BILD GMBH & CO. KG ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerden Nrn. 62721/13 und 62741/13

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 62721/13 und 62741/13
B. GMBH & CO. KG ./. Deutschland
und S. AG ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 4. Dezember 2018 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

Yonko Grozev, Präsident,
Gabriele Kucsko-Stadlmayer und
Lәtif Hüseynov,
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, die am 27. September 2013 erhoben wurden,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die Beschwerdeführerinnen, die B. GmbH & Co. KG („die erste Beschwerdeführerin“) und die S. AG („die zweite Beschwerdeführerin“) sind juristische Personen deutschen Rechts mit jeweiligem Sitz in B.. Sie wurden vor dem Gerichtshof von Herrn A., Rechtsanwalt in D., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

1. Der Hintergrund der Rechtssache

2. Der Sachverhalt, wie er von den beschwerdeführenden Gesellschaften dargelegt worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen.

3. Die zweite Beschwerdeführerin verlegt die auflagenstarke deutsche Tageszeitung B.; die erste Beschwerdeführerin betreibt das von ihr gegründete Internetportal, auf dem ein Teil der Artikel und Reportagen aus der Druckfassung der Tageszeitung veröffentlicht werden.

4. Am 20. März 2010 wurde X, Journalist, Moderator für Wettersendungen und prominenter Unternehmer, festgenommen und in Untersuchungshaft genommen. Er wurde schwerer Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung seiner früheren Ehefrau verdächtigt.

2. Die Veröffentlichung der streitgegenständlichen Fotografie

5. Am 21. Juli 2010 erschien in der Tageszeitung B. und im dazugehörigen Internetportal ein Artikel mit der Überschrift „Statt Aktionärs-Versammlung hinter Gittern – Hier sonnt sich [X] im Knast“. Der Artikel war mit zwei Fotografien versehen, von denen eines X im Gefängnishof mit freiem Oberkörper zwischen anderen Gefangenen sitzend zeigte („die streitgegenständliche Fotografie“). Die Bildunterschrift lautete: „Ganz entspannt mit freiem Oberkörper unterhält sich Wetterexperte [X] auf dem Gefängnishof mit seinen Mithäftlingen. Einmal am Tag, um 14.45 Uhr darf er raus zum Hofgang.“

6. Im zugehörigen Artikel hieß es:

„Wir sehen den Gefängnishof der Justizvollzugsanstalt. Es ist Mittag, 30 Grad, die Sonne scheint. Einige Häftlinge schlendern umher, andere sitzen auf dem Rasen. Unter ihnen auch ein Mann mit braunen Haaren und nacktem Oberkörper … Hier sonnt sich X (52). Der Wetterexperte sitzt seit dem 20. März in Untersuchungshaft, weil ihn seine Ex-Freundin S. W. (37, Name geändert) wegen Vergewaltigung angezeigt hatte. X bestreitet die Vorwürfe. Weil der U-Häftling nicht aus dem Knast darf, sollte gestern eigentlich eine gerichtlich genehmigte Generalversammlung der X AG hinter Gittern stattfinden. Sieben Aktionäre waren geladen. Sie sollten unter anderem beschließen, was mit dem Bilanzgewinn […] gemacht wird. Doch die Versammlung wurde kurzfristig abgesagt, das Unternehmen war zu einer Stellungnahme nicht bereit. Stattdessen vertrieb sich Deutschlands berühmtester U-Häftling […] die Zeit beim Hofgang. Der Anwalt [von X] hatte zuletzt Haftbeschwerde eingereicht. Die Generalstaatsanwaltschaft hat bis morgen Zeit, sich zu äußern. Frühestens nächste Woche soll darüber entschieden werden, teilte das Oberlandesgericht in Karlsruhe nun mit. Der Prozess gegen X beginnt am 6. September in Mannheim.“

3. Die Ereignisse nach der Veröffentlichung

7. Am 29. Juli 2010 wurde X aus der Haft entlassen. Am 2. August 2010 veröffentlichte die deutsche Tageszeitung S. ein Interview, in dem X den Alltag in der Untersuchungshaft schilderte. In der Folge erschienen weitere Pressebeiträge zu diesem Thema. Am 16. Juni 2011 veröffentlichte die Wochenzeitung W. ein weiteres, langes Interview, in dem unter anderem die Haftbedingungen für X besprochen wurden.

