Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE A. ./. DEUTSCHLAND (Nr. 6)
(Individualbeschwerde Nr. 3779/11)
URTEIL
STRASSBURG
18. Oktober 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe von Artikel 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache A. ./. Deutschland (Nr. 6)
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 25. September 2018
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 3779/11) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, A. („der Beschwerdeführer“), am 10. Januar 2011 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn E., Rechtsanwalt in P., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer behauptete insbesondere, die strafrechtliche Verurteilung wegen seiner Äußerungen in einer Pressemeldung habe ihn in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt.
4. Am 20. Juni 2016 wurde die Artikel 10 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.
5. Die Asociatia Medicilor Catolici din Bucaresti (AMCB), die vom Vizepräsidenten zur Teilnahme am schriftlichen Verfahren ermächtigt worden war, gab eine Stellungnahme als Drittbeteiligte ab (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
A. Der Hintergrund der Rechtssache
6. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in W. Er ist ein Abtreibungsgegner und betreibt eine Anti-Abtreibungs-Website.
7. Im Dezember 2007 gab es eine anhaltende öffentliche Debatte über die Entwicklungen in der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen. Im Rahmen dieser Debatte äußerte der katholische Bischof F. Kritik an der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen und eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universität Bonn antwortete auf diese Kritik. Am 13. Dezember 2007 gab Bischof F. eine Pressemitteilung heraus, in der er Vorwürfe zurückwies, seine vorherigen Äußerungen hätten den in der Forschung an embryonalen Stammzellen tätigen Wissenschaftlern eine Nähe zu den Nationalsozialisten und ihren Menschenversuchen unterstellt. Er betonte, dass es ihm völlig fern liege, die Wissenschaftler in dieser Weise zu diffamieren, bekräftigte aber, dass er in solch wichtigen ethischen Fragen eine kritische Auseinandersetzung für unabdingbar halte. Er habe keinesfalls unterstellen wollen, dass zwischen der Stammzellenforschung und dem ideologischen und historischen Kontext der durch keinen Vergleich zu relativierenden Verbrechen des menschenverachtenden nationalsozialistischen Systems ein Zusammenhang bestehe.
8. Am 18. Dezember 2007 gab der Beschwerdeführer für seine Initiative X. unter der Überschrift
„Getroffene Hunde bellen! Stammzellenforschung in Deutschland“
eine Pressemeldung heraus.
Sie wurde im Internet veröffentlicht und als Faltblatt verteilt. In der Pressemeldung hieß es:
„Die Initiative X. und die Christlich-Soziale-Arbeitsgemeinschaft in Österreich widersprechen der Pressemeldung der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn vom 13. Dezember 2007, zu der sich 18 namhafte Professoren bekannten. Die Professoren sahen sich durch die Äußerung von Bischof F. [Abkürzung durch den Gerichtshof], der die heutige Stammzellenforschung in die Nähe zu den Menschenversuchen der Nationalsozialisten stellte, beleidigt.
Den Professoren ist scheinbar nicht mehr bewusst, dass die Menschenversuche in der Nazi-Zeit von willigen Ärzten und Wissenschaftlern durchgeführt wurden. Diese haben damals ihre Forschungsarbeit auch nur „zum Wohle der Menschen“ durchgeführt, sie waren aber offensichtlich dem Schergenstaat hörig und damit dienlich.
Die Forschungsarbeiten in der NS-Zeit fanden in einem späteren Lebensabschnitt des Menschen statt.
Die Forschungsarbeiten, die man heute durchführt, finden bereits in einem früheren Lebensabschnitt des Menschen statt.
Wollen die Professoren das Recht auf Leben des Menschen auf seine Nützlichkeit einstufen? Die Würde des Menschen hängt doch nicht vom Fortschritt einer Wachstumsphase ab, in der es dann erlaubt ist, nach Belieben zu experimentieren.
Die Professoren können sich drehen und wenden, wie sie wollen. Mord ist Mord, egal in welchem Stadium das Leben eines Menschen vernichtet wird. Es rechtfertigt auch moralisch nicht, mit „Menschenmaterial“ zu arbeiten, auch wenn andere diese Auftragsmorde begangen haben.
