Schweigepflicht entbinden müsse, voneinander abweichen. Zu dieser Thematik liege keine letztinstanzliche Entscheidung des Bundesgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts vor. Unter diesen Umständen seien Rechtsanwälte de facto gezwungen, sich auf die anwaltliche Schweigepflicht zu berufen, um nicht Gefahr zu laufen, der Offenbarung privater Geheimnisse nach § 203 Abs. 1 StGB für schuldig befunden zu werden (siehe Rdnr. 28, unten).

16. Am 27. Februar 2018 wies das Oberlandesgericht H. die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet zurück. Es stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 70 Abs. 1 StPO zur Festsetzung eines Ordnungsgeldes gegen den Beschwerdeführer und zur Auferlegung der durch seine Zeugnisverweigerung entstandenen Kosten erfüllt seien. Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO berufen.

17. Das Oberlandesgericht bestätigte, dass es ausreichend gewesen sei, dass der aktuelle Geschäftsführer der vier Unternehmen den Beschwerdeführer von der Schweigepflicht entbunden habe. Es sei nicht erforderlich, dass auch die früheren Geschäftsführer dieser Unternehmen, insbesondere die Angeklagten in dem in Rede stehenden Strafverfahren, den Beschwerdeführer von der Schweigepflicht entbinden würden.

18. Das Oberlandesgericht führte aus, das Recht, Anwälte von ihrer Verschwiegenheitsverpflichtung zu entbinden, läge bei der Person, zu deren Gunsten diese Pflicht gesetzlich begründet worden sei. Die Frage, wer im Falle eines Wechsels in der Geschäftsführung oder der Bestellung eines Insolvenzverwalters berechtigt sei, einen Anwalt von seiner Schweigepflicht zu entbinden, sei jedoch in der Rechtsprechung und der Literatur umstritten.

19. Eine Reihe von Oberlandesgerichten (beispielsweise das OLG Zweibrücken, Düsseldorf, Schleswig, Koblenz und Celle, siehe auch Rdnr. 31, unten) hatten entschieden, dass der Rechtsanwalt eines Unternehmens nur von seiner Schweigepflicht entbunden werden könne, wenn sowohl der bzw. die aktuellen als auch der bzw. die früheren Geschäftsführer dem zustimmten. Ein durch § 53 StPO geschütztes Vertrauensverhältnis könne nur zwischen natürlichen Personen bestehen. Außerdem könne in der Regel nicht ausgeschlossen werden, dass der Rechtsanwalt im Rahmen seines Mandats neben Geheimnissen des Unternehmens auch Kenntnis von persönlichen Geheimnissen des früheren für das Unternehmen handelnden Geschäftsführers erlangt habe.

20. Im Gegensatz dazu vertraten andere Oberlandesgerichte (beispielsweise das OLG Köln, Nürnberg und Oldenburg, siehe auch Rdnr. 30, unten) die Auffassung, es sei ausreichend, dass der aktuelle Geschäftsführer eines Unternehmens oder der Insolvenzverwalter einen Rechtsanwalt, der für das Unternehmen gearbeitet hat, von seiner Schweigepflicht entbindet. Ein Mandatsverhältnis und ein durch § 53 StPO geschütztes Vertrauensverhältnis bestehe zwischen dem Rechtsanwalt und dem Unternehmen als juristische Person. Daher sei allein der gesetzliche Vertreter des Unternehmens zum Zeitpunkt der Abgabe der Erklärung, mit der der Rechtsanwalt von seiner Schweigepflicht entbunden wird, befugt, darüber zu entscheiden, ob eine solche Schweigepflichtentbindung im Interesse des Unternehmens sei.

21. Das Oberlandesgericht führte aus, dass es sich der zuletzt genannten Auffassung anschließe, die von einer Reihe von Oberlandesgerichten bereits über einen beträchtlichen Zeitraum vertreten werde (siehe Rdnr. 30, unten). Wo ein vertragliches Mandatsverhältnis nur zwischen dem Unternehmen und dem Rechtsanwalt bestehe, diene die Verschwiegenheitsverpflichtung den Interessen des Unternehmens. Wenn ein früherer Geschäftsführer entscheiden könnte, ob der Anwalt des Unternehmens von seiner Schweigepflicht entbunden werden solle, würde dies häufig den Interessen des Unternehmens zuwiderlaufen. Zudem würde dies die Wahrheitserforschung in einem Strafverfahren in nicht hinzunehmender Weise erschweren. Die Interessen eines Unternehmens könnten sich (zukünftig) von denjenigen seines Geschäftsführers bzw. seiner Geschäftsführer unterscheiden. Die Tatsache, dass ein Geschäftsführer Informationen, insbesondere solche, die sich auf seine mögliche eigene strafrechtliche Verantwortlichkeit beziehen, dem Rechtsanwalt des Unternehmens gegenüber möglicherweise nicht offenlege, da dieser keiner Verschwiegenheitsverpflichtung hinsichtlich des Geschäftsführers unterliege, sei eine hinzunehmende Konsequenz daraus, dass das vertragliche Verhältnis nur zwischen dem Unternehmen und dem Rechtsanwalt bestehe.

22. Der Beschwerdeführer habe außerdem nicht substantiiert dargelegt, dass er bzw. seine Kanzlei Rechtsberatungsverträge, die Themen berührten, zu denen er vor Gericht befragt werden solle, nicht nur mit den Unternehmen, sondern auch mit deren früheren Geschäftsführern selbst geschlossen habe.

C. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

23. Am 15. März 2018 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. Er machte geltend, die Beschlüsse des Landgerichts M. vom 9. November 2017 und des Oberlandesgerichts H. vom 27. Februar 2018, mit denen ihm ein Ordnungsgeld auferlegt worden war, weil er sich weigerte, als Zeuge in einem Strafverfahren auszusagen, hätten ihn in seinem Grundrecht der Berufsfreiheit verletzt. Er hob hervor, dass die Oberlandesgerichte in Deutschland in der Frage, wer einen Rechtsanwalt, der für ein Unternehmen gearbeitet habe, von seiner anwaltlichen Schweigepflicht entbinden müsse, voneinander abweichende Auffassungen vertreten hätten, und dass das Oberlandesgericht H. sich der von einigen dieser Gerichte vertretenen Auffassung angeschlossen habe, die die Vertraulichkeit des Mandatsverhältnisses weniger stark schütze. Er brachte vor, die Beschlüsse der innerstaatlichen Gerichte hätten die Geheimhaltung des Informationsaustauschs zwischen Rechtsanwalt und Mandant, von der sowohl das Unternehmen, das einen Rechtsanwalt beauftrage, als auch die im Namen des Unternehmens handelnden Personen gedeckt sei, in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt.

24. Am 26. März 2018 nahm das Bundesverfassungsgericht die vom Beschwerdeführer erhobene Verfassungsbeschwerde ohne Angabe von Gründen nicht zur Entscheidung an (2 BvR 460/18).

D. Nachfolgende Entwicklungen

25. Am 15. Mai 2018 sagte der Beschwerdeführer vor dem Landgericht M. als Zeuge in dem Strafverfahren gegen die früheren Geschäftsführer der vier Unternehmen zu Transaktionen aus, die Gegenstand der Rechtsberatungsverträge zwischen seiner Kanzlei und diesen Unternehmen waren. Das Gericht hatte angekündigt, es werde nötigenfalls nach § 70 Abs. 2 StPO (siehe Rdnr. 27, unten) Haft gegen den Beschwerdeführer zur Erzwingung seines Zeugnisses anordnen. Der Beschwerdeführer zahlte außerdem das Ordnungsgeld in Höhe von 600 EUR, das ihm zuvor von diesem Gericht auferlegt worden war.

EINSCHLÄGIGES inneRstaatliches recht und EINSCHLÄGIGE innerstaatliche praxis

I. Einschlägige Bestimmungen der Strafprozessordnung

26. In § 53 StPO ist das Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger geregelt. Die Bestimmung lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt

3. Rechtsanwälte … hinsichtlich dessen, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;

(2) Die in Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 bis 3b Genannten dürfen das Zeugnis nicht verweigern, wenn sie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind. …“

27. § 70 StPO über die Folgen unberechtigter Zeugnisverweigerung lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Wird das Zeugnis … ohne gesetzlichen Grund verweigert, so werden dem Zeugen die durch die Weigerung verursachten Kosten auferlegt. Zugleich wird gegen ihn ein Ordnungsgeld und für den Fall, daß dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft festgesetzt.

(2) Auch kann zur Erzwingung des Zeugnisses die Haft angeordnet werden, jedoch nicht über die Zeit der Beendigung des Verfahrens in dem Rechtszug, auch nicht über die Zeit von sechs Monaten hinaus.