8. Das Hauptverfahren, über das die Medien intensiv berichteten, begann am 6. September 2010 und endete am 31. Mai 2011 mit dem Freispruch von X.

9. Im Oktober 2012 veröffentlichten X und seine neue Ehefrau ein Buch, in dem auf Seite 67 stand, dass der Gefängnisdirektor X darüber informiert habe, dass ein Teil des Gefängnishofes von den benachbarten Häusern aus einsehbar sei. X fügte hinzu, dass er zu Beginn nicht gewagt habe, auf den Hof zu gehen, danach nur den Teil des Hofes betreten habe, der von den benachbarten Häusern nicht eingesehen werden konnte, dass er gegen Ostern angefangen habe, sich darüber lustig zu machen, gesehen zu werden, und schließlich das Risiko in Kauf genommen habe, fotografiert zu werden, und dabei auf einen Rest von Anstand des S.-Verlags gesetzt habe.

4. Das Verfahren vor den Zivilgerichten

10. Am 15. Dezember 2010 erhob X vor dem Landgericht K. Klage auf Unterlassung der erneuten Veröffentlichung der streitgegenständlichen Fotografie und beantragte die Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.

11. Am 22. Juni 2011 gab das Landgericht K. dem Antrag statt, untersagte den Beschwerdeführerinnen, die streitgegenständliche Fotografie ohne die Zustimmung des X zu veröffentlichen oder sonst zu verbreiten, wie geschehen in den veröffentlichten Beiträgen vom 21. Juli 2010, und verurteilte sie zur teilweisen Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten von X (345 Euro (EUR)) und der Übernahme der Kosten des Rechtsstreits. Es war insbesondere der Auffassung, dass X und seine Mitgefangenen sich im Gefängnishof und damit an einem abgeschiedenen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Ort befanden, und X daher nicht damit rechnen musste, dass Lichtbilder von ihm angefertigt werden, wie auch der Umstand zeige, dass er sich dort mit freiem Oberkörper aufgehalten habe. Nach Auffassung des Landgerichts musste X Zugang zu Rückzugsbereichen gewährt werden, auch wenn die Haft nicht dem Zweck diene, den Gefangenen Freiräume zu verschaffen, die von der Öffentlichkeit nicht einsehbar seien. Das Landgericht war ferner der Auffassung, dass der Informationswert der streitgegenständlichen Fotografie gering sei und dass sie insbesondere nicht belege, dass X in seiner Haftzeit eine Sonderbehandlung erfahren oder sich guter Gesundheit erfreut habe. Auch wies es darauf hin, dass es keinen Zusammenhang zwischen der geplanten Generalversammlung in der Justizvollzugsanstalt und der Aufnahme von X beim Sonnenbad feststellen könne. Schließlich stellte es fest, dass die Informationen, die X der Wochenzeitung S. im Rahmen eines Interviews gegeben hatte, in diesem Zusammenhang unbeachtlich seien, da dieses erst nach Veröffentlichung der streitgegenständlichen Fotografie stattgefunden habe.

12. Mit zwei Urteilen vom 14. Februar 2012 wies das Oberlandesgericht K. die Berufungen der beschwerdeführenden Gesellschaften zurück und reduzierte die Erstattungshöhe der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten auf 261 Euro. Es war der Auffassung, dass unter Berücksichtigung des vom Bundesgerichtshof entwickelten abgestuften Schutzkonzepts (siehe von H. ./. Deutschland (Nr. 2) [GK], Individualbeschwerden Nrn. 40660/08 und 60641/08, Rdnrn. 29–35, ECHR 2012) die Veröffentlichung und Verbreitung der Fotografie mangels einer durch die Beschwerdeführerinnen eingeholten Einwilligung des X und ohne Bezug zu einem Ereignis der Zeitgeschichte rechtswidrig sei.