Bischof F. [Abkürzung durch den Gerichtshof] hat den richtigen Ton getroffen, der wohl auch direkt an Prof. Dr. B. [Abkürzung durch den Gerichtshof] gerichtet war.
Prof. Dr. B. forscht an einer Universität mit Embryonen, an Menschen also, die in Israel ermordet und dann für viele Euros nach Deutschland verkauft wurden.
In der NS-Zeit haben Wissenschaftler in Deutschland an Juden Forschungsarbeiten durchgeführt und sie anschließend ermordet.
Heute werden in Israel ungeborene Kinder mosaisch gläubiger Menschen, Juden also, ermordet und dann zum Zwecke der Forschung an das „christliche“ Deutschland verkauft. Und das alles mit Zustimmung der Staaten Israel und Deutschland!
Bischof F. hat Recht, wenn er diesen Vergleich setzt!
Die demokratischen Verbrechen in unserer Zeit müssen mit harter Sprache angeprangert und ins Bewusstsein der Menschen gerufen werden.
Der Geist von Auschwitz muss endlich überwunden werden!!“
B. Das Strafverfahren
9. Am 12. November 2008 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von dreißig Tagessätzen zu je 15 Euro. In dem Urteil erkannte das Amtsgericht das Recht des Beschwerdeführers an, in freier Meinungsäußerung seine Auffassung zu vertreten, dass die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle den Beginn menschlichen Lebens darstelle und dass die Forschung an importierten Stammzellen aus abgetriebenen Embryos mit der Vernichtung menschlichen Lebens einhergehe. Das Gericht unterstrich ferner, dass es als Betätigung freier Meinungsäußerung grundrechtlich geschützt sei, wenn der Beschwerdeführer seine Ansicht plakativ und pointiert auch in Form der Schmähkritik gegen namentlich benannte und bekannte Forscher äußere. Aus Sicht des Gerichts überschritt die Pressemeldung in ihrer Gesamtheit aber die Grenzen noch zulässiger Schmähkritik. Das Gericht gründete diese Feststellung darauf, dass sich die Unterstellung, die Wissenschaftler hätten sich nicht nur des Mordes schuldig gemacht, sondern dabei auch noch aus zutiefst verachtenswerten Motiven gehandelt, wie ein roter Faden durch die Pressemeldung ziehe, welche in der Schlussfolgerung gipfele, dass „[d]er Geist von Auschwitz […] endlich überwunden werden“ müsse. Es schloss, der Beschwerdeführer habe den sich mit Stammzellenforschung beschäftigenden Wissenschaftlern dieselben verbrecherischen, sadistischen und menschenverachtenden Motive unterstellen wollen wie den Verantwortlichen für die unvorstellbar grausamen, massenhaften Menschenversuche etwa durch Mengele in Auschwitz. Als Arzt und Wissenschaftler sei diese Unterstellung für Prof. Dr. B. in höchstem Maße beleidigend gewesen.
10. Am 26. März 2009 wies das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Das Landgericht erkannte ebenso wie das Amtsgericht an, dass der Beschwerdeführer zur freien Meinungsäußerung berechtigt und seine Pressemeldung ein Beitrag zu einer Debatte von großem öffentlichem Interesse gewesen sei. Es stellte ferner fest, dass die Äußerungen in der Pressemeldung überwiegend Werturteile dargestellt hätten und die Meldung daher nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Werturteil einzuordnen sei. Dass Gericht führte aus, dass die freie Meinungsäußerung dennoch nicht vorbehaltlos gewährt werde, sondern ihre Grenzen u. a. im Recht der persönlichen Ehre finde. Bei der Prüfung von Beiträgen zu einer Debatte von öffentlichem Interesse müsse jedoch eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede sprechen. Das Landgericht befand ferner, dass die Merkmale für eine Schmähkritik nicht vorgelegen hätten. Eine überzogene oder gar ausfällige Kritik sei nicht zwingend eine Schmähung. Maßgeblich sei vielmehr, ob bei der Kritik nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund gestanden habe. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass dies bei dem in Rede stehenden Fall nicht gegeben sei, da aus dem bisherigen Verhalten des Beschwerdeführers und dem Inhalt des Flugblatts erkennbar sei, dass „die Sache“ und nicht die Person des angegriffenen Arztes im Vordergrund gestanden habe. Es befand, dass demnach eine Abwägung zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem gesetzlich geschützten Persönlichkeitsrecht von Prof. Dr. B. erfolgen müsse und hob hervor, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung alle Meinungsäußerungen gleichermaßen schütze, unabhängig davon, ob sie wertvoll, wertlos, richtig, falsch, emotional, rational oder sogar polemisch oder verletzend seien. Das Landgericht berücksichtigte, dass die Pressemitteilung einen Beitrag des Beschwerdeführers zur öffentlichen Meinungsbildung dargestellt habe, war aber der Ansicht, dass die persönliche Namensnennung von Prof. Dr. B. einer Gleichsetzung seines beruflichen Verhaltens mit den nationalsozialistischen Gräueltaten gleichkomme. Es schloss, dass darin eine schwerwiegende Persönlichkeitsverletzung gelegen habe, die überdies unnötig gewesen sei, weil der Beschwerdeführer seinen Beitrag zur Meinungsbildung auch ohne namentliche Nennung des Professors hätte leisten können.
