HERMAN-BISCHOFF ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 28482/13

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 28482/13
H. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 27. November 2018 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger und
Carlo Ranzoni,
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 25. April 2013 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die Beschwerdeführerin, H., ist deutsche Staatsangehörige, geboren 19.. und wohnhaft in M.

2. Der Sachverhalt, wie er von der Beschwerdeführerin dargelegt worden ist, kann wie folgt zusammengefasst werden.

3. Die Beschwerdeführerin ist Journalistin und Buchautorin. Zur für den Sachverhalt maßgeblichen Zeit war sie Moderatorin für einen deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und dort insbesondere als Nachrichtensprecherin tätig.

4. Am 6. September 2007 präsentierte die Beschwerdeführerin im Rahmen einer Pressekonferenz vor rund dreißig Journalistinnen und Journalisten ihr neues Buch mit dem Titel „X“. Bei dieser Gelegenheit äußerte sie sich gegenüber den Journalistinnen und Journalisten wie folgt:

„Wir müssen den Familien Entlastung und nicht Belastung zumuten und müssen auch ‘ne Gerechtigkeit schaffen zwischen kinderlosen und kinderreichen Familien. Wir müssen vor allem das Bild der Mutter in Deutschland wieder wertschätzen, das leider ja mit dem Nationalsozialismus und der darauf folgenden 68er-Bewegung abgeschafft wurde. Mit den 68ern wurde praktisch alles das – alles was wir an Werten hatten – es war ‘ne grausame Zeit, das war ein völlig durchgeknallter hochgefährlicher Politiker, der das deutsche Volk ins Verderben geführt hat, das wissen wir alle – aber es ist eben auch das, was gut war – das sind die Werte, das sind Kinder, das sind Mütter, das sind Familien, das ist Zusammenhalt – das wurde abgeschafft. Es durfte nichts mehr stehen bleiben.“

5. Am nächsten Tag veröffentlichte eine Journalistin, die an der Pressekonferenz teilgenommen hatte, in der Tageszeitung „Y.“ einen Artikel unter der Überschrift „Wann ist ein Mann ein Mann? Die Moderatorin stellte ihr Buch ‚X.’ vor, das nahtlos an ‚Z’ anschließt. – Eine Ansichtssache“. Die im vorliegenden Fall maßgeblichen Stellen dieses Artikels lauten wie folgt:

„‘X.’ sei ‚ein Plädoyer für eine neue Familienkultur, die zurückstrahlen kann auf die Gesellschaft“, heißt es im Klappentext. [Die Beschwerdeführerin] H., die übrigens in vierter Ehe verheiratet ist, will auch schon festgestellt haben, dass die Frauen ‚im Begriff sind aufzuwachen’; dass sie Arbeit und Karriere nicht mehr unter dem Aspekt der Selbstverwirklichung betrachten, sondern unter dem der ‚Existenzsicherung’. Und dafür haben sie ja den Mann, der ‚kraftvoll’ zu ihnen steht.

In diesem Zusammenhang machte die Autorin einen Schlenker zum Dritten Reich. Da sei vieles sehr schlecht gewesen, zum Beispiel Adolf Hitler, aber einiges eben auch sehr gut. Zum Beispiel die Wertschätzung der Mutter. Die[se Wertschätzung] hätten die 68er abgeschafft, und deshalb habe man nun den gesellschaftlichen Salat. Kurz danach war diese Buchvorstellung Gott sei Dank zu Ende.“

6. In der Folge beantragte die Beschwerdeführerin vor dem Landgericht, der Zeitung die erneute Veröffentlichung der drei (unterstrichenen) ersten Sätze des zweiten Absatzes des Artikels zu untersagen und sie zur Zahlung einer Geldentschädigung in Höhe von 50 000 Euro (EUR) zu verurteilen.

7. Mit Urteil vom 14. Januar 2009 gab das Landgericht dem Antrag auf Unterlassung der erneuten Veröffentlichung statt und sprach der Beschwerdeführerin eine Entschädigung in Höhe von 10 000 EUR zu.