13. Das Oberlandesgericht war der Auffassung, dass die Fotografie keinen Informationswert und insbesondere keinen Bezug zu einem zeitgeschichtlichen Ereignis habe und demnach kein aktueller Anlass bestanden habe, X im Gefängnishof abzubilden. Es wies darauf hin, dass sich X zu dem Zeitpunkt seit drei Wochen in Untersuchungshaft befunden habe und dies allgemein bekannt gewesen sei, und befand, dass es daher keinen Grund gegeben habe, dies erneut mitzuteilen. Es stellte insbesondere fest, dass anders als im Fall eines 2008 gesprochenen Urteils des Bundesgerichtshofs der Begleitartikel zur streitgegenständlichen Fotografie nicht über eine mögliche Sonderbehandlung von X oder seinen Gesundheitszustand berichte. Darüber hinaus beständen Zweifel, ob die Fotografie belege, dass sich X tatsächlich in Haft befinde, denn zum einen seien die aufgenommenen Personen (darunter X) nicht hinter Gittern dargestellt, zum anderen sei die im Hintergrund sichtbare Einzäunung nicht klar als Gefängniseinfriedung erkennbar.

14. Unter Betrachtung der Fotografie als Teil eines Ganzen, bestehend aus den Überschriften und dem Artikeltext sowie den Bildaufschriften und -unterschriften, war das Oberlandesgericht der Auffassung, dass die streitgegenständliche Fotografie keinen weitergehenden Informationswert habe. Unter besonderer Berücksichtigung des Titels „Statt Aktionärs-Versammlung […]“ führte das Oberlandesgericht aus, dass, würde man der Auffassung der Beschwerdeführerinnen folgen, wonach die mediale Omnipräsenz des X die Verbreitung der streitgegenständlichen Fotografie rechtfertige, es zulässig wäre, jegliche Aufnahme einer prominenten Persönlichkeit ohne ihre Zustimmung zu verbreiten, selbst wenn das betreffende Bildnis in keinem Bezug zur veröffentlichten Meldung stehe. Es stellte darüber hinaus fest, dass der Artikel sich darauf beschränke, dem Leser den Ort, an dem X saß, das Wetter, den Grund für die Untersuchungshaft von X, die Absage der Generalversammlung, das laufende Haftbeschwerdeverfahren und den Beginn des Strafprozesses im September mitzuteilen. Es fügte hinzu, dass die unter dem betreffenden Artikel verlinkten weiteren Artikel über Sexualpraktiken des X und Zweifel zur Neutralität eines Richters keinen inneren Zusammenhang zur streitgegenständlichen Fotografie aufwiesen und lediglich den Tatvorwurf gegenüber X wiederholten, ohne dass dafür ein aktueller Anlass bestand.

15. Selbst wenn man dem Bildnis einen über die Wortberichterstattung hinausgehenden Informationswert zugestehe, so führte das Oberlandesgericht außerdem aus, sei zu beachten, dass sich X zum Zeitpunkt der Bildaufnahme an einem abgeschiedenen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Ort befand. Dies gelte ungeachtet der Unfreiwilligkeit des Aufenthalts von X in der Justizvollzugsanstalt; die Situation sei vergleichbar mit Fällen privater Betätigung von Prominenten, insbesondere bei Urlaubsaufenthalten. X musste, schloss das Oberlandesgericht, nicht damit rechnen, dass er im Gefängnishof fotografiert werden würde, umso weniger, als die Justizvollzugsanstalt der Öffentlichkeit nicht zugänglich war. Unter Bezugnahme auf das Urteil von H. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 59320/00, ECHR 2004–VI) unterstrich es, dass den Umständen, unter denen das Bildnis aufgenommen wurde, besonderes Gewicht zukomme. Es wies in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, dass das Bildnis heimlich unter Ausnutzung von technischen Mitteln von einem öffentlichen Gebäude in der Nachbarschaft der Justizvollzugsanstalt aufgenommen wurde, zu dem sich der Fotograf überdies ohne Zustimmung Zutritt verschafft hatte. Die Tatsache, dass in den Medien über einen langen Zeitraum über X berichtet wurde, nehme ihm nicht den Schutz seiner Privatsphäre, wenn er sich in abgeschirmten Bereichen befände, und sei demnach nicht geeignet, die Verbreitung der streitgegenständlichen Fotografie zu rechtfertigen.

16. Die Revision ließ das Oberlandesgericht nicht zu.

17. Am 23. März 2012 erhoben die beschwerdeführenden Gesellschaften zwei Verfassungsbeschwerden vor dem Bundesverfassungsgericht.