11. Am 15. Februar 2010 verwarf das Oberlandesgericht die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet und am 6. Juli 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die von dem Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 827/10).
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT
12. Die einschlägige Bestimmung des Grundgesetzes lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
Artikel 5
„(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. […]
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“
13. Die maßgeblichen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs lauten wie folgt:
§ 185
Beleidigung
„Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 10 DER KONVENTION
14. Der Beschwerdeführer rügte, dass er durch die strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention verletzt worden sei; dieser lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […]“
15. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
16. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
17. Der Beschwerdeführer trug vor, dass seine Pressemeldung ein Beitrag zu einer Debatte von großem öffentlichem Interesse gewesen sei und nicht darauf abgezielt habe, Prof. Dr. B. persönlich anzugreifen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten zwar anerkannt, dass der Beschwerdeführer sich auf „die Sache“ konzentriert habe, und klargestellt, dass er keine Schmähkritik eingesetzt habe, gleichwohl hätten sie durch eine Fehlinterpretation seine tatsächlichen Äußerungen als eine über den eigentlichen Inhalt seiner Pressemeldung hinausgehende Beleidigung im Hinblick auf Prof. Dr. B. ausgelegt. Der Beschwerdeführer machte ferner geltend, die Gerichte hätten nicht hinreichend berücksichtigt, dass Prof. Dr. B. sich an der öffentlichen Debatte beteiligt habe und als inoffizieller Sprecher der in Deutschland tätigen Stammzellenforscher aufgetreten sei. Somit seien eine schärfere Kritik und seine namentliche Nennung gerechtfertigt gewesen.
18. Die Regierung erkannte an, dass die strafrechtliche Verurteilung einen Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers dargestellt hatte. Allerdings habe dieser Eingriff seine gesetzliche Grundlage in § 185 StGB gehabt, durch den das Persönlichkeitsrecht und der gute Ruf von Prof. Dr. B. geschützt worden sei, und sei in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen. Die innerstaatlichen Gerichte hätten nach der Auswertung des Wortlauts der Pressemeldung diese nachvollziehbar dahingehend ausgelegt, dass in ihr geäußert werde, die von Prof. Dr. B. vorgenommene Stammzellenforschung komme den während der Nazizeit von Wissenschaftlern durchgeführten Menschenversuchen gleich. Nach einer Abwägung der Interessen des Beschwerdeführers gegenüber den Rechten von Prof. Dr. B. seien die Gerichte schlussendlich zu dem Ergebnis gelangt, dass Prof. Dr. B.s Persönlichkeitsrecht der Vorrang einzuräumen sei. Bei dieser Interessenabwägung hätten die Gerichte berücksichtigt, dass die Pressemeldung des Beschwerdeführers durch das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt gewesen sei, dass er berechtigt gewesen sei, beleidigende Kritik zu äußern, und dass er zu einer öffentlichen Debatte beigetragen habe. Sie hätten in ihre Betrachtung aber auch den historischen und sozialen Kontext des Vergleichs, die Schwere der Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Prof. Dr. B. und den Umstand einbezogen, dass der Beschwerdeführer auch ohne namentliche Nennung des besagten Professors einen ebenso wichtigen oder herausragenden Debattenbeitrag hätte leisten können. Der Regierung zufolge haben die Gerichte die Rechte des Beschwerdeführers folglich angemessen berücksichtigt und sich bei ihrer Entscheidung innerhalb des Beurteilungsspielraums bewegt, den der Gerichtshof den nationalen Stellen zubilligt.