8. In Parallelverfahren gab das Landgericht am selben Tag einer gleichlautenden Klage der Beschwerdeführerin gegen die Journalistin sowie zwei Klagen gegen die Tageszeitung „A.“ und ihre Verlagsgesellschaft wegen eines am 11. Oktober 2007 in dieser Zeitung veröffentlichten Kommentars zu den Aussagen der Beschwerdeführerin in einer Fernsehdebatte zur Präsentation ihres Buches statt.

9. Die Verlagsgesellschaft der Tageszeitung legte Berufung ein. Die drei weiteren Urteile des Landgerichts (siehe Rdnr. 8) wurden rechtskräftig, nachdem die Betreffenden ihre Berufung zurückgenommen hatten.

10. Am 28. Juli 2009 bestätigte das Oberlandesgericht das Urteil, setzte die Entschädigungssumme auf 25 000 EUR fest und gab dem weitergehenden Antrag der Beschwerdeführerin auf die Veröffentlichung einer Richtigstellung durch die Tageszeitung, dass die Beschwerdeführerin die Aussage in der im Artikel zitierten Form nicht getätigt habe, statt. Es war der Auffassung, dass der Artikel das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin erheblich verletzt habe, da die Journalistin der Beschwerdeführerin andere als die tatsächlich gemachten Äußerungen zugeschrieben habe.

11. Das Oberlandesgericht räumte ein, dass die Aussage der Beschwerdeführerin tatsächlich mehrdeutig gewesen sei, da die Formulierung, wonach das „Bild der Mutter […] leider […] mit dem Nationalsozialismus […] abgeschafft“ worden sei, sich in dem Sinne verstehen ließe, dass der Nationalsozialismus das damals in Deutschland verbreitete Bild der Mutter abgeschafft habe. Die darauf folgenden Sätze könnten daher nach Auffassung des Oberlandesgerichts dahingehend ausgelegt werden, dass der Nationalsozialismus, wie auch der Mai 68, das abgeschafft habe, was gut gewesen sei. Allerdings könne angesichts der im Anschluss an die Formulierung „es war ‘ne grausame Zeit […], das wissen wir alle“ gebrauchten Konjunktion „aber“ die Aussage der Beschwerdeführerin auch so verstanden werden, dass der Nationalsozialismus auch Gutes hervorgebracht habe. Das Oberlandesgericht war jedoch der Auffassung, dass dies nichts daran ändere, dass beide Deutungen gleichermaßen denkbar seien. Unter diesen Umständen hätte die Journalistin kenntlich machen müssen, dass sie ihre eigene Interpretation einer mehrdeutigen Aussage wiedergebe. Das Oberlandesgericht befand, dass ohne einen solchen Interpretationsvorbehalt die der Beschwerdeführerin durch die Journalistin zugeschriebenen Äußerungen den Eindruck erweckten, die Beschwerdeführerin bagatellisiere den Unrechtsgehalt des Naziregimes. Es kam zu dem Schluss, dass angesichts des hohen Bekanntheitsgrades der Beschwerdeführerin und ihrer Vorbildfunktion das Zuschreiben dieser Äußerungen ihrem Ansehen Schaden zugefügt habe, zumal die Beschwerdeführerin in ihrer damaligen Position als Nachrichtensprecherin wegen der Nähe zu den Nachrichten hohen Anforderungen an ihre berufliche Seriosität und Neutralität zu genügen habe.

12. Was die zugesprochene Entschädigung anbelangt, begründete das Oberlandesgericht die Erhöhung der Summe mit der massiven Verbreitung des Artikels im Internet und der Aufmerksamkeit, die diesem Artikel aufgrund der Prominenz der Beschwerdeführerin zugekommen sei. Es fügte hinzu, dass die positive Berichterstattung über die Beschwerdeführerin in anderen Zeitungen der Verlagsgesellschaft nicht ausreiche, damit das Bedürfnis an der Zahlung einer Geldentschädigung an die Beschwerdeführerin entfalle.

