Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE D. L. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 18297/13)
URTEIL
STRASSBURG
22. November 2018
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache D. L. ./. Deutschland
verkündet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Yonko Grozev, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 23. Oktober 2018
das folgende, an diesem Tag gefällte Urteil:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 18297/13) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, D. L. („der Beschwerdeführer“), am 1. März 2013 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte. Der Vizepräsident der Sektion hat dem Antrag des Beschwerdeführers stattgegeben, seinen Namen nicht offenzulegen (Artikel 47 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).
2. Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn F., Rechtsanwalt in B., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer rügte, dass ihm in dem erstinstanzlichen Strafverfahren vor dem Amtsgericht nicht von Amts wegen ein Verteidiger beigeordnet worden sei. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention, für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention, behauptete der Beschwerdeführer, dass sein Recht auf ein faires Verfahren, insbesondere der Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers, verletzt worden sei und dass er diskriminiert worden sei.
4. Am 19. September 2016 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer ist in U. wohnhaft.
A. Der Hintergrund der Rechtssache
6. Am 13. März 2010 kam es in der Wohnung des Beschwerdeführers zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Beschwerdeführer, S. (seinem damaligen Mitbewohner) und Gästen des Mitbewohners. Mit Schreiben der Polizei vom 18. März 2010 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet worden sei und ihm vorgeworfen werde, S. beleidigt, geschubst und mit der Faust ins Gesicht geschlagen zu haben, was bei diesem zu einer Schädelprellung und Unterkieferproblemen geführt habe. In dem Schreiben hieß es auch, dass ihm Gelegenheit zur schriftlichen oder mündlichen Stellungnahme gegeben werde und es ihm frei stehe, jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen.
B. Das in Rede stehende Verfahren
7. Am 7. März 2011 erließ das Amtsgericht Strafbefehl gegen den Beschwerdeführer und verurteilte ihn wegen Beleidigung und Körperverletzung in zwei Fällen zum Nachteil des S. und des B., einem Gast bei dem in Rede stehenden Anlass, zu 80 Tagessätzen zu je 30 Euro. Der Beschwerdeführer, der vor Erlass des Strafbefehls erfolgreich Akteneinsicht und Überlassung von Kopien der Akte beantragt hatte, legte fristgemäß Einspruch gegen den Strafbefehl ein und beantragte erneut Akteneinsicht, die ihm gewährt wurde.
8. Am 9. Mai 2011 ließ das Amtsgericht S., der seinen Rechtsbeistand aus eigenen Mitteln bezahlte, als Nebenkläger zu (siehe Rdnr. 18).
9. Am 12. Mai 2011 machte die Rechtsanwältin des S. im Adhäsionsverfahren zivilrechtliche Schadenersatzansprüche gemäß §§ 403 ff. Strafprozessordnung (siehe Rdnr. 19) geltend und beantragte, S. für die Verfolgung dieser Ansprüche Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Dem Beschwerdeführer wurde Gelegenheit gegeben, hierzu schriftlich Stellung zu nehmen; diese Gelegenheit nahm er auch wahr.
10. Am 24. Mai 2011 bewilligte das Amtsgericht S. Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Rechtsanwältin für die Verfolgung der Adhäsionsanträge.
11. Am darauffolgenden Tag fand die Hauptverhandlung statt, die ca. 75 Minuten dauerte. Das Amtsgericht vernahm in der Verhandlung S. sowie B. und M., die ebenfalls bei dem in Rede stehenden Anlass anwesend waren, als Zeugen und verwertete ferner ein ärztliches Attest betreffend die Verletzungen des S. Es verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung und vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15 Euro. Hinsichtlich der zivilrechtlichen Ansprüche verurteilte es ihn ferner, an S. 430 Euro Schadenersatz (400 Euro in Bezug auf den immateriellen Schaden und 30 Euro in Bezug auf den materiellen Schaden) nebst Zinsen zu zahlen. Die Rechtsanwältin des S. hatte lediglich zu dem Adhäsionsantrag das Wort erhalten. Der Beschwerdeführer hatte vor der Verhandlung im Rahmen einer schriftlichen Stellungnahme seinen Standpunkt dargelegt und wurde vom Amtsgericht vernommen.