2. Vorbringen der Drittbeteiligten
19. Die Drittbeteiligte AMCB brachte vor, dass die Konvention Äußerungen, die zu einer öffentlichen Debatte beitragen, unter besonderen Schutz stelle. Da Nichtregierungsorganisationen in einer demokratischen Gesellschaft überdies eine mit der Presse vergleichbare Funktion als „public watchdogs“ innehätten, bedürften ihre Äußerungen sogar eines verstärkten Schutzes nach Artikel 10 der Konvention. Dies gelte ebenso für informelle Vereinigungen, die unpopuläre Überzeugungen oder Minderheitenansichten zum Ausdruck bringen würden. Der Schutz von Artikel 10 erstrecke sich auch auf Ideen, die beleidigten, schockierten oder verstörten, und die ihre Überzeugung zum Ausdruck bringende Person habe das Recht, den hierfür wirksamsten Weg zu wählen. Die AMCB argumentierte daher, dass Vergleiche mit dem Holocaust auch unter Einbeziehung des historischen und sozialen Kontexts als legitime Meinungsäußerungen betrachtet werden können.
3. Würdigung durch den Gerichtshof
20. Zunächst stellt der Gerichtshof fest – und dies ist zwischen den Parteien unstrittig –, dass die strafrechtliche Verurteilung in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingriff, dass der Eingriff gesetzlich vorgeschrieben war – nämlich durch § 185 StGB –, und dass er das legitime Ziel verfolgte, den guten Ruf oder die Rechte anderer zu schützen. Es bleibt daher noch festzustellen, ob die Eingriffe „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ waren.
21. Die allgemeinen Grundsätze hinsichtlich der Frage, ob ein Eingriff in die Meinungsfreiheit „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung fest etabliert und jüngst wie folgt zusammengefasst (siehe Delfi AS ./. Estland [GK], Individualbeschwerde Nr. 64569/09, Rdnr. 131, 16. Juni 2015, m. w. N.):
„(i) Die Freiheit der Meinungsäußerung stellt eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft und eine der grundlegenden Bedingungen für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung jedes Einzelnen dar. Vorbehaltlich Artikel 10 Abs. 2 gilt sie nicht nur für „Informationen“ oder „Ideen“, die positiv aufgenommen oder als unschädlich oder belanglos angesehen werden, sondern auch für solche, die beleidigen, schockieren oder verstören. Dies sind die Erfordernisse des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist. Diese Freiheit unterliegt den in Artikel 10 aufgeführten Ausnahmen, […] die jedoch eng auszulegen sind, und die Notwendigkeit einer Einschränkung muss überzeugend nachgewiesen werden […].
(ii) Das Adjektiv „notwendig“ im Sinne von Artikel 10 Abs. 2 impliziert das Bestehen eines „dringenden sozialen Bedürfnisses“. Die Vertragsstaaten haben einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob ein solches Bedürfnis besteht; dieser geht jedoch mit einer europäischen Überwachung einher, die sich sowohl auf die Gesetzgebung bezieht als auch auf die Entscheidungen, in denen sie angewendet wird, auch wenn die Entscheidungen von unabhängigen Gerichten getroffen wurden. Der Gerichtshof ist daher befugt, abschließend darüber zu entscheiden, ob eine „Einschränkung“ mit der durch Artikel 10 geschützten Freiheit der Meinungsäußerung in Einklang zu bringen ist.