13. Die Beschwerdeführerin legte Revision ein. Sie brachte unter anderem vor, dass die schriftliche Wiedergabe ihrer Äußerungen, auf die sich das Landgericht und das Oberlandesgericht gestützt hätten, fehlerhaft gewesen sei und dass ihre Äußerungen anhand der Tonaufnahme beurteilt werden müssten; in dieser sei insbesondere das Wort „damals“ im vorletzten Satz enthalten gewesen, welcher demnach wie folgt lauten müsse:

„Mit den 68ern wurde praktisch alles das – alles was wir an Werten hatten – […] aber es ist eben auch das, was damals gut war – […] das wurde abgeschafft.“

14. Mit Urteil vom 21. Juni 2011 hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Oberlandesgerichts auf und wies die Klage der Beschwerdeführerin ab. Er erinnerte daran, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht eine Person davor schütze, dass ihr eine Äußerung oder Aussage zugeschrieben werde, die sie nicht getan habe und die ihre Privatsphäre beeinträchtige. Dieses Recht biete ebenso Schutz gegenüber unrichtigen, verfälschten oder entstellten Wiedergaben der Äußerung einer Person. Dies sei der Fall, wenn die eigentlich mehrdeutige Aussage einer Person als eindeutig wiedergeben werde und der Zitierende nicht kenntlich mache, dass es sich um seine eigene Interpretation der betreffenden Aussage handle. Der Bundesgerichtshof erinnerte weiterhin daran, dass der Maßstab für die Beantwortung dieser Frage nicht das Verständnis eines Durchschnittslesers sei, sondern die Wortwahl, der Kontext und das Anliegen der zitierten Person.

15. In Anwendung dieser Kriterien auf den vor ihm anhängigen Fall stellte der Bundesgerichtshof fest, dass die Behauptungen der Tageszeitung nicht falsch und die Äußerungen der Beschwerdeführerin eindeutig gewesen seien. Im Gesamtzusammenhang betrachtet ließen sie gemessen an der Wortwahl, dem besonderen Kontext und der Stoßrichtung der Gedankenführung nur die Deutung zu, die die Journalistin ihnen beigemessen habe. Er führte aus, dass unter diesen Umständen die Sinndeutung der streitgegenständlichen Aussage auf der Grundlage der von der Beschwerdeführerin selbst in das Verfahren eingeführten schriftlichen Wiedergabe ihrer Äußerungen erfolgen müsse und dass die Betroffene nicht belegt habe, dass die Tonwiedergabe ihrer Äußerungen einen anderen Aussagegehalt ergebe.

16. Der Bundesgerichtshof hob insbesondere hervor, dass die Beschwerdeführerin im zweiten Satz ihrer Aussage gefordert habe, das Bild der Mutter wieder wertzuschätzen, und dass sie hierbei einen Bezug zum Nationalsozialismus und der Mai-68-Bewegung hergestellt habe. Im dritten Satz habe die Beschwerdeführerin ausgeführt, dass alle bis dahin vorhandenen positiven Werte mit den 68ern abgeschafft worden seien, und gleichzeitig darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus eine grausame Zeit gewesen sei. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs machte dieser Einschub deutlich, dass die Beschwerdeführerin sich grundsätzlich vom Nationalsozialismus distanziere, jedoch nicht von seinen guten Aspekten. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass die vom Oberlandesgericht für möglich gehaltene, erste Deutung der Aussage nicht nur fernliegend sei, sondern dass diese bei Würdigung der gesamten Aussage in dem Zusammenhang, in dem sie gefallen sei, ausgeschlossen werden könne. Eine solche Deutung wäre insbesondere nicht mit dem Einschub im dritten Satz in Einklang zu bringen („aber es ist eben auch das, was gut war“), der einen klaren Gegensatz zwischen der „grausame[n] Zeit“ und dem, „was gut war“, hergestellt habe. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ergibt diese Deutung keinen Sinn, denn wenn der Nationalsozialismus alles abgeschafft hätte, „was gut war“, so wäre nichts verblieben, was die 68er noch hätten abschaffen können.