18. Am 26. März 2013 beschloss das Bundesverfassungsgericht ohne weitere Begründung, die Verfassungsbeschwerden der beschwerdeführenden Gesellschaften nicht zur Entscheidung anzunehmen (Az. 1 BvR 712/12 und 715/12). Die Beschlüsse wurden den Beschwerdeführerinnen am 11. April 2013 übermittelt.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

19. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis sind im Urteil von H. (Nr. 2) (a. a. O., Rdnrn. 69–72) wiedergegeben.

RÜGE

20. Unter Berufung auf Artikel 10 der Konvention rügen die Beschwerdeführerinnen, dass die deutschen Gerichte ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt und insbesondere die Kriterien missachtet hätten, die der Gerichtshof in Rechtssachen niedergelegt habe, die einer Abwägung zwischen den Artikeln 8 und 10 der Konvention bedurften.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

A. Verbindung der Beschwerden

21. In Anbetracht des Zusammenhangs der Beschwerden in Bezug auf den Sachverhalt und die durch sie aufgeworfenen Grundsatzfragen hält der Gerichtshof es für angebracht, sie nach Artikel 42 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung zu verbinden.

B. Behauptete Verletzung von Artikel 10 der Konvention

22. Die Beschwerdeführerinnen rügen das ihnen erteilte Verbot, die streitgegenständliche Fotografie erneut zu veröffentlichen oder zu verbreiten. Sie berufen sich auf Artikel 10 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […].“

23. Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, dass die Veröffentlichung der betreffenden Fotografie einen Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse geleistet habe, da mit X eine prominente Persönlichkeit dargestellt worden sei, die sich nach ihrer Festnahme wegen v. a. mutmaßlicher Vergewaltigung in Untersuchungshaft befand, und dass demnach ein Bezug zum Strafverfahren gegen X bestanden habe. Die Beschwerdeführerinnen weisen darauf hin, dass die Presse das Recht habe, die Öffentlichkeit insbesondere auch über Strafverfahren zu informieren. Außerdem zeige die streitgegenständliche Fotografie, dass X sich in der Justizvollzugsanstalt wohlgefühlt und solche Privilegien genossen habe, dass er vorgesehen habe, dort eine Generalversammlung seiner Gesellschaft abzuhalten. Sie sind darüber hinaus der Auffassung, dass eine Fotografie nicht zwangsläufig einen Bezug zum illustrierten Artikel haben muss, und auch lediglich als Blickfang dienen und so das Interesse des Lesers für den Artikel wecken kann.

24. Die Beschwerdeführerinnen sind der Ansicht, dass das Oberlandesgericht mit der Forderung, durch eine Fotografie müsse eine neue Information mitgeteilt werden, ein neues Kriterium für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung einer Fotografie einführe. Sie bringen vor, dass die Presse frei entscheiden können müsse, über welches Thema berichtet werden soll, einschließlich bereits öffentlich bekannter Ereignisse, und auf welche Weise. Sie machen unter anderem geltend, dass X sich öffentlich zum eingeleiteten Strafverfahren geäußert habe und dass andere Fotografien zu diesem Thema bereits veröffentlicht worden seien.

25. Auch wenn die Fotografie heimlich und ohne Zustimmung des X aufgenommen worden sei, so weiter die Ansicht der Beschwerdeführerinnen, sei sie nicht mithilfe betrügerischer Mittel angefertigt worden. Sie machen geltend, dass der Gefängnishof von den benachbarten Gebäuden aus einsehbar gewesen sei und daher X von einer unbestimmten Zahl von Personen gesehen werden konnte. Darüber hinaus weisen sie darauf hin, dass X durch den Gefängnisdirektor darauf hingewiesen worden sei und er erklärt habe, dass ihm das letztendlich unwichtig gewesen sei.

26. Zwar sei die streitgegenständliche Fotografie in Medien mit nationaler Reichweite veröffentlicht worden, tragen sie abschließend vor, jedoch seien ähnliche Aufnahmen des X in anderen Medien erschienen. Sie sind der Auffassung, die Fotografie zeige X nicht in einem Zustand der Verzweiflung oder starker emotionaler Erregung und habe keinen eigenständigen Verletzungseffekt.