(4) Sind die Maßregeln erschöpft, so können sie in demselben oder in einem anderen Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstand hat, nicht wiederholt werden.“

II. Einschlägige Bestimmungen des Strafgesetzbuchs

28. § 203 StGB, nach dem die Offenbarung von Privatgeheimnissen bestraft wird, lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„(1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als

(3) Rechtsanwalt, …

anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

…”

III. Einschlägige innerstaatliche praxis

29. Die Oberlandesgerichte in Deutschland haben in der Frage, wer einen Rechtsanwalt, der ein Unternehmen beraten hat, im Falle eines Wechsels der Geschäftsführung des Unternehmens von seiner Schweigepflicht entbinden muss, bislang unterschiedliche Standpunkte vertreten.

30. Eine Gruppe von Oberlandesgerichten ist der Auffassung, dass eine Schweigepflichtentbindung durch denjenigen, der das Unternehmen zum Zeitpunkt der Schweigepflichtentbindungserklärung vertritt, d. h. durch den aktuellen Geschäftsführer (oder Insolvenzverwalter), ausreichend ist, eine zusätzliche Schweigepflichtentbindung durch frühere Geschäftsführer also nicht erforderlich ist. Diese Gerichte stellen im Wesentlichen darauf ab, dass nur zwischen dem Rechtsanwalt und dem Unternehmen ein vertragliches Verhältnis bestanden hat, und dass daher allein das Unternehmen in den Schutzbereich der Verschwiegenheitsverpflichtung des Rechtsanwalts fällt und es dem Unternehmen somit alleine zusteht, zu entscheiden, ob eine Schweigepflichtentbindung des Rechtsanwalts in seinem Interesse ist oder nicht (siehe insbesondere OLG Köln, Aktenzeichen III-2 Ws 544/15 und 2 Ws 544/15, Beschluss vom 1. September 2015; OLG Nürnberg, Aktenzeichen 1 Ws 289/09, Beschluss vom 18. Juni 2009; und OLG Oldenburg, Aktenzeichen 1 Ws 242/04, Beschluss vom 28. Mai 2004).

31. Eine andere Gruppe von Oberlandesgerichten hingegen vertritt die Auffassung, dass sowohl der derzeitige Vertreter eines Unternehmens als auch dessen früherer Vertreter den Rechtsanwalt des Unternehmens von seiner anwaltlichen Schweigepflicht entbinden müssen. Diese Gerichte betonen grundsätzlich, dass ein durch die Schweigepflicht geschütztes Vertrauensverhältnis nur zwischen natürlichen Personen existieren kann, nicht aber mit einem Unternehmen als juristischer Person. Zudem erlange ein Rechtsanwalt im Rahmen seines Informationsaustausches mit Vertretern des Unternehmens gewöhnlich auch Kenntnis von persönlichen Geheimnissen der Vertreter (siehe insbesondere OLG Zweibrücken, Aktenzeichen 1 Ws 334/16, Beschluss vom 8. Dezember 2016; OLG Düsseldorf, Aktenzeichen 1 Ws 1155/92, Beschluss vom 14. Dezember 1992; OLG Celle, Aktenzeichen 1 Ws 194/85, Beschluss vom 2. August 1985; OLG Koblenz, Aktenzeichen 2 VAs 21/84, Beschluss vom 22. Februar 1985; und OLG Schleswig, Aktenzeichen 1 Ws 160/80 und 1 Ws 161/80, Beschluss vom 27. Mai 1980).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

32. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Erzwingung seines Zeugnisses in einem Strafverfahren durch Auferlegung eines Ordnungsgeldes gegen sein durch Artikel 8 der Konvention geschütztes anwaltliches Berufsgeheimnis verstoßen habe; Artikel 8 der Konvention lautet wie folgt:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.

A. Zulässigkeit

33. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus anderen in Artikel 35 der Konvention aufgeführten Gründen unzulässig ist. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Gab es einen Eingriff?

(a) Das Vorbringen der Parteien

(i) Der Beschwerdeführer

34. Der Beschwerdeführer brachte vor, die aufgrund seiner Zeugnisverweigerung erfolgte Festsetzung eines Ordnungsgeldes gegen ihn, die auch Haft hätte nach sich ziehen können, sei ein Eingriff in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens und seiner Korrespondenz im Sinne von Artikel 8 der Konvention gewesen. Konkret habe die Anordnung gegen sein anwaltliches Berufsgeheimnis verstoßen, das durch Artikel 8 geschützt sei, und das ihn dazu berechtige und verpflichte, Geheimnisse, von denen er als Rechtsanwalt im Rahmen seines Verhältnisses zu einer ratsuchenden Person Kenntnis erlangt habe, nicht zu offenbaren.

35. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass in sein anwaltliches Berufsgeheimnis auch dann eingegriffen worden wäre, wenn er (bzw. seine Kanzlei) nur zu den Unternehmen, also juristischen Personen, in einem vertraglichen Verhältnis gestanden hätte, weil ein Vertrauensverhältnis nur zwischen natürlichen Personen bestehen könne. Da juristische Personen nur durch natürliche Personen handeln könnten, müssten letztere, d. h. vorliegend die Geschäftsführer der vier Unternehmen, unmittelbar in das durch das anwaltliche Berufsgeheimnis geschützte Vertrauensverhältnis einbezogen werden, ohne dass es dazu eines zusätzlichen Vertragsverhältnisses zwischen den Geschäftsführern und dem Rechtsanwalt bedürfe. Wären die Geschäftsführer der Gefahr ausgesetzt, dass ihre Kommunikation mit dem Anwalt des Unternehmens nach einem Wechsel der Geschäftsführung des Unternehmens nicht mehr vertraulich sein könnte, so könnten sie dem Rechtsanwalt nicht mehr sämtliche relevanten Informationen mitteilen, einschließlich solcher Angaben, die für die Geschäftsführer potenziell von strafrechtlicher Relevanz sein könnten, und seien somit nicht in der Lage, eine umfassende rechtliche Beratung für ihre Unternehmen zu erlangen.

(ii) Die Regierung

36. Die Regierung brachte vor, dass die Verhängung eines Ordnungsgeldes zur Durchsetzung der Verpflichtung des Beschwerdeführers, als Zeuge auszusagen, nicht in sein Recht auf Achtung seines Privatlebens und seiner Korrespondenz nach Artikel 8 der Konvention eingegriffen habe. Diese Bestimmung schütze im Grundsatz die Geheimhaltung der Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten. Die Anordnung im vorliegenden Fall habe diese Geheimhaltung aber nicht berührt. Lediglich die vier Unternehmen, also eigenständige juristische Personen, seien Mandanten des Beschwerdeführers gewesen, wohingegen kein Rechtsberatungsvertrag zwischen dem Beschwerdeführer und den vier früheren Geschäftsführern dieser Unternehmen bestanden habe. Der Beschwerdeführer könne sich daher hinsichtlich dieser früheren Geschäftsführer und in dem in Rede stehenden Verfahren Angeklagten nicht auf das anwaltliche Berufsgeheimnis berufen.

(b) Würdigung durch den Gerichtshof

37. Indem er das Recht einer jeden Person auf Achtung ihrer „Korrespondenz” festschreibt, schützt Artikel 8 der Konvention die Vertraulichkeit der privaten Kommunikation (siehe Frérot ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 70204/01, Rdnr. 53, 12. Juni 2007), unabhängig davon, was der Inhalt der betreffenden Kommunikation ist (ebd., Rdnr. 54) und in welcher Form sie stattfindet. Das bedeutet, dass Artikel 8 die Vertraulichkeit jeder Art von Informationsaustausch schützt, der zwischen Menschen zum Zwecke der Kommunikation stattfindet (siehe Michaud ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 12323/11, Rdnr. 90, ECHR 2012; Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL und andere ./. Portugal, Individualbeschwerde Nr. 27013/10, Rdnr. 77, 3. September 2015, und Laurent ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 28798/13, Rdnr. 35, 24. Mai 2018). Darunter fällt unter anderem der Austausch mittels Briefen (siehe z. B. Schönenberger und Durmaz ./. die Schweiz, 20. Juni 1988, Rdnrn. 23-24, Serie A Nr. 137, und Campbell ./. das Vereinigte Königreich, 25. März 1992, Rdnr. 33, Serie A Nr. 233), über das Telefon (siehe Kopp ./. die Schweiz, 25. März 1998, Rdnr. 50, Reports of Judgments and Decisions 1998‑II), mittels mündlicher Kommunikation (siehe Altay ./. die Türkei (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 11236/09, Rdnr. 51, 9. April 2019) oder mittels elektronischer Daten (siehe Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 74336/01, Rdnr. 45, ECHR 2007‑IV, und Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL und andere, a. a. O., Rdnr. 76).