17. Am 1. August 2011 erhob die Beschwerdeführerin vor dem Bundesgerichtshof Anhörungsrüge. Sie brachte insbesondere vor, dass der Bundesgerichtshof die Tonaufnahme ihrer Aussagen bei der Buchvorstellung nicht berücksichtigt habe, obwohl es das Verständnis erleichtert hätte, und dass er insbesondere das Vorkommen des Wortes „damals“ im dritten Satz des Zitats nicht berücksichtigt habe, welches nach ihrer Auffassung aber wichtig für das Verständnis ihrer Äußerungen sei (Rdnr. 11).

18. Am 19. September 2011 wies der Bundesgerichtshof die Anhörungsrüge mit der Begründung zurück, dass er das Vorbringen der Beschwerdeführerin in allen Punkten geprüft habe, diese aber nicht für durchgreifend erachtet habe.

19. Am 31. Oktober 2011 erhob die Beschwerdeführerin vor dem Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde (Az. 1 BvR 2720/11). Sie trug unter anderem vor, dass der Bundesgerichtshof die korrekte Aufzeichnung ihrer Aussagen während der Buchvorstellung nicht berücksichtigt habe.

20. Am 25. Oktober 2012 beschloss das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin nicht zur Entscheidung anzunehmen und begründete dies damit, dass die angegriffenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs die Grundrechte der Beschwerdeführerin nicht verletzten. Es stellte fest, dass der Bundesgerichtshof die verfassungsrechtlichen Grundsätze zum Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Meinungsäußerungsfreiheit explizit in seine Erwägungen eingestellt hatte. Unabhängig von der Frage, ob die Äußerungen der Beschwerdeführerin auf der Pressekonferenz ein- oder mehrdeutig gewesen seien, so seine Auffassung, genüge die streitgegenständliche Passage des Artikels im konkreten Kontext in jedem Fall den Anforderungen an die Wiedergabe eines – auch eventuell mehrdeutigen – Zitats.

21. Das Bundesverfassungsgericht wies darauf hin, dass im Titel des Artikels bereits angekündigt werde, dass es sich um „eine Ansichtssache“ handele, und dass der gesamte Artikel in einem süffisanten Ton geschrieben sei. Darin hieß es, dass die Beschwerdeführerin ihre Ideen von einer heilen Welt gerne mit allem garniere, was ihr in die Finger komme: „Mal ist es Aristoteles, mal Astrid Lindgren, mal der Papst, mal Gorbatschow […]. War es vor einem Jahr noch das Anliegen der Beschwerdeführerin, dem Mann das Heim mit Blumen und Apfelkuchen so gemütlich wie möglich zu gestalten, so geht es ihr heute um den Mann an sich.“ Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist auch die streitgegenständliche Passage in dieser Weise zu lesen, der Interpretationsvorbehalt ergebe sich eindeutig aus der Süffisanz des Artikels. Darüber hinaus stellte es fest, dass die Journalistin die Beschwerdeführerin nicht wörtlich zitiert, sondern ihre Aussagen ironisch zusammengefasst habe, was sich beispielsweise im Ausdruck „gesellschaftlicher Salat“ im Artikel zeige, den die Beschwerdeführerin selbst nicht genutzt habe. Es fügte hinzu, dass die Formulierung des letzten Satzes des Artikels ebenfalls zeige, dass die Autorin ihre Meinung über die Beschwerdeführerin und deren Ansichten niedergeschrieben habe. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts erkennt der Leser daher, dass es sich hier um eine kritische Zusammenfassung der Buchvorstellung handele.

22. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Schluss, dass in dieser Sache das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin hinter die Meinungsfreiheit der Zeitung zurückzutreten habe, dass es der Beschwerdeführerin nicht gelungen sei, sich unmissverständlich auszudrücken und dass sie daher die streitgegenständliche Passage des Artikels als zum „Meinungskampf“ gehörig hinnehmen müsse.