(iii) Aufgabe des Gerichtshofs ist es jedoch nicht, bei seiner Überwachung an die Stelle der zuständigen Behörden zu treten; er hat vielmehr die von ihnen im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums getroffenen Entscheidungen nach Artikel 10 zu überprüfen. Das bedeutet nicht, dass sich die Überwachung darauf beschränkt festzustellen, ob der beschwerdegegnerische Staat sein Ermessen vernünftig, sorgfältig und in gutem Glauben ausgeübt hat; vielmehr hat der Gerichtshof den gerügten Eingriff im Lichte des Falles insgesamt zu prüfen und zu entscheiden, ob er „in Bezug auf das verfolgte rechtmäßige Ziel verhältnismäßig“ war und ob die von den innerstaatlichen Stellen zu seiner Rechtfertigung angeführten Gründe „relevant und ausreichend“ sind […]. Dabei muss sich der Gerichtshof davon überzeugen, dass die von den innerstaatlichen Stellen angewendeten Regeln mit den in Artikel 10 enthaltenen Grundsätzen vereinbar sind und dass die sie die erheblichen Tatsachen nachvollziehbar bewertet haben […].“
22. Der Gerichtshof erinnert überdies daran, dass das Recht auf Schutz des guten Rufes durch Artikel 8 der Konvention im Rahmen des Rechts auf Achtung des Privatlebens geschützt ist (siehe Chauvy u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 64915/01, Rdnr. 70, ECHR 2004-VI; Pfeifer ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 12556/03, Rdnr. 35, 15. November 2007; und Polanco Torres und Movilla Polanco ./. Spanien, Individualbeschwerde Nr. 34147/06, Rdnr. 40, 21. September 2010). Um den Anwendungsbereich von Artikel 8 zu eröffnen, muss ein Angriff auf den Ruf einer Person jedoch einen bestimmten Schweregrad erreichen und in einer Art und Weise erfolgen, die die persönliche Wahrnehmung des Rechts auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigt (siehe A. ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 28070/06, Rdnr. 64, 9. April 2009; S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 83, 7. Februar 2012 und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 137).
23. Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung in einer demokratischen Gesellschaft zum „Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer“ notwendig ist, muss der Gerichtshof unter Umständen feststellen, ob die innerstaatlichen Behörden einen gerechten Ausgleich herbeigeführt haben, als es darum ging, zwei durch die Konvention garantierte Werte zu schützen, die in bestimmten Fällen in Konflikt miteinander geraten können, nämlich auf der einen Seite die durch Artikel 10 geschützte Freiheit der Meinungsäußerung und auf der anderen das in Artikel 8 verankerte Recht auf Achtung des Privatlebens (siehe Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 71111/01, Rdnr. 43, 14. Juni 2007; MGN Limited ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 39401/04, Rdnr. 142, 18. Januar 2011; S., a. a. O., Rdnr. 84; und Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 138). In Fällen, in denen das Recht auf Wahrung der Privatsphäre und das Recht auf freie Meinungsäußerung gegeneinander abgewogen werden müssen, sollte nach Auffassung des Gerichtshofs der Ausgang des Beschwerdeverfahrens theoretisch nicht davon abhängen, ob die Beschwerde nach Artikel 8 oder nach Artikel 10 der Konvention beim Gerichtshof erhoben wurde. Tatsächlich verdienen diese Rechte grundsätzlich die gleiche Achtung (siehe H. ./. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnr. 106, ECHR 2012).
24. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass es ungeachtet der Leidenschaftlichkeit, mit der eine politische Auseinandersetzung geführt wird, gerechtfertigt ist, sich um die Sicherstellung eines Minimums an Mäßigung und Anstand zu bemühen, und dass klar zwischen Kritik und Beleidigung unterschieden werden muss. Geht es bei einer bestimmten Form von Äußerung einzig darum, eine Person zu beleidigen, würde eine angemessene Sanktion grundsätzlich nicht gegen Artikel 10 der Konvention verstoßen (siehe Genner ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 55495/08, Rdnr. 36, 12. Januar 2016).