38. Von einem Rechtsanwalt die Preisgabe von Informationen über Personen zu verlangen, die er durch Kommunikation mit dieser Person erlangt hat, wurde vom Gerichtshof als Eingriff in das Recht des Anwalts auf Achtung seiner Korrespondenz erachtet (siehe Michaud, a. a. O., Rdnr. 91).

39. Eine solche Verpflichtung stellt außerdem einen Eingriff in ihr Recht auf Achtung ihres „Privatlebens“ dar, ein Begriff, der Aktivitäten, die einen beruflichen oder geschäftlichen Charakter haben, nicht ausschließt (siehe N. ./. Deutschland, 16. Dezember 1992, Rdnr. 29, Serie A Nr. 251‑B; Michaud, a. a. O., Rdnr. 91, und Denisov ./. Ukraine [GK], Individualbeschwerde Nr. 76639/11, Rdnr. 100, 25. September 2018).

40. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass Artikel 8 das Recht schützt, Beziehungen zu anderen Menschen und zur Außenwelt aufzunehmen und zu pflegen (Denisov, a. a. O., Rdnrn. 95-96, 100). Diese Erwägungen müssen auch dann gelten, wenn ein Rechtsanwalt verpflichtet ist, als Zeuge in einem Strafverfahren auszusagen und Informationen über Kommunikationen mit anderen preiszugeben, die er im Rahmen seiner Berufsausübung mit diesen geführt hat.

41. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall gerügt hat, dass er mittels eines Ordnungsgeldes gezwungen wurde, in einem Strafverfahren zu Informationen auszusagen, von denen er als Rechtsanwalt durch Kommunikation (mündlich, schriftlich oder elektronisch) mit vier Unternehmen Kenntnis erlangt hatte, die zur fraglichen Zeit von den Geschäftsführern vertreten worden waren, die nun angeklagt waren. Unter Berücksichtigung der oben genannten Grundsätze fallen derartige geschäftliche Kommunikationen mit Vertretern von Mandanten seiner Kanzlei sowohl unter den Begriff der „Korrespondenz“ als auch unter den Begriff „Privatleben“. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Tatsache, dass der Beschwerdeführer Mitglied einer Kanzlei war, die den Beratungsvertrag mit den vier Unternehmen geschlossen hatte, ihn nicht von seinen Rechten und Pflichten als Rechtsanwalt entband, insbesondere nicht von der Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses (vgl. auch Sérvulo & Associados – Sociedade de Advogados, RL und andere, a. a. O., Rdnr. 79). Den Beschwerdeführer zur Offenbarung der fraglichen Informationen zu zwingen war daher ein Eingriff in seine Rechte auf Achtung seiner „Korrespondenz” und seines „Privatlebens”.

2. War der Eingriff gerechtfertigt?

(a) War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

(i) Das Vorbringen der Parteien

42. Nach Ansicht des Beschwerdeführers war der Eingriff in sein Recht auf Achtung des Berufsgeheimnisses nicht nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention gerechtfertigt. Er sei nicht gesetzlich vorgesehen gewesen. Die gesetzlichen Bestimmungen, auf deren Grundlage das Ordnungsgeld festgesetzt worden sei, d. h. § 70 und § 53 Abs. 2 StPO (siehe Rdnrn. 27 und 26, oben), seien nicht hinreichend präzise und vorhersehbar gewesen.

43. Laut Vorbringen des Beschwerdeführers sind von den verschiedenen Oberlandesgerichten in Deutschland seit Jahrzehnten voneinander abweichende Entscheidungen zu der Frage ergangen, ob eine Schweigepflichtentbindung nach § 53 Abs. 2 StPO im Falle eines Wechsels in der Geschäftsführung eines Unternehmens lediglich durch die aktuellen Vertreter des Unternehmens erfolgen muss oder ob die früheren Vertreter zusätzlich ihren Verzicht erklären müssen. Es erscheine willkürlich, dass der Schutzbereich des Berufsgeheimnisses somit davon abhänge, in welchem Oberlandesgerichtsbezirk der Rechtsanwalt ansässig sei. Bei einer Verletzung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses riskiere der Rechtsanwalt zudem eine Bestrafung nach § 203 StGB (siehe Rdnr. 28, oben).

44. Die Regierung führte aus, dass selbst wenn es einen Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers nach Artikel 8 gegeben habe, dieser nach Absatz 2 dieser Bestimmung gerechtfertigt gewesen sei. Insbesondere seien § 53 und § 70 StPO, auf deren Grundlage die Festsetzung eines Ordnungsgeldes gegen den Beschwerdeführer erfolgt sei, in ihrer Anwendung hinreichend präzise und vorhersehbar gewesen.

45. Nach Ansicht der Regierung beeinträchtige die voneinander abweichende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zum Schutzumfang des rechtsanwaltlichen Berufsgeheimnisses im Falle eines Wechsels der Geschäftsführung nicht die Vorhersehbarkeit der genannten Bestimmungen. Die von den innerstaatlichen Gerichten im vorliegenden Fall vertretene Auffassung, dass die Schweigepflichtentbindung durch die derzeitigen Geschäftsführer der Unternehmen ausreichend sei, um die Bindung des Beschwerdeführers an sein Berufsgeheimnis aufzuheben, womit er zum Zeugnis verpflichtet gewesen sei, sei mit dem Wortlaut und der Zielsetzung der Bestimmungen vereinbar und vertretbar – ebenso wie die Gegenauffassung. Die Gerichte hätten umfassend begründet, weshalb sie sich dieser bereits von einer Reihe anderer Oberlandesgerichte und in der Literatur vertretenen Auffassung angeschlossen hatten. Sie hätten insbesondere argumentiert, dass nur die natürliche oder juristische Person, zu deren Gunsten eine anwaltliche Schweigepflicht begründet worden sei, einen Rechtsanwalt von dieser Pflicht entbinden könne, d. h. im vorliegenden Fall nur die Unternehmen, die in einem vertraglichen Verhältnis zum Beschwerdeführer standen und nicht deren Geschäftsführer.

46. Es sei richtig, dass es dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nicht möglich gewesen sei, eine Entscheidung durch den Bundesgerichtshof herbeizuführen, die den vorinstanzlichen Gerichten die Auslegung der betreffenden Bestimmungen der Strafprozessordnung vorgegeben hätte, da eine Beschwerde gegen den Ordnungsgeldbeschluss des Oberlandesgerichts beim Bundesgerichtshof nicht vorgesehen gewesen sei. Jedoch könne der Bundesgerichtshof in einem anderen Zusammenhang mit der Rechtsfrage befasst werden, insbesondere in dem in Rede stehenden Strafverfahren. Würden die früheren Geschäftsführer aufgrund der Zeugenaussage des Beschwerdeführers verurteilt, obwohl sie ihn nicht von der Schweigepflicht entbunden hatten, so könnten sie diese Frage im Rahmen einer Revision beim Bundesgerichtshof aufwerfen, der dann entscheiden müsste, ob hier ein Rechtsfehler vorgelegen habe.

47. Darüber hinaus sei es für den als Rechtsanwalt tätigen Beschwerdeführer, nicht zuletzt aufgrund der früheren Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte und aufgrund ihrer Belehrung des Beschwerdeführers vor dem Erlass des angegriffenen Beschlusses, vorhersehbar gewesen, dass die Gerichte den Umfang seines Zeugnisverweigerungsrechts so auslegen würden, wie sie dies getan hätten. Letztendlich sei es unter diesen Umständen ausgeschlossen gewesen, dass der Beschwerdeführer nach einer etwaigen Änderung der Rechtsprechung zum Umfang der beruflichen Verschwiegenheitsverpflichtung aufgrund seiner Zeugenaussage wegen einer Verletzung des Berufsgeheimnisses nach § 203 StGB strafrechtlich verfolgt worden wäre, da er auf Anraten des Gerichts in dem in Rede stehenden Verfahren und somit schuldlos gehandelt hätte.

(ii) Würdigung durch den Gerichtshof

(1) Einschlägige Grundsätze

48. Zu der Frage, ob eine Maßnahme „gesetzlich vorgesehen“ war, hat der Gerichtshof den Grundsatz aufgestellt, dass eine Maßnahme zunächst eine Grundlage im innerstaatlichen Recht haben muss. In einem Bereich, der durch kodifiziertes Recht geregelt ist, ist das „Gesetz“ die gültige Rechtsvorschrift so wie sie durch die zuständigen Gerichte ausgelegt wird (siehe Société Colas Est und andere ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 37971/97, Rdnr. 43, ECHR 2002‑III; und Robathin ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 30457/06, Rdnr. 40, 3. Juli 2012, mit weiteren Nachweisen).