RÜGEN

23. Mit Blick auf Artikel 6 und 8 der Konvention bringt die Beschwerdeführerin vor, dass die streitgegenständlichen Passagen des Artikels ihr unterstellten, sie verteidige die Familienpolitik des Nationalsozialismus, und sie so stigmatisierten. Sie behauptet, dass diese Stigmatisierung, öffentlichkeitswirksam verstärkt durch die ihrer Ansicht nach wohl politisch motivierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sie persönlich und beruflich beeinträchtigt und auch Auswirkungen auf ihren Sohn und ihren Ehemann gehabt habe. Sie sei nach ihrer langen Tätigkeit als Sprecherin für Deutschlands wichtigste Nachrichtensendung nun in der Öffentlichkeit in Verruf gebracht worden und habe keinerlei Aussicht mehr darauf, von irgendeinem Sender eingestellt zu werden.

24. Mit Blick auf Artikel 6 der Konvention wirft die Beschwerdeführerin dem Bundesgerichtshof und insbesondere dem Bundesverfassungsgericht vor, ihre Entscheidungen auf eine unrichtige Wiedergabe ihrer Äußerungen bei der Buchvorstellung gestützt zu haben, obgleich sie diesen Umstand insbesondere vor dem Bundesverfassungsgericht angeführt habe.

25. Unter Berufung auf Artikel 10 der Konvention rügt die Beschwerdeführerin schließlich, dass ihre Kündigung durch den Fernsehsender auf eine gezielte Aktion aus dem feministischem Umfeld, dem die Autorin des streitgegenständlichen Artikels angehöre, gefolgt sei, obwohl ihr Anliegen lediglich gewesen sei, eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Erwerbstätigkeit von Müttern dem körperlichen und geistigen Wohl von Kleinkindern zuträglich sei, in Gang zu bringen. Selbst wenn sie sich über den Nationalsozialismus wertschätzend geäußert hätte, fügt sie hinzu, wären solche Äußerungen durch die Freiheit der Meinungsäußerung gedeckt.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

26. Die Beschwerdeführerin bringt vor, dass die streitgegenständlichen Passagen des Artikels sie stigmatisiert sowie ihr Privat- und Familienleben und ihre Meinungsäußerungsfreiheit beeinträchtigt hätten. Sie rügt ebenfalls eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren. Sie beruft sich auf Artikel 6, 8 und 10 der Konvention.

27. Als Herr der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Rügen der Beschwerdeführerin allein im Licht des Artikels 8 der Konvention zu prüfen sind, welcher, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens […].

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist […] zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

28. Die Beschwerdeführerin behauptet, sie habe die Familienpolitik des NS-Regimes nie verteidigt und rechtsextreme Ansichten stets bekämpft. Sie rügt darüber hinaus, dass der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht sich auf eine fehlerhafte Wiedergabe ihrer Äußerungen bei ihrer Buchvorstellung gestützt hätten.

29. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass das Recht auf Schutz des guten Rufes ein Recht ist, das als Bestandteil des Privatlebens in den Geltungsbereich des Artikels 8 der Konvention fällt (Chauvy u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 64915/01, Rdnr. 70, ECHR 2004–VI, sowie Pfeifer ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 12556/03, Rdnr. 35, 15. November 2007). Dieses Recht schützt eine Person auch vor der Zuschreibung einer Aussage, die sie nicht oder so nicht getätigt hat, zum Beispiel im Fall von unrichtigen oder verfälschten Zitaten (siehe sinngemäß unter dem Blickwinkel journalistischer Pflichten Medžlis Islamske Zajednice Brčko u. a. ./. Bosnien und Herzegowina [GK], Individualbeschwerde Nr. 17224/11, Rdnr. 115, 27. Juni 2017, Stojanović ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 23160/09, Rdnr. 39, 19. September 2013, sowie Radio France u. a. ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 53984/00, Rdnr. 38, ECHR 2004–II). Jedoch weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass Artikel 8 nur zum Tragen kommt, wenn der Angriff auf den guten Ruf einer Person ein gewisses Maß an Schwere erreicht und in einer Weise erfolgt ist, dass der persönliche Genuss des Rechts auf Achtung des Privatlebens Schaden erlitten hat; die Schädigung des guten Rufes darf auch nicht vorhersehbar auf eigenes Handeln, beispielsweise eine Straftat, zurückzuführen sein (S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 83, 7. Februar 2012, sowie Medžlis Islamske Zajednice Brčko u. a., a. a. O., Rdnr. 76).

30. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführerin in der vorliegenden Rechtssache nicht eine Handlung des Staates rügt, sondern das Versäumnis des Staates, sie vor der Verbreitung der beanstandeten Passagen zu schützen und zu entschädigen. Weiterhin erfordert die Rechtssache eine Prüfung des angemessenen Ausgleichs zwischen zum einen dem Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens unter dem Blickwinkel der positiven Verpflichtungen, die dem Staat nach Artikel 8 der Konvention obliegen, und zum anderen dem Recht der Verlagsgesellschaft der Tageszeitung auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention. In diesem Zusammenhang verweist der Gerichtshof auf die in den Rechtssachen H. ./. Deutschland (Nr. 2) ([GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, ECHR 2012) und S. (a. a. O.) niedergelegten und in der Folge konkretisierten (siehe zum Beispiel Couderc und Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnr. 93, ECHR 2015 (Auszüge), Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 931/13, Rdnrn. 165 bis 166, 27. Juni 2017, sowie Medžlis Islamske Zajednice Brčko u. a., a. a. O., Rdnr. 88) anwendbaren Grundsätze betreffend die in Rede stehenden Rechte und den Ermessensspielraum, der den Vertragsstaaten in solchen Fällen zusteht.

31. Die für die Abwägung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf freie Meinungsäußerung einschlägigen Kriterien sind der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, der Bekanntheitsgrad der betroffenen Person und der Gegenstand der Berichterstattung, das vorherige Verhalten der Person gegenüber den Medien sowie der Inhalt, die Form und die Folgen der Veröffentlichung. Die Prüfung des Wahrheitsgehalts der Informationen und die Art, wie sie erlangt wurden, kann ebenfalls notwendig sein, wenn vor dem Gerichtshof eine Beschwerde unter dem Blickpunkt des Rechts auf Achtung des Privatlebens erhoben wurde (Faludy-Kovács ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 20487/13, Rdnr. 28, 23. Januar 2018, H. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 66861/11 und 33478/12, Rdnr. 26, 23. Februar 2016, sowie Lillo-Stenberg und Sæther ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 13258/09, Rdnr. 34, 16. Januar 2014).

32. Haben die innerstaatlichen Instanzen die Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen, erinnert er ferner, bedarf es für den Gerichtshof gewichtiger Gründe, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (MGN Limited ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 39401/04, Rdnrn. 150 und 155, 18. Januar 2011, S., a. a. O., Rdnr. 88, sowie H. (Nr. 2), a. a. O., Rdnr. 107). Dem Ergebnis der durch die innerstaatlichen Gerichte vorgenommenen Abwägung kann zugestimmt werden, soweit sie die geeigneten Kriterien angewandt und außerdem das Gewicht eines jeden Kriteriums anhand der Umstände der Rechtssache gemessen haben (Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete und Index.hu Zrt ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 22947/13, Rdnr. 68, 2. Februar 2016, sowie Faludy-Kovács, a. a. O., Rdnr. 29).

33. Insoweit als die streitgegenständliche Passage unterstellte, dass die Beschwerdeführerin in der Zeit des Nationalsozialismus auch Gutes gesehen habe, stellt der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zunächst fest, dass der für die Anwendbarkeit von Artikel 8 der Konvention erforderliche Schweregrad durch die Passage überschritten worden ist.