25. Ferner hat der Gerichtshof zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen unterschieden. Die Frage, ob eine Äußerung als Tatsachenbehauptung oder Werturteil einzuordnen ist, liegt in erster Linie innerhalb des Beurteilungsspielraums der innerstaatlichen Stellen, insbesondere der innerstaatlichen Gerichte (siehe Prager und Oberschlick ./. Österreich, 26. April 1995, Rdnr. 36, Serie A Nr. 313). Während das Vorliegen von Tatsachen nachgewiesen werden kann, ist ein Werturteil keinem Wahrheitsbeweis zugänglich. Jedoch bedarf auch eine Äußerung, die ein Werturteil darstellt, einer hinreichenden Tatsachengrundlage; anderenfalls ist sie überzogen (siehe Jerusalem ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 26958/95, Rdnr. 43, ECHR 2001‑II). Bei der Prüfung von Fällen, bei denen es um Werturteile ging, die von den innerstaatlichen Gerichten als diffamierend eingestuft worden waren, hat der Gerichtshof außerdem untersucht, ob die Wortwahl überzogen oder sachlich war und ob die Absicht zutage getreten ist, den Gegner zu diffamieren oder zu stigmatisieren (siehe Genner, a. a. O., Rdnr. 39).
26. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht die Pressemeldung in ihrer Gesamtheit als Werturteil eingestuft hat; er geht daher davon aus, dass die Äußerungen als Werturteile zu betrachten sind.
27. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte den Wortlaut der Pressemeldung so verstanden haben, dass das Verhalten der Stammzellenforscher und insbesondere das Verhalten von Prof. Dr. B. als gleichwertig mit den nationalsozialistischen Gräueltaten angesehen werde. Der Beschwerdeführer trat dieser Auslegung seiner Pressemitteilung entgegen. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die Pressemitteilung des Beschwerdeführers eine Reihe von Vergleichen zwischen der heutigen Stammzellenforschung und den während des Naziregimes vorgenommenen Menschenversuchen enthielt, die in dem Satz gipfelten: „Der Geist von Auschwitz muss endlich überwunden werden!!“ Angesichts dieser Äußerungen sieht der Gerichtshof keine Veranlassung, die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Gerichte infrage zu stellen, dass der Beschwerdeführer in der Tat die Arbeit der Wissenschaftler – und insbesondere die Arbeit von Prof. Dr. B. – direkt mit den Gräueltaten der Nazizeit in Verbindung gebracht habe. Ferner merkt der Gerichtshof an, dass die von dem Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfe besonders schwerwiegend waren. Selbst wenn sie, wie in der vorliegenden Rechtssache, als Werturteile angesehen werden, bedürfen solche schwerwiegenden und besonders beleidigenden Vergleiche einer besonders soliden Tatsachengrundlage (vgl. Genner, a. a. O., Rdnr. 46). Der Gerichtshof lässt zwar gelten, dass es bei der Debatte um die moralische Verantwortung von Wissenschaftlern ging, das stellt aber für sich genommen keine solide Tatsachengrundlage für einen direkten persönlichen Angriff auf die wissenschaftliche Arbeit von Prof. Dr. B. dar, zumal der verwendete Vergleich nicht nur schockierend und verstörend war, sondern auch die Grenzen zulässiger Kritik überschritt.
28. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die innerstaatlichen Gerichte zu dem Schluss gekommen waren, dass es in der Pressemitteilung eher um „die Sache“ und um einen Beitrag zur öffentlichen Debatte gegangen sei, als um die Diffamierung eines einzelnen Arztes. Der Gerichtshof akzeptiert diesen Schluss, merkt aber an, dass der Beschwerdeführer dennoch Vorwürfe gegenüber den in der Stammzellenforschung tätigen Wissenschaftlern und Ärzten, insbesondere gegenüber Prof. Dr. B., erhoben hat. Selbst wenn es dem Beschwerdeführer mit der Pressemitteilung nicht hauptsächlich um eine Diffamierung der Wissenschaftler gegangen ist, ist der Gerichtshof demnach der Ansicht, dass diese durch die namentliche Erwähnung von Prof. Dr. B. dennoch eine stigmatisierende und diffamierende Wirkung hatte.