27. Der Gerichtshof stellt fest, dass das gegenüber den beschwerdeführenden Gesellschaften ergangene Verbot einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt, dass dieser Eingriff durch die anwendbaren Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs und des Kunsturheberrechtsgesetzes vorgesehen ist und den Schutz der Rechte anderer zum Ziel hatte. Er beschränkt sich demnach im Folgenden auf die Prüfung der Frage, ob dieser Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

28. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Freiheit der Meinungsäußerung zwar die Veröffentlichung von Fotografien umfasst, es sich hier allerdings um einen Bereich handelt, in dem der Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer eine besondere Bedeutung einnimmt, da eine Fotoaufnahme sehr persönliche oder sogar intime Informationen über eine Person enthalten kann. Das Recht der Person auf Schutz des eigenen Bildes stellt eine der wesentlichen Bedingungen für ihre persönliche Entfaltung dar. Voraussetzung ist vor allem, dass der Einzelne den Umgang mit dem eigenen Bild bestimmt, wozu insbesondere die Möglichkeit zählt, dass er die Verbreitung des Bildes ablehnen kann (von H. (Nr. 2), a. a. O., Rdnrn. 103 und 96, sowie Couderc und Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnr. 85, ECHR 2015 (Auszüge)).

29. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegenden Beschwerden eine Prüfung des angemessenen Ausgleichs zwischen dem Recht der beschwerdeführenden Gesellschaften auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention und dem Recht auf Achtung des Privatlebens von X nach Artikel 8 der Konvention erfordern. In diesem Zusammenhang verweist er auf die in den Urteilen von H. (Nr. 2) (a. a. O) und S. AG ./. Deutschland ([GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, 7. Februar 2012) niedergelegten und in der Folge konkretisierten (Couderc und Hachette Filipacchi Associés, a. a. O., Rdnrn. 83–93, sowie Medžlis Islamske Zajednice Brčko u. a. ./. Bosnien und Herzegowina [GK], Individualbeschwerde Nr. 17224/11, Rdnr. 77, 27. Juni 2017) anwendbaren Grundsätze betreffend die in Rede stehenden Rechte und den Ermessensspielraum, der den Vertragsstaaten in solchen Fällen zusteht. Haben die innerstaatlichen Instanzen die Abwägung in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen, erinnert er, bedarf es für den Gerichtshof gewichtiger Gründe, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (MGN Limited ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 39401/04, Rdnrn. 150 und 155, 18. Januar 2011, S., a. a. O., Rdnr. 88, sowie von H. (Nr. 2), a. a. O., Rdnr. 107). Dem Ergebnis der durch die innerstaatlichen Gerichte vorgenommenen Abwägung kann zugestimmt werden, wenn sie die geeigneten Kriterien angewandt und außerdem das Gewicht eines jeden Kriteriums anhand der Umstände der Rechtssache gemessen haben (Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete und Index.hu Zrt ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 22947/13, Rdnr. 68, 2. Februar 2016, sowie Faludy-Kovács ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 20487/13, Rdnr. 29, 23. Januar 2018).

30. Die für die Abwägung einschlägigen Kriterien sind der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, der Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, der Gegenstand der Berichterstattung, das vorherige Verhalten der betroffenen Person, der Inhalt, die Form und die Folgen der Veröffentlichung, die Umstände, unter denen die streitgegenständlichen Fotografien aufgenommen wurden, sowie im Rahmen einer nach Artikel 10 der Konvention erhobenen Beschwerde auch die Schwere der ausgesprochenen Sanktion (Couderc und Hachette Filipacchi Associés, a. a. O., Rdnr. 93).

31. In der vorliegenden Rechtssache hält der Gerichtshof es für angemessen, diese Kriterien in der folgenden Reihenfolge zu prüfen: der Bekanntheitsgrad von X, der Beitrag der Fotografie zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, die Umstände, unter denen die streitgegenständliche Fotografie aufgenommen wurde, das vorherige Verhalten von X gegenüber den Medien, die Form, der Inhalt und die Folgen der Veröffentlichung der streitgegenständlichen Fotografie für X sowie die Schwere der gegen die Beschwerdeführerinnen ausgesprochenen Sanktion (Halldorsson ./. Island, Individualbeschwerde Nr. 44322/13, Rdnr. 41, 4. Juli 2017).