34. Der Gerichtshof hebt sodann hervor, dass die deutschen Gerichte keine ausdrücklichen Feststellungen zu den ersten drei genannten Kriterien (Rdnr. 29) gemacht haben, dass das Oberlandesgericht aber die Bekanntheit der Beschwerdeführerin und ihre Vorbildfunktion berücksichtigt und den Schluss gezogen hat, dass ihr guter Ruf Schaden erlitten habe, sowie die Höhe der Geldentschädigung festgesetzt hat (Rdnrn. 9 und 10). Jedoch und angesichts dessen, dass es sich bei der streitgegenständlichen Passage um einen Auszug aus einem Kommentar zur Presseveranstaltung der Beschwerdeführerin handelte, bei der sie ihr neues Buch vorstellte, welches sich einem gesellschaftlichen Thema, der Rolle der Frau und die diesbezüglichen Folgen des Nationalsozialismus und des Mai 1968, widmete, berücksichtigt der Gerichtshof, dass auch die innerstaatlichen Gerichte davon ausgegangen sind, dass die streitgegenständliche Passage des Artikels zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitrug, die durchaus Anlass zu Kontroversen geben konnte, dass die Beschwerdeführerin eine Person des öffentlichen Lebens war und dass sie angesichts ihrer Entscheidung für die öffentlichkeitswirksame Vorstellung ihres Buches im Rahmen einer Pressekonferenz mit Widerspruch rechnen musste. Die Beschwerdeführerin hat darüber hinaus angegeben, dass ihr Ziel bei der Veröffentlichung des Buches gewesen sei, eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Erwerbstätigkeit von Müttern den Kindern zugutekomme, in Gang zu bringen.

35. Bezüglich des Inhalts und der Form der Berichterstattung stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesverfassungsgericht den ironischen Ton des Artikels hervorgehoben und hierbei insbesondere weitere Passagen berücksichtigt hat. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass bei der Prüfung der Frage, ob eine Veröffentlichung in Einklang mit den durch die Konvention garantierten Rechten und Freiheiten steht, dem Zusammenhang, in dem der streitgegenständliche Text veröffentlicht wurde, eine gewisse Bedeutung zukommt (Paraskevopoulos ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 64184/11, Rdnr. 40, 28. Juni 2018 – noch nicht endgültig; Halldorsson ./. Island, Individualbeschwerde Nr. 44322/13, Rdnrn. 42–43, 4. Juli 2017; Tuşalp ./. Türkei, Individualbeschwerden Nrn. 32131/08 und 41617/08, Rdnr. 48, 21. Februar 2012).

36. In der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass im Mittelpunkt der Prüfung durch die Zivilgerichte die Frage stand, ob die Journalistin in ihrer Wiedergabe der streitgegenständlichen Passagen die Äußerungen der Beschwerdeführerin bei ihrer Pressekonferenz verfälscht oder ob sie sie richtig wiedergegeben hat. In diesem Zusammenhang weist er erneut darauf hin, dass das Recht der Journalistinnen und Journalisten, Informationen zu Fragen allgemeinen Interesses weiterzugeben, unter Schutz steht, sofern diese in gutem Glauben auf der Grundlage korrekter Tatsachen handeln sowie „zuverlässige und genaue“ Informationen unter Beachtung des journalistischen Berufsethos liefern, insbesondere, wenn die Gefahr besteht, den guten Ruf einer namentlich genannten Person zu schädigen und die „Rechte anderer“ zu verletzen (Pedersen und Baadsgaard ./. Dänemark [GK], Individualbeschwerde Nr. 49017/99, Rdnr. 71, ECHR 2004–XI).