49. Der Ausdruck „gesetzlich vorgesehen“ verweist außerdem auf die Qualität des betreffenden Gesetzes, welches mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit vereinbar und der betroffenen Person zugänglich sein muss, die darüber hinaus die Folgen des Gesetzes für sich vorhersehen können muss (siehe unter anderem Rotaru ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 28341/95, Rdnr. 52, ECHR 2000‑V; Liberty und andere ./. das Vereinigte Königreich, Individualbeschwerde Nr. 58243/00, Rdnr. 59, 1. Juli 2008; und Iordachi und andere ./. Moldawien, Individualbeschwerde Nr. 25198/02, Rdnr. 37, 10. Februar 2009).

50. Um vorhersehbar zu sein, muss das Gesetz hinreichend präzise formuliert sein und die Person in die Lage versetzen – falls erforderlich, mit geeigneter Beratung – ihr Verhalten danach auszurichten (siehe Amann ./. die Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 27798/95, Rdnr. 56, ECHR 2000‑II; Rotaru, a. a. O., Rdnr. 55, und S. und Marper ./. das Vereinigte Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 30562/04 und 30566/04, Rdnr. 95, ECHR 2008). Der Gerichtshof hat jedoch bereits anerkannt, dass es bei der Formulierung von Gesetzen unmöglich ist, absolute Rechtssicherheit zu erreichen, und dass die Bemühung um Rechtssicherheit zu übermäßiger Starrheit führen kann. Es ist nicht zu vermeiden, dass viele Gesetze mehr oder weniger vage formuliert sind und deren Auslegung und Anwendung in der Praxis erfolgen müssen (siehe Michaud, a. a. O., Rdnr. 96).

51. Hinsichtlich widersprüchlicher Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte weist der Gerichtshof darauf hin, dass er bereits wiederholt mit Fragen voneinander abweichender Rechtsprechung im Zusammenhang mit Artikel 6 befasst war. Er hat in diesem Zusammenhang konstatiert, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit in allen Artikeln der Konvention stillschweigend impliziert sei und eines der grundlegenden Elemente der Rechtsstaatlichkeit darstelle (siehe Beian ./. Rumänien (Nr. .1), Individualbeschwerde Nr. 30658/05, Rdnr. 39, ECHR 2007‑V (auszugsweise); und Iordan Iordanov und andere ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 23530/02, Rdnr. 47, 2. Juli 2009). Das Fortbestehen widersprüchlicher Gerichtsentscheidungen kann zu einem Zustand rechtlicher Unsicherheit führen, wodurch das öffentliche Vertrauen in das Rechtssystem nur allzu leicht geschwächt wird, wo doch gerade dieses Vertrauen zweifellos eine der wesentlichen Komponenten eines Rechtsstaats ist (siehe Ştefan und Ştef ./. Rumänien, Individualbeschwerden Nrn. 24428/03 und 26977/03, Rdnr. 33, 27. Januar 2009, und Vinčić und andere ./. Serbien, Individualbeschwerde Nr. 44698/06 und 30 weitere, Rdnr 56, 1. Dezember 2009). Die Forderung nach Rechtssicherheit bedeutet jedoch nicht, dass damit ein Recht auf unbedingte Konsistenz der Rechtsprechung einhergeht (siehe Unédic ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 20153/04, Rdnr. 74, 18. Dezember 2008; und Borg ./. Malta, Individualbeschwerde Nr. 37537/13, Rdnr. 107, 12. Januar 2016).

52. Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass er den Grundsatz aufgestellt hat – der darüber hinaus auch allgemein anerkannt ist – dass nur die Beziehung zwischen einem Rechtsanwalt und seinen Mandanten vom anwaltlichen Berufsgeheimnis gedeckt ist. Er hat diesbezüglich betont, dass im Gesetz hinreichend deutlich angegeben sein muss, welche Angelegenheiten im Zusammenhang mit der Arbeit eines Rechtsanwalts unter das Mandatsverhältnis fallen und somit durch das anwaltliche Berufsgeheimnis geschützt sind (vgl. Kopp, a. a. O., Rdnrn. 73 und 75).

(2) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache

53. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen den Beschwerdeführer zur Erzwingung seiner Zeugenaussage in einem Strafverfahren eine Grundlage im innerstaatlichen Recht hatte, nämlich § 70 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und Abs. 2 StPO (siehe Rdnrn. 26-27, oben). Er stellt weiter fest, dass das im betreffenden Gerichtsbezirk letztinstanzlich zuständige Oberlandesgericht H. diese Bestimmungen so auslegte, dass der Beschwerdeführer unter den gegebenen Umständen kein Zeugnisverweigerungsrecht hatte. Diese Auslegung stand im Einklang mit der Auslegung einer Reihe weiterer Oberlandesgerichte in derartigen Fällen. Oberlandesgerichte in verschiedenen anderen Gerichtsbezirken hatten hingegen in vergleichbaren Fällen die entgegengesetzte Auffassung vertreten.

54. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass diese abweichenden Auslegungen insbesondere von § 53 StPO, der sehr weit gefasst ist, zu langjährigen Differenzen in der Spruchpraxis der Oberlandesgerichte geführt haben. Er stellt weiter fest, dass ein Mechanismus zur Überwindung dieser Abweichungen grundsätzlich insofern gegeben ist, als dass der Bundesgerichtshof im Rahmen einer Revision damit befasst werden könnte, wenn ein früherer Vertreter einer juristischen Person infolge einer Zeugenaussage eines Rechtsanwalts, den dieser frühere Vertreter nicht von der Schweigepflicht entbunden hatte, verurteilt würde (vgl. Rdnr. 46, oben). Entsprechend der Rolle, die den obersten Gerichten bei der Auflösung von Widersprüchen in der Rechtsprechung zukommt (siehe Zielinski und Pradal und Gonzalez und andere ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 24846/94 und 9 weitere, Rdnr. 59, ECHR 1999‑VII; Beian, a. a. O., Rdnr. 37, und Iordan Iordanov und andere, a. a. O., Rdnr. 47), könnte der Bundesgerichtshof die von den Oberlandesgerichten in dieser Frage zu verfolgende Herangehensweise bestimmen. Der Beschwerdeführer konnte eine solche Entscheidung zur Klärung der Frage – die eine einheitliche Rechtsanwendung gefördert hätte – jedoch nicht herbeiführen, da eine weitere Beschwerde gegen den Ordnungsgeldbeschluss vor dem Bundesgerichtshof nicht vorgesehen war. Das Bundesverfassungsgericht, das die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers nicht zur Entscheidung annahm, wenn auch ohne Angabe von Gründen, war offenbar der Auffassung, dass der von den innerstaatlichen Gerichten im Falle des Beschwerdeführers verfolgte Ansatz keine verfassungsrechtliche Frage nach dem deutschen Grundgesetz aufwerfe.

55. Ungeachtet des Vorstehenden stellt der Gerichtshof bei der Klärung der Frage, ob das anzuwendende Recht in seinen Konsequenzen als vorhersehbar erachtet werden konnte und den Beschwerdeführer in die Lage versetzte, sein Verhalten in diesem konkreten Fall danach auszurichten, fest, dass er im vorliegenden Fall mit der Situation konfrontiert ist, dass die Rechtsprechung verschiedener Oberlandesgerichte, d. h. verschiedener für die Untersuchung von Fällen in ihren jeweiligen Gerichtsbezirken zuständiger Gerichte derselben Instanz, voneinander abweicht.

56. Im vorliegenden Fall hatte das Oberlandesgericht H. selbst, indem es auf die schon recht lange vorliegende Rechtsprechung verwies (siehe Rdnrn. 21 und 30, oben), die Frage nicht inkonsistent gehandhabt, ob ein Verzicht auf die Verschwiegenheitsverpflichtung durch die früheren Geschäftsführer erforderlich sei, um den Beschwerdeführer von seiner anwaltlichen Schweigepflicht zu entbinden und zur Zeugenaussage im Strafverfahren gegen die Geschäftsführer zu verpflichten. Es hatte in dem in Rede stehenden Verfahren nicht nur sehr ausführlich begründet, warum es einen Verzicht auf die Verschwiegenheitsverpflichtung durch die früheren Geschäftsführer unter den gegebenen Umständen nicht für erforderlich erachtete, sondern hatte sich in diesem Zusammenhang auch mit den Argumenten befasst, die andere Oberlandesgerichte angeführt hatten, die die Gegenauffassung vertraten (siehe Rdnrn. 16-22, oben). Es hatte außerdem im ersten Verfahren, in dem es den Beschluss des Landgerichts aus anderen Gründen aufgehoben und den Fall an dieses Gericht zurückverwiesen hatte (siehe Rdnr. 9, oben), eindeutig angekündigt, welchen Standpunkt es in dieser Frage einnehmen werde.