32. Der Gerichtshof stellt bezüglich des Bekanntheitsgrades des X zunächst fest, dass die Beurteilung des Bekanntheitsgrades einer Person in erster Linie den deutschen Gerichten obliegt (S. AG, a. a. O., Rdnr. 98) und dass diese die Bekanntheit von X offensichtlich vorausgesetzt haben, wie sich unter anderem im Vergleich der Situation des im Gefängnishof sitzenden X mit der eines Prominenten bei Freizeitaktivitäten und Urlaubsaufenthalten zeigt. X konnte also als Person des öffentlichen Lebens angesehen werden.

33. Bezüglich der Frage nach dem Beitrag der Fotografie zu einer Debatte von allgemeinem Interesse weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Fotografie den Zivilgerichten zufolge keinen über den Artikeltext hinausgehenden Informationswert hatte, weder als solche, noch in Zusammenhang mit der Artikelveröffentlichung, den Bildaufschriften und -unterschriften oder den unter dem Artikel stehenden Verweisen auf die weitere Berichterstattung zu X. Hierzu führte das Oberlandesgericht insbesondere aus, dass die Untersuchungshaft von X seit langem allgemein bekannt gewesen sei und es demnach keinen Grund gegeben habe, hierüber erneut zu berichten, zumal die Fotografie nicht belege, dass X während seiner Haft Sonderbehandlungen genieße oder sich guter Gesundheit erfreue.

34. Der Gerichtshof würdigt, dass das Oberlandesgericht den Informationswert des gesamten Artikels eingehend geprüft hat, es fällt ihm jedoch schwer, sich dessen Ergebnis anzuschließen. Er bekräftigt in diesem Zusammenhang seine Ausführungen zur Bebilderung eines Artikels: Zum einen überlässt Artikel 10 der Konvention den Journalisten die Entscheidung darüber, ob es notwendig ist oder nicht, Bekräftigungen ihrer Informationen zu veröffentlichen, um deren Glaubwürdigkeit zu gewährleisten, zum anderen darf der Bezug der Fotografie zum Artikel nicht schwach, künstlich oder willkürlich sein (Couderc und Hachette Filipacchi Associés, a. a. O., Rdnr. 146 und 148, mit weiteren Nachweisen). Er kann sich daher der Auffassung des Oberlandesgerichts nicht anschließen, insbesondere nicht dem Ergebnis, die Veröffentlichung sei nicht gerechtfertigt, weil die Fotografie keine neuen Tatsachen übermittle, sondern sich darauf beschränke, über ein bereits allgemein bekanntes Ereignis zu berichten, und sie keinen inneren Zusammenhang mit dem Artikeltext habe.

35. Der Gerichtshof stellt allerdings auch fest, dass das Oberlandesgericht letztlich nicht über die Frage entschieden habe, ob die betreffende Fotografie einen sonstigen Informationswert habe, denn sie sei unter Umständen aufgenommen worden, die ein Verbot ihrer Veröffentlichung rechtfertigten. In der Tat haben die deutschen Gerichte den Umständen der Bildaufnahme erhebliches Gewicht beigemessen (siehe sinngemäß Société de conception de presse et d’édition ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 4683/11, Rdnr. 43, 25. Februar 2016). Hierbei haben sie nicht nur darauf hingewiesen, dass die Fotografie heimlich von einem Ort aus aufgenommen wurde, der grundsätzlich für die Öffentlichkeit und darüber hinaus für den Fotografen nicht zugänglich war, sondern auch darauf, dass sich X zum Zeitpunkt der Bildaufnahme an einem abgeschirmten, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Ort befand und er nicht damit rechnen musste, dass er dort fotografiert werden würde.