12. Am 26. Mai 2011 legte der Beschwerdeführer Berufung ein.
13. Am 4. Juli 2011 teilte der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer des Landgerichts der Staatsanwaltschaft mit, dass er beabsichtige, dem Beschwerdeführer einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Ebenfalls am 4. Juli 2011 bestellte sich Herr F., der den Beschwerdeführer in dem vorliegenden Verfahren nach der Konvention anwaltlich vertritt, als dessen Verteidiger. Mit Schriftsatz vom 11. Juli 2011 teilte er mit, das von dem Beschwerdeführer eingelegte Rechtsmittel als Revision zu verfolgen (was dazu führte, dass das Kammergericht und nicht das Landgericht zuständig war). Neben einer Sachrüge machte er als Verfahrensfehler geltend, dass während der gesamten Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht kein Verteidiger für den Beschwerdeführer anwesend gewesen sei. Es habe aber ein Fall notwendiger Verteidigung vorgelegen, weil der Nebenkläger S. durch eine in der gesamten Hauptverhandlung anwesende Rechtsanwältin vertreten gewesen sei.
14. Am 14. März 2012 verwarf das Kammergericht die Revision mit der Maßgabe, dass dem Beschwerdeführer Ratenzahlung auf die Geldstrafe bewilligt wurde. Es befand, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 Strafprozessordnung (siehe Rdnr. 20) für eine notwendige Verteidigung nicht vorgelegen hätten. Der Gesetzgeber habe sich bewusst dafür entschieden, die Vermutung, dass sich ein Angeklagter nicht selbst verteidigen könne, auf die Fälle zu beschränken, in denen dem Verletzten vom Gericht nach §§ 397a und 406g Abs. 3 und 4 Strafprozessordnung (siehe Rdnr. 20) ein Rechtsanwalt für die Nebenklage bestellt werde. Es gebe berechtigte Gründe für diese Unterscheidung, und zwar im Hinblick darauf, dass dem Nebenkläger ein Rechtsanwalt bestellt werde, wenn es sich um ein Opfer bestimmter schwerer Straftaten handele oder das Opfer seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen könne oder ihm dies nicht zuzumuten sei, u. a. in Fällen, in denen die Sach- und Rechtslage schwierig sei. In der vorliegenden Rechtssache sei S. vom Gericht nur in Bezug auf den Adhäsionsantrag ein Rechtsbeistand bestellt worden (siehe Rdnr. 10), nicht aber für die Nebenklage, für die S. aus eigenen Mitteln eine Rechtsanwältin beauftragt habe (siehe Rdnr. 8).
15. Werde für (das Opfer und) den Nebenkläger ein Rechtsanwalt tätig, der nicht vom Gericht bestellt wurde, gelte die Vermutung, die § 140 Abs. 2 Strafprozessordnung zugrunde liege, nicht. In einem solchen Fall müssten die individuellen Umstände der Rechtssache darauf hin geprüft werden, ob ein Verteidiger beizuordnen sei. Im Hinblick auf die vorliegende Rechtssache kam das Kammergericht zu dem Ergebnis, dass sich der Beschwerdeführer ohne Verteidiger wirksam verteidigen habe können und dies auch getan habe. Es war der Auffassung, dass der Beschwerdeführer die entscheidungserheblichen Aktenteile gekannt habe, sich zudem daraus weder tatsächliche noch rechtliche Schwierigkeiten ergäben, das Gewicht der Taten und die Strafdrohung nicht erheblich gewesen seien und der Sachverhalt und die Beweisaufnahme überschaubar gewesen seien. Die Rechtsanwältin des S. sei nur in Bezug auf die zivilrechtlichen Ansprüche tätig geworden. Die schriftlichen Stellungnahmen des Beschwerdeführers und u. a. seine fristgerechte Einlegung von Rechtsmitteln gegen das Urteil des Amtsgerichts zeigten, dass er zur Wahrung seiner rechtlichen Interessen in der Lage gewesen sei.
16. Am 30. April 2012 wies das Kammergericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers zurück.
17. Am 18. September 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1377/12) und stellte fest, dass sie unzulässig sei, weil er vor dem Amtsgericht keinen Antrag auf Beiordnung eines Verteidigers gestellt habe.
II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
18. Die Nebenklage, die in §§ 395 ff. Strafprozessordnung geregelt ist, gestattet dem Verletzten bestimmter Straftaten, sich unter bestimmten Voraussetzungen der von der Staatsanwaltschaft erhobenen öffentlichen Klage anzuschließen und an dem Prozess teilzunehmen. Zu ihren Rechten gehören das Recht, Fragen an Zeugen und Sachverständige zu stellen, Beweisanträge zu stellen, nach der Beweiserhebung Erklärungen abzugeben sowie das Recht zum Schlussvortrag. Der Nebenkläger kann im erstinstanzlichen Verfahren ohne anwaltliche Vertretung seine Rechte wahrnehmen, sich aber des Beistands eines Rechtsanwalts bedienen oder sich von einem solchen vertreten lassen. Wenn die Voraussetzungen des § 397a Abs. 1 Strafprozessordnung erfüllt sind, d. h. wenn der Nebenkläger insbesondere durch ein schweres Gewalt- oder Sexualverbrechen verletzt ist oder Angehöriger eines durch eine rechtswidrige Tat Getöteten ist oder im Kindesalter durch ein schweres Gewalt- oder Sexualverbrechen verletzt ist, bestellt das Gericht dem Nebenkläger ohne Rücksicht auf seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse einen Rechtsanwalt auf Staatskosten. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, so ist dem Nebenkläger auf Antrag Prozesskostenhilfe nach § 397a Abs. 2 Strafprozessordnung zu bewilligen, soweit er nicht über die notwendigen Mittel verfügt und wenn er seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann oder ihm dies nicht zuzumuten ist. Der Nebenkläger kann aus eigenen Mitteln einen Rechtsanwalt beauftragen.
19. Das Verfahren gemäß §§ 403 ff. Strafprozessordnung unterscheidet sich von der Nebenklage und eröffnet dem Verletzten die Möglichkeit, zivilrechtliche Ansprüche aus der Straftat im Rahmen des Strafverfahrens gerichtlich klären zu lassen. Anders als die Nebenklage ist das Ziel dieses Verfahrens nicht auf die Beteiligung am Strafverfahren gerichtet. Die Vertretung durch einen Rechtsanwalt ist weder für den Verletzten noch für den Angeklagten zwingend. Jedoch ist auf Antrag jedem der beiden im Wege der Prozesskostenhilfe ein Rechtsanwalt zu bestellen, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist (§ 404 Abs. 5 Strafprozessordnung i. V. m. § 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung).
20. § 140 Abs. 1 Strafprozessordnung sieht Fälle vor, in denen die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig ist. § 140 Abs. 2 Strafprozessordnung in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung sah vor, dass auf Antrag oder von Amts wegen ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann, insbesondere weil gemäß § 397a und 406g Abs. 3 und 4 Strafprozessordnung dem Verletzten für die Nebenklage ein Rechtsanwalt bestellt wird. Für die Beantragung von rechtlichem Beistand gibt es keine Formerfordernisse.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 UND 3 BUCHST. C DER KONVENTION
21. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Entscheidung des Amtsgerichts, ihm nicht von Amts wegen einen Verteidiger für das erstinstanzliche Verfahren beizuordnen, sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt habe, insbesondere den Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. a und c der Konvention für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 der Konvention. Der Gerichtshof, der Herr über die rechtliche Würdigung des Sachverhalts ist (siehe W. u. a. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nr. 68125/14 und 72204/14, Rdnr. 44, 22. März 2018, mit weiteren Nachweisen), hält es für angemessen, diese Rüge lediglich nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention zu prüfen, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. […]
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist; […]”
A. Zulässigkeit
22. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
23. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass das Amtsgericht verpflichtet gewesen sei, ihm in dem erstinstanzlichen Strafverfahren, in dem er wegen Beleidigung und vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Geldstrafe und zur Zahlung von Schadensersatz an den Verletzten verurteilt worden sei, von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen. Der Verletzte sei als Nebenkläger und in Bezug auf seine zivilrechtlichen Ansprüche anwaltlich vertreten gewesen. Somit habe der Beschwerdeführer zwei Anwälten, dem Staatsanwalt und der Rechtsanwältin des Verletzten gegenüber gestanden. In diesem Szenario sei das Amtsgericht verpflichtet gewesen, ihm von Amts wegen und unentgeltlich einen Verteidiger beizuordnen, um den Grundsatz der Waffengleichheit zu wahren, zumal er nicht über ausreichende Mittel verfüge, um selbst einen Rechtsanwalt zu bezahlen. Er sei weder über die Möglichkeit aufgeklärt worden, unentgeltlichen rechtlichen Beistand zu beantragen, noch nach Gründen gefragt worden, die für eine Bewilligung rechtlichen Beistands sprechen würden.
24. Die Regierung vertrat die Ansicht, aus dem Grundsatz der Waffengleichheit lasse sich nicht das Erfordernis herleiten, dass einer Partei zwingend ein Anwalt zur Seite gestellt werden müsse, wenn die Gegenseite anwaltlich vertreten sei. Entscheidend seien die Umstände des Einzelfalls. In der vorliegenden Sache habe der Beschwerdeführer nicht dargelegt, in welcher Art und Weise er gegenüber der Staatsanwaltschaft oder dem Adhäsionskläger benachteiligt gewesen sei. Der Beschwerdeführer habe Kenntnis von den Stellungnahmen und Beweismitteln der Anklage sowie die Gelegenheit gehabt, seine Sache geltend zu machen. Er habe sowohl vor als auch während der Hauptverhandlung mehrfach sein Recht auf Akteneinsicht wahrgenommen und Stellungnahmen abgegeben. In der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht sei die Rechtsanwältin des S. ausschließlich in ihrer Rolle als Vertreterin im Adhäsionsverfahren aufgetreten, also nicht im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Anklage gegen den Beschwerdeführer.
25. Eine Verletzung des Rechts des Beschwerdeführers auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers sei zu verneinen. Als Beschuldigter eines Strafverfahrens habe er das Recht gehabt, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen; hierüber sei er in dem Schreiben der Polizei vom 18. März 2010 belehrt worden. Indem er entschieden habe, sich selbst zu verteidigen, habe er auf ein etwaiges Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers verzichtet. In jedem Fall sei er nach den Feststellungen der innerstaatlichen Behörden in der Lage gewesen, sich ohne rechtlichen Beistand hinreichend zu verteidigen. Er habe die entscheidungserheblichen Aktenteile, aus denen sich weder tatsächliche, noch rechtliche Schwierigkeiten ergeben hätten, gekannt und sei zur Wahrung seiner rechtlichen Interessen in der Lage gewesen, was auch dadurch belegt sei, dass er rechtzeitig Rechtsmittel eingelegt habe.
26. Die zivilrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers zur Zahlung von Schadenersatz an S. stelle keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit dar, weil der Beschwerdeführer nach innerstaatlichem Recht den Anspruch gehabt hätte, dass ihm auf seinen Antrag ein Rechtsanwalt beigeordnet werde, sofern ihm die entsprechenden finanziellen Mittel fehlten. Dies sei nicht geschehen, weil er keinen Antrag auf Prozesskostenhilfe gestellt habe. Dass diese Möglichkeit bestanden habe, habe ihm schon deshalb bewusst sein müssen, weil S. für das Adhäsionsverfahren Prozesskostenhilfe beantragt habe und der Beschwerdeführer zu diesem Antrag ausführlich Stellung genommen habe. Die Regierung kam zu dem Schluss, dass das Verfahren gegen den Beschwerdeführer insgesamt gesehen fair gewesen sei.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
27. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Rüge das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren, insbesondere den Grundsatz der Waffengleichheit und das Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers betrifft. Er weist erneut darauf hin, dass die in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention verankerten Rechte Bestandteile des Begriffs des fairen Verfahrens im Strafprozess im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 sind (siehe Mikhaylova ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 46998/08, Rdnr. 76, 19 November 2015), und wird die Rüge des Beschwerdeführers nach beiden Bestimmungen im Zusammenhang prüfen.
28. Das Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers nach Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention unterliegt zwei Bedingungen. Erstens müssen dem Beschwerdeführer die Mittel zur Bezahlung des rechtlichen Beistands fehlen. Zweitens muss die Gewährung von Prozesskostenhilfe im Interesse der Rechtspflege erforderlich sein. Der Gerichtshof berücksichtigt mehrere Faktoren, wenn er darüber entscheidet, ob die Gewährung von Prozesskostenhilfe im innerstaatlichen Verfahren im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Zu beurteilen ist dies unter Zugrundelegung des Sachverhalts insgesamt, u. a. mit Blick auf die Schwere der Tat und der Strafdrohung, die Komplexität der Sache und die persönliche Situation des Beschwerdeführers (ebda., Rdnrn. 78 bis 79, mit weiteren Nachweisen). Der Grundsatz der Waffengleichheit besagt, dass jeder Partei angemessen Gelegenheit gegeben werden muss, unter Voraussetzungen vorzutragen und ihre Sache geltend zu machen, die sie gegenüber der Gegenpartei nicht wesentlich benachteiligen, und sie darüber hinaus Gelegenheit haben muss, Kenntnis von den Stellungnahmen und Beweismitteln der Gegenpartei zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen, um Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts nehmen zu können (siehe Zahirović ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 58590/11, Rdnr. 42, 25. April 2013, mit weiteren Nachweisen). Um festzustellen, ob das Ziel des Artikels 6 – ein faires Verfahren – erreicht wurde, muss auf das gesamte innerstaatliche Verfahren, das in der Sache geführt wurde, abgestellt werden (siehe A.V. ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 65032/09, Rdnr. 58, 29. Januar 2015).
29. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer durch ein Schreiben der Polizei, in dem er über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn in Kenntnis gesetzt wurde, über das Recht, jederzeit einen Verteidiger zu befragen, belehrt wurde (siehe Rdnr. 6). Der Beschwerdeführer behauptete zwar, dass in diesem Schreiben nicht auf die Möglichkeit des unentgeltlichen rechtlichen Beistands hingewiesen worden sei (siehe Rdnr. 23), was von der Regierung auch nicht bestritten wurde, fest steht jedoch, dass der Beschwerdeführer zu dem von S. gestellten Prozesskostenhilfeantrag zur Verfolgung seiner zivilrechtlichen Schadenersatzansprüche im Adhäsionsverfahren Stellung genommen hat (siehe Rdnr. 9). Nach Ansicht des Gerichtshofs muss dem Beschwerdeführer daher die Möglichkeit bekannt gewesen sein, unentgeltlichen rechtlichen Beistand zu beantragen. Die unterbliebene Beiordnung eines Verteidigers kann deshalb auch darauf zurückgeführt werden, dass er einen entsprechenden Antrag nicht gestellt hat, was einen wichtigen Unterschied zu der Rechtssache Zdravko Stanev ./. Bulgarien (Individualbeschwerde Nr. 32238/04, Rdnrn. 17 und 19, 6. November 2012) darstellt, in der der Beschwerdeführer unentgeltlichen rechtlichen Beistand beantragt hatte, dies aber abgelehnt worden war.
30. Der Beschwerdeführer behauptete ganz allgemein, er sei benachteiligt worden, weil er nicht von einem Verteidiger vertreten worden sei, obwohl er zwei Parteien gegenüber gestanden habe – der Staatsanwaltschaft und dem anwaltlich vertretenen S. Jedoch folgt weder aus dem Grundsatz der Waffengleichheit, noch aus dem Recht auf unentgeltlichen Beistand eines Verteidigers, dass einer Partei in jedem einzelnen Fall, in dem die Gegenpartei anwaltlich vertreten ist, unentgeltlicher rechtlicher Beistand zur Verfügung gestellt werden muss. Darüber hinaus trug der Beschwerdeführer nicht vor, dass ihm in dem Verfahren vor dem Amtsgericht keine Gelegenheit gegeben worden sei, Kenntnis von den Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft oder des S. zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen. Es ist vielmehr unbestritten, dass ihm Akteneinsicht gewährt wurde und dass er mehrfach Stellungnahmen abgab (siehe Rdnrn. 7, 9 und 11).
31. Das Kammergericht stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Vermutung, dass sich ein Angeklagter nicht selbst verteidigen könne, nicht vorgelegen hätten, und dass in Anbetracht der Umstände der vorliegenden Rechtssache die Beiordnung eines Verteidigers nicht erforderlich gewesen sei (siehe Rdnrn. 14 bis 15). Um zu diesem Schluss zu gelangen, prüfte es, welche Kenntnis der Beschwerdeführer von der Akte hatte, wie schwierig die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht war, die Art der Taten und die Schwere der Strafandrohung, die Komplexität der Beweisaufnahme, den Umfang der Tätigkeit der Rechtsanwältin des S. und inwieweit der Beschwerdeführer in der Lage war, seine rechtlichen Interesse selbst zu wahren. Der Gerichtshof kann nicht erkennen, dass die Einschätzung des Kammergerichts fehlerhaft gewesen wäre oder den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegten Standards nicht entsprochen hätte. Seiner Auffassung nach reicht die Tatsache, dass sich die innerstaatlichen Gerichte im Rahmen des Strafverfahrens auch mit zivilrechtlichen Schadenersatzansprüchen auseinandersetzten – was in der Rechtssache Zdravko Stanev (a. a. O., Rdnr. 40) eines der Argumente für die Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 6 Abs. 3 Buchst. c der Konvention darstellte – für sich genommen nicht für die Schlussfolgerung aus, dass es im Interesse der Rechtspflege erforderlich gewesen wäre, dem Beschwerdeführer von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen.
32. Schließlich kann der Gerichtshof nicht darüber hinwegsehen, dass der Beschwerdeführer, bevor er von einem Verteidiger vertreten wurde, fristgerecht Berufung gegen die Entscheidung des Amtsgerichts einlegte (siehe Rdnr. 12). Er hätte somit von einer erneuten Tatsachenfeststellung durch das Landgericht profitieren können, das für das Rechtsmittel zuständig gewesen wäre, wenn er es in der Weise weiterverfolgt hätte, wie er es eingelegt hatte. Jedoch teilte der Verteidiger, der im Anschluss die Vertretung des Beschwerdeführers übernahm, mit, dass das Rechtsmittel als Revision verfolgt werden solle (siehe Rdnr. 13). Mit dieser das Verfahren betreffenden Entscheidung verzichtete der Beschwerdeführer auf das Recht, im Rechtsmittelverfahren vor dem Landgericht die Tatsachen in Anwesenheit seines Verteidigers erneut feststellen zu lassen.
33. Die vorstehenden Ausführungen reichen aus, um dem Gerichtshof die Schlussfolgerung zu erlauben, dass das Verfahren in seiner Gesamtheit betrachtet nicht deshalb unfair war, weil das Amtsgericht dem Beschwerdeführer nicht von Amts wegen einen Verteidiger für das erstinstanzliche Verfahren beiordnete. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Es wird festgestellt, dass Artikel 6 Abs. 1 und 3 Buchst. c der Konvention nicht verletzt worden ist.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 22. November 2018 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Yonko Grozev
Kanzlerin Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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