29. In Anbetracht der Schwere des persönlichen Angriffs auf die Wissenschaftler und auf Prof. Dr. B. weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass die Auswirkung einer Meinungsäußerung auf die Persönlichkeitsrechte einer anderen Person nicht vom historischen und sozialen Zusammenhang, in dem die Äußerung erfolgte, losgelöst werden kann (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3690/10, Rdnr. 63, 26. November 2015; und H. und A. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 397/07 und 2322/07, Rdnr. 48, 13. Januar 2011). Der Vergleich der heutigen Stammzellenforschung mit den in den Konzentrationslagern vorgenommenen Menschenversuchen muss daher im speziellen Zusammenhang der deutschen Vergangenheit betrachtet werden. Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit anerkannt, dass bei Staaten, die die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten erlebt haben, im Lichte ihrer historischen Rolle und Erfahrung von einer besonderen moralischen Verantwortung ausgegangen werden kann, sich von den massenhaften Gräueltaten der Nationalsozialisten zu distanzieren (siehe Perinçek ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 27510/08, Rdnr. 243, ECHR 2015 (Auszüge); und N. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 35285/16, 13. März 2018). Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass der Angriff auf Prof. Dr. B.s guten Ruf schwerwiegend war und dass der historische Zusammenhang ein gewichtiger Faktor bei der Entscheidung darüber ist, ob ein dringendes soziales Bedürfnis bestand, in das Recht auf freie Meinungsäußerung des Beschwerdeführers einzugreifen (vgl. N., a. a. O., Rdnr. 56).
30. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass sich Prof. Dr. B. und die übrigen Wissenschaftler durch ihre Antwort auf die von Bischof F. geäußerte Kritik noch vor dem Erscheinen der Pressemitteilung des Beschwerdeführers in die öffentliche Debatte eingebracht hatten, und befindet, dass sie folglich nicht denselben besonderen Schutz verlangen konnten wie der Öffentlichkeit völlig unbekannte Privatpersonen.
31. Obgleich die Äußerungen des Beschwerdeführers zur öffentlichen Debatte beitragen sollten und Prof. Dr. B. in gewissem Maße die öffentliche Arena betreten hat, kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die innerstaatlichen Gerichte relevante und ausreichende Gründe für die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers angeführt haben. Der Gerichtshof erinnert daran, dass es für ihn in Fällen, in denen die innerstaatlichen Behörden eine Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen haben, gewichtiger Gründe bedürfte, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (siehe Delfi AS, a. a. O., Rdnr. 139, m. w. N.). Er stellt fest, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte auf einer verständigen Würdigung der fraglichen Äußerungen, der Rechte von Prof. Dr. B. und der Umstände der vorliegenden Rechtssache beruhten.
32. Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Sanktion strafrechtlicher Natur war; dies stellt – da es auch andere Interventions- oder Widerlegungsmöglichkeiten, insbesondere durch zivilrechtliche Rechtsmittel gibt – eine der schwerwiegendsten Formen des Eingriffs in das Recht auf freie Meinungsäußerung dar (siehe Perinçek, a. a. O., Rdnr. 273; und Frisk und Jensen ./. Dänemark, Individualbeschwerde Nr. 19657/12, Rdnr. 77, 5. Dezember 2017). Zwar ist der Gebrauch von strafrechtlichen Sanktionen in Beleidigungsfällen nicht an sich unverhältnismäßig, aber die Art und Schwere der Strafen spielen eine Rolle, da die Sanktionen nicht dergestalt ausfallen dürfen, dass sie die Presse und andere Teilnehmer an der öffentlichen Debatte davon abhalten, sich an der Diskussion über berechtigte öffentliche Anliegen zu beteiligen (Ziembiński ./. Polen (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 1799/07, Rdnr. 46, 5. Juli 2016, m. w. N.). In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt wurde, womit sich die Sanktion am unteren Rand des Rahmens der möglichen strafrechtlichen Ahndung einer Beleidigung bewegt. In Anbetracht der Schwere der Verletzungen des Persönlichkeitsrechts von Prof. Dr. B. und – im historischen Zusammenhang betrachtet (siehe Rdnr. 29) – der Art der persönlichen Angriffe, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Strafe moderat erscheint und den Ermessensspielraum der innerstaatlichen Gerichte nicht überschritten hat.
33. Folglich ist Artikel 10 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Rüge nach Artikel 10 der Konvention wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 10 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 18. Oktober 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Yonko Grozev
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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