57. Unter diesen Umständen ergab sich also für den Beschwerdeführer keine Rechtsunsicherheit aus der Tatsache, dass einige andere Oberlandesgerichte in verschiedenen anderen Gerichtsbezirken die Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts unter Umständen wie denen des vorliegenden Falls anders beurteilt hatten.

58. Der Gerichtshof ist außerdem der Auffassung, dass die Auslegung der innerstaatlichen Gerichte im Fall des Beschwerdeführers vorhersehbar war, auch insofern, als dass diese Auslegung als durch den Wortlaut und das Telos der fraglichen Bestimmung der Strafprozessordnung gedeckt zu erachten ist. Daher kann gesagt werden, dass die einschlägige Rechtsvorschrift, wie sie von den innerstaatlichen Gerichten ausgelegt und angewendet wurde, den Umfang des anwaltlichen Berufsgeheimnisses, auf das sich der Anwalt berufen konnte, mit hinreichender Klarheit abgesteckt hat.

59. Zudem ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass für den Beschwerdeführer infolge der voneinander abweichenden Rechtsprechung der verschiedenen Oberlandesgerichte im Falle seiner Zeugenaussage vor dem Landgericht in dem Strafverfahren tatsächlich die Gefahr bestanden hätte, der Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 StGB (siehe Rdnr. 28, oben) für schuldig befunden zu werden. Selbst wenn man angesichts der voneinander abweichenden Rechtsprechung zum Umfang des rechtsanwaltlichen Berufsgeheimnisses annimmt, ein anderes Gericht hätte zu der Auffassung gelangen können, dass er nicht dazu berechtigt war, zu Informationen auszusagen, die ihm durch die Kommunikation mit den früheren Geschäftsführern der vier Unternehmen bekannt geworden waren, so hätte der Beschwerdeführer jedenfalls schuldlos gehandelt, da er in dem in Rede stehenden Verfahren von den innerstaatlichen Gerichten zur Zeugenaussage verpflichtet worden war.

60. Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen gelangt der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die im vorliegenden Fall anzuwendende Rechtsvorschrift, wie sie von den innerstaatlichen Gerichten ausgelegt und angewendet wurde, in ihren Folgen für den Beschwerdeführer vorhersehbar war. Die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen den Beschwerdeführer war daher im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 „gesetzlich vorgesehen“.

(b) Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?

61. Nach Ansicht der Regierung verfolgte der Ordnungsgeldbeschluss in Bezug auf die Weigerung des Beschwerdeführers, als Zeuge in dem in Rede stehenden Strafverfahren auszusagen, das legitime Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verhütung von Straftaten, da damit eine umfassende Wahrheitsfindung im Strafverfahren sichergestellt werden sollte. Der Beschwerdeführer brachte vor, der Beschluss habe das legitime Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Sicherstellung einer effektiven Strafverfolgung verfolgt.

62. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass der Ordnungsgeldbeschluss gegen den Beschwerdeführer eine Sanktion für seine Weigerung darstellte, in dem Strafverfahren gegen die früheren Geschäftsführer der vier Unternehmen auszusagen. Außerdem sollte mit dem Beschluss durchgesetzt werden, dass der Beschwerdeführer zum Zwecke einer umfassenden Feststellung des Sachverhalts in diesem Verfahren als Zeuge aussagt, wozu er nach innerstaatlichem Recht, wie es von den innerstaatlichen Gerichten ausgelegt und angewendet wurde, verpflichtet war. Der Beschluss diente damit im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 dem legitimen Ziel der Verhütung von Straftaten, da dies die Beweissicherung zur Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten einschließt (vgl. Société Colas Est und andere, a. a. O., Rdnr. 44, und Van der Heijden ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 42857/05, Rdnr. 54, 3. April 2012).

(c) War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

(i) Das Vorbringen der Parteien

63. Nach Ansicht des Beschwerdeführers war es jedenfalls unverhältnismäßig und damit in einer demokratischen Gesellschaft zur Verhütung von Straftaten nicht notwendig, ein Ordnungsgeld gegen ihn anzuordnen. Insbesondere hob er hervor, dass ein Rechtsanwalt nur dann in der Lage sei, seine wichtige Funktion ordnungsgemäß zu erfüllen und in einem Vertrauensverhältnis mit seinen Mandanten zusammenzuarbeiten, wenn er die Vertraulichkeit ihrer Kommunikation und Korrespondenz gewährleisten könne.

64. Die Regierung machte geltend, die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen den Beschwerdeführer sei zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. Der Schutz des anwaltlichen Berufsgeheimnisses erstrecke sich nicht auf die früheren Geschäftsführer eines Unternehmens. Letztere handelten im Interesse des Unternehmens und hätten ihr Verhalten danach auszurichten. Sie könnten nicht berechtigterweise darauf vertrauen, dass ihre Kommunikation und Korrespondenz durch das Mandatsverhältnis zwischen dem Unternehmen und dem Rechtsanwalt geschützt sei.

(ii) Würdigung durch den Gerichtshof

65. Ein Eingriff gilt als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ für ein rechtmäßig verfolgtes Ziel, wenn damit auf ein „dringendes soziales Bedürfnis“ reagiert wird, und wenn er insbesondere in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig ist und die zur Rechtfertigung von den innerstaatlichen Behörden angeführten Gründe „erheblich und ausreichend” sind (siehe z. B. S. und Marper, a. a. O., Rdnr. 101; Fernández Martínez ./. Spanien [GK], Individualbeschwerde Nr. 56030/07, Rdnr. 124, ECHR 2014 (auszugsweise), und Paradiso und Campanelli ./.Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 25358/12, Rdnrn. 179 und 181, 24. Januar 2017).

66. Während eine Würdigung all dieser Aspekte zunächst den nationalen Behörden obliegt, so bleibt die abschließende Beurteilung der Frage, ob der Eingriff notwendig war, einer Überprüfung durch den Gerichtshof auf Vereinbarkeit mit den Anforderungen der Konvention zugänglich. Bei dieser Beurteilung muss den zuständigen nationalen Behörden ein Ermessenspielraum verbleiben (siehe unter anderem Paradiso und Campanelli, a. a. O., Rdnr. 181, mit weiteren Nachweisen). Die Weite dieses Spielraums variiert und hängt von einer Reihe von Faktoren ab, darunter die Natur des in Rede stehenden Konventionsrechts, seine Bedeutung für das Individuum, die Art des Eingriffs sowie der mit dem Eingriff verfolgte Zweck. Der Spielraum wird eher enger sein, wenn das betroffene Recht entscheidend dafür ist, dass das Individuum in den tatsächlichen Genuss „höchstpersönlicher” oder grundlegender Rechte gelangt. Wo ein ganz besonders wichtiger Aspekt der Existenz oder der Identität eines Individuums auf dem Spiel steht, ist der dem Staat zustehende Spielraum einzuschränken. Wo jedoch unter den Mitgliedstaaten des Europarats keine Einigkeit herrscht, sei es hinsichtlich der relativen Bedeutung des auf dem Spiel stehenden Interesses oder hinsichtlich der Frage, wie dieses am besten zu schützen ist, ist ein weiterer Spielraum zuzugestehen (siehe S. und Marper, a. a. O., Rdnrn. 101-02; und Van der Heijden, a. a. O., Rdnrn. 58-60). Ein weiter Spielraum besteht normalerweise auch dort, wo der Staat konkurrierende private und öffentliche Interessen oder verschiedene Konventionsrechte gegeneinander abwägen muss (siehe unter anderem Fernández Martínez, a. a. O., Rdnr. 125, und Paradiso und Campanelli, a. a. O., Rdnr. 182 mit weiteren Nachweisen).

67. Bei der Klärung der Frage, ob der Eingriff in die Rechte des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Korrespondenz und seines Privatlebens durch den Ordnungsgeldbeschluss „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig” war, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass hier konkurrierende Interessen auf dem Spiel standen. Einerseits diente das anwaltliche Berufsgeheimnis, auf das sich der Beschwerdeführer berief und das sich, wie allgemein anerkannt ist, nur auf das Verhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinen Mandanten erstreckt (siehe zum Beispiel, Kopp, a. a. O, Rdnr. 73), sowohl dem beruflichen und geschäftlichen Interesse des Beschwerdeführers als Rechtsanwalt, seine Kommunikation mit den Vertretern seiner Mandanten zu schützen, als auch dem öffentlichen Interesse der Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege (zur Gewichtung dieser Interessen siehe beispielsweise Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH, a. a. O., Rdnr. 65). Diese Interessen konkurrierten mit dem öffentlichen Interesse der Verhütung von Straftaten, dem durch eine umfassende Wahrheitsfindung gedient ist.

68. Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel stellt der Gerichtshof fest, dass das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Rechtsprechung das anwaltliche Berufsgeheimnis schützen, indem unter bestimmten Umständen für Rechtsanwälte eine Ausnahme von der genannten Pflicht, als Zeuge in einem Strafverfahren auszusagen, vorgesehen ist. Gemäß § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO sind Rechtsanwälte grundsätzlich zur Verweigerung des Zeugnisses über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekannt geworden ist, berechtigt (siehe Rdnr. 26, oben). Nach Absatz 2 dieser Bestimmungen sind Rechtsanwälte jedoch nicht mehr zur Zeugnisverweigerung berechtigt, wenn sie von ihrem Mandanten, dessen Schutz diese Verschwiegenheitsverpflichtung ja gerade dient, von ihrer Schweigepflicht entbunden worden sind.

69. Die vorliegende Rechtssache wirft daher lediglich die Frage auf, ob die Einschränkungen des Umfangs des anwaltlichen Berufsgeheimnisses nach der Strafprozessordnung, wie sie im vorliegenden Fall von den innerstaatlichen Gerichten ausgelegt und angewendet wurde, als verhältnismäßig anzusehen sind. Dies spricht für einen recht weiten Ermessensspielraum. Der Gerichtshof stellt diesbezüglich fest, dass die innerstaatlichen Gerichte im Kern der Auffassung waren, dass die Mandanten der Kanzlei des Beschwerdeführers im vorliegenden Fall lediglich die vier Unternehmen gewesen waren, die mit der Kanzlei einen Rechtsberatungsvertrag geschlossen hatten, nicht jedoch die einzelnen Geschäftsführer, die die Unternehmen zum fraglichen Zeitpunkt vertreten hatten. Nach Ansicht der innerstaatlichen Gerichte hatte der Beschwerdeführer daher kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr in dem Strafverfahren, nachdem die derzeitigen Vertreter der Unternehmen auf die Vertraulichkeit verzichtet hatten.

70. Insofern als die Schwere der streitgegenständlichen Sanktion ebenso maßgeblich für die Verhältnismäßigkeit der angegriffenen Maßnahme ist, stellt der Gerichtshof außerdem fest, dass ein Ordnungsgeld in Höhe von 600 EUR zwar nicht ganz unerheblich ist, aber unter Berücksichtigung der auf dem Spiel stehenden Interessen nicht als übermäßig erachtet werden kann.

71. Der Gerichtshof übersieht außerdem nicht die Tatsache, dass gegen den Beschwerdeführer nach dieser Sanktion auch Haft hätte angeordnet werden können, um seine Zeugenaussage zu erzwingen (§ 70 Abs. 2 StPO, siehe Rdnr. 27, oben). Das innerstaatliche Recht enthielt jedoch ausreichende Sicherungen im Hinblick auf die Höchstdauer einer solchen Haft (bezüglich solcher Sicherungen siehe auch Van der Heijden, a. a. O., Rdnr. 77). So konnte eine solche Haft weder über die Zeit der Beendigung des Verfahrens in dem jeweiligen Rechtszug hinaus noch über die Zeit von sechs Monaten für dieselbe Tat angeordnet werden, siehe § 70 Abs. 2 und Abs. 4 StPO).

72. Darüber hinaus verweist der Gerichtshof auf seine obige Feststellung (siehe Rdnr. 59), dass der Beschwerdeführer durch seine Zeugenaussage vor dem Landgericht in dem Strafverfahren gegen die früheren Geschäftsführer der vier Unternehmen keinem tatsächlichen Risiko, der Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 StGB für schuldig befunden zu werden, ausgesetzt war (siehe Rdnr. 28, oben).

73. Letztlich ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die von den innerstaatlichen Gerichten zur Rechtfertigung des Eingriffs angeführten Gründe „erheblich und ausreichend” waren, wie dies erforderlich ist, damit der Eingriff als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ erachtet werden kann. Wie oben dargelegt (siehe Rdnrn. 16-22 und 56), begründeten die innerstaatlichen Gerichte ihre Ordnungsgeldbeschlüsse ausführlich und erläuterten in diesem Zusammenhang ihren Standpunkt zur Reichweite des Berufsgeheimnisses und ihre Auslegung war aus den oben dargelegten Gründen hinreichend präzise formuliert, um den Beschwerdeführer in die Lage zu versetzen, sein Verhalten daran auszurichten (siehe Rdnr. 58, oben).

74. Dementsprechend ist der gerügte Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Korrespondenz und seines Privatlebens als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zu erachten. Er war daher im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 gerechtfertigt.

75. Daher ist Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF:

1. einstimmig, dass er die Individualbeschwerde für zulässig erklärt;

2. mit sechs Stimmen zu einer, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden ist.

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 19. November 2020 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Victor Soloveytchik                             Síofra O’Leary
Sektionskanzler                                    Präsidentin

__________

Gemäß Artikel 45 Abs. 2 der Konvention und Artikel 74 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die abweichende Meinung der Richterin Yudkivska beigefügt:

S.O.L.
V.S.

ABWEICHENDE MEINUNG DER RICHTERIN YUDKIVSKA

In den dunklen Tagen des Russischen Zarenreiches wurde der Rechtsanwalt Fyodor Plevako zum Inbegriff höchster juristischer Professionalität. Er erklärte mit den folgenden Worten, worin die Herausforderung des Anwaltsberufs bestehe: „Hinter dem Staatsanwalt steht ein schweigendes, kaltes, unerschütterliches Gesetz, hinter dem Verteidiger hingegen steht ein menschliches Wesen mit seinem Schicksal, seinen Wünschen und Bedürfnissen; und dieses menschliche Wesen erklimmt die Schultern seines Verteidigers und sucht dessen Schutz; und es ist beängstigend, mit dieser Last auszurutschen!”[1].

Für unseren Beschwerdeführer Herrn M., dem die vier Geschäftsführer der vier ihn mandatiert habenden Unternehmen, ihre „Wünsche und Bedürfnisse“ anvertraut hatten, war es ebenso beängstigend, „auszurutschen” – d. h. berufsethisch einen Fehler zu begehen, in einer Situation, in der gegen diese Personen, die ihr Vertrauen in ihn gesetzt hatten, strafrechtlich ermittelt wurde.

Ich vertrete bei allem Respekt eine abweichende Meinung von der mehrheitlich getroffenen Feststellung, dass die Verhängung eines Ordnungsgelds gegen den Beschwerdeführer aufgrund seiner Weigerung, im Strafverfahren gegen die Geschäftsführer der ihn mandatiert habenden Unternehmen als Zeuge auszusagen, keine Verletzung von Artikel 8 darstellten.

Ich glaube vor allem aus zwei Gründen, dass dies eine solche Verletzung darstellte:

Erstens stimme ich der Ansicht, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen war, nicht zu. Es wurde mehrheitlich festgestellt, dass es voneinander abweichende Auslegungen von § 53 StPO durch verschiedene Oberlandesgerichte gab. Mit anderen Worten: Der Beschwerdeführer hatte eine heikle Entscheidung in einer Situation zu treffen, in der Gerichte derselben Instanz in unterschiedlichen Regionen entgegengesetzte Ansätze zu dieser Frage vertraten. Es wurde mehrheitlich hingenommen, dass „diese Situation sich von derjenigen unterschied, die der Mehrheit der Fälle zugrunde lag, die im Hinblick auf unterschiedliche Rechtsprechung durch dasselbe oberste Gericht eine Frage nach der Konvention aufgeworfen hatten“, und dass es hier die Aufgabe des Bundesgerichtshofs war, zu dem der Beschwerdeführer jedoch keinen Zugang hatte, den zu verfolgenden Ansatz darzulegen (Rdnr. 54 des Urteils). Dennoch war die Konsistenz der Rechtsprechung in der Region des Beschwerdeführers nach deren Sichtweise ausreichend, um das Gesetz vorhersehbar zu machen.

Ich kann diese Ansicht nicht teilen. Eine Situation, in der Rechtsanwälten im demselben Staat in vergleichbaren Situationen lediglich abhängig von der örtlichen Zuständigkeit des das betreffende Verfahren führenden Gerichts ein Zeugnisverweigerungsrecht zustand oder eben nicht (wobei ja zumindest theoretisch die Möglichkeit bestand, dass der Fall – aus welchen Gründen auch immer – an einen anderen Gerichtsbezirk oder an ein höheres Gericht verwiesen werden könnte) schafft einen Zustand offensichtlicher Rechtsunsicherheit, der nicht mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit vereinbar ist.

Der US-amerikanische Supreme Court hat es in der Rechtssache Upjohn Company [2] so formuliert:

„Wenn dem Zweck des Berufsgeheimnisses eines Rechtsanwalts im Verhältnis zu seinen Mandanten Rechnung getragen werden soll, so müssen der Anwalt und der Mandant in der Lage sein, mit einem gewissen Grad an Sicherheit vorherzusehen, ob bestimmte Gespräche geschützt sind. Ein unsicheres Berufsgeheimnis oder ein solches, das vorgibt, sicher zu sein, aber zu großen Abweichungen in der Anwendung durch die Gerichte führt, ist kaum besser als gar kein Berufsgeheimnis.”

Im vorliegenden Fall haben wir es gerade mit einem solchen „unsicheren Berufsgeheimnis“ zu tun.

Das in Rdnr. 59 angeführte Argument, dass „der Beschwerdeführer jedenfalls schuldlos gehandelt hätte“, ändert nichts an der Unvorhersehbarkeit des Gesetzes, und, was noch wesentlich gravierender ist, es befreit den Beschwerdeführer nicht von dem berufsethischen Dilemma, in dem er sich sah, und von der Gefahr, „mit einer solchen Last auszurutschen”. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Eingriff in das Berufsgeheimnis dort, „wo ein Rechtsanwalt betroffen ist, Auswirkungen auf eine ordnungsgemäße Rechtspflege haben kann … Zudem war die mit der Sache einhergehende öffentliche Aufmerksamkeit sicherlich in der Lage, das berufliche Ansehen des Beschwerdeführers zu beeinträchtigen, sowohl in den Augen seiner bestehenden Mandanten als auch in den Augen der allgemeinen Öffentlichkeit”[3].

Damit komme ich zu einer anderen, weitaus bedeutenderen Frage, die der vorliegende Fall aufwirft, nämlich, ob der gerügte Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

Unter Verweis auf einen weiten Ermessensspielraum, auf die Beschlüsse der innerstaatlichen Gerichte sowie auf die fehlende Schwere der Sanktion (wenngleich Haft vorgesehen gewesen war – siehe Rdnrn. 25 und 71 des Urteils), wurde der Eingriff mehrheitlich als verhältnismäßig erachtet, wobei hier erneut betont wurde, dass der Beschwerdeführer „keinem tatsächlichen Risiko, der Verletzung von Privatgeheimnissen nach § 203 StGB für schuldig befunden zu werden, ausgesetzt war” (siehe Rdnr. 72 des Urteils).

Ich finde es sehr bedauerlich, dass diese eingeschränkte Sichtweise dazu geführt hat, dass die Mehrheit den eigentlichen Sinn und Zweck des Berufsgeheimnisses im Verhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinem Mandanten gar nicht in den Blick genommen und darauf verzichtet hat, dessen Umfang im vorliegenden Fall sorgfältig abzustecken.

Dieser Gerichtshof hat schon häufig festgestellt, dass das Verhältnis zwischen einem Rechtsanwalt und seinen Mandanten grundsätzlich vertraulich ist[4], und dass die vertrauliche Kommunikation mit dem eigenen Rechtsanwalt als ein wichtiges Mittel zur Sicherstellung des Rechts, sich selbst zu verteidigen, durch die Konvention geschützt ist[5]. Der US-amerikanische Supreme Court hat auch zum Ausdruck gebracht, dass das rechtsanwaltliche Berufsgeheimnis eines der ältesten im Common-Law-System anerkannten Privilegien zum Schutz vertraulicher Kommunikation ist, das „sowohl von einer natürlichen Person als auch von einer juristischen Person, einschließlich eines Unternehmens, in Anspruch genommen werden kann”[6]. Seiner Auffassung nach soll dieses Privileg eine „umfassende und ehrliche Kommunikation zwischen Rechtsanwälten und ihren Mandanten fördern und damit das allgemeine öffentliche Interesse an der Einhaltung der Gesetze und der Rechtspflege stärken”[7].

Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer vier Unternehmen zu verschiedenen Geschäften rechtlich beraten, bevor diese insolvent wurden. Er argumentierte – und gab damit auch den Standpunkt einer Reihe deutscher Oberlandesgerichte in dieser Frage wieder (siehe Rdnr. 19 des Urteils) –, dass er zwar formal juristische Personen vertreten habe, dass aber nur natürliche Personen, d. h. die Geschäftsführer der Unternehmen, in der Lage gewesen seien, im Namen der Unternehmen zu handeln und damit de facto seine Mandaten gewesen seien. Dies lässt sich kaum bestreiten: Das Unternehmen als eine „Person“ im übertragenen Sinne kann nicht eigenständig handeln, sämtliche seiner Handlungen, auch die Kommunikation mit einem Anwalt, werden von physischen „Personen“, – seinen Mitarbeitern – vorgenommen. Menschliche Mandanten haben eine unteilbare Identität, die Identität eines Unternehmens hingegen unterscheidet sich von der Identität desjenigen, durch den es kommuniziert. Diese Aufspaltung sollte anerkannt werden, wenn das anwaltliche Berufsgeheimnis auf dem Spiel steht, das Berufsgeheimnis sollte sich also sowohl auf das Unternehmen als Mandanten erstrecken als auch auf die natürliche Person, durch die es kommuniziert (ein Vorstandsmitglied oder einen Geschäftsführer), die im Namen des Unternehmens handelt und dessen Willen zum Ausdruck bringt. Dies nicht so zu handhaben, d. h. den Geschäftsführer vom Berufsgeheimnis auszunehmen, würde der Logik und dem Geist dieses Berufsgeheimnisses zuwiderlaufen und der Natur einer juristischen Person nicht Rechnung tragen.

Dieser Grundgedanke wurde von Richter Lord Denning in Bolton (Engineering) Co. Ltd. auf elegante Weise wie folgt formuliert[8]:

„Ein Unternehmen lässt sich in vielerlei Hinsicht mit dem menschlichen Körper vergleichen. Dieser verfügt über ein Gehirn und Nervenzentrum, das sein Tun steuert. Und er hat Hände, die die Werkzeuge halten und im Einklang mit den Befehlen aus dem Zentrum handeln. Einige der Menschen in einem Unternehmen sind reine Handlanger und Befehlsempfänger, die nicht mehr sind als Hände, die die Arbeit verrichten, und von denen nicht gesagt werden kann, dass sie den Geist oder den Willen repräsentieren. Andere sind Direktoren und Geschäftsführer, die den leitenden Geist und den Willen des Unternehmens repräsentieren und sein Handeln steuern. Die Geisteshaltung dieser Geschäftsführer ist die Geisteshaltung des Unternehmens und wird durch das Gesetz auch dementsprechend behandelt.”

Auch amerikanische Gerichte vertreten diese Ansicht[9]:

„Ist der Mitarbeiter, der die Kommunikation ausführt, unabhängig davon, welche Stellung er innehat, in der Lage, eine Entscheidung über eine Handlung, die das Unternehmen auf Anraten des Rechtsanwalts eventuell ausführt, zu steuern oder sogar zu einem wesentlichen Anteil zu treffen, … dann ist (bzw. personifiziert) er gleichsam das Unternehmen, wenn er dem Rechtsanwalt gegenüber etwas offenbart, und das Berufsgeheimnis greift.”

Offenbar entspricht diese Auffassung auch der ständigen Rechtsprechung einer Reihe von Oberlandesgerichten in Deutschland.

Als Rechtsanwalt, der die Unternehmen in geschäftlichen Fragen beriet, musste der Beschwerdeführer vielleicht verschiedene Aufgaben auf dem Gebiet des Handelsrechts, des Wettbewerbsrechts oder auf anderen Rechtsgebieten ausführen, die ganz sicher von Belang für die Geschäftspolitik der Unternehmen waren. Wenn Unternehmen seinen Rat suchten, so gaben sie ihm Informationen, auf deren Grundlage seine Beratung erfolgen musste. Aber wer lieferte diese Informationen: eine Person im übertragenen Sinn oder eine physische Person? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Kommunikation erfolgte zwischen physischen Personen. Damit ergibt sich ein ganz entscheidendes Problem: Diese Kommunikation könnte sowohl für die juristischen Personen als auch für deren Geschäftsführer Konsequenzen haben. Angesichts der Rolle letzterer bei der Entscheidungsfindung ist es selbstverständlich, dass die Frage nach deren persönlicher Haftung im Raum steht, sobald sie eine falsche Entscheidung treffen. Wenn sie sich dann wie im vorliegenden Fall strafrechtlich verantworten müssen, überschneidet sich die rechtliche Beratung für die Unternehmen ganz eindeutig mit derjenigen für die Geschäftsführer selbst. Somit erstreckt sich das für diese Kommunikation gewährte Berufsgeheimnis sowohl auf die Unternehmen als auch auf diejenigen, die die Kommunikation führen, nämlich die Geschäftsführer. Wie die deutschen Oberlandesgerichte richtig angemerkt haben, kann es unter normalen Umständen nicht ausgeschlossen werden, dass der Rechtsanwalt im Rahmen seines Mandatsverhältnisses neben Geheimnissen des Unternehmens auch Kenntnis von persönlichen Geheimnissen des Geschäftsführers, der das Unternehmen zur fraglichen Zeit vertreten hat, erlangt hat (siehe Rdnr. 19).

Der Supreme Court des australischen New South Wales formuliert dies so[10]:

„das mit der rechtlichen Beratung verbundene Berufsgeheimnis, von dem ein Unternehmen profitiert, geht nicht verloren, wenn die Beratung den Direktoren gegenüber erfolgt, wobei der Grund hierfür nicht etwa deren gemeinsame Interessen sind. Vielmehr ist es so, dass das Unternehmen seine Handlungen und Absichten nur durch die Handlungen und Erklärungen von Menschen manifestieren kann.”

Diese Beziehung stärkte das Vertrauen und die Loyalität im Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und den Geschäftsführern seiner Mandanten. Aufgrund des Berufsgeheimnisses konnten die Geschäftsführer sichergehen, dass die Informationen, die sie dem Beschwerdeführer gegenüber kommunizierten, nicht später gegen sie verwendet werden würden. In dem Moment, in dem sie verdächtigt wurden, trat ihr Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, in den Vordergrund.

Es fällt daher schwer, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen, dass in diesem Bereich ein weiter Ermessensspielraum zu gewähren sei (siehe Rdnr. 69 des Urteils): Der Gerichtshof hat stets postuliert, dass der Ermessensspielraum relativ eng sein müsse, wenn das betroffene Recht entscheidend dafür ist, dass das Individuum in den tatsächlichen Genuss grundlegender Rechte kommt[11], und das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, wurde vom Gerichtshof im Zusammenhang mit dem nach Artikel 6 der Konvention gewährleisteten Recht, sich selbst zu verteidigen, als zentral erachtet[12].

Das belgische Verfassungsgericht beispielsweise hat diesen Zusammenhang zwischen dem anwaltlichen Berufsgeheimnis und dem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, hervorgehoben, indem es eine Bestimmung außer Kraft setzte, in der die Bedingungen geregelt waren, unter denen ein Berufsgeheimnisträger in bestimmten Fällen (Straftaten gegen Minderjährige und schutzbedürftige Personen) seine Schweigepflicht außer Acht lassen darf. Dieses Gericht stellte fest[13]:

„Hinsichtlich vertraulicher Informationen, die von Mandanten [von Rechtsanwälten] übermittelt wurden und diese Mandanten voraussichtlich belasten würden, bezog sich das Recht von Anwälten, nicht von ihrem Berufsgeheimnis Gebrauch zu machen, auf Aktivitäten, die bei ihrer Rolle der Verteidigung im Strafverfahren von zentraler Bedeutung waren. So sollte die Verschwiegenheitsverpflichtung von Berufsgeheimnistärgern nur dann aufgegeben werden, wenn dies durch zwingende Gründe von allgemeinem Interesse zu rechtfertigen war und die Aufhebung der Schweigepflicht in Bezug auf diesen Zweck eindeutig verhältnismäßig war.”

Im vorliegenden Fall hat eine solch sorgfältige Beurteilung der Verhältnismäßigkeit nicht stattgefunden. Obwohl die Belange des öffentlichen Interesses nach Auffassung dieses Gerichtshofs Maßnahmen nicht rechtfertigen können, die Verteidigungsrechte, einschließlich des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit, in ihrem Wesensgehalt aushöhlen[14], hat die Mehrheit im vorliegenden Fall keine sorgsam erwogenen Gründe dafür angegeben, warum sie der Ansicht ist, dass der in Rede stehende Eingriff im Interesse der Justiz geschah und dieses Interesse stärker wog als die Verteidigungsrechte der Geschäftsführer.

Interessanterweise hat die Mehrheit im Zusammenhang mit der Abwägung verschiedener auf dem Spiel stehender Interessen in Rdnr. 67 auf die Rechtssache Wieser und Bicos Beteiligungen GmbH ./. Österreich (Individualbeschwerde Nr. 74336/01, ECHR 2007‑IV) verwiesen. In dieser Rechtssache kam der Gerichtshof jedoch zu einer gegenteiligen Schlussfolgerung. Dort hatten die innerstaatlichen Gerichte vorgebracht, der erste Beschwerdeführer (ein Rechtsanwalt) sei nicht der Anwalt des beschwerdeführenden Unternehmens gewesen und die beschlagnahmten Daten hätten deren Mandatsverhältnis nicht betroffen. Jedoch genügte allein die Tatsache, dass der erste Beschwerdeführer als Rechtsanwalt für Unternehmen tätig gewesen war, an denen das beschwerdeführende Unternehmen Anteile hielt, für die Schlussfolgerung, dass seine Kommunikation mit dem Anteilseigner seiner Mandanten (das beschwerdeführende Unternehmen) unter das anwaltliche Berufsgeheimnis fiel (ebd., Rdnr. 65).

Angesichts dessen, dass die Geschäftsführer in der vorliegenden Rechtssache, die der Beschwerdeführer bei verschiedenen Geschäften unterstützt hatte, danach hinsichtlich eben dieser Geschäfte angeklagt wurden, bin ich nicht in der Lage, die Interessen dieser Geschäftsführer von denen der von ihnen vertretenen Unternehmen zu trennen. Die Kommunikation zwischen ihnen und dem Beschwerdeführer war zweifellos durch das anwaltliche Berufsgeheimnis gedeckt.

Ich bin daher der Ansicht, dass die Weigerung, in dem Verfahren gegen die früheren Geschäftsführer auszusagen, nachdem drei (von vier) von ihnen einer Schweigepflichtentbindung des Beschwerdeführers nicht zugestimmt hatten, ein Höchstmaß an Treue zum Anwaltsberuf und an Selbstverpflichtung zu berufsethischen Grundsätzen widerspiegelt.

Daher überschritten die Behörden ihren Ermessenspielraum, indem sie ihn wegen seiner Zeugnisverweigerung bestraften. Folglich ist Artikel 8 verletzt worden.

___________

[1] Siehe Plevako F., N. Izbrannye rechi. – M. : Jurait, 2017, T.1, S. .30.

[2] Upjohn Company ./. die Vereinigten Staaten, 449 U.S. 383, 393, 101 S. Ct. 677 (1981), Hervorhebung hinzugefügt.

[3] Siehe N. ./. Deutschland, 16. Dezember 1992, Rdnr. 37, Serie A Nr. 251‑B.

[4] Siehe Campbell ./. das Vereinigte Königreich, 25. März 1992, Rdnr. 46, Serie A Nr. 233.

[5] Siehe Apostu ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 22765/12, Rdnr. 96, 3. Februar 2015.

[6] Siehe Upjohn Company ./.die Vereinigten Staaten, 449 U.S. 383, 389, 101 S. Ct. 677 (1981).677 (1981).

[7] Ebenda

[8] H L Bolton (Engineering) Co. Ltd. ./. T. J. Graham & Sons Ltd. [1957] 1 Q.B. 159, Hervorhebung hinzugefügt.

[9] City of Philadelphia ./. Westinghouse Electric Corp., 210 F. Supp. 483,485 (E.D. Pa. 1962), Hervorhebung hinzugefügt.

[10] Farrow Mortgage Services PL (In Liqn) ./. Webb und andere [1996] NSWSC 259 (5. Juli 1996), Hervorhebung hinzugefügt.

[11] Siehe z. B. S. und Marper ./. das Vereingte Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 30562/04 und 30566/04, Rdnr. 102, ECHR 2008.

[12] Siehe Van der Heijden ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerde Nr. 42857/05, Rdnr. 64, 3. April 2012.

[13] Gw.H., Nr. 127/2013, 26. September 2013.

[14] Siehe J. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 54810/00, Rdnr. 97, ECHR 2006‑IX.

Zuletzt aktualisiert am Juli 13, 2021 von eurogesetze

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