37. Der Gerichtshof hebt in der vorliegenden Rechtssache hervor, dass die mit der Sache befassten Zivilgerichte einhellig festgestellt haben, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin mehrdeutig waren und daher verschiedene Interpretationen zuließen. Während die Vorinstanzen der Auffassung waren, die Journalistin hätte kenntlich machen müssen, dass sie die Äußerungen der Beschwerdeführerin auf eine bestimmte Weise interpretiere, konnten aus Sicht des Bundesgerichtshofs die Aussagen der Beschwerdeführerin nur so verstanden werden, dass es im Nationalsozialismus auch positive Werte gegeben habe, die die Mai-68-Bewegung abgeschafft habe. Der Gerichtshof hebt hervor, dass das Bundesverfassungsgericht seinerseits die Frage, ob die Äußerungen der Beschwerdeführerin ein- oder mehrdeutig gewesen seien, offengelassen und betont hat, dass die streitgegenständliche Passage Teil eines Artikels gewesen sei, dessen ironischer Ton für die Leser leicht erkennbar war.

38. Der Gerichtshof ist zunächst der Auffassung, dass angesichts des Inhalts der Äußerungen der Beschwerdeführerin, auf die die streitgegenständlichen Passagen anspielen und die der Bundesgerichtshof als eindeutig angesehen hat, nicht behauptet werden kann, dass die zusammenfassende Darstellung der Journalistin im betreffenden Artikel eine unrichtige Information vermittelt, die in den Äußerungen bei der Pressekonferenz nicht enthalten gewesen ist (siehe im Gegensatz dazu und sinngemäß Radio France, a. a. O., Rdnr. 38). Soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, dass die obersten Gerichte sich auf eine fehlerhafte Wiedergabe ihrer Äußerungen gestützt hätten, stellt der Gerichtshof fest, dass dem Bundesgerichtshof zufolge diese Version von der Betroffenen selbst in das Verfahren eingeführt worden ist und dass sie darüber hinaus die Mehrdeutigkeit ihrer Äußerungen nicht auflösen kann.

39. Der Gerichtshof erinnert sodann daran, dass Satire eine in seiner Rechtsprechung anerkannte Form des künstlerischen Ausdrucks und Kommentars ist (B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 53495/09, Rdnr. 50, 19. Februar 2015, mit weiteren Nachweisen). In der vorliegenden Rechtssache ist er, wie auch das Bundesverfassungsgericht, der Auffassung, dass der ironische Ton des Artikels für den Leser so leicht auszumachen war, dass die Frage nach der Zuverlässigkeit der in den streitgegenständlichen Passagen vermittelten Informationen nicht einen so hohen Stellenwert wie bei der Weitergabe rein sachbezogener Informationen haben kann.

40. Bezüglich der Folgen der Veröffentlichung stellt der Gerichtshof schließlich fest, dass die Beschwerdeführerin dem Bundesverfassungsgericht zufolge die streitgegenständliche Passage im Interesse des Meinungskampfes hinzunehmen hat. Er hebt auch hervor, dass das Oberlandesgericht bei der Festsetzung der Entschädigungshöhe geurteilt hat, dass die streitgegenständliche Passage zwar zu einigen Kommentaren in anderen Medien geführt hat, dass aber andere Umstände, die die Beschwerdeführerin seiner Auffassung nach in Teilen zu vertreten hatte, die Debatte um die Frage, ob die Beschwerdeführerin Sympathien für einige Aspekte des Nationalsozialismus hege, angeheizt haben.

41. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen und angesichts des Ermessensspielraums der innerstaatlichen Instanzen bei der Abwägung widerstreitender Belange ist der Gerichtshof der Auffassung, dass keine gewichtigen Gründe vorliegen, die es rechtfertigen würden, die Ansicht des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts durch die eigene zu ersetzen. Es kann daher nicht behauptet werden, dass diese durch die Ablehnung des Antrags der Beschwerdeführerin die positiven Verpflichtungen des deutschen Staates zum Schutz des Rechtes der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Privatlebens im Sinne des Artikels 8 der Konvention vernachlässigt haben.

42. Hieraus ergibt sich, dass die Rüge offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig,

die Beschwerde für unzulässig zu erklären.

Ausgefertigt in französischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. Dezember 2018.

Milan Blaško                                              André Potocki
Stellvertretender Sektionskanzler               Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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