36. Bezüglich der schriftlichen Äußerung des X, er habe gewusst, dass ein Teil des Gefängnishofes von den benachbarten Häusern aus einsehbar sei und dass Aufnahmen von ihm gemacht werden könnten, weist der Gerichtshof darauf hin, dass diese Information erst lange nach der Veröffentlichung der streitgegenständlichen Fotografie bekannt gemacht wurde und sie weder den Zivilgerichten zum Zeitpunkt ihrer Entscheidungen, noch dem Fotografen oder den Beschwerdeführern vorlag, als die streitgegenständliche Fotografie aufgenommen bzw. veröffentlicht wurde. Dieser Umstand konnte daher keinerlei Einfluss auf die von den deutschen Zivilgerichten vorgenommene Abwägung haben. Der Gerichtshof kann insbesondere anerkennen, dass die Gerichte bei der Abwägung der in Rede stehenden Rechte den Bedingungen, unter denen die streitgegenständliche Fotografie aufgenommen wurde, erhebliches Gewicht beigemessen haben, zumal die Veröffentlichung einer Fotografie, je nachdem, was darauf abgebildet ist, im Vergleich zu einer Wortberichterstattung als tieferer Eingriff gewertet werden kann (von H. (Nr. 2), a. a. O., Rdnr. 113).

37. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Zivilgerichte auf das vorherige Verhalten von X gegenüber den Medien nicht ausdrücklich eingegangen sind. Sie haben jedoch ausgeführt, dass die Tatsache, dass in den Medien bereits über X berichtet wurde, nicht genüge, um ihm den Schutz seiner Privatsphäre zu nehmen und insbesondere die Veröffentlichung einer Fotografie zu erlauben, die X in einem Gefängnishof zeige. Angesichts seiner Ausführungen unter Randnummer 36 kann der Gerichtshof sich ihrem Ergebnis anschließen.

38. Zu Form und Inhalt der streitgegenständlichen Fotografie verweist der Gerichtshof auf seine Schlussfolgerungen unter den Randnummern 35–36. Im Übrigen weist er darauf hin, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht darauf eingegangen sind, ob die Veröffentlichung der streitgegenständlichen Fotografie besondere Folgen für X hatte. Er ist der Auffassung, dass die Fotografie weit verbreitet worden ist, da sie in einer auflagenstarken, überregionalen Tageszeitung sowie im dazugehörigen Internetportal veröffentlicht wurde. Der Gerichtshof ist darüber hinaus der Auffassung, dass die Aufnahme für das Ansehen von X zwar nicht verleumderisch, abwertend oder herabwürdigend war, X aber dennoch in einer Situation zeigte, in der er nicht damit rechnen musste, fotografiert zu werden (vgl. im Gegensatz dazu Lillo-Stenberg und Sæther ./. Norwegen, Individualbeschwerde Nr. 13258/09, Rdnrn. 41–43, 16. Januar 2014, und S.-J. und J ./. Deutschland (Entsch.), Nrn. 68273/10 und 34194/11, Rdnr. 38, 24. Mai 2016).

39. Bezüglich der durch die deutschen Gerichte ausgesprochenen Sanktion stellt der Gerichtshof schließlich fest, dass zwar jede Sanktion an sich eine abschreckende Wirkung auf die Presse haben kann (Couderc und Hachette Filipacchi Associés, a. a. O., Rdnr. 151), dass aber die deutschen Gerichte sich darauf beschränkt haben, den beschwerdeführenden Gesellschaften die erneute Veröffentlichung oder Verbreitung der streitgegenständlichen Fotografie zu untersagen (S. und T. GmbH ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 51405/12, Rdnrn. 56-57, 21. September 2017; Van Beukering und Het Parool B.V. ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 27323/14, Rdnr. 37, 20. September 2016; H. GmbH & Co KG ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 52205/11, Rdnr. 28, 15. März 2016) und sie zur Erstattung eines recht geringen Betrags für vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu verpflichten. Daher ist er der Auffassung, dass unter den vorliegenden Umständen die gegen die beschwerdeführenden Gesellschaften ausgesprochene Sanktion bei der Abwägung der unterschiedlichen Rechte kein großes Gewicht haben kann.

40. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die deutschen Gerichte das Recht der beschwerdeführenden Gesellschaften auf freie Meinungsäußerung und das Recht des X auf Achtung seines Privatlebens im Licht der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien gebührend abgewogen haben. Unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums, der den Vertragsstaaten zusteht, ist für den Gerichtshof kein gewichtiger Grund ersichtlich, die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen.

41. Daher sind die Rügen offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:

Die Beschwerden werden verbunden;

die Beschwerden werden für unzulässig erklärt.

Ausgefertigt in französischer Sprache und schriftlich zugestellt am 10. Januar 2019.

Milan Blaško                                             Yonko Grozev
Stellvertretender Sektionskanzler               Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert