EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
GROSSE KAMMER
RECHTSSACHE I. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerden Nrn. 10211/12 und 27505/14)
URTEIL
STRASSBURG
4. Dezember 2018
Dieses Urteil ist endgültig, kann aber redaktionell überarbeitet werden.
In der Rechtssache I. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Große Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Guido Raimondi, Präsident,
Angelika Nußberger,
Linos-Alexandre Sicilianos,
Helena Jäderblom,
Robert Spano,
Vincent A. De Gaetano,
Kristina Pardalos,
Paulo Pinto de Albuquerque,
Aleš Pejchal,
Dmitry Dedov,
Iulia Antoanella Motoc,
Jon Fridrik Kjølbro,
Stéphanie Mourou-Vikström,
Georges Ravarani,
Alena Poláčková,
Pauliine Koskelo und
Lәtif Hüseynov
sowie Johan Callewaert, Stellvertretender Kanzler der Großen Kammer,
nach nicht öffentlicher Beratung am 29. November 2017 und am 11. Juli 2018
das folgende Urteil erlassen, das an dem zuletzt genannten Tag angenommen wurde:
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 10211/12 und 27505/14) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, I. („der Beschwerdeführer“) am 24. Februar 2012 bzw. 4. April 2014 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer, dem für die Verfolgung beider Individualbeschwerden Prozesskostenhilfe gewährt worden war, wurde in dem Individualbeschwerdeverfahren Nr. 10211/12 zunächst von Herrn A., Rechtsanwalt in M., vertreten; später wurde er in beiden Individualbeschwerdeverfahren von Herrn T., Rechtsanwalt in T., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigten, Frau A. Wittling-Vogel, Herrn H.-J. Behrens und Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer brachte insbesondere vor, dass seine in Rede stehende, im Hauptsacheverfahren angeordnete „nachträgliche“ Sicherungsverwahrung (zur Terminologie siehe auch Rdnrn. 104 bis 106 und 157) gegen Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe. Unter Bezugnahme auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügte er weiter, die innerstaatlichen Gerichte hätten über die Rechtmäßigkeit seiner einstweiligen Sicherungsverwahrung nicht zügig entschieden und Richter P. sei in dem Hauptsacheverfahren über die Anordnung seiner „nachträglichen“ Sicherungsverwahrung befangen gewesen.
4. Die Beschwerden wurden der Fünften Sektion des Gerichtshofs zugewiesen (Artikel 52 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). Am 26. November 2013 wurde die Individualbeschwerde Nr. 10211/12 der Regierung zur Kenntnis gebracht. Am 22. Dezember 2014 wurden der Regierung die Rügen bezüglich der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers sowie die Rüge bezüglich der Parteilichkeit des Richters P. aus der Individualbeschwerde Nr. 27505/14 übermittelt und die Individualbeschwerde Nr. 27505/14 im Übrigen gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung für unzulässig erklärt.
5. Am 2. Februar 2017 entschied eine aus dem Präsidenten Erik Møse, den Richterinnen und Richtern Angelika Nußberger, Ganna Yudkivska, Faris Vehabović, Yonko Grozev, Síofra O’Leary und Mārtiņš Mits sowie dem Stellvertretenden Sektionskanzler Milan Blaško bestehende Kammer der Fünften Sektion einstimmig, die Individualbeschwerden zu verbinden. Nach der einseitigen Erklärung der Regierung nach Artikel 5 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention in Bezug auf die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers vom 6. Mai 2011 bis zum 20. Juni 2013 strich sie einen Teil der Beschwerden im Register und erklärte die Individualbeschwerden im Übrigen für zulässig. Die Kammer befand zudem einstimmig, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ab dem 20. Juni 2013 weder Artikel 5 Abs. 1 der Konvention noch 7 Abs. 1 der Konvention verletzt habe. Darüber hinaus befand sie einstimmig, dass keine Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention aufgrund der Dauer des Verfahrens zur Überprüfung der einstweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung und keine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention aufgrund der behaupteten mangelnden Unparteilichkeit des Richters P. in dem zur erneuten Anordnung der Sicherungsverwahrung führenden Hauptsacheverfahren vorgelegen habe.
6. Am 15. März 2017 beantragte der Beschwerdeführer die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer gemäß Artikel 43 der Konvention und Artikel 73 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Am 29. Mai 2017 nahm der Ausschuss der Großen Kammer diesen Antrag an.
7. Über die Zusammensetzung der Großen Kammer wurde gemäß Artikel 26 Absätze 4 und 5 der Konvention sowie Artikel 24 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entschieden. Bei den ersten Beratungen ersetzte Stéphanie Mourou-Vikström, Ersatzrichterin, Işıl Karakaş, die an der weiteren Prüfung der Rechtssache nicht teilnehmen konnte (Artikel 24 Abs. 3 der Verfahrensordnung).
8. Der Beschwerdeführer und die Regierung reichten jeweils einen Schriftsatz zur Begründetheit ein (Artikel 59 Abs. 1 der Verfahrensordnung). Darüber hinaus ging eine Stellungnahme der drittbeteiligten Organisation European Prison Litigation Network ein, welche vom Präsidenten am 30. August 2017 zur Teilnahme am schriftlichen Verfahren ermächtigt worden war (Artikel 36 Abs. 2 der Konvention und Artikel 44 Absätze 3 und 4 der Verfahrensordnung).
9. Am 29. November 2017 fand im Menschenrechtsgebäude in Straßburg eine öffentliche mündliche Verhandlung statt (Artikel 59 Abs. 3 der Verfahrensordnung).
Dabei erschienen vor dem Gerichtshof:
(a) für die Regierung
die Verfahrensbevollmächtigten
Frau A. Wittling-Vogel, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und
Frau K. Behr, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz,
der Rechtsbeistand
Herr T. Giegerich, Professor für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht, Universität des Saarlandes,
die Beraterinnen und Berater
Frau P. Viebig-Ehlert, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz,
Frau K. Müller, Lehrstuhl für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht, Universität des Saarlandes,
Herr B. Bösert, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz,
Herr C.-S. Haase, Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz,
Frau S. Bender, Justizministerium des betroffenen Bundeslandes und
Herr A. Stegmann, Justizministerium des betroffenen Bundeslandes;
(b) für den Beschwerdeführer
die Rechtsbeistände
Herr T., Rechtsanwalt,
und
Herr M.,
die Beraterin
Frau T.
Der Gerichtshof hörte die Erklärungen von Herrn T., Herrn M. und Herrn Giegerich sowie ihre Antworten auf die Fragen der Richterinnen und Richtern an.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
10. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und ist derzeit in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt X. (im Folgenden als „Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X.“ bezeichnet) untergebracht.
A. Der Hintergrund der Rechtssache: Die Verurteilung des Beschwerdeführers und die erste Anordnung seiner nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
11. Am 29. Oktober 1999 verurteilte das Landgericht A. den Beschwerdeführer unter Anwendung des Jugendstrafrechts wegen Mordes zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Es stellte fest, dass der damals neunzehn Jahre alte Beschwerdeführer im Juni 1997 eine Frau, die auf einem Waldweg gejoggt sei, unter Anwendung beträchtlicher Gewalt mit einem Kabel, einem Ast und seinen Händen gewürgt habe, das tote oder sterbende Opfer teilweise entkleidet und dann onaniert habe. Das Gericht, das zwei ärztliche Sachverständige hinzugezogen hatte, stellte fest, dass der Beschwerdeführer voll schuldfähig gewesen sei, als er die Frau zur Befriedigung seines Sexualtriebs sowie zur Verdeckung der geplanten Vergewaltigung getötet habe. Da der Beschwerdeführer zu den Motiven für seine Tat nicht viel gesagt habe, hätten die beiden Sachverständigen nicht den Schluss ziehen wollen, der Beschwerdeführer leide an einer sexuellen Deviation, obwohl Anhaltspunkte dafür vorgelegen hätten.
12. Am 12. Juli 2008 trat eine neue Gesetzesbestimmung, § 7 Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG), in Kraft. Sie erlaubte die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (zur Terminologie siehe auch Rdnrn. 104 bis 106 und 157) gegen nach dem Jugendstrafrecht verurteilte Personen (siehe Rdnrn. 54 bis 57).
13. Ab 17. Juli 2008 war der Beschwerdeführer, nach vollständiger Verbüßung seiner Freiheitsstrafe, gemäß § 275a Abs. 5 der Strafprozessordnung (StPO) in der einstweiligen Sicherungsverwahrung untergebracht (siehe Rdnr. 61).
14. Am 22. Juni 2009 ordnete das Landgericht A. unter Mitwirkung des Richters P. gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an (siehe Rdnrn. 56 und 59). Das Gericht befand unter Bezugnahme auf die Gutachten eines kriminologischen Sachverständigen (Bo.) und eines psychiatrischen Sachverständigen (Ba.), dass bei dem Beschwerdeführer weiterhin sexuelle Gewaltfantasien aufträten und er im Falle seiner Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut schwere Sexualstraftaten bis hin zum Mord zur Befriedigung seines Sexualtriebs begehen würde. Am 9. März 2010 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts.
15. Am 4. Mai 2011 ließ das Bundesverfassungsgericht in einem Leiturteil die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu. Es hob das Urteil des Landgerichts vom 22. Juni 2009 und das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. März 2010 auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Ferner befand es die Anordnung der einstweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung – die mit Eintritt der Rechtskraft der Anordnung der nachträglichen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung im Hauptsacheverfahren erledigt gewesen war – für verfassungswidrig (2 BvR 2333/08 und 2 BvR 1152/10). Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die angegriffenen Urteile und Beschlüsse das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers sowie das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot verletzt hätten (siehe im Einzelnen Rdnrn. 68 bis 75).
B. Das in der Individualbeschwerde Nr. 10211/12 in Rede stehende Verfahren über die einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung
1. Verfahren vor dem Landgericht
16. Am 5. Mai 2011 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht A. seine sofortige Freilassung. Er machte geltend, dass es nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, mit dem das seine nachträgliche Sicherungsverwahrung anordnende Urteil aufgehoben worden sei, keine Rechtsgrundlage für seine Freiheitsentziehung mehr gebe.
17. Am 6. Mai 2011 gab das Landgericht A. den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 5. Mai 2011 statt und ordnete gemäß § 7 Abs. 4 und § 105 Nr. 1 JGG i.V.m. § 275a Abs. 5 Satz 1 StPO (siehe Rdnrn. 59 und 61) erneut die einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an. Das Gericht stellte fest, dass die einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung notwendig sei, weil es dringende Gründe für die Annahme gebe, dass seine nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 JGG i.V.m. dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 angeordnet werden würde.
18. Mit Schriftsatz vom 27. Juni 2011, beim Landgericht eingegangen am 29. Juni 2011, erhob der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts Beschwerde, für die er am 15., 19., 22., 25. und 26. Juli 2011 weitere Begründungen einreichte. Er machte insbesondere geltend, dass seine einstweilige Sicherungsverwahrung unrechtmäßig sei.
19. Am 4. Juli 2011 lehnte es das Landgericht A. ab, seinen Beschluss vom 6. Mai 2011 abzuändern.
2. Verfahren vor dem Oberlandesgericht
20. Am 16. August 2011 verwarf das Oberlandesgericht B. die Beschwerde als unbegründet. Dabei berücksichtigte es (i) einen von der Generalstaatsanwaltschaft B. am 20. Juli 2011 eingereichten Antrag, die Beschwerde des Beschwerdeführers zu verwerfen, (ii) die Tatsachenfeststellungen des Landgerichts A. in seinem Urteil vom 22. Juni 2009, (iii) die Feststellungen zweier ärztlicher Sachverständiger in dem Verfahren, das zu dem Urteil vom 22. Juni 2009 geführt hatte, (iv) die in vorausgegangenen Verfahren getroffenen Feststellungen zweier weiterer Sachverständiger zum psychischen Zustand des Beschwerdeführers und zu der von ihm ausgehenden Gefahr und (v) die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 aufgestellten strengeren Maßstäbe.
21. Am 29. August 2011 wies das Oberlandesgericht B. die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers und seine Gegenvorstellung gegen die Entscheidung vom 16. August 2011 zurück. Die Entscheidung wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 6. September 2011 zugestellt.
3. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
22. Am 7. September 2011 erhob der Beschwerdeführer gegen den vom Oberlandesgericht B. bestätigten Beschluss des Landgerichts A. vom 6. Mai 2011 Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Außerdem beantragte er, die Vollziehung dieser Beschlüsse bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch Erlass einer einstweiligen Anordnung auszusetzen. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass sein in seinem Freiheitsgrundrecht verankertes Recht auf eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist in dem Verfahren zur Überprüfung seiner einstweiligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung missachtet worden sei.
23. Am 18. Oktober 2011 stellte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers der Regierung des betroffenen Bundeslandes, dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs sowie dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof zu.
24. Am 25. Oktober 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht in einer begründeten Entscheidung ab, im Wege einer einstweiligen Anordnung die Vollziehung der Anordnung der einstweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung auszusetzen.
25. Mit Schriftsatz vom 1. Januar 2012 erwiderte der Beschwerdeführer auf die vom 28., 24. bzw. 25. November 2011 datierenden Stellungnahmen der Regierung des betroffenen Bundeslandes, des Präsidenten des Bundesgerichtshofs sowie des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof.
26. Am 22. Mai 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 1952/11). Die Entscheidung wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 30. Mai 2012 zugestellt.
4. Weitere Entwicklungen
27. Am 17. November 2011 legte der Beschwerdeführer eine erneute Beschwerde gegen seine einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ein. Mit Beschluss vom 28. November 2011 hielt das Landgericht A. die am 6. Mai 2011 angeordnete einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung aufrecht. Am 2. Januar 2012 verwarf das Oberlandesgericht B. die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers.
C. Das in der Individualbeschwerde Nr. 27505/14 in Rede stehende Hauptsacheverfahren über die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung
1. Verfahren vor dem Landgericht A.
(a) Entscheidung über das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers
28. In dem nach der Zurückverweisung der Rechtssache wiederaufgenommenen Verfahren vor dem Landgericht A. (siehe Rdnr. 15) reichte der Beschwerdeführer ein Ablehnungsgesuch gegen Richter P. ein. Letzterer war ein Mitglied der Kammer des Landgerichts A. gewesen, die am 22. Juni 2009 die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet hatte (siehe Rdnr. 14). Der Beschwerdeführer machte geltend, Richter P. habe am 22. Juni 2009, unmittelbar nach der Verkündung des landgerichtlichen Urteils, mit dem die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei, mit Bezug auf den Beschwerdeführer zu dessen Verteidigerin gesagt: „Passen Sie auf, wenn er rauskommt, dass er nicht vor Ihrer Tür steht und sich dann […] bei Ihnen bedankt.“ Er behauptete, die Äußerung sei in einer im Richterzimmer stattfindenden Besprechung zwischen den Richtern des Landgerichts und den beiden Verteidigern des Beschwerdeführers gefallen, in der es um eine mögliche Überweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus im Anschluss an das Urteil des Landgerichts gegangen sei.
29. In seiner Stellungnahme vom 13. Dezember 2011 zum Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers erklärte Richter P., dass er sich an ein Gespräch über eine mögliche Überweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus zu einem späteren Zeitpunkt nach der Urteilsverkündung erinnere. Aufgrund der seither verstrichenen Zeit könne er sich jedoch weder an die genauen Gesprächsinhalte noch an die konkrete Gesprächssituation erinnern, in der er die angegriffene Äußerung angeblich getätigt habe.
30. Am 2. Januar 2012 wies das Oberlandesgericht B. das Ablehnungsgesuch des Beschwerdeführers zurück. Das Gericht vertrat insbesondere die Auffassung, dass selbst unter der Annahme, der Beschwerdeführer habe glaubhaft gemacht, dass Richter P. die in Rede stehende Äußerung getätigt habe, keine objektiv berechtigten Zweifel an dessen Unvoreingenommenheit begründet seien. Selbst wenn angenommen werde, der Beschwerdeführer könne „bedanken“ im obigen Kontext so auffassen, dass darunter die Begehung einer Gewalttat durch ihn zu verstehen sei, müsse beachtet werden, dass das Landgericht unter Mitwirkung des Richters P. kurz zuvor festgestellt habe, dass die sexuellen Gewaltfantasien des Beschwerdeführers fortbestünden und derzeit eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass er erneut schwere Straftaten gegen das Leben und die sexuelle Selbstbestimmung anderer begehen werde. Sollte Richter P. die in Rede stehende Äußerung tatsächlich getätigt haben, so habe es sich bei diesem „Ratschlag“ im Wesentlichen um nichts weiter als die Anwendung der Feststellungen des Landgerichts auf einen Einzelfall gehandelt. Die Äußerung sei außerdem im Rahmen eines vertraulichen Gesprächs der Verfahrensbeteiligten ohne den Beschwerdeführer gefallen. Richter P. habe davon ausgehen können, dass die Verteidigerin des Beschwerdeführers seine Äußerung in diesem Zusammenhang in der oben genannten Art und Weise verstehen würde.
31. Darüber hinaus spiegele die Äußerung des Richters P. dessen Einschätzung vom Tag der Urteilsverkündung durch das Landgericht am 22. Juni 2009 wider. Sie besage keineswegs, dass Richter P. nicht bereit gewesen sei, mehr als zwei Jahre nach der angegriffenen Äußerung und nach Abschluss einer erneuten Hauptverhandlung eine unparteiische Entscheidung in dem vorliegenden Verfahren zu treffen. Dass Richter P. bereits zuvor mit der Rechtssache des Beschwerdeführers befasst gewesen sei, bedeute für sich allein nicht, dass er voreingenommen sei.
(b) Die erneute Anordnung der nachträglichen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung
32. Am 3. August 2012 ordnete das Landgericht A. nach 24 Verhandlungstagen erneut die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an.
33. Das Landgericht stützte sein 164-seitiges Urteil auf §§ 7 Abs. 2 Nr. 1 und 105 Abs. 1 JGG in Verbindung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011. Es war zunächst der Auffassung, dass eine Gesamtwürdigung der Person des Beschwerdeführers, seiner Tat und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs seiner Jugendstrafe ergebe, dass er im Falle seiner Freilassung aufgrund konkreter Umstände in seiner Person oder seinem Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen werde, ähnlich derjenigen, der er schuldig gesprochen worden sei.
34. Das Landgericht stellte zweitens fest, dass der Beschwerdeführer an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG, siehe Rdnr. 85) leide, nämlich an sexuellem Sadismus. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts stellte es fest, dass zwar eine bloße „Persönlichkeitsauffälligkeit“ nicht ausreiche, um die Annahme einer psychischen Störung im Sinne dieses Gesetzes zu rechtfertigen, eine solche psychische Störung jedoch auch nicht in einem Ausprägungsgrad vorhanden sein müsse, der die Schuldfähigkeit der betroffenen Person nach §§ 20 und 21 des Strafgesetzbuchs (StGB) ausschließe oder vermindere (siehe Rdnrn. 82 bis 83 und 88 bis 89). Da der sexuelle Sadismus, an dem der Beschwerdeführer leide, sehr ausgeprägt sei und seit der Pubertät ganz wesentlich seinen Entwicklungsprozess bestimmt habe, stelle dieser eine psychische Störung im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes dar.
35. Das Landgericht stützte seine Auffassung auf die Gutachten zweier erfahrener externer Sachverständiger, Professoren und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie an zwei verschiedenen Universitätskliniken, die es hinzugezogen hatte. Einer der hinzugezogenen Sachverständigen, K., war fest davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer weiterhin an sexuellem Sadismus leide, während der andere Sachverständige, F., seine Ergebnisse vorsichtiger formulierte und angab, dass der Beschwerdeführer jedenfalls 2005 an einem sexuellen Sadismus gelitten habe und man nicht davon ausgehen könne, dass diese Störung verschwunden sei.
36. Unter Berücksichtigung der Feststellungen dieser Sachverständigen sowie mehrerer ärztlicher Sachverständiger, die den Beschwerdeführer seit seiner im Anschluss an die Tat erfolgten Verhaftung bereits untersucht hatten, war das Landgericht überzeugt, dass bei dem Beschwerdeführer seit seinem siebzehnten Lebensjahr sexuelle Gewaltfantasien aufgetreten seien, die sich auf das Würgen von Frauen bezogen hätten. Er leide an einer Störung der Sexualpräferenz, namentlich an sexuellem Sadismus, wie sie in dem einschlägigen Instrument zur Klassifikation von Krankheiten, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der aktuellen Fassung (ICD-10)[1] beschrieben sei; diese Störung habe seine brutale Straftat ausgelöst und sich in dieser manifestiert, und sie bestehe weiterhin. Unter Berücksichtigung der Feststellungen der Sachverständigen stellte das Gericht fest, dass der Beschwerdeführer die sadistischen Motive hinter seiner Tat im Verfahren vor dem Tatgericht 1999 verborgen habe, und das Tatgericht die Handlungen dann trotz Anhaltspunkten für eine sexuelle Devianz als versuchte Vergewaltigung, die gescheitert sei, interpretiert habe. Der Beschwerdeführer, der unterschiedliche Angaben zu seinem Tatmotiv gemacht habe, habe erst 2005/2006, während seiner Exploration durch einen psychologischen und einen psychiatrischen Sachverständigen, zugegeben, dass er bei seinem Mord immer stärker werdende Fantasien in die Tat umgesetzt habe, bei denen er Macht über Frauen ausübe, indem er ihren Hals angreife und auf ihren leblosen Körpern onaniere. Die neuen Äußerungen des Beschwerdeführers zu seinen Fantasien seien mit den Feststellungen des Tatgerichts zur Art und Weise der Tatbegehung eher vereinbar.
37. Das Gericht stellte weiter fest, dass die therapeutische Behandlung, der sich der Beschwerdeführer bis 2007 unterzogen habe, und insbesondere die Sozialtherapie, welche die beiden Experten K. und F. als für sein Krankheitsbild angemessen erachtet hätten, nicht erfolgreich gewesen sei. Obwohl der Beschwerdeführer eine weitere Therapie anscheinend nicht grundsätzlich verweigere, sei er derzeit nicht in therapeutischer Behandlung. Insbesondere sei er 2010/2011 der Überweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus nach § 67a Abs. 2 und Abs. 1 StGB entgegengetreten, welche die Staatsanwaltschaft beim Landgericht A. zwecks Behandlung seiner Erkrankung in einer anderen Umgebung beantragt habe (siehe Rdnr. 67). Darüber hinaus habe er sich unter Verweis auf ein anhängiges Gerichtsverfahren geweigert, an Treffen teilzunehmen, auf deren Grundlage ein individuell zugeschnittenes Therapieprogramm hätte erstellt werden sollen.
2. Das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof
38. In seiner Revision gegen das Urteil des Landgerichts vom 3. August 2012 rügte der Beschwerdeführer, dass seine „nachträgliche“ Sicherungsverwahrung rechtswidrig gewesen sei und das Urteil unter Mitwirkung eines befangenen Richters, P., ergangen sei.
39. Am 5. März 2013 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Beschwerdeführers als unbegründet.
3. Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
40. Am 11. April 2013 erhob der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht. Er rügte insbesondere, dass die nachträgliche Anordnung seiner Sicherungsverwahrung gegen das im Grundgesetz und in Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verankerte Verbot der rückwirkenden Bestrafung verstoßen habe. Darüber hinaus habe die Anordnung gegen sein Freiheitsgrundrecht, das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot und Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen. Er brachte ferner vor, dass sein Grundrecht auf einen gesetzlichen Richter verletzt worden sei, weil Richter P. ihm gegenüber befangen gewesen sei.
41. Am 5. Dezember 2013 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 813/13).
D. Weitere Entwicklungen
42. Das Landgericht A. überprüfte in der Folge in regelmäßigen Abständen die Notwendigkeit der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung. Es entschied am 18. September 2004, 2. März 2016 und 6. April 2017, dass die Unterbringung fortdauern müsse, da die psychische Störung des Beschwerdeführers und seine sich daraus ergebende Gefährlichkeit weiterbestünden. Jede Überprüfungsentscheidung stützte sich auf ein neues, von einem anderen psychiatrischen Sachverständigen erstelltes Gutachten, wobei alle hinzugezogenen Sachverständigen bei dem Beschwerdeführer einen sexuellen Sadismus diagnostizierten. Gegenwärtig befindet sich der Beschwerdeführer weiterhin in der Sicherungsverwahrung.
E. Die Bedingungen der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers vor und während des Vollzugs der Sicherungsverwahrungsanordnung
43. Während des Vollzugs seiner zehnjährigen Freiheitsstrafe (bis Juli 2008) war der Beschwerdeführer von 2001 bis 2007 in der sozialtherapeutischen Abteilung für Sexualstraftäter der JVA Y. inhaftiert, wo er sich einer Sozialtherapie unterzog. Da es dem Beschwerdeführer bei der Therapie an Aufrichtigkeit und Motivation mangelte, konnte der Kern seiner devianten sexuellen Fantasien nicht hinreichend bearbeitet werden und die Therapie wurde nicht erfolgreich abgeschlossen. 2007 wurde der Beschwerdeführer in die sozialtherapeutische Abteilung der Justizvollzugsanstalt X. verlegt, wo ein neuer Therapieversuch aufgrund seiner mangelnden Motivation hinsichtlich der verschiedenen Therapieangebote ebenfalls scheiterte.
44. Während des Vollzugs der am 22. Juni 2009 erfolgten erstmaligen Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung war der Beschwerdeführer dem Antrag der Staatsanwaltschaft entgegengetreten, ihn nach § 67a Absätze 1 und 2 StGB in ein psychiatrisches Krankenhaus zu überweisen (siehe Rdnr. 67), um seine Resozialisierung durch eine Behandlung in einem solchen Krankenhaus besser zu fördern. Darüber hinaus hatte er weitere Therapieangebote in der Justizvollzugsanstalt X. abgelehnt.
45. Am 7. Mai 2011 wurde der Beschwerdeführer nach der Aufhebung der ersten Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und der neuen Anordnung seiner einstweiligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung von der Abteilung für Sicherungsverwahrte der JVA X. in eine Abteilung für Untersuchungsgefangene verlegt. In der Folge verlor er die Privilegien, die Sicherungsverwahrten gewährt werden. Insbesondere bestand für ihn keine Therapiemöglichkeit mehr. Am 13. September 2011 wurde er in die Abteilung für Sicherungsverwahrte der JVA X. zurückverlegt und dort erneut bis zum 20. Juni 2013 untergebracht; ihm wurde eine Sozialtherapie angeboten. Er wies das Angebot zurück.
46. Seit dem 20. Juni 2013 ist der Beschwerdeführer in der neu gebauten Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. untergebracht. Diese Einrichtung, die auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt X. in einem gesonderten, abgezäunten Geländebereich belegen ist und bis zu 84 Sicherungsverwahrte aufnehmen kann, hat mehr Personal als die Justizvollzugsanstalt X.; um die Sicherungsverwahrten kümmern sich ein Psychiater, sieben Psychologen, ein Allgemeinmediziner, vier Krankenpfleger, sieben Sozialarbeiter, ein Jurist, ein Lehrer, ein Vollzugsinspektor, 44 Bedienstete im Allgemeinen Vollzugsdienst und vier Bedienstete im Bereich der Verwaltung. Die Insassen können sich zwischen 6.00 Uhr und 22.30 Uhr außerhalb der nunmehr 15 m² großen Zellen (zuvor waren es etwa 10 m²), die jetzt über eine Küchenzeile und ein separates Bad verfügen, aufhalten.
47. In der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. können die Insassen gemäß einem individuellen Therapieplan von spezialisierten Fachkräften ärztlich und therapeutisch individuell behandelt werden. Gegenüber den Angeboten im Vollzug der Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt X. wurden die Behandlungsmöglichkeiten deutlich ausgeweitet. Der Beschwerdeführer lehnte in dieser Einrichtung zunächst sämtliche Therapieangebote ab; hierzu gehörten eine Sozialtherapie in Einzel- oder Gruppensitzungen, die Teilnahme an einem Intensivbehandlungsprogramm für Sexualstraftäter oder eine Therapie durch einen externen Psychiater. Erst nach dem von dem hier in Rede stehenden Verfahren umfassten Zeitraum nahm er vom 10. Juni 2015 bis zum 30. Juni 2017 bei einem Psychologen der Einrichtung für Sicherungsverwahrte eine Einzelpsychotherapie in Anspruch.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Allgemeiner Rechtsrahmen für die Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung
48. Nach langjähriger Rechtstradition unterscheidet das deutsche Strafgesetzbuch zwischen Strafen und sogenannten Maßregeln der Besserung und Sicherung als Reaktion auf rechtswidrige Taten. In diesem zweispurigen Sanktionensystem umfassen Strafen (§§ 38 ff. StGB) im Wesentlichen Freiheitsstrafen und Geldstrafen, die nach der Schuld des Täters zugemessen werden (§ 46 Abs. 1 StGB). Maßregeln der Besserung und Sicherung (siehe §§ 61 ff. StGB) umfassen insbesondere die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§ 66 ff. StGB). Der Zweck dieser Maßregeln besteht darin, gefährliche Straftäter zu resozialisieren oder die Allgemeinheit vor ihnen zu schützen. Sie können bei Straftätern zusätzlich zu ihrer Strafe angeordnet werden (vgl. §§ 63 ff.). Sie dürfen aber nicht außer Verhältnis zur Schwere der von den Angeklagten begangenen oder zu erwartenden Taten sowie zu der von ihnen ausgehenden Gefahr stehen (§ 62 StGB).
49. Nach deutschem Recht kann die Sicherungsverwahrung gegen Personen angeordnet werden, die bei voller oder verminderter Schuldfähigkeit eine Straftat begangen haben (siehe §§ 66 ff. StGB). Ursprünglich konnte die Sicherungsverwahrung nur zum Zeitpunkt der Verurteilung des Angeklagten neben einer Freiheitsstrafe angeordnet werden. Nach § 66 StGB setzte dies insbesondere voraus, dass das Strafgericht den Angeklagten wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung (wie im Gesetz näher bestimmt) verurteilt hatte und der Angeklagte wegen seines Hanges zur Begehung schwerer Straftaten eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Nach dem vor dem 31. Januar 1998 geltenden Recht (§ 67d Abs. 1 StGB) durfte die Dauer der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung 10 Jahre nicht überschreiten. Nach einer Rechtsänderung wurde diese Höchstdauer mit sofortiger Wirkung aufgehoben (zu weiteren Einzelheiten siehe M. ./. Germany, Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 49 bis 54, ECHR 2009).
50. 2004 wurde eine neue Bestimmung, § 66b, in das Strafgesetzbuch eingefügt, welche die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gegen erwachsene Straftäter erlaubte. Seither konnte die Sicherungsverwahrung auch gegen erwachsene Straftäter verhängt werden, gegen die das Tatgericht, das sie bestimmter schwerer Straftaten schuldig gesprochen hatte, keine Sicherungsverwahrung angeordnet hatte. Derartige Anordnungen konnten nach dem Urteil des Tatgerichts gesondert und nachträglich ergehen, wenn vor dem Ende des Vollzugs einer Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar wurden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des betreffenden Gefangenen für die Allgemeinheit hinwiesen. Mit einem am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Gesetz schränkte der Gesetzgeber die Voraussetzungen, unter denen die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet werden konnte, erheblich ein (zu weiteren Einzelheiten siehe B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61272/09, Rdnrn. 33 bis 35, 19. April 2012).
51. Im Jahr 2008 trat § 7 Abs. 2 JGG – die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende Bestimmung – in Kraft, wonach auch gegen junge Straftäter die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte (zu weiteren Einzelheiten siehe Rdnrn. 54 bis 58).
52. Zusätzlich zu den erwähnten jüngeren Reformen des Sicherungsverwahrungsrechts in den Jahren 1998, 2004 und 2008 erfolgten nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) vom 17. Dezember 2009 und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (siehe Rdnrn. 68 bis 75) weitere Gesetzesänderungen. Die Änderungen ergaben sich insbesondere aus der Verabschiedung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom 22. Dezember 2010, das auch das neue Therapieunterbringungsgesetz beinhaltete (siehe Rdnrn. 85 bis 89) und am 1. Januar 2011 in Kraft trat, und aus dem Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, das am 1. Juni 2013 in Kraft trat (siehe Rdnrn. 78 ff.).
53. Hinsichtlich des Verfahrens für die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung im Allgemeinen schreibt § 463 Abs. 1 StPO vor, dass die Vorschriften über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen, soweit nichts anderes bestimmt ist, für die Vollstreckung von Maßregeln der Besserung und Sicherung sinngemäß gelten.
B. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Jugendliche und Heranwachsende
1. Die Anordnung der nachträglichen Unterbringung eines jungen Straftäters in der Sicherungsverwahrung
54. Nach dem Jugendgerichtsgesetz war die Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Jugendlichen (Personen zwischen 14 und 18 Jahren) oder Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren (siehe § 1 Abs. 1 JGG), auf die das Jugendstrafrecht anwendbar war, ursprünglich nicht erlaubt. Seit Juli 2004, nach einer Änderung von § 106 JGG, konnte gegen Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren, die nach gewöhnlichem Erwachsenenstrafrecht verurteilt wurden, die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet werden.
55. Mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2008, das am 12. Juli 2008 in Kraft trat, wurde § 7 Abs. 2 in das Jugendgerichtsgesetz eingefügt.
56. § 7 Abs. 2 JGG, wie bis zum 31. Mai 2013 in Kraft, lautete wie folgt:
„Sind nach einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren wegen … eines Verbrechens
1. gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder
2. […]
durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, vor Ende […] dieser Jugendstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnen, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Jugendstrafe ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der vorbezeichneten Art begehen wird.“
57. Als sie dem Parlament den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht vorlegte (siehe Bundestagsdrucksache Nr. 16/6562, S. 1), hatte die Bundesregierung vorgebracht, dass Beispiele der jüngeren Vergangenheit gezeigt hätten, dass nach dem Jugendgerichtsgesetz verurteilte junge Straftäter selbst nach Verbüßung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe ebenso wie erwachsene Straftäter in Ausnahmefällen in hohem Maße für andere Menschen gefährlich sein könnten. Wenn keine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht komme, biete das bisherige Recht keine rechtliche Grundlage dafür, ihnen zum Schutz der Allgemeinheit weiterhin die Freiheit zu entziehen.
58. Mit dem Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, das am 1. Juni 2013 in Kraft trat (zu weiteren Einzelheiten siehe Rdnrn. 76 ff.), schränkte der Gesetzgeber die Bedingungen, unter denen die Sicherungsverwahrung gegen junge Straftäter nachträglich angeordnet werden konnte, erheblich ein.
59. § 105 Abs. 1 JGG sieht vor, dass das Gericht, wenn ein Heranwachsender (18 bis 21 Jahre) eine Straftat begeht, bestimmte für einen Jugendlichen geltende Vorschriften des Gesetzes, insbesondere § 7, anwendet, wenn die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen gezeigt hat, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand.
60. § 43 Abs. 2 JGG sieht vor, dass in Strafverfahren gegen junge Straftäter möglichst ein zur Untersuchung von Jugendlichen befähigter Sachverständiger damit beauftragt werden sollte, die erforderliche Untersuchung des Straftäters durchzuführen.
2. Die einstweilige Sicherungsverwahrung und deren gerichtliche Überprüfung
61. Während das Verfahren über die nachträgliche Unterbringung eines jungen Straftäters in der Sicherungsverwahrung anhängig ist, kann ein Gericht seine einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (bis zum Eintritt der Rechtskraft des entsprechenden Urteils über die nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung) anordnen, wenn dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass die nachträgliche Unterbringung dieser Person in der Sicherungsverwahrung angeordnet werden wird (§ 7 Abs. 4 JGG i.V.m. § 275a Abs. 5 Satz 1 StPO, in der zur maßgeblichen Zeit nach der anwendbaren Übergangsvorschrift geltenden Fassung).
62. Nach §§ 304 Abs. 1 und 305 StPO besteht die (an keine Frist gebundene) Möglichkeit, beim Oberlandesgericht Beschwerde gegen die von einem Landgericht angeordnete einstweilige Unterbringung einer Person in der Sicherungsverwahrung einzulegen; nach § 310 StPO findet eine weitere Anfechtung der Entscheidung des Oberlandesgerichts vor den ordentlichen Gerichten nicht statt.
63. Nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts kann eine untergebrachte Person gemäß § 117 ff. StPO i.V.m. § 275a Abs. 5 Satz 4 StPO beim zuständigen Landgericht jedoch einen neuen Antrag auf gerichtliche Überprüfung ihrer Freiheitszentziehung stellen. Gegen den Überprüfungsbeschluss des Landgerichts ist die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht zulässig (§ 304 ff. StPO).
3. Die gerichtliche Überprüfung und Dauer der nachträglichen Sicherungsverwahrung
64. Nach in der bis zum 31. Mai 2013 geltenden Fassung von § 7 Abs. 4 JGG in Verbindung mit § 67e StGB waren die Gerichte verpflichtet, in jährlichen Abständen zu überprüfen, ob die Vollstreckung einer konkreten Sicherungsverwahrungsanordnung nach § 7 Abs. 2 JGG für erledigt zu erklären oder zur Bewährung auszusetzen war. In seinem Urteil vom 4. Mai 2011 (siehe Rdnrn. 68 bis 75) entschied das Bundesverfassungsgericht, dass diese Frist von einem Jahr auf sechs Monate verkürzt werden müsse.
65. Seit 1. Juni 2013 können die Gerichte nach § 67d Abs. 2 StGB i.V.m. § 316f Absätze 2 und 3 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) die Fortdauer der nachträglichen Sicherungsverwahrung nur anordnen, wenn die betroffene Person an einer psychischen Störung leidet und aus konkreten Umständen in ihrer Person oder ihrem Verhalten eine hochgradige Gefahr abzuleiten ist, dass sie infolge dieser psychischen Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird. Sind diese Kriterien nicht erfüllt, setzt das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringungsanordnung zur Bewährung aus und ordnet Führungsaufsicht an.
66. Seit dem 1. Juni 2013 sieht § 67d Abs. 2 StGB außerdem vor, dass das Gericht die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung zur Bewährung aussetzt, wenn es feststellt, dass die weitere Vollstreckung unverhältnismäßig wäre, weil der betroffenen Person nicht innerhalb einer vom Gericht bestimmten Frist von höchstens sechs Monaten ausreichende Betreuung im Sinne von § 66c Abs. 1 Nummer 1 StGB angeboten worden ist (siehe Rdnrn. 79 bis 80). Wird keine ausreichende Betreuung angeboten, hat das Gericht eine solche Frist unter Angabe der anzubietenden Maßnahmen bei Überprüfung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung festzusetzen. Mit der Aussetzung der Sicherungsverwahrung tritt automatisch Führungsaufsicht ein.
4. Die Überweisung in den Vollzug einer anderen Maßregel der Besserung und Sicherung
67. § 67a StGB enthält Bestimmungen über die Überweisung einer untergebrachten Person in den Vollzug einer anderen Maßregel der Besserung und Sicherung als derjenigen, die in dem gegen sie ergangenen Urteil ursprünglich angeordnet worden ist. Nach § 67a Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StGB kann das Gericht eine Person, gegen die Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, nachträglich in ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Entziehungsanstalt überweisen, wenn ihre Resozialisierung dadurch besser gefördert werden kann.
C. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 und die sich daraus ergebenden Änderungen des deutschen Sicherungsverwahrungsrechts
1. Das Leiturteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung vom 4. Mai 2011
68. Am 4. Mai 2011 erließ das Bundesverfassungsgericht nach Verfassungsbeschwerden sowohl von Sicherungsverwahrten, deren Sicherungsverwahrung über die frühere Höchstdauer von zehn Jahren hinaus nachträglich verlängert worden war, als auch von Sicherungsverwahrten – unter ihnen der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache –, deren Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 2 StGB oder § 7 Abs. 2 JGG nachträglich angeordnet worden war, ein Leiturteil zur Sicherungsverwahrung (Az. 2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 1152/10 und 2 BvR 571/10).
69. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erging, nachdem der Gerichtshof am 17. Dezember 2009 ein Leiturteil in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) erlassen hatte, in dem er festgestellt hatte, dass die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung von Herrn M. über die frühere, zum Zeitpunkt der Straftat und der Verurteilung des Beschwerdeführers geltende gesetzliche Höchstdauer von 10 Jahren hinaus gegen Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verstoßen hatte.
70. In Abkehr von seiner früheren, insbesondere in seinem Urteil vom 5. Februar 2004 (2 BvR 2029/01) vertretenen Rechtsprechung stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass alle von den Verfassungsbeschwerden betroffenen Vorschriften über die nachträgliche Verlängerung und die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz unvereinbar seien, weil sie das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot in Verbindung mit dem Freiheitsgrundrecht verletzten.
71. Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, dass alle einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung mit dem Freiheitsgrundrecht der sicherungsverwahrten Personen unvereinbar seien. Diese Vorschriften würden dem verfassungsrechtlichen Gebot, zwischen der Freiheitsentziehung in der Sicherungsverwahrung und der Freiheitsentziehung im Strafvollzug zu unterscheiden (Abstandsgebot), nicht gerecht.
72. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass sämtliche mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärten Vorschriften bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung, längstens bis zum 31. Mai 2013, unter zusätzlichen, strengeren Voraussetzungen weiter anwendbar seien. In Bezug auf die Untergebrachten, deren Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 2 StGB oder § 7 Abs. 2 JGG nachträglich verlängert oder nachträglich angeordnet worden sei, hätten die Strafvollstreckungsgerichte unverzüglich zu prüfen, ob aus den konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten der Untergebrachten eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten abzuleiten sei und diese zudem an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 des neu verabschiedeten Therapieunterbringungsgesetzes litten (siehe Rdnr. 85). Was den Begriff „psychische Störung“ angeht, nahm das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich auf den Begriff „persons of unsound mind“ („psychisch Kranke“) aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention in der Auslegung Bezug, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung vorgenommen hat (siehe Rdnrn. 138 und 143 bis 156 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts). Bei Nichtvorliegen der oben genannten Voraussetzungen seien diese Sicherungsverwahrten spätestens zum 31. Dezember 2011 zu entlassen. Die übrigen Vorschriften über die Anordnung und die Dauer der Sicherungsverwahrung seien während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung weiter anzuwenden; in der Regel werde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dann gewahrt sein, wenn die Gefahr bestehe, dass die betroffene Person im Falle ihrer Freilassung schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen werde.
73. In seiner Begründung berief sich das Bundesverfassungsgericht auf die Auslegung von Artikel 5 und Artikel 7 der Konvention, die der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.; siehe Rdnrn. 137 ff. des Bundesverfassungsgerichtsurteils) vorgenommen hat. Es unterstrich insbesondere, dass es aufgrund des verfassungsrechtlichen Abstandsgebots zwischen Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafe und aufgrund der in Artikel 7 der Konvention niedergelegten Grundsätze erforderlich sei, den Betroffenen eine individuell zugeschnittene und intensive Therapie und Betreuung anzubieten. Entsprechend den Feststellungen des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnr. 129) sei ein hohes Maß an Betreuung durch ein multidisziplinäres Team erforderlich, und dem Untergebrachten sei eine individuell zugeschnittene Therapie anzubieten, wenn die in der Einrichtung zur Verfügung stehenden standardisierten Therapiemethoden nicht erfolgversprechend seien (siehe Rdnr. 113 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts).
74. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte seine ständige Rechtsprechung, nach der das absolute Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen nach Artikel 103 Abs. 2 GG nicht die Sicherungsverwahrung erfasse. Letztere sei eine Maßnahme der Besserung und Sicherung, die nicht dem Ziel diene, strafrechtliche Schuld zu sühnen, sondern eine reine Präventivmaßnahme sei, die die Allgemeinheit vor einem gefährlichen Täter schützen solle (siehe Rdnrn. 100 bis 101 und 141 bis 142 des Bundesverfassungsgerichtsurteils). Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Sicherungsverwahrung als eine „Strafe“ im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 der Konvention angesehen habe (a.a.O., Rdnrn. 102, 140). Es war der Auffassung, dass es nicht notwendig sei, die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Begriffs „Strafe“ mit der Bedeutung dieses Begriffs nach der Konvention schematisch zu parallelisieren. Vielmehr sollten die Wertungen der Konvention ergebnisorientiert aufgenommen werden, um Völkerrechtsverletzungen zu vermeiden (a.a.O., Rdnrn. 91 und 141 ff.).
75. Unter Berücksichtigung des rechtstaatlichen Vertrauensschutzgebots und der Wertungen von Artikel 5 der Konvention sei die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahresfrist hinaus oder die nachträgliche Anordnung dieser Sicherungsverwahrung in der Praxis nur dann verfassungsgemäß, wenn u. a. die Voraussetzungen von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e erfüllt seien (a.a.O., Rdnrn. 143 und 151 bis 156). Das Bundesverfassungsgericht verwies in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach der die Freiheitsentziehung wegen psychischer Krankheit nur dann im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention rechtmäßig ist, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt (a.a.O., Rdnr. 155).
2. Die praktische Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts
76. Im Hinblick auf die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 niedergelegten Anforderungen verabschiedete der Gesetzgeber das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012, das am 1. Juni 2013 in Kraft trat.
77. Gleichzeig verabschiedeten die verschiedenen Bundesländer Gesetze zur Neuregelung des Vollzugs der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Diese Gesetze enthalten detaillierte Vorschriften über die praktischen Vollzug der neu geregelten Sicherungsverwahrung, der therapiegerichtet ausgestaltet und den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen sein sollte (siehe, für das betroffene Bundesland, wo der Beschwerdeführer untergebracht ist, das Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz des betroffenen Bundeslandes [Gesetz über den Vollzug der Sicherungsverwahrung und der Therapieunterbringung] vom 22. Mai 2013, das am 1. Juni 2013 in Kraft trat, und darin insbesondere die Artikel 2 und 3; das Gesetz enthält insgesamt 105 Artikel).
78. Nach den neuen Rechtsvorschriften (siehe insbesondere § 66c StGB) müssen Sicherungsverwahrte nunmehr in Einrichtungen untergebracht werden, die ihnen nicht nur Bedingungen bieten, die mehr den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen sind, sondern auch eine individuelle und intensive Betreuung, die ihre Bereitschaft zur Mitwirkung an einer psychiatrischen, psycho- oder sozialtherapeutischen Behandlung, die auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnitten ist, fördern soll.
79. § 66c StGB regelt die Ausgestaltung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und des vorhergehenden Strafvollzugs und lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„1. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung erfolgt in Einrichtungen, die
(1) dem Untergebrachten auf der Grundlage einer umfassenden Behandlungsuntersuchung und eines regelmäßig fortzuschreibenden Vollzugsplans eine Betreuung anbieten,
a) die individuell und intensiv sowie geeignet ist, seine Mitwirkungsbereitschaft zu wecken und zu fördern, insbesondere eine psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung, die auf den Untergebrachten zugeschnitten ist, soweit standardisierte Angebote nicht Erfolg versprechend sind, und
b) die zum Ziel hat, seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit so zu mindern, dass die Vollstreckung der Maßregel möglichst bald zur Bewährung ausgesetzt oder sie für erledigt erklärt werden kann,
(2) eine Unterbringung gewährleisten,
a) die den Untergebrachten so wenig wie möglich belastet, den Erfordernissen der Betreuung im Sinne von Nummer 1 entspricht und, soweit Sicherheitsbelange nicht entgegenstehen, den allgemeinen Lebensverhältnissen angepasst ist, und
b) die vom Strafvollzug getrennt in besonderen Gebäuden oder Abteilungen erfolgt, sofern nicht die Behandlung im Sinne von Nummer 1 ausnahmsweise etwas anderes erfordert, und
(3) zur Erreichung des in Nummer 1 Buchstabe b genannten Ziels
a) vollzugsöffnende Maßnahmen gewähren und Entlassungsvorbereitungen treffen, soweit nicht zwingende Gründe entgegenstehen, insbesondere konkrete Anhaltspunkte die Gefahr begründen, der Untergebrachte werde sich dem Vollzug der Sicherungsverwahrung entziehen oder die Maßnahmen zur Begehung erheblicher Straftaten missbrauchen, sowie
b) in enger Zusammenarbeit mit staatlichen oder freien Trägern eine nachsorgende Betreuung in Freiheit ermöglichen.“
80. Nach einer Übergangsbestimmung, Artikel 316f Abs. 3 EGStGB, findet Artikel 66c StGB n. F. auch auf Personen Anwendung, die Straftaten begangen haben, derentwegen vor dem 1. Juni 2013 Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.
81. Gemäß diesem justiziellen und legislativen Rahmen sind in den Ländern neue Einrichtungen für Sicherungsverwahrte geschaffen, ausgestattet und mit Personal versehen worden, um den Vorgaben in Hinblick auf das Abstandsgebot zwischen Sicherungsverwahrung und Freiheitsstrafe sowie hinsichtlich der Ausrichtung auf die Therapierung der Sicherungsverwahrten Rechnung zu tragen. Nach den von der Regierung zur Verfügung gestellten Angaben, die von dem Beschwerdeführer nicht bestritten worden sind, wurden in den verschiedenen Bundesländern für insgesamt über 200 Millionen Euro zwölf neue Einrichtungen für Sicherungsverwahrte gebaut und/oder ausgestattet. Die Sicherungsverwahrten sind in (zwischen 14 und 25 m² großen) Zellen untergebracht, die geräumiger als Gefängniszellen sind und üblicherweise über eine Küchenzeile und ein separates Badezimmer verfügen, und können sich innerhalb der Einrichtungen, zu denen jeweils weitere Räume und Außenbereiche für Therapien sowie zur Beschäftigung und Freizeitgestaltung gehören, freier bewegen. Sie können ihre eigene Kleidung tragen. In den Einrichtungen werden den Untergebrachten insbesondere individuell zugeschnittene und interdisziplinäre Therapien angeboten, die gegenüber der früheren Gestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung ausgeweitet wurden, einschließlich psychotherapeutischer Gespräche mit dem Ziel, die Sicherungsverwahrten zu einer Therapie zu motivieren, spezifischer Therapien für Gewalt- und Sexualstraftäter und sozialer Trainingskurse; diese werden als Einzel- oder Gruppentherapie angeboten und, bei Bedarf, teilweise von externen Therapeuten durchgeführt. Um die erforderlichen Therapien durchführen zu können, wurde in allen Einrichtungen neues Therapiepersonal eingestellt.
D. Schuldfähigkeit und Freiheitsentziehung bei Personen mit psychischer Störung
1. Vorschriften zur Schuldfähigkeit
82. § 20 StGB enthält Vorschriften über die Schuldunfähigkeit aufgrund psychischer Störungen. Danach handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
83. § 21 StGB regelt die verminderte Schuldfähigkeit. Danach kann die Strafe gemildert werden, wenn die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert war.
2. Unterbringung psychisch gestörter Personen
(a) Unterbringung nach § 63 StGB
84. Die Unterbringung psychisch Kranker ist zunächst einmal im Strafgesetzbuch als Maßregel der Besserung und Sicherung vorgesehen, wenn die Unterbringung im Zusammenhang mit einer von dem Betroffenen begangenen rechtswidrigen Tat angeordnet wird. § 63 StGB sieht vor, dass das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus – ohne Höchstdauer – anordnet, wenn jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen hat. Die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten muss ergeben haben, dass von ihm infolge seines Krankheitsbildes weitere erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
(b) Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG)
85. Überdies trat nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Sache M. ./. Deutschland (a.a.O.) am 1. Januar 2011 das Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (ThUG) in Kraft. Nach § 1 Abs. 1 und 4 ThUG können die Zivilkammern der Landgerichte die Unterbringung einer Person in einer geeigneten Einrichtung anordnen, wenn diese angesichts des Verbots rückwirkender Verschärfungen im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden kann. Eine solche Therapieunterbringung kann angeordnet werden, wenn die betroffene Person durch rechtskräftiges Urteil bestimmter schwerer Straftaten, derentwegen nach § 66 Abs. 3 StGB die Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, schuldig gesprochen worden ist. Zudem muss sie an einer psychischen Störung leiden, die dazu führt, dass sie im Falle ihrer Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen würde. Die Unterbringung muss zum Schutz der Allgemeinheit für erforderlich erachtet werden.86. Nach § 2 Abs. 1 ThUG sind nur solche Einrichtungen für die „Therapieunterbringung“ geeignet, die aufgrund ihrer medizinischen und therapeutischen Angebote eine angemessene Behandlung der psychischen Störung der betroffenen Person auf der Grundlage eines individuellen Behandlungsplans mit dem Ziel einer möglichst kurzen Unterbringungsdauer gewährleisten können (Nummer 1). Darüber hinaus müssen die betreffenden Einrichtungen unter Berücksichtigung therapeutischer Gesichtspunkte und der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit eine die Untergebrachten so wenig wie möglich belastende Unterbringung zulassen (Nummer 2). Sie müssen räumlich und organisatorisch von Einrichtungen des Strafvollzugs getrennt sein (Nummer 3). Nach § 2 Abs. 2 ThUG in der seit 1. Juni 2013 geltenden Fassung sind Einrichtungen im Sinne von § 66c Abs. 1 StGB ebenfalls für die Therapieunterbringung geeignet, wenn sie die Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 ThUG erfüllen.
87. Das Bundesverfassungsgericht legte das Therapieunterbringungsgesetz restriktiv aus und befand, dass die Freiheitsentziehung nach diesem Gesetz nur unter denselben engen Voraussetzungen angeordnet werden dürfe, wie sie für die nachträgliche Anordnung oder nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung gälten (siehe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013, 2 BvR 2302/11 und 2 BvR 1279/12, zusammengefasst in der Rechtssache B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 23279/14, Rdnrn. 75 bis 76, 7. Januar 2016; siehe auch Rdnr. 72). Eine Freiheitsentziehung nach diesem Gesetz kam in der Praxis nur selten vor.
88. Im Hinblick auf die Auslegung des Begriffs der „psychischen Störung“ aus § 1 Abs. 1 ThUG stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass dieser Begriff angesichts der sich aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe der Konvention ergebenden Maßstäbe nicht voraussetze, dass die Störung so schwerwiegend sei, dass sie die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne der §§ 20 und 21 StGB ausschließe oder vermindere (siehe 2 BvR 1516/11, Beschluss vom 15. September 2011, Rdnrn. 35 bis 36, sowie 2 BvR 2302/11 und 2 BvR 1279, a.a.O.).
89. Das Bundesverfassungsgericht war der Auffassung, dass spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle unter den Begriff der „psychischen Störung“ nach § 1 Abs. 1 ThUG zu fassen seien. Dieser Begriff sei daher nicht auf psychische Erkrankungen begrenzt, die klinisch behandelt werden könnten, sondern könne auch dissoziale Persönlichkeitsstörungen eines gewissen Schweregrades erfassen (siehe 2 BvR 1516/11, a.a.O., Rdnrn. 35 bis 40). In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e (der Gerichtshof nahm insbesondere auf die Rechtssachen K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 21096/09, 19. Januar 2012, und B. ./. Deutschland, a.a.O., Bezug), stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Freiheitsentziehung bei psychisch Kranken gerechtfertigt sein könne, wenn sie in einer geeigneten psychiatrischen Einrichtung erfolge, was wiederum voraussetze, dass die psychische Störung entsprechend intensiv ausgeprägt sei (siehe 2 BvR 2302/11 und 2 BvR 1279/12, a.a.O.).
(c) Die Freiheitsentziehung nach den Ländergesetzen über die öffentliche Sicherheit
90. Nach den Ländergesetzen über die öffentliche Sicherheit und die Gefahrenprävention, wie beispielsweise dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung des betroffenen Bundeslandes vom 5. April 1992 können die Zivilgerichte auf Antrag der Behörden einer Stadt oder eines Landkreises die Unterbringung einer Person in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen, wenn die betreffende Person psychisch krank ist oder infolge Geistesschwäche oder Sucht psychisch gestört ist und dadurch in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet (siehe § 1 Abs. 1, § 5 und § 7 Abs. 3 dieses Gesetzes i.V.m. §§ 312 Nr. 4 und 313 Abs. 3 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit). Eine solche Anordnung kann nur vollzogen werden, wenn keine Maßnahme nach § 63 StGB getroffen ist (Artikel 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung des betroffenen Bundeslandes vom 5. April 1992).
E. Statistische Informationen
91. Nach den von der Regierung eingereichten statistischen Angaben, die von dem Beschwerdeführer nicht bestritten worden sind, befanden sich am 10. Mai 2010, als das Urteil in der Rechtssache M. ./. Deutschland endgültig wurde, 102 Personen in der nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung. Am 31. März 2017 verbüßten im Gesamtgebiet der Bundesrepublik Deutschland (mit einer Bevölkerung von etwa 81 Millionen) insgesamt 51.129 Personen eine Freiheitsstrafe und 591 Personen befanden sich in Sicherungsverwahrung. Bei 41 dieser 591 Personen war die Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet oder nachträglich verlängert worden.
92. Hinsichtlich der Zahl der Personen, die eine lange Freiheitsstrafe verbüßen oder gegen die Sicherungsverwahrung vollzogen wird, besagt die vom Europarat veröffentlichte jährliche Strafstatistik (Annual Penal Statistics, SPACE I) für das Jahr 2015 Folgendes: In Deutschland verbüßten 2.471 Personen Freiheitsstrafen von mindestens zehn Jahren, während es in Frankreich (hier liegen nur Zahlen aus dem Jahr 2014 vor) 7.603 Personen waren, in Italien 9.747, in Spanien 12.012 und im Vereinigten Königreich 16.511 (siehe Dokument PC-CP (2016) 6, Seiten 87 bis 88, Tabelle 7, und SPACE I für das Jahr 2014, Dokument PC-CP (2015) 7, S. 89, Tabelle 7). Darüber hinaus wurden in Deutschland gegen 521 Personen und in Italien gegen 540 Personen Sicherungsmaßnahmen oder Sicherungsverwahrungsanordnungen vollstreckt (siehe SPACE I für das Jahr 2015, Dokument PC-CP (2016) 6, S. 78, Tabelle 5.2).
III. EINSCHLÄGIGE MATERIALIEN DES VÖLKERRECHTS
1. Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen
93. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen stellte in seine Abschließenden Bemerkungen zum Sechsten Staatenbericht Deutschlands, angenommen vom Ausschuss in seiner 106. Sitzung (15. Oktober bis 2 November 2012, CCPR/C/DEU/CO/6) Folgendes fest:
„14. Der Ausschuss begrüßt zwar die vom Vertragsstaat unternommenen Schritte zur Überarbeitung seiner Gesetzgebung und Praxis im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung nach einer Freiheitsstrafe im Einklang mit menschenrechtlichen Standards und nimmt Informationen zur Kenntnis, denen zufolge sich gegenwärtig ein Gesetzentwurf zu diesem Thema im parlamentarischen Verfahren befindet, ist allerdings besorgt angesichts der Anzahl von Menschen, denen im Vertragsstaat noch immer in dieser Form die Freiheit entzogen wird. Er ist auch besorgt über die in einigen Fällen lange Dauer dieser Freiheitsentziehung und über die Tatsache, dass die Bedingungen der Freiheitsentziehung in der Vergangenheit nicht mit menschenrechtlichen Anforderungen im Einklang gestanden haben (Artikel 9 und 10).
Der Vertragsstaat sollte die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, damit die Sicherungsverwahrung nach einer Freiheitsstrafe nur als letztes Mittel eingesetzt wird, und für die Sicherungsverwahrten Haftbedingungen schaffen, die sich von denen der Strafgefangenen unterscheiden und nur auf ihre Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft abzielen. Der Vertragsstaat sollte alle rechtlichen Garantien zum Schutz der Rechte der Verwahrten, unter anderem regelmäßige psychologische Begutachtungen ihrer Situation, die eine Freilassung oder Verkürzung ihrer Verweildauer in der Verwahrung nach sich ziehen können, in den besagten Gesetzentwurf aufnehmen.“
2. Der Ausschuss der Vereinten Nationen gegen Folter (CAT)
94. Der Anti-Folter-Ausschuss der Vereinten Nationen stellte in seinen Abschließenden Bemerkungen zum Fünften Staatenbericht Deutschlands (CAT/C/DEU/CO/5 vom 12. Dezember 2011), die in seiner 47. Sitzung (31. Oktober bis 25. November 2011) angenommen wurden, Folgendes fest:
„Sicherungsverwahrung
17. Der Ausschuss nimmt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 zur Kenntnis, in dem das Gericht sämtliche Vorschriften des Strafgesetzbuchs und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung als verfassungswidrig eingestuft hat, und begrüßt die Tatsache, dass die Bundes- und Landesbehörden bereits mit der Umsetzung des Urteils begonnen haben. Gleichwohl nimmt der Ausschuss mit Bedauern zur Kenntnis, dass sich noch mehr als 500 Personen in der Sicherungsverwahrung befinden, einige von ihnen bereits seit über 20 Jahren (Artikel 2 und 11).
Der Ausschuss fordert den Vertragsstaat auf,
(a) wie vom Bundesverfassungsgericht gefordert, bis zum 31. März 2013 seine Gesetze entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts anzupassen und zu ändern, um die mit der Sicherungsverwahrung verbundenen Risiken zu minimieren, und
(b) in der Zwischenzeit alle erforderlichen Schritte zur Umsetzung der in dem Gerichtsurteil geforderten institutionellen Maßnahmen zu unternehmen, insbesondere was die Entlassung von Sicherungsverwahrten, die Verkürzung der Dauer und die Anordnung der Sicherungsverwahrung angeht, und bei der Ausarbeitung der Alternativen zur Sicherungsverwahrung den Anforderungen der Mindeststandards der Vereinten Nationen für nicht-freiheitsentziehende Maßnahmen (Tokio-Regeln) Rechnung zu tragen.“
3. Europäischer Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT)
95. Der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (CPT) stellte in seinem Bericht an die deutsche Regierung über seinen Besuch vom 20. November bis zum 2. Dezember 2005 (CPT/Inf (2007) 18, 18. April 2007) in Bezug auf die Abteilung für Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt Z. Folgendes fest:
„[…]
99. Auch in Bezug auf die anderen Häftlinge, die mit ihrer Situation offenbar besser zurechtkamen, war das mangelnde Engagement des Personals in der Abteilung nicht zu rechtfertigen. […] Die Delegation hatte den deutlichen Eindruck, dass dem Personal selbst nicht klar war, wie es seine Arbeit mit diesen Gefangenen angehen sollte. Neben der Notwendigkeit, die Gefangenen zu befähigen, ihr Leben in der Haft selbst in die Hand zu nehmen, muss ihnen auch andauernde Unterstützung im Umgang mit der unbegrenzten Haft sowie eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen ihrer schwerwiegenden Vergangenheit, die von abscheulichem Verhalten und offensichtlichen psychischen Problemen geprägt war, zuteilwerden. Die psychologische Betreuung und Unterstützung schien äußerst unzureichend zu sein; der CPT empfiehlt, Sofortmaßnahmen einzuleiten, um dieses Defizit zu beheben.
100. Die schwierige Frage, wie eine humane und kohärente Behandlungsstrategie für Personen in der Sicherungsverwahrung in der Praxis umgesetzt werden kann, muss auf höchster Ebene und mit hoher Dringlichkeit behandelt werden. Die Arbeit mit dieser Häftlingsgruppe ist zwangsläufig eine der schwierigsten Herausforderungen für das Vollzugspersonal.
Aufgrund des potentiell unbegrenzten Aufenthalts der geringen (aber zunehmenden) Anzahl von Sicherungsverwahrten muss eine besonders klare Vorstellung davon bestehen, was die Ziele in dieser Abteilung sind und wie sie realistischerweise erreicht werden können. Dieser Ansatz erfordert ein hohes Maß an Betreuung durch ein multidisziplinäres Team sowie intensive und individuelle Arbeit mit den Gefangenen (durch unverzüglich zu erstellende individuelle Pläne). Dies muss in einem kohärenten Rahmen stattfinden, der Fortschritte in Richtung Entlassung ermöglicht, wobei die Entlassung eine realistische Möglichkeit sein sollte. Das System sollte es auch ermöglichen, familiäre Kontakte aufrecht zu erhalten, wenn dies angemessen ist.
Der CPT empfiehlt den deutschen Behörden, eine umgehende Überprüfung des Vorgehens bei der Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt Z. und ggf. in anderen deutschen Einrichtungen, in denen in Sicherheitsverwahrung genommene Personen untergebracht sind, im Lichte der obigen Bemerkungen einzuleiten.“
96. Später stellte der CPT in seinem Bericht an die deutsche Regierung über seinen Besuch in Deutschland vom 25. November bis zum 3. Dezember 2013 (CPT/Inf (2014), 23, 24. Juli 2014) Folgendes fest:
„A. Sicherungsverwahrung
[…]
10. Der Besuch von 2013 hatte zum Zweck, die praktische Umsetzung des neuen Systems der Sicherungsverwahrung und die von den entsprechenden Behörden seit dem Besuch von 2010 ergriffenen Maßnahmen zu überprüfen. Dazu befasste sich die Delegation schwerpunktmäßig mit der Situation von Sicherungsverwahrten in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz […].
[…]
14. Im Hinblick auf die Bedingungen der Freiheitsentziehung war die Delegation besonders von der neu errichteten Abteilung für Sicherungsverwahrung der Justizvollzugsanstalt Q. beindruckt. Alle Wohnräume waren geräumig (ca. 18 qm einschließlich Sanitärbereich) und gut ausgestattet (einschließlich Toilette, Dusche und Küchenzeile). […] Zusätzlich gab es verschiedene Gemeinschaftsräume und Funktionsräume (einschließlich eines Fitnessraums). Lobenswert ist auch, dass sich die Insassen tagsüber innerhalb des Gebäudes, in dem die Abteilung liegt, frei bewegen konnten und jederzeit (tagsüber und außer am Wochenende auch abends) ins Freie oder in eine andere Haftabteilung gehen konnten.
15. In der Justizvollzugsanstalt R. waren die materiellen Bedingungen in der neu erbauten Abteilung für Sicherungsverwahrung allgemein sehr gut. Alle Räume waren in einem sehr guten Erhaltungszustand, geräumig (ca. 14 qm ohne Sanitärbereich) und gut ausgestattet […]. Auf jedem Stockwerk gab es einen großen Wohn-/Essraum (ca. 50 qm groß und mit Tischen, Stühlen, Sofa, Fernsehgerät, Kühlschrank und Pflanzen ausgestattet), eine Küche und eine Waschküche. Ferner gehörten zu der Abteilung eine große Werkstatt, ein Computerraum und ein Kunsttherapieraum. Dennoch ist etwas bedauerlich, dass die Abteilung insgesamt immer noch ziemlich gefängnisartig war und die Bewegungsfreiheit der Insassen innerhalb der Einrichtung und der Zugang zum Hof zur Bewegung im Freien eingeschränkter war als in der Justizvollzugsanstalt Q. (insbesondere am Wochenende). […]
Der CPT möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass sicherungsverwahrte Personen nach den einschlägigen Rechtsvorschriften außerhalb der Nachtruhe grundsätzlich Anspruch auf uneingeschränkten Zugang zum Außenbereich haben. […]
[…]
17. Was die Behandlungsmaßnahmen angeht, wurde der Delegation mitgeteilt, dass in der Justizvollzugsanstalt R. allen Insassen Arbeit, Einzelsitzungen mit einem Psychologen und verschiedene Freizeitaktivitäten angeboten würden. Darüber hinaus werde eine Reihe von Gruppentherapien angeboten, darunter ein Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter (10 Teilnehmer, Dauer: 1 1/2 Jahre), Training zum Aufbau sozialer Kompetenz (6 Teilnehmer, Dauer: 6 bis 7 Monate), Kunsttherapie (5 Teilnehmer), Theater- und Bewegungstherapie (5 Teilnehmer) und ein Programm zur Suchtkontrolle (9 Teilnehmer). Von den insgesamt 58 Insassen nahmen 48 an Einzeltherapien teil, wobei 13 zusätzlich an einer der oben genannten Gruppentherapien und 11 an zwei Behandlungsgruppen teilnahmen. Sieben Insassen weigerten sich, an einer Therapie teilzunehmen, zwei waren Neuzugänge und noch keinem Behandlungsprogramm zugewiesen, und ein Insasse war (aufgrund eines Gehirnschadens) offenbar nicht in der Lage, an einem Behandlungsprogramm teilnehmen. Das Team aus spezialisierten Fachkräften umfasste drei Psychologen und vier Sozialarbeiter (einer pro Stockwerk). Der Delegation wurde mitgeteilt, dass nach dem für sozialtherapeutische Einrichtungen geltenden Betreuungsschlüssel die Abteilung für Sicherungsverwahrung mindestens sechs Vollzeit-Psychologen benötigen würde. […] Der Leiter des psychologischen Dienstes deutete an, dass es aufgrund der beschränken Personalausstattung nicht möglich sei, […] Einzeltherapien auf wöchentlicher Basis durchzuführen, diejenigen zu erreichen, denen es an jeglicher Motivation und Bereitschaft zur Teilnahme an Therapiemaßnahmen fehle, und eine wirksame Milieutherapie durchzuführen.
18. In der Justizvollzugsanstalt Q. stellte sich diese Situation sogar noch besorgniserregender dar. Obwohl von der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsverwaltung im Mai 2013 ein umfassendes und detailliertes Konzept für die Behandlung von Personen in der Sicherungsverwahrung erarbeitet worden war, zeigte der Besuch eine augenfällige Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auf. Von 40 Insassen erhielten nur 24 eine Einzeltherapie und nur 8 nahmen an einer Gruppentherapie teil. Ebenfalls bedauerlich ist, dass von der Justizvollzugsverwaltung bis dahin keine Anstrengungen unternommen worden waren, um Gruppensitzungen im Rahmen einer Kunst-, Musik- oder Theatertherapie anzubieten, was besonders für diejenigen Insassen nutzbringend sein kann, die nicht bereit oder nicht in der Lage sind, an anderen Gruppentherapieprogrammen teilzunehmen. Ferner stellte die Delegation fest, dass die Versuche, die unternommen worden waren, um die Insassen für die Teilnahme an den wöchentlichen, vom Personal im Rahmen der laufenden Milieutherapie durchgeführten Treffen in der Wohngruppe zu motivieren, größtenteils gescheitert waren.
19. Der CPT erkennt an, dass sich die Umsetzung der neuen Rechtsvorschriften über die Sicherungsverwahrung noch in einer frühen Phase befand und dass es einige Zeit dauern kann, bis alle geplanten Maßnahmen vollständig in die Praxis umgesetzt sind. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die vorhandenen Ressourcen für Behandlungsmaßnahmen für Sicherungsverwahrte in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz unzureichend waren, um den Erfordernissen der einschlägigen Rechtsvorschriften auf Bundes- und Landesebene zu genügen, nämlich ein System von therapiegerichteten, freiheitsorientierten und motivationsfördernden Programmen zu bieten. […]
Der Ausschuss empfiehlt, dass die zuständigen Behörden in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ihre Anstrengungen verstärken, um die Einzel- und Gruppentherapiemaßnahmen, die sicherungsverwahrten Personen in den Justizvollzugsanstalten R. und Q. angeboten werden, weiterzuentwickeln und die Anzahl der Fachkräfte entsprechend zu erhöhen.
20. Die Delegation hat einen positiven Eindruck von den therapeutischen Maßnahmen gewonnen, die den Insassen in der sozialtherapeutischen Anstalt W. und der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Q. angeboten wurden, wo Sicherungsverwahrte untergebracht waren, die für ein intensives Therapieprogramm für Gewalt- und Sexualstraftäter geeignet erschienen. […]“
4. Der Menschenrechtskommissar des Europarats
97. In seinem Bericht vom 11. Juli 2007 über seinen Besuch in Deutschland vom 9. bis 11. und vom 15. bis 20. Oktober 2006 (siehe CommDH(2007)14) hat der Menschenrechtskommissar des Europarats, Herr Thomas Hammarberg, zum Thema der – gemäß den damals anwendbaren Bestimmungen vollzogenen – Sicherungsverwahrung (von ihm als „secured custody“ bezeichnet) Folgendes erklärt:
„8.2. Sicherungsverwahrung
201. Nach deutschem Strafrecht kann ein Täter, der ein schwerwiegendes Verbrechen wie zum Beispiel Mord oder Vergewaltigung begangen hat, nach Verbüßen seiner Freiheitsstrafe in Sicherungsverwahrung genommen werden. Die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung kann nur von dem Gericht getroffen werden, das das ursprüngliche Urteil auf der Grundlage eines medizinischen Gutachtens erlassen hat. Die Dauer der Sicherungsverwahrung ist unbegrenzt, aber sie muss […] gerichtlich überprüft werden. Die Sicherungsverwahrung kann entweder bereits im Ausgangsurteil auferlegt oder kurz vor Ablauf der Strafhaft angeordnet werden.
202. Die Sicherungsverwahrung einer Person hat keinen Strafcharakter, sondern soll die allgemeine Öffentlichkeit vor Verbrechen schützen, die der betreffende Täter möglicherweise begehen kann. Infolgedessen sind die Gefängnisbedingungen auf die besondere Situation angepasst, und unnötige Restriktionen gelangen nicht zur Anwendung.
203. Während seines Besuchs hat der Kommissar das Thema der Sicherungsverwahrung mit mehreren Länderbehörden, Richtern und Medizinexperten diskutiert. Der Kommissar ist sich des öffentlichen Drucks bewusst, dem Richter und Ärzte ausgesetzt sind, wenn sie Entscheidungen über die Freilassung einer Person treffen, die möglicherweise ein schweres Verbrechen begehen könnte. Es kann unmöglich mit hundertprozentiger Sicherheit vorhergesagt werden, ob eine Person tatsächlich rückfällig wird. Eine inhaftierte Person, die sich außerhalb der Gefängnismauern möglicherweise anders verhalten kann als während der Haft, wird regelmäßig von Psychiatern beurteilt. Außerdem ist es schwierig, im Vorfeld alle Bedingungen abzusehen, mit denen der Straftäter außerhalb der Haftanstalt konfrontiert sein wird.
204. Der Kommissar ruft zu einer äußerst besonnenen Anwendung der Sicherungsverwahrung auf. Bevor auf die Sicherungsverwahrung zurückgegriffen wird, sollen auch alternative Maßnahmen geprüft werden. Der Kommissar ist besorgt über die steigende Zahl von Personen, denen im Rahmen der Sicherungsverwahrung die Freiheit entzogen wird. Er ermuntert die deutschen Behörden, unabhängige Studien über die Implementierung der Sicherungsverwahrung in Auftrag zu geben, um diese Maßnahme unter dem Aspekt des Schutzes der Allgemeinheit und der Auswirkung der Maßnahme auf die inhaftierte Person zu bewerten.
205. Der Kommissar ist sich auch der vorgeschlagenen Änderungen bewusst, die die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung für jugendliche Straftäter in extremen Fällen zulassen. Der Kommissar fordert die deutschen Behörden auf, diese Vorschläge wegen ihrer extremen Konsequenzen für die jugendlichen Straftäter erneut zu prüfen. Bei jugendlichen Straftätern sollen wenn irgend möglich alternative Maßnahmen zur Anwendung gelangen.
206. Ferner wurde der Kommissar darüber unterrichtet, dass in Sicherungsverwahrung befindliche Personen immer wieder ihre Zukunftsperspektive verlieren und sich selbst aufgeben. Daraus erwächst der Ruf nach psychologischer oder psychiatrischer Betreuung. Die Meinungen der Mediziner können zwar gelegentlich hinsichtlich der Effizienz der Betreuung von Personen in Sicherungsverwahrung auseinander gehen, doch die Möglichkeit ihrer eventuellen Rehabilitierung und Freilassung darf nicht ausgeschlossen werden. Folglich soll den in Sicherungsverwahrung befindlichen Personen eine angemessene medizinische Behandlung oder sonstige Betreuung, die ihrer besonderen Situation gerecht wird, zur Verfügung stehen.“
IV. VERGLEICH DES EINSCHLÄGIGEN RECHTS
98. Was die Maßnahmen angeht, für die sich die anderen Vertragsparteien des Übereinkommens zum Schutz der Allgemeinheit vor psychisch kranken Straftätern, bei denen im Falle ihrer Freilassung die Gefahr weiterer schwerer Straftaten besteht, entschieden haben, besagen die dem Gerichtshof vorliegenden rechtsvergleichenden Materialien Folgendes: Von den untersuchten zweiunddreißig Vertragsstaaten erlauben zehn die Anwendung freiheitsentziehender Schutzmaßnahmen nach Verbüßung der Strafhaft. Die Hälfte dieser Staaten erlaubt die Anordnung solcher Maßnahmen nach Auferlegung der Strafe. Die Auferlegung der Maßnahmen erfolgt durch ein Rechtsprechungsorgan. In den meisten dieser Staaten gelten diese Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht nicht als „Strafen“. Die Einrichtungen, in denen die Maßnahmen vollzogen werden, sind recht unterschiedlich und reichen von speziellen Hafteinrichtungen bis hin zu psychiatrischen Krankenhäusern, psychiatrischen Abteilungen in Gefängnissen und normalen Haftanstalten.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
I. DER UMFANG DER RECHTSSACHE VOR DER GROSSEN KAMMER
99. Die Große Kammer möchte eingangs festhalten, dass die Kammer die vorliegenden Individualbeschwerden im Register des Gerichtshofs gestrichen hat, soweit der Beschwerdeführer nach Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 der Konvention seine in der Justizvollzugsanstalt X. vollzogene Sicherungsverwahrung vom 6. Mai 2011 bis zum 20. Juni 2013 gerügt hatte. Die Entscheidung der Streichung erfolgte gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention auf der Grundlage einer einseitigen Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung, in der diese einräumte, dass die Konvention verletzt worden sei, weil der Beschwerdeführer während des genannten Zeitraums nicht in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung untergebracht gewesen sei (siehe I. ./. Deutschland, Individualbeschwerden Nrn. 10211/12 und 27505/14, Rdnrn. 45 bis 58, 2. Februar 2017; siehe auch Rdnr. 5).
100. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass Inhalt und Umfang einer Rechtssache, die an die Große Kammer verwiesen wird, durch die Zulässigkeitsentscheidung der Kammer begrenzt werden (siehe u. a. K. und T. ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 25702/94, Rdnrn. 140 bis 141, ECHR 2001-VII, Göç ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 36590/97, Rdnrn. 36 bis 37, ECHR 2002‑V, und Simeonovi ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 21980/04, Rdnr. 83, 12. Mai 2017). Dies bedeutet, dass die Große Kammer diejenigen Teile der Individualbeschwerde, die von der Kammer für unzulässig erklärt wurden, nicht prüfen kann (siehe Sisojeva u. a. ./. Lettland (Streichung) [GK], Individualbeschwerde Nr. 60654/00, Rdnrn. 61, ECHR 2007‑I; Al-Dulimi und Montana Management Inc. ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 5809/08, Rdnr. 78, 21. Juni 2016, und Paradiso und Campanelli ./. Italien [GK], Individualbeschwerde Nr. 25358/12, Rdnr. 84, 24. Januar 2017).
101. Der Gerichtshof stellt fest, dass dieselben Überlegungen gelten, wenn, wie in dem vorliegenden Fall, Teile der Individualbeschwerden nicht für unzulässig erklärt, sondern vor der entsprechenden Kammerentscheidung über die Zulässigkeit aus dem Register des Gerichtshofs gestrichen wurden. Diese Teile der Individualbeschwerden sind folglich nicht Teil der an die Große Kammer verwiesenen „Rechtssache“.
102. Der Gerichtshof stellt fest, dass dies von den Parteien in keiner Weise bestritten wird. Zur Stützung seines Vorbringens nahm der Beschwerdeführer auf die einseitige Erklärung der Regierung Bezug (siehe Rdnr. 114). Die Regierung, die erklärte, dass sie sich selbst an ihre einseitige Erklärung und die Streichung der Kammer gebunden sehe, hatte dem Beschwerdeführer, der die Zahlung akzeptierte, die in der einseitigen Erklärung bezifferte Entschädigung am 28. April 2017 überwiesen. Auch der Gerichtshof sieht daher keine Grundlage für eine Entscheidung nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention.
103. Folglich fällt die Vereinbarkeit der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in der Justizvollzugsanstalt X. vom 6. Mai 2011 bis zum 20. Juni 2013 mit Artikel 5 Abs. 1 und Artikel 7 Abs. 1 nicht unter die Zuständigkeit der Großen Kammer.
II. TERMINOLOGIE
104. Im Lichte der Feststellungen zum Umfang der Rechtssache vor dem Gerichtshof stellt die Große Kammer darüber hinaus Folgendes fest: In den bisherigen Urteilen des Gerichtshofs wurde der deutsche Begriff „nachträgliche Sicherungsverwahrung“, also die gegen einen verurteilten Straftäter in einem gesondert und nach vorhergehender strafrechtlicher Verurteilung erlassenen Urteil angeordnete Sicherungsverwahrung, mit „retrospective preventive detention“ oder „retrospectively ordered preventive detention“ ins Englische, und mit “détention de sûreté rétroactive”” oder “détention de sûreté ordonnée rétroactivement” ins Französische übersetzt.
105. Die Große Kammer räumt ein, dass die Anordnung einer solchen Sicherungsverwahrung insofern ein nachträgliches Element beinhaltet, als sie voraussetzt, dass die betroffene Person in einem vorangegangenen Urteil wegen einer schweren Straftat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Gleichermaßen beinhaltet die Anordnung jedoch ein starkes prospektives Element, da ihr die ex-nunc-Einschätzung, die betroffene Person werde in der Zukunft wahrscheinlich weitere Straftaten begehen, zugrunde liegen muss. Dieses prospektive Element ist nach den Änderungen, die das Bundesverfassungsgericht und der deutsche Gesetzgeber an dem auf Personen wie dem Beschwerdeführer anwendbaren Sicherungsverwahrungsrecht vorgenommen haben, weiter gestärkt worden. Gemäß diesen Änderungen ist es nun zusätzlich erforderlich, dass die Betroffenen zum Zeitpunkt der Anordnung der Sicherungsverwahrung an einer psychischen Störung leiden, in deren Folge sie für die Allgemeinheit gefährlich sind.
106. In Anbetracht dieser wichtigen prospektiven Elemente ist die Große Kammer der Auffassung, dass der Begriff „nachträgliche Sicherungsverwahrung“ ins Englische besser mit „subsequent preventive detention“ und ins Französische besser mit „détention de sûreté subséquente“ übersetzt werden sollte, wodurch zum Ausdruck gebracht würde, dass es sich um eine zu einem späteren Zeitpunkt als dem Zeitpunkt der Verurteilung angeordnete Maßnahme handelt, die zwar unter Berücksichtigung der letzten Verurteilung der betroffenen Person ergeht, jedoch wesentlich auf einer psychischen Störung beruht, die zum Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme besteht und die Gefährlichkeit der betroffenen Person begründet.
III. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABS. 1 DER KONVENTION
107. Der Beschwerdeführer rügte, dass seine „nachträglich“ angeordnete, auf der Grundlage des Urteils des Landgerichts A. vom 3. August 2012 ab dem 20. Juni 2013 in der Einrichtung für Sicherungsverwahrung in X. vollzogene Sicherungsverwahrung sein nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention garantiertes Recht auf Freiheit verletzt habe. Diese Bestimmung lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;
[…]
c) rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;
[…]
e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern;
[…]“
108. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Das Urteil der Kammer
109. Unter Berücksichtigung der Erwägungen des Gerichtshofs in dem Leitverfahren B. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 77 bis 134) befand die Kammer, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ab dem 20. Juni 2013 mit Artikel 5 Abs. 1 vereinbar gewesen sei. Die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers sei nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e gerechtfertigt gewesen. Der Beschwerdeführer, der an sexuellem Sadismus leide und im Falle der Freilassung wahrscheinlich erneut morden werde, sei psychisch krank im Sinne dieser Bestimmung. Darüber hinaus sei seine Freiheitsentziehung seit seiner Überstellung in die Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. am 20. Juni 2013 rechtmäßig gewesen, da sie in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung vollzogen worden sei.
B. Die Stellungnahmen der Parteien
1. Der Beschwerdeführer
110. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine auf dem Urteil des Landgerichts vom 3. August 2012 beruhende Sicherungsverwahrung ab dem 20. Juni 2013 ebenso wie seine Sicherungsverwahrung bis zu diesem Datum gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe.
111. Er trug vor, dass seine Freiheitsentziehung nach keinem der Buchstaben a bis f des Artikels 5 Abs. 1 gerechtfertigt gewesen sei. Insbesondere sei sie nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e als Freiheitsentziehung bei einem „psychisch Kranken“ gemäß der vom Gerichtshof vorgenommen Auslegung dieser Bestimmung gerechtfertigt (er bezog sich auf die Rechtssachen Winterwerp ./. Niederlande, 24. Oktober 1979, Rdnr. 39, Serie A Band 33, und Stanev ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 36760/06, Rdnr. 145, ECHR 2012). Erstens sei eine psychische Erkrankung bei ihm nicht zuverlässig nachgewiesen worden, wie dies nach § 7 Abs. 2 Nr. 1 und § 105 JGG i. V. m dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 erforderlich sei (siehe Rdnrn. 56, 59 und 72). Die Hälfte der Sachverständigen, die ihn seit 1999 begutachtet hätten, einschließlich des Sachverständigen F., der in dem in Rede stehenden Verfahren hinzugezogen worden sei, habe nicht festgestellt, dass er an einer psychischen Störung, insbesondere sexuellem Sadismus, leide, weshalb eine tatsächliche psychische Störung nicht nachgewiesen worden sei. Darüber hinaus sei keiner der Sachverständigen zur Untersuchung junger Personen befähigt gewesen, obwohl dies nach § 43 Abs. 2 JGG als wünschenswert angesehen werde.
112. Zweitens sei eine „psychischen Störung“ nach § 1 ThUG, die nur von den innerstaatlichen Gerichten festgestellt worden sei, möglicherweise umfassender als der Begriff „psychisch Kranke“ in Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e (der Beschwerdeführer bezog sich auf die Rechtssache G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 7345/12, Rdnr. 87, 28. November 2013). Daher sei nicht erwiesen, dass er psychisch krank sei, also an einer psychischen Störung leide, die eine Zwangsunterbringung rechtfertige.
113. Drittens erkannte der Beschwerdeführer an, dass die Zulässigkeit seiner weiteren Unterbringung gemäß deutschem Recht (§ 67e StGB, siehe Rdnr. 64) von dem Fortbestehen einer psychischen Störung abhängt.
114. Darüber hinaus brachte der Beschwerdeführer vor, dass seine Freiheitsentziehung wegen psychischer Krankheit nicht rechtmäßig im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e gewesen sei. Er machte geltend, dass die Regierung in ihrer einseitigen Erklärung eingeräumt habe, dass das Urteil des Landgerichts A. vom 3. August 2012 unrechtmäßig gewesen sei. Dies könne nicht einfach in einem späteren Verfahrensstadium durch seine Überstellung in die neue Einrichtung für Sicherungsverwahrte wiedergutgemacht werden. Ohne ein neues, seine Sicherungsverwahrung anordnendes Urteil habe es auch für seine Freiheitsentziehung ab dem 20. Juni 2013 keine Rechtsgrundlage gegeben.
115. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Sicherungsverwahrung ab dem 20. Juni 2013 auch deshalb unrechtmäßig gewesen sei, weil sie nicht, wie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erforderlich, in einer für psychisch Kranke geeigneten Einrichtung erfolgt sei (der Beschwerdeführer nahm insbesondere auf die Rechtssache G., a.a.O., Rdnr. 75 Bezug). Die neue Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X., in die er am 20. Juni 2013 verlegt worden sei, sei keine für die Freiheitsentziehung von psychisch Kranken geeignete Einrichtung, da sie kein geeignetes medizinisch-therapeutisches Umfeld biete. Von den insgesamt 57 Insassen in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. seien nur fünf Personen, darunter der Beschwerdeführer, wegen psychischer Krankheit untergebracht. Daher erfolge seine Freiheitsentziehung in einer Gefängnisumgebung, und nicht in einem psychiatrischen Umfeld.
2. Die Regierung
116. Die Regierung brachte vor, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ab dem 20. Juni 2013 mit Artikel 5 Abs. 1 vereinbar gewesen sei. Sie sei nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e als Freiheitsentziehung bei einem psychisch Kranken gerechtfertigt gewesen.
117. Die Regierung erläuterte, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Leiturteil vom 4. Mai 2011 bestrebt war, die grundgesetzlichen Standards an die Anforderungen von Artikel 5 Abs. 1 (und auch Artikel 7 Abs. 1) der Konvention anzupassen, wie sie vom Gerichtshof in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) herausgearbeitet worden seien. Das Bundesverfassungsgericht habe ausdrücklich festgestellt, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung fortan nur noch angeordnet werden könne, wenn die Anforderungen von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e erfüllt seien (siehe Rdnrn. 72 und 75).
118. Die Regierung brachte vor, dass die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien für eine Freiheitsentziehung wegen psychischer Krankheit bei dem Beschwerdeführer erfüllt gewesen seien (die Regierung nahm Bezug auf die Rechtssache B., a.a.O., Rdnr. 96). In dem Hauptsacheverfahren habe das Landgericht, das zwei renommierte externe psychiatrische Sachverständige hinzugezogen habe, festgestellt, dass der Beschwerdeführer zur maßgeblichen Zeit, also zum Zeitpunkt der Anordnung der nachträglichen Sicherheitsverwahrung, an einer tatsächlichen psychischen Störung, nämlich einer schweren Form des sexuellen Sadismus, gelitten habe. Diese fortbestehende Störung erfordere eine Zwangsunterbringung, da die hochgradige Gefahr bestehe, dass er im Falle seiner Freilassung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen werde.
119. Gemäß der Rechtsprechung in der Rechtssache G. (a.a.O., Rdnr. 84) könne der Beschwerdeführer als psychisch krank im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e angesehen werden, obwohl seine Störung zum Tatzeitpunkt nicht mit einem Ausschluss oder einer Minderung seiner Schuldfähigkeit verbunden gewesen sei.
120. Darüber hinaus sei die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers seit dem 20. Juni 2013 als Freiheitsentziehung bei einem psychisch Kranken im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e rechtmäßig gewesen. Sie sei auf eine hinreichende Rechtsgrundlage gestützt gewesen, nämlich § 7 Abs. 2 und § 105 Abs. 1 JGG in Verbindung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011. Außerdem sei der Beschwerdeführer ab dem 20. Juni 2013 in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung untergebracht gewesen.
121. Diesbezüglich betonte die Regierung, dass das Landgericht A. am 3. August 2012 keine Unterbringung des Beschwerdeführers in einer ungeeigneten Einrichtung angeordnet habe, obwohl der Beschwerdeführer zunächst in einer Justizvollzugsanstalt untergebracht worden sei. Vielmehr habe der Beschwerdeführer entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (sobald wie möglich) in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden sollen. Dies habe jedoch vor dem 20. Juni 2013 praktisch nicht umgesetzt werden können, da sich die neue Einrichtung für Sicherungsverwahrte noch im Bau befunden habe. Die Anpassung der Bedingungen des Vollzugs der Sicherungsverwahrung an die Erfordernisse der Konvention habe eine gewisse Zeit in Anspruch genommen. Die Regierung brachte vor, dass der Beschwerdeführer ab dem 20. Juni 2013 in einer geeigneten Einrichtung untergebracht gewesen sei und die von ihr in ihrer einseitigen Erklärung eingeräumte Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 während des Zeitraums vom 6. Mai 2011 bis zum 20. Juni 2013 an diesem Tag geendet habe, ohne dass das Landgericht ein neues Urteil habe erlassen müssen.
122. Entsprechend dem reformierten bundes- und landesrechtlichen Rahmen für die Sicherungsverwahrung (insbesondere § 66c StGB und das einschlägige Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz des betroffenen Bundeslandes, siehe Rdnrn. 77 bis 80), trügen die Therapien, die in Einrichtungen für Sicherungsverwahrte untergebrachten psychisch kranken Personen zur Verfügung stünden, zwar der Tatsache Rechnung, dass diese für ihre Straftaten strafrechtlich verantwortlich seien, ähnelten jedoch denen für Patienten in geschlossenen psychiatrischen Krankenhäusern. Das neue Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung sei auf eine individuell zugeschnittene ärztliche und therapeutische Behandlung der Untergebrachten ausgerichtet. Die verfügbaren Statistiken (siehe Rdnr. 91) zeigten, dass viele Untergebrachte, deren Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert oder nachträglich angeordnet worden sei, seit der Rechtskraft des Urteils in der Rechtssache M. ./. Deutschland entlassen worden seien. Daraus gehe klar hervor, dass nur einige der Betroffenen als psychisch krank angesehen worden und weiterhin sicherungsverwahrt seien, weshalb keine Rede davon sein könne, dass alle betroffenen Sicherungsverwahrten als Personen eingestuft worden seien, bei denen eine tatsächliche psychische Störung vorliege.
123. In der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X., die aus Gründen der Praktikabilität auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt X. errichtet worden sei, hinsichtlich der stark verbesserten Unterbringungsbedingungen und der von einem großen Team von Fachkräften angebotenen Therapien vom Strafvollzug jedoch klar getrennt sei, seien dem Beschwerdeführer folglich eine intensive Betreuung auf der Grundlage eines individuellen Behandlungskonzepts sowie eine umfassende Therapie geboten worden. Die Regierung hob ferner hervor, dass zwar nur bei einer kleinen Zahl von Sicherungsverwahrten ein sexueller Sadismus diagnostiziert worden sei, dass die meisten jedoch an einer Persönlichkeitsstörung litten und für sie jeweils ein für die konkrete Störung geeigneter individueller Behandlungsplan erstellt worden sei.
C. Vorbringen der Drittbeteiligten
124. Das European Prison Litigation Network (EPLN) brachte vor, dass die von der Kammer in der Rechtssache B. und im vorliegenden Individualbeschwerdeverfahren vorgenommene Auslegung des Begriffs „persons of unsound mind“ („psychisch Kranke“) aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention, nach der dieser Begriff Sicherungsverwahrte erfasse, dazu führe, dass man diesen Personen ihre Konventionsrechte versage. Die Auslegung dieses Begriffs seit zu weit gefasst und zu ungenau. Das EPLN wies darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht festgestellt habe, der Begriff der psychischen Störung umfasse nach deutschem Recht auch nicht-pathologische Störungen. Jedoch bezeichne der Begriff „persons of unsound mind“, oder, in der französischen Fassung, „aliéné“, Personen, bei denen zumindest ein schwerer pathologischer Zustand vorliege und deren Fähigkeit, das Unrecht ihrer Tat einzusehen, nicht vorhanden oder zumindest vermindert sei. Darüber hinaus hätten diese Personen, um verurteilt werden zu können, zur Tatzeit strafrechtlich verantwortlich sein müssen, was mit der späteren Feststellung, diese Personen seien „psychisch krank“, unvereinbar sei.
125. Das EPLN vertrat die Auffassung, dass die Kammer die Betroffenen in den Rechtssachen B. und I. nicht vor Willkür geschützt habe, da sie nicht verhindert habe, dass der Begriff „psychisch Kranke“ mit einer Gefährlichkeit der Betroffenen gleichgesetzt und verwechselt worden sei. Dies diene dazu, diesen Personen mittels einer Umgehung der Konventionsrechte, wie sie in der Rechtssache M ./. Deutschland ausgelegt worden seien, die Freiheit zu entziehen.
D. Die Beurteilung durch die Große Kammer
1. Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
(a) Gründe für die Freiheitsentziehung
126. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung in Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f enthalten ist und eine Freiheitsentziehung nur rechtmäßig sein kann, wenn sie von einem dieser Gründe erfasst wird (siehe Del Río Prada ./. Spanien [GK], Individualbeschwerde Nr. 42750/09, Rdnr. 123, ECHR 2013, mit weiteren Nachweisen). Die Anwendbarkeit eines Grundes schließt jedoch nicht notwendigerweise die eines anderen aus; eine Freiheitsentziehung kann je nach den Umständen nach mehr als einem der Buchstaben gerechtfertigt sein (siehe Kharin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 37345/03, Rdnr. 31, 3. Februar 2011, mit weiteren Nachweisen). Nur eine enge Auslegung der erschöpfenden Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung entspricht dem Ziel von Artikel 5, nämlich sicherzustellen, dass niemandem willkürlich die Freiheit entzogen wird (siehe u. v. a. Winterwerp, a.a.O., Rdnr. 37, und Shimovolos ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 30194/09, Rdnr. 51, 21. Juni 2011).
127. Was die Rechtfertigung einer Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e betrifft, stellt der Gerichtshof erneut fest, dass dem Begriff „psychisch Kranke“ aus dieser Bestimmung eine eigenständige Bedeutung zu verleihen ist (vgl. G., a.a.O., Rdnrn. 78 ff). Der Begriff lässt sich nicht genau definieren, weil seine Bedeutung sich mit dem Fortschreiten der psychiatrischen Forschung ständig verändert (siehe Winterwerp, a.a.O., Rdnr. 37, und Rakevich ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 58973/00, Rdnr. 26, 28. Oktober 2003). Einer Person kann wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit nur entzogen werden, wenn die drei folgenden Mindestvoraussetzungen erfüllt sind: Erstens muss die psychische Krankheit zuverlässig nachgewiesen sein, d. h. eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund eines objektiven ärztlichen Gutachtens von einer zuständigen Behörde festgestellt werden; zweitens muss die psychische Störung ihrer Art oder ihrer Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigen; drittens muss die Fortdauer der Unterbringung vom Fortbestehen einer derartigen Störung abhängen (siehe Winterwerp, a.a.O., Rdnr. 39, Stanev, a.a.O., Rdnr. 145, und B., a.a.O., Rdnr. 96).
128. Im Hinblick auf die Entscheidung, ob einer Person wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit entzogen werden sollte, ist anzuerkennen, dass die nationalen Behörden über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen, weil in erster Linie die nationalen Behörden dafür zuständig sind, die ihnen in einem konkreten Fall vorgelegten Beweise zu würdigen; die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, im Lichte der Konvention die Entscheidungen dieser Behörden zu überprüfen (siehe Winterwerp, a.a.O. Rdnr. 40, und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3300/10, Rdnr. 81, 28. Juni 2012).
129. Im Hinblick auf die erste Voraussetzung, unter der einer Person wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit entzogen werden kann, nämlich der, dass eine tatsächliche psychische Störung aufgrund eines objektiven ärztlichen Gutachtens von einer zuständigen Behörde festgestellt worden ist, erinnert der Gerichtshof daran, dass die nationalen Behörden zwar insbesondere hinsichtlich der Bewertung klinischer Befunde über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen (siehe H. L. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45508/99, Rdnr. 98, ECHR 2004-IX), die in Artikel 5 Abs. 1 aufgeführten zulässigen Gründe für eine Freiheitsentziehung jedoch eng auszulegen sind. Eine psychische Erkrankung muss einen gewissen Schweregrad aufweisen, um als „tatsächliche“ psychische Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e angesehen zu werden, da sie so ernst sein muss, dass sie der Behandlung in einer Einrichtung für psychisch kranke Patienten bedarf (vgl. G., a.a.O., Rdnrn. 82 bis 85, und P. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 6281/13, Rdnr. 76, 2. Juni 2016).
130. Hinsichtlich der Anforderungen, die an ein „objektives ärztliches Gutachten“ zu stellen sind, ist der Gerichtshof generell der Auffassung, dass die nationalen Behörden besser als er selbst in der Lage sind, die Qualifikationen des in Rede stehenden ärztlichen Sachverständigen zu bewerten (siehe, sinngemäß, Sabeva ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 44290/07, Rdnr. 58, 10. Juni 2010; Biziuk ./. Polen (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 24580/06, Rdnr. 47, 17. Januar 2012, und Ruiz Rivera ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 8300/06, Rdnr. 59, 18. Februar 2014). Jedoch hat er es in bestimmten konkreten Fällen für erforderlich gehalten, dass die in Rede stehenden ärztlichen Sachverständigen eine spezifische Qualifikation aufweisen, und insbesondere gefordert, dass die Begutachtung von einem psychiatrischen Sachverständigen vorgenommen werden muss, wenn bei der als „psychisch krank“ inhaftierten Person in der Vergangenheit keine psychische Störung vorlag (siehe C.B. ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 21207/03, Rdnr. 56, 20. April 2010, Ťupa ./. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 39822/07, Rdnr. 47, 26. Mai 2011, Ruiz Rivera, a.a.O., Rdnr. 59, und Vogt ./. Schweiz (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 45553/06, Rdnr. 36, 3. Juni 2014), und zudem manchmal gefordert, dass die Begutachtung von einem externen Sachverständigen vorzunehmen ist (siehe diesbezüglich Ruiz Rivera, a.a.O., Rdnr. 64).
131. Die Objektivität des ärztlichen Gutachtens setzt insbesondere voraus, dass es hinreichend aktuell war (vgl. Varbanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 31365/96, Rdnr. 47, ECHR 2000‑X; Witek ./ Polen, Individualbeschwerde Nr. 13453/07, Rdnr. 41, 21. Dezember 2010; Ruiz Rivera, a.a.O., Rdnr. 60 und W.P. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 55594/13, Rdnr. 49, 6. Oktober 2016). Ob das ärztliche Gutachten hinreichend aktuell war, hängt von den besonderen Umständen der dem Gerichtshof vorliegenden Rechtssache ab (siehe A. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 36356/10, Rdnr. 35, 21. Oktober 2014).
132. Hinsichtlich der Voraussetzung, dass die psychische Störung von einer zuständigen Behörde, insbesondere den innerstaatlichen Gerichten, festgestellt sein muss, weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass er im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter betont hat, dass die innerstaatlichen Gerichte die maßgeblichen Tatsachen, auf denen ihre Entscheidung beruht, der betroffenen Person die Freiheit zu entziehen, mit Hilfe geeigneter ärztlicher Sachverständigengutachten feststellen müssen (siehe, im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a, H.W. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17167/11, Rdnrn. 107 und 113, 19. September 2013, und K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 53157/11, Rdnr. 48, 25. Februar 2016, und, im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e, W.P. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 49). Nach Ansicht des Gerichtshofs muss die innerstaatliche Behörde das ihr vorliegende ärztliche Gutachten einer strengen Prüfung unterziehen und im Hinblick auf das ihr vorliegende Material zu einer eigenen Entscheidung darüber gelangen, ob die betroffene Person an einer psychischen Störung leidet.
133. Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung dafür, dass einer Person wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit entzogen werden darf, nämlich der, dass die psychische Störung ihrer Art oder ihrer Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigt (siehe Rdnr. 127), weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass eine psychische Störung dann als so schwerwiegend angesehen werden kann, dass eine Zwangsunterbringung gerechtfertigt ist, wenn festgestellt wird, dass die Unterbringung der betroffenen Person erforderlich ist, weil diese eine Therapie, Medikamente oder eine sonstige klinische Behandlung zur Heilung oder Linderung ihrer Erkrankung benötigt, aber auch wenn die betroffene Person der Kontrolle und Aufsicht bedarf, um sie beispielsweise davon abzuhalten, sich selbst oder anderen zu schaden (siehe z. B. Hutchison Reid ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 50272/99, Rdnr. 52, ECHR 2003-IV, und P., a.a.O., Rdnr. 61).
134. Der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem die psychische Erkrankung einer Person für die Erfordernisse des Artikels 5 Abs. 1 Buchstabe e zuverlässig nachgewiesen sein muss, ist der Tag des Erlasses der Maßnahme, mit welcher der Person aufgrund dieser Erkrankung die Freiheit entzogen wird (vgl. Luberti ./. Italien, 23. Februar 1984, Rdnr. 28, Serie A Band 75, B. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 68, und B., a.a.O., Rdnr. 98). Jedoch besagt die dritte Mindestvoraussetzung für die Rechtfertigung der Freiheitsentziehung wegen psychischer Krankheit, nämlich die, dass die Fortdauer der Unterbringung an das Fortbestehen der psychischen Störung geknüpft sein muss (siehe Rdnr. 127), dass etwaige, nach dem Erlass der Unterbringungsanordnung eintretende Veränderungen des psychischen Zustands der untergebrachten Person berücksichtigt werden müssen.
(b) „Rechtmäßige“ Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“
135. Jede Freiheitsentziehung muss unter eine der Ausnahmen nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f fallen und darüber hinaus „rechtmäßig“ sein. Soweit es um die „Rechtmäßigkeit“ der Freiheitsentziehung einschließlich der Frage geht, ob sie „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgt ist, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht und verpflichtet zur Einhaltung seiner materiell- und verfahrensrechtlichen Bestimmungen (siehe u. v. a. Erkalo ./. Niederlande, 2. September 1998, Rdnr. 52, Reports of Judgments and Decisions 1998‑VI; Baranowski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 28358/95, Rdnr. 50, ECHR 2000‑III, und Saadi ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13229/03, Rdnr. 67, ECHR 2008).
136. Die Einhaltung des innerstaatlichen Rechts reicht jedoch für sich genommen nicht aus: Artikel 5 Abs. 1 verlangt darüber hinaus, dass jede Freiheitsentziehung mit der Absicht, den Einzelnen vor Willkür zu schützen, vereinbar sein sollte (siehe u. v. a. Winterwerp, a.a.O., Rdnrn. 37, 45; Saadi, a.a.O., Rdnr. 67, und R. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 28527/08, Rdnr. 83, 19. Januar 2012).
137. Damit die Freiheitsentziehung „rechtmäßig“ und nicht willkürlich ist, muss nachgewiesen werden, dass sie unter den gegebenen Umständen notwendig war (siehe Varbanov, a.a.O., Rdnr. 46, und P., a.a.O., Rdnr. 64). Die Freiheitsentziehung stellt eine derart schwerwiegende Maßnahme dar, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht gezogen und zum Schutz des Einzelnen oder der Allgemeinheit für nicht ausreichend befunden wurden (siehe C.B. ./. Rumänien, a.a.O., Rdnr. 38; Karamanof ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 46372/09, Rdnr. 42, 26. Juli 2011; Stanev, a.a.O., Rdnr. 143, und V.K. ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 9139/08, Rdnr. 30, 4. April 2017, mit weiteren Nachweisen).
138. Voraussetzung für die „Rechtmäßigkeit“ der Freiheitsentziehung ist darüber hinaus, dass ein Zusammenhang zwischen den für eine zulässige Freiheitsentziehung angeführten Gründen und dem Ort und den Bedingungen der Freiheitsentziehung besteht. Grundsätzlich ist die „Freiheitsentziehung“ einer Person wegen psychischer Krankheit nur dann im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e „rechtmäßig“, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt (siehe Hutchison Reid, a.a.O., Rdnr. 49, Brand ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 49902/99, Rdnr. 62, 11. Mai 2004, G., a.a.O., Rdnr. 75, und B., a.a.O., Rdnr. 99, mit weiteren Nachweisen).
139. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass sich, wie die vorliegende Rechtssache zeigt, die Bedingungen ändern können, unter denen einer Person die Freiheit entzogen ist, auch wenn die Freiheitsentziehung auf derselben Anordnung beruht.
140. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er die Rechtssache W.P. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 24 ff.) in Anbetracht der einseitigen Erklärung der Regierung, in der eingeräumt wurde, dass Artikel 5 Abs. 1 (und Artikel 7 Abs. 1) der Konvention während eines ersten Zeitraums der Freiheitsentziehung verletzt worden sei, da der Beschwerdeführer nicht in einer geeigneten Einrichtung untergebracht gewesen sei, bezüglich der behaupteten Verletzungen dieser Bestimmungen im Register gestrichen hat. In Bezug auf einen zweiten Zeitraum der Freiheitsentziehung, der begann, nachdem W.P. in eine andere Einrichtung überstellt wurde, aber noch auf derselben Sicherungsverwahrungsanordnung beruhte, stellte der Gerichtshof fest, dass seine Sicherungsverwahrung mit Artikel 5 Abs. 1 (und Artikel 7 Abs. 1) der Konvention vereinbar war, da er mit dem Zweck, seine psychische Störung während des zweiten Zeitraums zu behandeln, in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung untergebracht war.
141. Das Vorgehen des Gerichtshofs impliziert daher, dass die Unterbringung einer psychisch kranken Person in der Sicherungsverwahrung rechtmäßig und somit mit Artikel 5 Abs. 1 vereinbar werden kann, wenn die Person in eine geeignete Einrichtung überstellt wird, auch wenn die Unterbringung noch auf derselben Anordnung beruht. Nach der oben genannten Auslegung des Begriffs „Rechtmäßigkeit“ besteht tatsächlich ein intrinsischer Zusammenhang zwischen der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung und den Bedingungen ihres Vollzugs. Diese Auffassung ist darüber hinaus mit dem Ansatz vergleichbar, der hinsichtlich der Beurteilung der Vereinbarkeit von Haftbedingungen mit Artikel 3 vertreten wird und ebenfalls besagt, dass Veränderungen der Haftbedingungen für die Beurteilung der Einhaltung des Verbots erniedrigender Behandlung maßgeblich sind (siehe insbesondere Muršić ./. Kroatien [GK], Individualbeschwerde Nr. 7334/13, Rdnrn. 136 ff., ECHR 2016). Daraus ergibt sich, dass der maßgebliche Zeitpunkt oder Zeitraum für die Beurteilung der Frage, ob eine Person in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung untergebracht war, derjenige ist, der in dem Verfahren vor dem Gerichtshof in Rede steht, und nicht der Zeitpunkt, in dem die Sicherungsverwahrung angeordnet wurde.
2. Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
142. Der Gerichtshof hat darüber zu entscheiden, ob die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers im Lichte der oben genannten Grundsätze von einem der in Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f aufgeführten Gründe für die Freiheitsentziehung erfasst wurde und im Sinne dieser Bestimmung „rechtmäßig“ und somit mit Artikel 5 Abs. 1 vereinbar war.
143. Der Gerichtshof möchte klarstellen, dass der in dem Verfahren vor der Großen Kammer in Rede stehende Zeitraum am 20. Juni 2013 begann, als der Beschwerdeführer von der Justizvollzugsanstalt X. in die neue Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. überstellt wurde (siehe Rdnr. 46). Wie oben aufgezeigt (siehe Rdnrn. 99 bis 103), fällt der vorangehende Zeitraum vom 6. Mai 2011 bis zum 20. Juni 2013 nicht unter die Gerichtsbarkeit der Großen Kammer. Der Zeitraum endete am 18. September 2014, als in dem regelmäßigen gerichtlichen Überprüfungsverfahren eine neue, die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers anordnende Entscheidung erlassen wurde (siehe Rdnr. 42), welche der Beschwerdeführer vor den innerstaatlichen Gerichten gesondert anfechten konnte.
(a) Gründe für die Freiheitsentziehung
144. Hinsichtlich der Prüfung der Frage, ob die in Rede stehende Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nach einem der Buchstaben a bis f des Artikels 5 Abs. 1 gerechtfertigt war, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in einem gesonderten Urteil, das am 3. August 2012 und somit nach dem am 29. Oktober 1999 erlassenen Urteil des Tatgerichts erging, nachträglich angeordnet wurde. In Anbetracht der gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 96 bis 101, G., a.a.O., Rdnr. 107, und B., a.a.O., Rdnr. 104, betreffend die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung, sowie B. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 71 bis 76, und S. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 84 bis 90, betreffend die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung) war die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers somit nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a als Freiheitsentziehung „nach Verurteilung“ gerechtfertigt, da zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Tatgericht – die keine Sicherungsverwahrungsanordnung beinhaltete – und seiner Freiheitsentziehung aufgrund der 2012 erlassenen Anordnung der Sicherungsverwahrung kein hinreichender Kausalzusammenhang bestand.
145. Die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung war auch nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c wegen „begründete[n] Anlass[es] zu der Annahme […], dass es notwendig ist, [ihn] an der Begehung einer Straftat […] zu hindern“ gerechtfertigt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs war dieser Haftgrund nicht auf eine generalpräventive Vorgehensweise, gerichtet gegen eine einzelne, aufgrund ihres Hanges zu Straftaten eine Gefahr darstellende Person, zugeschnitten. Er bot den Vertragsstaaten lediglich ein Mittel zur Verhütung von Straftaten, die insbesondere hinsichtlich des Ortes und der Zeit ihrer Begehung und ihrer Opfer hinreichend konkret und spezifisch waren (siehe M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 89 und 102, mit weiteren Nachweisen, und J. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 30060/04, Rdnr. 35, 14. April 2011), was potentielle weiteren Straftaten des Beschwerdeführers nicht abdeckte. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig.
146. Der Gerichtshof wird daher prüfen, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers als Freiheitsentziehung bei einem psychisch Kranken im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e gerechtfertigt werden kann, wie von der Regierung vorgebracht und vom Beschwerdeführer bestritten. Wie oben ausgeführt (siehe Rdnrn. 127 und 134), setzt dies erstens voraus, dass die psychische Krankheit bei dem Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 3. August 2012, mit der seine Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, zuverlässig nachgewiesen war, dass also eine tatsächliche psychische Störung aufgrund eines objektiven ärztlichen Gutachtens von einer zuständigen Behörde festgestellt wurde.
147. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Landgericht, das zwei externe psychiatrische Sachverständige, K. und F., hinzugezogen hatte, davon überzeugt war, dass der Beschwerdeführer an einer Störung der Sexualpräferenz, namentlich an sexuellem Sadismus, leide, wie sie in dem einschlägigen Instrument zur Klassifikation von Krankheiten, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in der derzeit gültigen Fassung (ICD-10) beschrieben werde. Das Gericht war davon überzeugt, dass der Beschwerdeführer sexuelle Gewaltfantasien habe, die Angriffe auf den Hals und die Strangulation von Frauen sowie die Masturbation auf ihren leblosen Körpern beinhalteten. Dieser sexuelle Sadismus sei sehr ausgeprägt und habe seit der Pubertät den Entwicklungsprozess des Beschwerdeführers bestimmt. Die psychische Störung habe seine brutale Straftat ausgelöst und sich in dieser manifestiert, und sie bestehe weiterhin. Daher leide der Beschwerdeführer an einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 ThUG. Das Gericht führte aus, dass die psychische Störung nach diesem Gesetz nicht in einem Ausprägungsgrad vorhanden sein müsse, der die Schuldfähigkeit der betroffenen Person ausschließe oder vermindere (siehe Rdnrn. 32 bis 37).
148. Hinsichtlich der Frage, ob das Landgericht damit festgestellt hatte, dass der Beschwerdeführer an einer tatsächlichen psychischen Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention litt, stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer dem entgegentrat und vorbrachte, dass die Auslegung des Begriffs „mental disorder“ („psychische Störung“) durch die innerstaatlichen Gerichte weiter gefasst sein könne als der Begriff „of unsound mind“ („psychisch krank“) und er nicht an einer psychischen Störung leide (siehe Rdnrn. 111 bis 112). Die Drittbeteiligte brachte vor, dass der Begriff „persons of unsound mind“ („psychisch Kranke“) dahingehend auszulegen sei, dass er nur Personen bezeichne, bei denen ein schwerer pathologischer Zustand vorliege und bei denen die Fähigkeit, das Unrecht ihrer Taten einzusehen, nicht vorhanden oder zumindest vermindert sei (siehe Rdnr. 124).
149. Im Hinblick darauf, dass dem Begriff „persons of unsound mind“ („psychisch Kranke“) eine eigenständige Bedeutung zu verleihen ist, ist es nicht erforderlich, dass die betroffene Person bei Begehung der Tat an einem Zustand litt, der nach innerstaatlichem Recht ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließt oder mindert (siehe auch G., a.a.O., Rdnr. 83 bis 84, und P., a.a.O., Rdnrn. 74 bis 75).
150. Der Gerichtshof nimmt ferner Bezug auf seine früheren Feststellungen, auf die sich der Beschwerdeführer berufen hat und nach denen es den Anschein hat, dass der Begriff „persons of unsound mind“ („psychisch Kranke“, „aliené“ in der französischen Fassung) in Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention möglicherweise enger gefasst ist als der Begriff „psychische Störung“ in § 1 Abs. 1 ThUG (siehe G. a.a.O., Rdnrn. 87 bis 88, B., a.a.O., Rdnr. 113, W.P. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 60). Die Konvention verlangt jedoch nicht, dass die im innerstaatlichen Recht verwendeten Begriffe, insbesondere der Begriff der psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 ThUG, genauso definiert oder interpretiert werden müssen wie die in der Konvention verwendeten Begriffe. Nach Auffassung des Gerichtshofs ist entscheidend, ob die innerstaatlichen Gerichte in der ihnen vorliegenden Rechtssache eine Störung festgestellt haben, die einer tatsächlichen psychischen Störung („true mental disorder“), wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs definiert worden ist, gleichkommt. In diesem Zusammenhang betont der Gerichtshof erneut, dass es erforderlich ist, die zulässigen Gründe für eine Freiheitsentziehung eng auszulegen (siehe Rdnrn. 169 und 129).
151. In der vorliegenden Rechtssache stellten die innerstaatlichen Gerichte, wie weiter oben ausgeführt, fest, dass der Beschwerdeführer an einer sehr ausgeprägten Form des sexuellen Sadismus leide. Der Zustand des Beschwerdeführers erfordere eine umfassende Therapie, die entweder in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte oder in einem psychiatrischen Krankenhaus erfolgen müsse (siehe Rdnrn. 32 bis 37). Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass der bei dem Beschwerdeführer diagnostizierte Zustand eine „tatsächliche“ psychische Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e darstellte.
152. Hinsichtlich des Erfordernisses, dass die Feststellung einer tatsächlichen psychischen Störung auf einem objektiven ärztlichen Gutachten beruht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer vorgebracht hat, eine Reihe von Sachverständigen hätten bei ihm keine psychische Störung festgestellt, und die in dem in Rede stehenden Verfahren hinzugezogenen Sachverständigen seien nicht qualifiziert gewesen, junge Menschen zu begutachten (siehe Rdnr. 111). Wie oben dargelegt, obliegt es in erster Linie den innerstaatlichen Gerichten, die Qualifikationen der von ihnen hinzugezogenen ärztlichen Sachverständigen zu beurteilen (siehe Rdnr. 130). In dem in Rede stehenden Verfahren zog das Landgericht zwei erfahrene externe psychiatrische Sachverständige, K. und F., hinzu, die in der Summe beide der Auffassung waren, dass der Beschwerdeführer an sexuellem Sadismus leide (siehe Rdnr. 35). Das Gericht berücksichtigte außerdem die Feststellungen mehrerer ärztlicher Sachverständiger, die den Beschwerdeführer seit seiner Verhaftung bereits untersucht hatten, bevor es zu dem Schluss gelangte, der Beschwerdeführer leide an sexuellem Sadismus (siehe Rdnr. 36). Der Beschwerdeführer, der 33 Jahre alt war, als die Sachverständigen ihr Gutachten erstellten, brachte keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die hinzugezogenen Sachverständigen offensichtlich nicht die für eine Beurteilung seines psychischen Zustands und seiner Gefährlichkeit nötige Qualifikation aufgewiesen hätten. Der Gerichtshof ist daher davon überzeugt, dass die in der Rechtsmittelinstanz bestätigte Feststellung des Landgerichts auf einem objektiven ärztlichen Gutachten beruhte.
153. Hinsichtlich der Frage, ob die innerstaatlichen Gerichte „feststellten“, das der Beschwerdeführer an einer tatsächlichen psychischen Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention litt, stellt der Gerichtshof fest, dass das Landgericht A. in dem angegriffenen Urteil vom 3. August 2012 die in den Gutachten zweier von ihm hinzugezogener psychiatrischer Sachverständiger enthaltenen Feststellungen sowie die Feststellungen zahlreicher ärztlicher Sachverständiger, die den Beschwerdeführer nach seiner im Anschluss an die Tat erfolgten Verhaftung bereits untersucht hatten, einer sorgfältigen Prüfung unterzog, und auf dieser Grundlage zu der Entscheidung gelangte, dass der Beschwerdeführer an sexuellem Sadismus leide (siehe Rdnrn. 34 bis 36).
154. In diesem Zusammenhang übersieht der Gerichtshof nicht, dass das Landgericht in dem in Rede stehenden Verfahren 2012 zu dem Schluss gelangte, dass der Beschwerdeführer an einer schweren psychischen Störung leide, wohingegen das Tatgericht nicht zu dem Schluss gelangt war, dass der Beschwerdeführer an einer schweren psychischen Störung leide, und demzufolge festgestellt hatte, dass er bei der Begehung seiner Tat im Jahr 1997 voll schuldfähig gewesen sei. Dies reicht jedoch nicht aus, um die Feststellung der innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich des psychischen Zustands des Beschwerdeführers unter den Umständen des in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Verfahrens, d. h. ab dem 20. Juni 2013, in Zweifel zu ziehen (siehe Rdnr. 103).
155. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass die innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich der Begründetheit klinischer Diagnosen über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen. Darüber hinaus ging das Landgericht im Fall des Beschwerdeführers konkret auf die Fortentwicklung der Beurteilung des psychischen Zustands des Beschwerdeführers durch die ärztlichen Sachverständigen und die Gerichte ein. Unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Unterlagen stellte das Landgericht fest, dass der Beschwerdeführer die sadistischen Motive für seine Tat bei der Hauptverhandlung im Jahr 1999 verborgen habe. Das Tatgericht, das ebenfalls zwei ärztliche Sachverständige hinzugezogen hatte, hatte nichtsdestotrotz bereits einige Anzeichen dafür erkannt, dass der junge Beschwerdeführer an einer sexuellen Devianz leide. Erst im Jahre 2005/2006 hatte der Beschwerdeführer gegenüber zwei Sachverständigen eingeräumt, dass er sexuelle Gewaltfantasien habe und diese mit dem Mord in die Tat umgesetzt habe. Das Landgericht erläuterte darüber hinaus, dass die neuen Äußerungen des Beschwerdeführers zu seinen Fantasien mit den Feststellungen des Tatgerichts zur Art und Weise der Tatbegehung eher vereinbar seien (siehe Rdnr. 36).
156. Der Gerichtshof möchte in diesem Zusammenhang hinzufügen, dass das ihm vorliegende statistische Material (siehe Rdnrn. 91) aufzeigt, dass eine beträchtliche Zahl von Personen, die in der nachträglich angeordneten oder nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung untergebracht waren, seit dem Urteil des Gerichtshof in der Rechtssache M ./. Deutschland (a.a.O.) entlassen worden sind. Dies kann als Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass der psychische Zustand von Personen, die in der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung untergebracht sind, individuell beurteilt wird.
157. Darüber hinaus verändert sich der psychische Zustand einer Person im Laufe der Zeit. Wie oben dargelegt wird, muss im Kontext von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e nur geprüft werden, ob die betroffene Person zum Zeitpunkt der Anordnung der freiheitsentziehenden Maßnahme (und nicht zum Zeitpunkt der Begehung einer vorherigen Straftat, die für die Freiheitsentziehung nach diesem Unterabsatz sowieso keine Voraussetzung darstellt) psychisch krank ist. Darüber hinaus ist es bei der Entscheidung darüber, ob die psychische Störung ihrer Art oder ihrer Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigt, üblicherweise erforderlich, zu prüfen, inwieweit die Person zum Zeitpunkt der Anordnung sowie in der Zukunft eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. In Anbetracht dieser wichtigen prospektiven Elemente ist die gegen den Beschwerdeführer angeordnete Sicherungsverwahrung am besten als „nachträglich“ [in der englischen Fassung „subsequent to“] im Verhältnis zu seiner vorangegangenen Straftat und Verurteilung zu bezeichnen, obwohl bei der Beurteilung seiner Gefährlichkeit auch seine früheren Straftaten berücksichtigt werden sollten und somit ein retrospektiver Aspekt Eingang finden sollte (siehe auch Rdnrn. 104 bis 106).
158. Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung für die Einstufung einer Person als „psychisch krank“ hält der Gerichtshof die Auffassung des Landgerichts, die psychische Störung des Beschwerdeführers rechtfertige ihrer Art oder Schwere nach eine Zwangsunterbringung, für begründet, da das Landgericht festgestellt hatte, dass der Beschwerdeführer infolge dieser Störung im Falle seiner Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weitere schwere Straftat begehen werde, ähnlich derjenigen, der er schuldig gesprochen worden sei, also einen weiteren Mord zur Befriedigung seines Sexualtriebs.
159. Drittens hing die Gültigkeit der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers vom Fortbestehen seiner psychischen Störung ab. Gemäß dem innerstaatlichen Recht (§ 67d StGB i.V.m. Artikel 316f Abs. 2 und 3 EGStGB, siehe Rdnr. 65) konnten die innerstaatlichen Gerichte bei den nachfolgenden regelmäßigen gerichtlichen Überprüfungen die Fortdauer seiner Sicherungsverwahrung nur anordnen, wenn und solange eine hochgradige Gefahr bestand, dass er im Falle seiner Freilassung rückfällig werden würde. Aus der Akte ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Gefahr während des in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Zeitraums weggefallen wäre.
160. Der Gerichtshof kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e psychisch krank war.
(b) „Rechtmäßige“ Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“
161. Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers stellt der Gerichtshof fest, dass die Freiheitsentziehung mit dem in der Rechtsmittelinstanz bestätigten Urteil des Landgerichts vom 3. August 2012 gemäß §§ 7 Abs. 2 Nr. 1 und 105 Abs. 1 JGG i.V.m. dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 angeordnet wurde (siehe Rdnrn. 56, 59 und 72).
162. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer vorgebracht hat, das Urteil des Landgerichts vom 3. August 2012 sei unrechtmäßig, wie dies auch die Regierung in ihrer einseitigen Erklärung eingeräumt habe, und es gebe daher keine rechtliche Grundlage für die in Rede stehende Freiheitsentziehung. Die Regierung räumte in ihrer einseitigen Erklärung jedoch nur ein, dass der Beschwerdeführer in einem früheren Zeitraum als dem, der in der vorliegenden Rechtssache in Rede steht, nicht in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung untergebracht gewesen sei (siehe Rdnr. 99). Dies begründet jedoch keine Zweifel an der Rechtsgültigkeit der Unterbringungsanordnung als solcher und somit auch nicht an der Vereinbarkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers mit dem innerstaatlichen Recht.
163. Der Gerichtshof stellt diesbezüglich fest, dass das Landgericht, wie die Regierung überzeugend dargelegt hat, in seinem Urteil vom 3. August 2012 nicht die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in einer bestimmten Einrichtung angeordnet hatte, sondern nur allgemein angeordnet hatte, dass er in der Sicherungsverwahrung unterzubringen sei. Nach den in dem Leiturteil des Bundesverfassungsgerichts niedergelegten Kriterien (Rdnrn. 15 und 68 bis 75, insbesondere Rdnr. 75), die durch das Landgericht angewandt wurden, bedeutete dies, dass der Beschwerdeführer in einer geeigneten Einrichtung unterzubringen gewesen sei. Die am 20. Juni 2013 erfolgte Überstellung des Beschwerdeführers in die Einrichtung für Sicherungsverwahrte war daher mit der ursprünglichen Anordnung des Landgerichts vereinbar, und diese stellte weiterhin eine rechtsgültige Grundlage für die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers dar.
164. Voraussetzung für die Rechtsmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e ist weiterhin, dass die Freiheitsentziehung in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung erfolgte. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnrn. 138 bis 141) ist für die Beurteilung dieser Frage der Unterbringungszeitraum zwischen dem 20. Juni 2013 und der nächsten turnusmäßigen Überprüfung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, die am 18. September 2014 erfolgte, maßgeblich, nicht aber der Zeitpunkt der Anordnung der Sicherungsverwahrung (3. August 2012). Während des Zeitraums vom 20. Juni 2013 bis zum 18. September 2014 war der Beschwerdeführer in der neu errichteten Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. untergebracht.
165. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer nicht bestritt, dass sich die ärztliche und therapeutische Betreuung, die ihm in dieser Einrichtung angeboten wurde, im Vergleich zu den Bedingungen in der Justizvollzugsanstalt X. verändert hatte. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich nach den ihm vorliegen Unterlagen in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. insgesamt 71 Mitarbeiter um höchstens 84 Sicherungsverwahrte kümmern (siehe Rdnr. 46). Insbesondere sind ein Psychiater, sieben Psychologen, ein Arzt und vier Pflegekräfte mit der ärztlichen und therapeutischen Behandlung betraut. Den an psychischen Störungen leidenden Personen wird ein breites Behandlungsspektrum angeboten; hierzu gehören Behandlungsprogramme für Gewalt- oder Sexualstraftäter, individuell auf den jeweiligen Untergebrachten zugeschnittene Einzeltherapien, Sozialtherapien in Gruppensitzungen sowie eine individuelle sozialtherapeutische Unterstützung. Falls erforderlich, werden externe Therapeuten hinzugezogen. Dem Beschwerdeführer wurden insbesondere eine Sozialtherapie in Einzel- oder Gruppensitzungen, die Teilnahme an einem Intensivbehandlungsprogramm für Sexualstraftäter und eine Therapie durch einen externen Psychiater angeboten.
166. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass der Beschwerdeführer vorgebracht hat, ungeachtet dieser Faktoren sei die Einrichtung für Sicherungsverwahrte keine für psychisch Kranke geeignete Einrichtung, da bei den meisten darin untergebrachten Personen keine psychische Störung festgestellt worden sei.
167. Der Gerichtshof stellt fest, dass gemäß dem verfassungsgerichtlichen Gebot, zwischen Sicherungsverwahrung und Strafhaft zu unterscheiden, allen in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen unabhängig davon, ob ihre Freiheitsentziehung wegen einer psychischen Störung erfolgt oder nicht, im Vergleich zu den Bedingungen, unter denen sie zuvor in separaten Abteilungen von Justizvollzugsanstalten untergebracht waren, generell deutlich verbesserte materielle Haftbedingungen geboten werden (siehe Rdnr. 81). Dies rechtfertigt jedoch nicht die Schlussfolgerung, dass die ärztliche und therapeutische Versorgung in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte für psychisch kranke Patienten wie den Beschwerdeführer nicht geeignet war. Wie bereits erwähnt, wird dem Beschwerdeführer ein individuell auf seine Bedürfnisse und seinen psychischen Zustand zugeschnittenes Therapieprogramm angeboten. Der Gerichtshof nimmt darüber hinaus die Erläuterung der Regierung zur Kenntnis, der zufolge eine große Zahl der in dieser Einrichtung untergebrachten Personen mindestens an behandlungsbedürftigen Persönlichkeitsstörungen leidet und allen Untergebrachten eine individuell auf ihre jeweilige Störung zugeschnittene Behandlung geboten wird.
168. In Anbetracht dieser Faktoren ist der Gerichtshof überzeugt, dass dem Beschwerdeführer ein für die Unterbringung psychisch Kranker angemessenes therapeutisches Umfeld geboten wurde und er somit in einer im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e geeigneten Einrichtung untergebracht war. In diesem Zusammenhang möchte er darauf hinweisen, dass hinsichtlich der Eignung einer neuen Sicherungsverwahrungseinrichtung für die Unterbringung psychisch Kranker insbesondere auch in Bezug auf den Beschwerdeführer in der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnrn. 118 bis 128) dieselbe Schlussfolgerung gezogen wurde.
169. Damit die Freiheitsentziehung „rechtmäßig“ und nicht willkürlich ist, muss ferner nachgewiesen werden, dass sie unter den gegebenen Umständen notwendig war (siehe Rdnr. 137). Wie weiter oben dargelegt (siehe Rdnrn. 33 und 158), kamen die innerstaatlichen Gerichte in der vorliegenden Rechtssache zum dem Schluss, dass die hochgradige Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung einen weiteren Mord zur Befriedigung seines Sexualtriebs begehen werde, und dass weniger einschneidende Maßnahmen als eine Freiheitsentziehung zum Schutz des Einzelnen und der Allgemeinheit nicht ausreichen würden. Da die innerstaatlichen Gerichte unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache mit sachverständiger Unterstützung feststellten, dass die Gefahr bestehe, dass Personen Opfer einer der nach dem deutschen Strafgesetzbuch schwersten Straftaten werden könnten, ist der Gerichtshof überzeugt, dass nachgewiesen wurde, dass die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers unter den gegebenen Umständen notwendig war.
c) Schlussfolgerung
170. Folglich war die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, soweit sie infolge des angegriffenen Urteils vom 20. Juni 2013 bis zum 18. September 2014 in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. vollzogen wurde, nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e als Freiheitsentziehung bei einem psychisch Kranken gerechtfertigt.
171. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass Artikel 5 Absatz 1 der Konvention diesbezüglich nicht verletzt worden ist.
IV. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 7 ABS. 1 DER KONVENTION
172. Der Beschwerdeführer rügte weiter, dass seine „nachträglich“ angeordnete Sicherungsverwahrung, die auf der Grundlage des Urteils des Landgerichts A. vom 3. August 2012 ab dem 20. Juni 2013 in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. vollzogen wurde, auch sein Recht verletzt habe, nicht mit einer schwereren als der zur Tatzeit im Juni 1997 anwendbaren Strafe belegt zu werden. Er berief sich auf Artikel 7 Abs. 1 der Konvention, der wie folgt lautet:
„1. Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“
173. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Das Urteil der Kammer
174. Die Kammer stellte fest, dass ihre Erwägungen zu Artikel 7 Abs. 1 der Konvention in der Rechtssache B. (a.a.O.), welche die über die frühere Höchstfrist von zehn Jahren hinaus verlängerte Sicherungsverwahrung betrafen, auch auf den vorliegenden Fall, in dem es um die durch ein gesondertes Urteil „nachträglich“ angeordnete Sicherungsverwahrung gehe, anwendbar seien. Wie in der Rechtssache B. seien in Fällen, in denen die Sicherungsverwahrung nur angeordnet oder verlängert worden sei und nur habe angeordnet oder verlängert werden können, um eine psychische Störung in einer geeigneten Einrichtung zu behandeln, der strafende Charakter und der Zusammenhang mit der strafrechtlichen Verurteilung der Person so weit in den Hintergrund getreten, dass die Maßnahme keine „Strafe“ im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 mehr darstelle. Die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers könne somit nicht mehr als Strafe eingestuft werden. Folglich sei Artikel 7 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.
B. Die Stellungnahmen der Parteien
1. Der Beschwerdeführer
175. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass seine ab 20. Juni 2013 in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. vollzogene Sicherungsverwahrung gegen Artikel 7 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe.
176. Er brachte vor, dass seine Sicherungsverwahrung „nachträglich“ angeordnet worden sei. Zum Zeitpunkt seiner Tat im Juni 1997 habe das Jugendgerichtsgesetz die Sicherungsverwahrung bei jungen Straftätern noch nicht zugelassen und folglich sei bei seiner Verurteilung 1999 keine Sicherungsverwahrung angeordnet worden. § 7 Abs. 2 JGG, der die „nachträgliche“ Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen junge Straftäter erlaubt habe und auf dem die Anordnung der Sicherungsverwahrung vom 3. August 2012 beruhe, sei erst am 12. Juli 2008 in Kraft getreten (siehe Rdnrn. 54 bis 57).
177. Der Beschwerdeführer brachte darüber hinaus vor, dass seine Sicherungsverwahrung als Strafe einzustufen sei. Er vertrat die Auffassung, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob eine Maßnahme, die gegen eine Person in einem Urteil angeordnet worden sei, im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 eine Strafe darstelle, der Zeitpunkt des Erlasses des die Maßnahme anordnenden Urteils sei. Am 3. August 2012, dem Zeitpunkt des Erlasses des Urteils, mit dem seine dann in der Justizvollzugsanstalt X. vollzogene Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei, habe diese Freiheitsentziehung eine Strafe dargestellt, wie die Regierung in ihrer einseitigen Erklärung eingeräumt habe. Das Urteil vom 3. August 2012 verstoße immer noch gegen die Konvention und die darin angeordnete Sicherungsverwahrung sei auch nach seiner Überstellung in die neue Einrichtung für Sicherungsverwahrte unrechtmäßig. Er trug vor, dass die Rechtswidrigkeit der Anordnung nicht zu einem späteren Zeitpunkt wiedergutgemacht werden könne, auch wenn sich die Modalitäten des Vollzugs seiner Sicherungsverwahrung in dieser Einrichtung soweit geändert hätten, dass die Sicherungsverwahrung nicht mehr als Strafe eingestuft werden könne. Daher müsse das Urteil aufgehoben und sein Fall zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen werden.
178. Unter Bezugnahme auf die vom Gerichtshof in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnr. 120) zusammengefassten Kriterien für die Entscheidung darüber, ob eine Maßnahme im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 eine Strafe darstellt, brachte der Beschwerdeführer darüber hinaus vor, dass seine Sicherungsverwahrung, wenn man hinter die Fassade schaue, auch nach seiner Überstellung in die Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. immer noch eine Strafe sei im Sinne der eigenständigen Bedeutung, die der Begriff nach dieser Bestimmung habe.
179. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass seine Sicherungsverwahrung im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer Straftat verhängt worden sei. Er betonte, dass diese Form der Freiheitsentziehung nicht ohne vorherige Verurteilung wegen einer Straftat angeordnet werden könne.
180. Der Beschwerdeführer war der Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung nach innerstaatlichem Recht eine strafrechtliche Maßnahme sei, da die für sie maßgeblichen Bestimmungen im Wesentlichen in §§ 66 bis 66c StGB und § 463 StPO niedergelegt seien.
181. Hinsichtlich der Art und des Zwecks der Maßnahme brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Sicherungsverwahrung, wie sie in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. entsprechend den mit dem Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5. Dezember 2012 eingeführten Änderungen vollzogen werde, sich immer noch grundlegend von der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unterscheide. Er hob hervor, dass von den 71 neuen Stellen, die in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. geschaffen worden seien (siehe Rdnr. 46), nur 13 auf therapeutisches Personal, die meisten aber auf Verwaltungspersonal und uniformierte Vollzugsbedienstete entfielen. Darüber hinaus gebe es trotz der veränderten Haftbedingungen in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte keine organisatorische Trennung zwischen der Justizvollzugsanstalt und der Einrichtung für Sicherungsverwahrte; vielmehr sei letztere lediglich eine Abteilung der ersteren und auf dem Gelände einer Justizvollzugsanstalt belegen.
182. Hinsichtlich der mit dem Erlass und dem Vollzug einer Sicherungsverwahrungsanordnung verbundenen Verfahren wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass die Maßnahme von einem Strafgericht angeordnet worden sei. Über ihren Vollzug hätten die Strafvollstreckungsgerichte entschieden. Darüber hinaus seien die für die Anordnung und den Vollzug der Sicherungsverwahrung maßgeblichen Bestimmungen immer noch Teil des Strafgesetzbuchs (§§ 66 bis 66c) und der Strafprozessordnung (§ 463).
183. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die Zivilgerichte hinsichtlich der Beurteilung der Notwendigkeit der Unterbringung von psychisch Kranken, deren Krankheit zu schweren Straftaten führen könnte, mindestens ebenso erfahren seien wie die Strafgerichte. Für die Entscheidung über die Unterbringung psychisch Kranker, die für die Allgemeinheit gefährlich sein könnten, seien nach dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker betroffenen Bundeslandes die Zivilgerichte zuständig (siehe Rdnr. 90). Darüber hinaus liege die Zuständigkeit für die Anordnung der Therapieunterbringung psychisch Kranker in einer geeigneten Einrichtung gemäß dem Therapieunterbringungsgesetz bei den Zivilgerichten (siehe Rdnr. 85).
184. Die Sicherungsverwahrung, die zeitlich nicht mehr begrenzt sei und nur beendet werde, wenn ein Gericht feststelle, dass keine hochgradige Gefahr mehr bestehe, dass der Untergebrachte schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen werde, sei immer noch eine der schwersten Maßnahmen – wenn nicht gar die schwerste – die nach dem deutschen Strafgesetzbuch verhängt werden könne. Nach Auffassung des Beschwerdeführers sollte berücksichtigt werden, dass er die Tat als Heranwachsender begangen habe, dass er Ersttäter gewesen sei, und dass die Sicherungsverwahrung in seinem Fall daher eine lebenslange Freiheitsentziehung bedeuten könnte.
185. Zusammenfassend vertrat der Beschwerdeführer die Auffassung, dass seine Sicherungsverwahrung nach allen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien als Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 einzustufen sei.
186. Der Beschwerdeführer brachte weiter vor, dass aus den in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 70 bis 73) vorliegenden rechtsvergleichenden Materialien hervorgehe, dass nur wenige Staaten die Sicherungsverwahrung für Erwachsene erlaubten, und wahrscheinlich kein Staat außer Deutschland die Sicherungsverwahrung für junge Straftäter erlaube.
2. Die Regierung
187. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass die Sicherungsverwahrungsanordnung vom 3. August 2012 dem Beschwerdeführer seit seiner Überstellung in die Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. am 20. Juni 2013 keine schwerere als die zur Tatzeit angedrohte Strafe auferlege und die Anordnung daher mit Artikel 7 Abs. 1 vereinbar sei.
188. Die Regierung räumte ein, dass § 7 Abs. 2 JGG, der es ermöglichte, die Sicherungsverwahrung nachträglich, also nach der Verurteilung, anzuordnen, erst in Kraft getreten war, nachdem der Beschwerdeführer im Jahre 1997 seine Tat begangen hatte.
189. Sie war jedoch der Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers im maßgeblichen Zeitraum ab 20. Juni 2013 nicht mehr als Strafe einzustufen sei. Unter Bezugnahme auf die in der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnrn. 149 bis 150) zusammengefassten Kriterien, die der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung für die Entscheidung darüber, ob eine bestimmte Maßnahme eine Strafe darstellt, festgelegt hat, brachte sie vor, dass das einzige statische Kriterium, das beachtet werden müsse, die Frage sei, ob die betreffende Maßnahme im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer Straftat auferlegt worden sei. Alle anderen Kriterien seien dynamisch und könnten sich somit im Laufe der Zeit ändern.
190. Wie der Gerichtshof in der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnrn. 164 bis 177) anerkannt habe, könne eine Maßnahme daher ihren bisherigen Strafcharakter verlieren, wenn genügend Veränderungen umgesetzt seien. Dies könne auch geschehen, während die Maßregel auf der Grundlage ein und derselben gerichtlichen Anordnung weiter vollzogen werde. Es wäre zu formalistisch, nach der Überstellung des Beschwerdeführers in die neue Einrichtung für Sicherungsverwahrte, die erfolgt sei, sobald diese bezugsfertig gewesen sei, eine neue gerichtliche Entscheidung über seine Sicherungsverwahrung zu verlangen. Da sein Krankheitsbild sich nicht verändert habe, wäre eine erneute Entscheidung im Juni 2013 genauso ausgefallen wie die, die am 3. August 2012 getroffen worden sei.
191. Die Regierung erläuterte darüber hinaus, dass die spezifischen Kriterien für die Einstufung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers als Strafe nach seiner Überstellung in die Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. nicht mehr erfüllt gewesen seien. Hinsichtlich der Frage, ob die betreffende Maßnahme im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer Straftat auferlegt wurde, wies die Regierung darauf hin, dass die Sicherungsverwahrung in der vorliegenden Rechtssache, anders als der Rechtssache B., in der die Sicherungsverwahrung im Urteil des erkennenden Gerichts angeordnet und später verlängert worden sei, in einem gesonderten Verfahren im Jahre 2012 angeordnet worden sei, viele Jahre nach der Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahre 1999, bei der keine Sicherungsverwahrung angeordnet worden sei. Der Zusammenhang zwischen der strafrechtlichen Verurteilung des Beschwerdeführers und seiner Sicherungsverwahrung sei daher weniger eng als in der Rechtssache B.
192. Hinsichtlich der Charakterisierung der Maßnahme nach innerstaatlichem Recht sei festzustellen, dass die Sicherungsverwahrung nach dem seit langem bestehenden zweispurigen Sanktionensystem im deutschen Strafrecht nie als Strafe, sondern als Maßregel der Besserung und Sicherung angesehen worden sei. Ziel dieses zweispurigen Systems von Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung sei es, die Strafen bei allen Straftätern auf das zum Ausgleich der Schuld des Täters unbedingt erforderliche Maß zu beschränken. Die Regierung hob hervor, dass dieses zweispurige System, wie die vom Europarat veröffentlichte jährliche Strafstatistik aufzeige (siehe Rdnr. 92), dazu führe, dass die Anzahl langer Freiheitsstrafen in Deutschland im Vergleich mit vielen anderen Vertragsparteien der Konvention relativ niedrig sei.
193. Hinsichtlich der Art und des Zweckes der Maßnahme erläuterte die Regierung, dass dem Beschwerdeführer nicht mehr als Täter zu Strafzwecken, sondern als behandlungsbedürftiger psychisch kranker Person mit krimineller Vergangenheit die Freiheit entzogen werde, und seine psychische Störung eine neue Voraussetzung für seine Freiheitsentziehung geworden sei. Im Einklang mit dem verfassungsrechtlich gebotenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit könne psychisch kranken Personen nur dann für einen längeren Zeitraum die Freiheit entzogen werden, wenn ihre Gefährlichkeit sich in einer schweren Straftat manifestiert habe. Die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers sei in dem maßgeblichen Zeitraum in einer neuen, Einrichtung für Sicherungsverwahrte vollzogen worden, die auf umfassende Therapien durch ein multidisziplinäres Team von Fachleuten ausgerichtet sei. Diese Fachleute hätten sich intensiv darum bemüht, den Beschwerdeführer zu einer für seine Störung geeigneten Therapie zu motivieren. Da die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nicht im Urteil des Tatgerichts angeordnet worden sei, sondern die Schwere seiner Tat erst zu einem späteren Zeitpunkt dazu geführt habe, dass geprüft worden sei, ob der Beschwerdeführer an einer psychischen Störung leide und daher gefährlich sei, trete der präventive Charakter der Maßnahme noch deutlicher zutage als in der Rechtssache B.
194. In diesem Zusammenhang erläuterte die Regierung, dass das gesamte System der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem eine Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland beabsichtigt gewesen sei, durch ein Bundesgesetz sowie durch Umsetzungsgesetze in allen sechzehn Bundesländern überarbeitet worden sei. Die Länder hätten mit beträchtlichen finanziellen Mitteln (über 200 Millionen Euro) neue Einrichtungen für die Sicherungsverwahrung geschaffen und zahlreiche neue Stellen für Fachpersonal geschaffen, um eine individuelle Betreuung und umfassende Therapien aller Untergebrachten zu gewährleisten. Die Regierung betonte, dass eine Reihe von Kammerurteilen des Gerichtshofs die Reform des deutschen Sicherungsverwahrungssystems begleitet, überprüft und letztlich für gut befunden habe. Im Hinblick auf die Stärkung des Grundrechtsschutzes in Europa sei die Reform ein Musterbeispiel für einen erfolgreichen Dialog und eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und einem obersten nationalen Gericht.
195. Die Einrichtung für Sicherungsverwahrte, in der der Beschwerdeführer untergebracht sei, sei somit kein Gefängnis, sondern eine therapeutische Einrichtung zur Behandlung von Personen mit psychischen Störungen, deren Standards mit denen geschlossener Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser vergleichbar seien. Daher bestehe zwischen der Unterbringung des Beschwerdeführers und seiner strafrechtlichen Verurteilung kein Zusammenhang mehr.
196. Hinsichtlich der mit der Schaffung und Umsetzung der Maßregel verbundenen Verfahren räumte die Regierung ein, dass die Entscheidungen über die Auferlegung und Überprüfung der Sicherungsverwahrung immer noch von Strafgerichten, und nicht von Zivilgerichten, getroffen würden. Dies beruhe auf Praktikabilitätserwägungen. Die zur Strafjustiz gehörenden Gerichte seien auch für Entscheidungen über die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB zuständig. Wie in der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnr. 146) eingeräumt worden sei, seien sie somit besonders erfahren in der Beurteilung der Notwendigkeit der Unterbringung von psychisch kranken Personen, deren Erkrankung zu schweren Straftaten führen könnte. In jedem Fall kämen dieselben rechtlichen Voraussetzungen zum Tragen, unabhängig davon, ob die Zivil- oder die Strafgerichte über die Anordnung und Überprüfung der Sicherungsverwahrung entschieden.
197. Die Regierung machte ferner geltend, dass die Sicherungsverwahrung zwar eine schwerwiegende Maßnahme darstelle, da ihre Höchstdauer nicht gesetzlich festgelegt sei, jedoch der regelmäßigen gerichtlichen Überprüfung unterliege.
198. Die Regierung gelangte zu dem Schluss, dass sich, wie dies auch in der Rechtssache B. der Fall gewesen sei, der Charakter und der Zweck der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers seit seiner Überstellung in die Einrichtung für Sicherungsverwahrte am 20. Juni 2013 so stark geändert habe, dass die Maßnahme nicht mehr als Strafe eingestuft werden könne.
199. Schließlich brachte die Regierung vor, dass eine Reihe von Vertragsparteien der Konvention, die Tschechische Republik, Frankreich, Italien, Polen, die Schweiz und das Vereinigte Königreich eingeschlossen, die Sicherungsverwahrung von Personen erlaubten, die als junge Erwachsene Straftaten begangen hätten, und dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Anordnung der Sicherungsverwahrung über dreißig Jahre alt gewesen sei.
C. Vorbringen der Drittbeteiligten
200. Das EPLN war der Auffassung, dass in der Rechtssache B., zu der die vorliegende Rechtssache eine Folgesache sei, insoweit eine radikale Änderung der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgenommen worden sei, als die zu therapeutischen Zwecken angeordnete Sicherungsverwahrung nicht mehr als Strafe angesehen werde. Die in den neuen Einrichtungen für Sicherungsverwahrte gemäß dem Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vollzogene Sicherungsverwahrung müsse immer noch als Strafe eingestuft werden. Sie betreffe nur Personen, die wegen Straftaten verurteilt worden seien. Sie werde von Strafgerichten angeordnet. Sie diene dazu, die Freiheitsentziehung zu verlängern, nachdem verurteilte Straftäter ihre Strafe verbüßt hätten. Außerdem werde sie in Einrichtungen vollzogen, die auf dem Gelände von Justizvollzugsanstalten belegen seien. Da sie potenziell von unbegrenzter Dauer sei, stelle sie eine der schwerwiegendsten Verletzungen von Grundrechten in einer demokratischen Gesellschaft dar. Ihre „nachträgliche“ Anordnung verstoße somit gegen Artikel 7 Abs. 1.
201. Nach Auffassung des EPLN hatte der deutsche Gesetzgeber mit dem Erlass des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung das Ziel verfolgt, die in der Rechtssache M. ./. Deutschland getroffene Feststellung des Gerichtshofs, die Sicherungsverwahrung in ihrer aktuellen Form sei mit der Konvention unvereinbar, dadurch zu unterlaufen, dass diese Freiheitsentziehung in den Anwendungsbereich von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e einbezogen werde. Die Behandlung in einem Gefängnisumfeld könne jedoch nicht mit einer nichtstrafrechtlichen Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung verglichen werden.
D. Die Beurteilung durch die Große Kammer
1. Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
202. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die in Artikel 7 verankerte Garantie, die ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips darstellt, eine herausragende Stellung im Schutzsystem der Konvention einnimmt, was dadurch unterstrichen wird, dass nach Artikel 15 der Konvention auch im Kriegsfall oder im Fall eines öffentlichen Notstands nicht davon abgewichen werden darf. Sie ist, wie sich aus ihrem Ziel und Zweck ergibt, so auszulegen und anzuwenden, dass sie einen wirksamen Schutz vor willkürlicher Verfolgung, Verurteilung und Bestrafung bietet (siehe Kafkaris ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Rdnr. 137, ECHR 2008, M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 117, und B., a.a.O., Rdnr. 149).
203. Der Begriff der „Strafe” in Artikel 7 ist in seiner Reichweite autonom. Um den durch Artikel 7 gewährleisteten Schutz wirksam werden zu lassen, muss es dem Gerichtshof freistehen, nicht nur den äußeren Anschein zu betrachten, sondern seine eigene Würdigung der Frage vorzunehmen, ob eine bestimmte Maßnahme im Wesentlichen eine „Strafe“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt (siehe Welch ./. Vereinigtes Königreich, 9. Februar 1995, Rdnr. 27, Serie A Band 307‑A, Jamil ./. Frankreich, 8. Juni 1995, Rdnr. 30, Serie A Band 317‑B, und Del Río Prada, a.a.O., Rdnr. 81). Aus dem Wortlaut von Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 ergibt sich, dass die Frage, ob die in Rede stehende Maßnahme im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer „Staftat“ verhängt wurde, Ausgangspunkt und ein sehr gewichtiger Faktor jeder Entscheidung darüber ist, ob eine Strafe vorliegt (siehe G., a.a.O., Rdnr. 121, und B., a.a.O., Rdnr. 150). Weitere erhebliche Faktoren sind die Charakterisierung der Maßnahme nach innerstaatlichem Recht, die Art und der Zweck der Maßnahme, die mit ihrer Schaffung und Umsetzung verbundenen Verfahren und die Schwere der Maßnahme (siehe Welch, a.a.O., Rdnr. 28, Van der Velden ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 29514/05, ECHR 2006‑XV, und Kafkaris, a.a.O., Rdnr. 142). Die Schwere der Maßnahme ist für sich genommen jedoch nicht entscheidend, denn ebenso wie Maßnahmen, die als Strafen einzustufen sind, können auch viele Maßnahmen präventiver Art, die keine Strafen darstellen, erhebliche Auswirkungen auf die betroffene Person haben (siehe Welch, a.a.O., Rdnr. 32; Del Río Prada, a.a.O., Rdnr. 82, und B., a.a.O., Rdnr. 150).
204. Die konkreten Bedingungen des Vollzugs der in Rede stehenden Maßnahme können insbesondere für die Art und den Zweck und auch für die Schwere der Maßnahme und somit für die Beurteilung der Frage bedeutsam sein, ob die Maßnahme im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 als Strafe einzustufen ist. Diese Vollzugsbedingungen können sich während eines von derselben gerichtlichen Anordnung erfassten Zeitraums verändern. Ebenso wie im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 1 ist es dann erforderlich, zu klären, ob für die Beurteilung der Frage, ob die in Rede stehende Maßnahme eine Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 ist, die Vollzugsbedingungen zur Zeit der Anordnung der Maßnahme – beispielsweise einer Freiheitsentziehung – oder die Vollzugsbedingungen während eines späteren vom Gericht zu beurteilenden Zeitraums maßgeblich sind.
205. Das Individualbeschwerdeverfahren W.P. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 76 bis 80) war einer der seltenen Fälle, in denen der Gerichtshof mit einer solchen Situation konfrontiert war. In diesem Fall war der Gerichtshof zu der Auffassung gelangt, dass sich die Bedingungen der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers während eines von derselben Unterbringungsanordnung erfassten Zeitraums wesentlich verändert hatten. Wie oben dargelegt (siehe Rdnr. 140) hatte der Gerichtshof die Individualbeschwerde in Bezug auf die behauptete Verletzung von Artikel 7 Abs. 1 im Register gestrichen, nachdem die Regierung in ihrer einseitigen Erklärung eingeräumt hatte, dass diese Bestimmung während des Zeitraums, in der W.P. in der Justizvollzugsanstalt inhaftiert gewesen sei, verletzt worden sei, aber auch festgestellt, dass die Unterbringung von W.P. während des Zeitraums, in dem er in der neuen Einrichtung für Sicherungsverwahrung untergebracht war, mit Artikel 7 Abs. 1 vereinbar gewesen war. Folglich berücksichtigte der Gerichtshof bei der Beurteilung der Frage, ob die in Rede stehende Maßnahme, also die Sicherungsverwahrung von W.P., als Strafe einzustufen sei, ebenso wie im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 1 die Änderungen der Unterbringungsbedingungen während des Vollzugs der weiterhin auf derselben Anordnung beruhenden Maßregel.
206. Dieser Ansatz impliziert, dass eine wesentliche Veränderung insbesondere im Hinblick auf die Bedingungen des Vollzugs der Maßnahme in einigen seltenen Fällen, vor allem wenn die Maßnahme nach nationalem Recht nicht als Strafe einzustufen ist und einem therapeutischen Zweck dient, dazu führen kann, dass die ursprüngliche Einstufung der Maßnahme als Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 der Konvention zurückzunehmen ist, auch wenn die Maßnahme weiterhin auf der Grundlage derselben Anordnung vollzogen wird.
207. Die Große Kammer ist der Auffassung, dass der Wortlaut von Artikel 7 Abs. 1 Satz 2, demzufolge keine schwerere als die zur Zeit der Begehung der Straftat angedrohte Strafe „verhängt“ werden darf, einer Auslegung dieser Bestimmung, die berücksichtigt, dass eine Maßnahme zwar über einen längeren Zeitraum weiterhin „verhängt“ wird, die Art ihres Vollzugs, und daher ihr Charakter, sich während dieser Verhängung jedoch verändern, nicht entgegensteht.
208. Darüber hinaus ist der Gerichtshof der Auffassung, dass er nur dann in der Lage ist, im Lichte der in seiner Rechtsprechung entwickelten Kriterien umfassend zu beurteilen, ob eine Maßnahme im Wesentlichen eine „Strafe“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt (siehe Rdnr. 203), wenn er die Änderungen berücksichtigt, die im tatsächlichen, weiterhin auf derselben Anordnung beruhenden Vollzug der Maßnahme erfolgt sind. Er weist darauf hin, dass einige dieser Kriterien als „statisch“ oder nach Anordnung der Maßnahme unveränderlich beschrieben werden können; dies gilt insbesondere für das Kriterium, ob die in Rede stehende Maßnahme im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer „Straftat“ verhängt wurde, und das Kriterium der mit ihrer Schaffung verbundenen Verfahren. Dagegen können andere Kriterien, einschließlich des Kriteriums der Art und des Zweckes der Maßnahme und des Kriteriums der Schwere der Maßnahme, als „dynamisch“ oder im Lauf der Zeit veränderbar beschrieben werden. Für die Beurteilung der Frage, ob eine Maßnahme in einem bestimmten Zeitraum mit Artikel 7 Abs. 1 vereinbar war, ist daher die Art und Weise, in der die Maßnahme während dieses gesamten Zeitraums vollzogen wurde, als maßgeblich anzusehen und vom Gerichtshof zu berücksichtigen.
209. Folglich ist der Zeitpunkt oder Zeitraum, der für die Beurteilung der Frage maßgeblich ist, ob eine Maßnahme im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 eine Strafe darstellte, der in dem Verfahren vor dem Gerichtshof in Rede stehende Zeitraum, d.h. der Zeitraum zwischen dem 20. Juni 2013 und dem 18. September 2014, nicht jedoch der Zeitpunkt der Anordnung der Maßnahme.
2. Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
(a) Die vom Gerichtshof in früheren Sicherungsverwahrungsfällen vorgenommene rechtliche Würdigung
210. Bei der Prüfung der Frage, ob die angegriffene Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers als Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 eingestuft werden sollte, stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass er seit 2004 in einer Reihe von Individualbeschwerdeverfahren gegen Deutschland aufgefordert war, darüber zu entscheiden, ob die Sicherungsverwahrung einer Strafe gleichkam. Diese Beschwerden betrafen unterschiedliche Ausgestaltungen der Sicherungsverwahrung, die sich sowohl hinsichtlich ihrer rechtlichen Grundlage als auch hinsichtlich ihres praktischen Vollzugs im Laufe der Zeit fortentwickelt hat. Gemäß seiner Rechtsprechung musste der Gerichtshof den Begriff der Strafe aus Artikel 7 Abs. 1 in diesen Rechtssachen autonom auslegen und dabei auch die Einstufung vergleichbarer Maßnahmen in anderen Vertragsstaaten der Konvention berücksichtigen (siehe M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 126; G., a.a.O., Rdnr. 124, und B., a.a.O., Rdnrn. 161 bis 163).
211. In der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O., Rdnrn. 124 bis 33) gelangte der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die gemäß der damals geltenden Fassung des Strafgesetzbuchs angeordnete und vollstreckte Sicherungsverwahrung, also eine in separaten Abteilungen von Justizvollzugsanstalten vollzogene und keine psychische Störung voraussetzende Freiheitsentziehung, als Strafe einzustufen war. In der Rechtssache G. (a.a.O., Rdnrn. 120 bis 130) befand der Gerichtshof, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, wie sie in dem Übergangszeitraum zwischen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 und der Anwendung des Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung, das am 1. Juni 2013 in Kraft trat und eine Neuregelung der Freiheitsentziehung in Einrichtungen für Sicherungsverwahrte beinhaltete, vollstreckt worden war, immer noch eine Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 darstellte. Er vertrat die Auffassung, dass sich der Vollzug der Sicherungsverwahrung von G., der immer noch in einer separaten Abteilung einer Justizvollzugsanstalt erfolgte, im Vergleich mit der in der Rechtssache M. gegen Deutschland in Rede stehenden Situation immer noch nicht grundlegend geändert hatte.
212. In der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnrn. 151 bis 183) war der Gerichtshof schließlich aufgefordert, darüber zu entscheiden, ob die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers, die nach Ablauf des oben genannten Übergangszeitraums gemäß dem Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung in einer neuen Einrichtung für Sicherungsverwahrte, also in Übereinstimmung mit dem Neuregelung der Sicherungsverwahrung, vollzogen wurde, mit Artikel 7 Abs. 1 der Konvention vereinbar war.
213. Der Gerichtshof befand, dass die Sicherungsverwahrung in der Regel immer noch als Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 einzustufen war. In Fällen wie dem des Beschwerdeführers, in dem die Sicherungsverwahrung aufgrund seiner psychischen Störung und im Hinblick auf die Notwendigkeit der Behandlung dieser Störung – einer neuen Voraussetzung für die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung – verlängert wurde, hatten sich Art und Zweck der Sicherungsverwahrung jedoch in einem Maße verändert, dass die Sicherungsverwahrung nicht länger als „Strafe“ im Sinne von Artikel 7 einzustufen war. Somit war diese Sicherungsverwahrung mit Artikel 7 vereinbar (siehe auch W.P. ./. Deutschland, a.a.O., Rndrn. 76 bis 79).
214. Bei der Entscheidung darüber, ob die nachträglich verhängte Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in der vorliegenden Rechtssache eine Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 Satz 2 darstellte, hält der Gerichtshof es, wie oben erläutert, für erforderlich, die Merkmale der Maßnahme in dem fraglichen Zeitraum, also vom 20. Juni 2013 bis zum 18. September 2014, zu untersuchen. In diesem Zeitraum war der Beschwerdeführer, dessen Freiheitsentziehung bereits zuvor in X. erfolgte, in einer neuen Einrichtung für Sicherungsverwahrte untergebracht. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rechtssache dieses Merkmal mit den Rechtssachen B. (a.a.O.) und W.P. ./. Deutschland (a.a.O.) gemein hat, welche ihrerseits die nachträglich über die frühere gesetzliche Höchstdauer hinaus verlängerte Sicherungsverwahrung betrafen.
(b) im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer Straftat verhängte Maßnahme
215. Hinsichtlich der Frage, ob die in Rede stehende Maßnahme im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer „Straftat“ verhängt wurde, stellt der Gerichtshof fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung nicht zusammen mit seiner Verurteilung (wie in der oben erwähnten Rechtssache B.), sondern erst 2012 – und somit erst mehrere Jahre nach seiner Verurteilung im Jahre 1999 – durch ein gesondertes Urteil angeordnet worden war. Die Anordnung knüpfte dennoch an die Verurteilung an – und erging somit „im Anschluss“ an diese –, da die Sicherungsverwahrungsanordnung gemäß § 7 Abs. 2 JGG (siehe Rdnr. 56) voraussetzte, dass gegen den betreffenden jungen Straftäter wegen eines Verbrechens, insbesondere eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, eine Freiheitsstrafe von mindestens sieben Jahren verhängt worden war. Darüber hinaus musste sich das Verfahren über die Anordnung der Sicherungsverwahrung des Straftäters gemäß dieser Bestimmung auf Erkenntnisse stützen, die vor Ende des Vollzugs der wegen dieser Straftat verhängten Freiheitsstrafe erlangt wurden.
216. Der Gerichtshof möchte hinzufügen, dass das Landgericht in seinem Urteil vom 3. August 2012 nur allgemein anordnete, dass der Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung unterzubringen sei, nicht aber anordnete, dass diese Unterbringung in einer bestimmten Einrichtung erfolgen solle. Als die Anordnung des Landgerichts erging, war infolge des vom Landgericht berücksichtigten Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 klar, dass der Beschwerdeführer so bald wie möglich in eine Einrichtung überstellt werden müsse, die ihm nicht nur Bedingungen bieten würde, die mehr den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen seien, sondern insbesondere auch eine auf seine Bedürfnisse als psychisch Kranker zugeschnittene therapeutische Betreuung. Daher deckte die Anordnung der Sicherungsverwahrung die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers in der neuen Einrichtung für Sicherungsverwahrung in dem hier in Rede stehenden Zeitraum ab.
(c) Charakterisierung der Maßnahme nach innerstaatlichem Recht
217. Was die Charakterisierung der Sicherungsverwahrung im innerstaatlichen Recht betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass diese Art der Freiheitsentziehung in Deutschland nicht als Strafe angesehen wird, auf die das absolute Verbot der rückwirkenden Bestrafung anwendbar ist, und auch nie als solche angesehen wurde. In seinem Leiturteil vom 4. Mai 2011 bekräftigte das Bundesverfassungsgericht erneut, dass die Sicherungsverwahrung, entgegen den Feststellungen des Gerichtshofs zum Begriff der Strafe nach Artikel 7 der Konvention, keine vom absoluten grundgesetzlichen Verbot der rückwirkenden Anwendung von Strafgesetzen umfasste Strafe sei (siehe Rdnr. 74). Es stellte jedoch weiter fest, dass die zu der Zeit geltenden Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung mit dem verfassungsrechtlichen Gebot, zwischen rein präventiven Maßregeln der Besserung und Sicherung, wie beispielsweise der Sicherungsverwahrung, und strafrechtlichen Sanktionen wie Freiheitsstrafen zu unterscheiden, nicht vereinbar seien (siehe Rdnrn. 70 bis 72). Das Gericht gab dem Gesetzgeber daher auf, die Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch dahingehend zu ändern, dass sie dieser Unterscheidung Rechnung tragen.
218. Dementsprechend dienen die gesetzlichen Änderungen, die durch das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch vorgenommen wurden, der Verdeutlichung und Erweiterung der Unterschiede zwischen dem Vollzug der Sicherungsverwahrung und dem Vollzug von Freiheitsstrafen (siehe insbesondere § 66c StGB n. F.). Sie bestätigen und erweitern also die im Strafgesetzbuch vorgesehenen Unterschiede zwischen Maßregeln der Besserung und Sicherung, wie beispielsweise der Sicherungsverwahrung, und solchen Maßnahmen, die nach dem seit langem bestehenden zweispurigen Sanktionensystem im deutschen Strafrecht als Strafe gelten (siehe M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 45 bis 48 und 125).
d) Art und Zweck der Maßnahme
219. Hinsichtlich der Art und des Zweckes der Maßnahme stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer zur maßgeblichen Zeit in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. untergebracht war. Seine Freiheitsentziehung erfolgte daher nicht in einer separaten Abteilung für Sicherungsverwahrte eines gewöhnlichen Gefängnisses, wie dies bei den Beschwerdeführern in den zuvor erwähnten Rechtssachen M. ./. Deutschland und G. der Fall war, sondern in einer Einrichtung, die mit derjenigen vergleichbar war, die in der Rechtssache B. in Rede stand. Darüber hinaus war ihm wegen psychischer Krankheit die Freiheit entzogen und er erhielt eine Behandlung zur Therapie seiner psychischen Störung (siehe Rdnrn. 142 ff).
220. Der Gerichtshof stellt fest, dass zwischen der Freiheitsentziehung in einem gewöhnlichen Gefängnis und der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in der neuen Einrichtung für Sicherungsverwahrte, die zwecks Einhaltung der sich aus der Neuregelung der Sicherungsverwahrung (siehe insbesondere § 66c StGB und Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz des betroffenen Bundeslandes, Rdnrn. 76 bis 81) ergebenden Anforderungen erbaut wurde, beträchtliche Unterschiede bestanden. Im Hinblick auf den grundgesetzlich geforderten Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Freiheitsentziehung erfolgte die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers in dieser Einrichtung unter materiellen Bedingungen, die gegenüber denen in gewöhnlichen Gefängnissen erheblich verbessert waren. So war der Beschwerdeführer beispielsweise in einer größeren Zelle mit einer Fläche von 15m² untergebracht, die über eine Küchenzeile und ein getrenntes Badezimmer verfügte, und konnte sich innerhalb der Einrichtung, zu der Räume und Außenbereiche für berufliche Aktivitäten und zur Freiheitsgestaltung gehörten, frei bewegen (siehe Rdnr. 46).
221. Noch wichtiger ist, dass es in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. wie auch in anderen derartigen Einrichtungen (siehe Rdnrn. 47 und 81) nun eine größere Zahl spezialisierter Fachkräfte gab, die Sicherungsverwahrte wie den Beschwerdeführer gemäß einem individuellen Therapieplan ärztlich und therapeutisch behandelt konnten. Zu den dem Beschwerdeführer zur Behandlung seiner psychischen Erkrankung angebotenen Therapien gehörten jetzt insbesondere eine Sozialtherapie in Einzel- oder Gruppensitzungen, eine Teilnahme an einem Intensivbehandlungsprogramm für Sexualstraftäter und eine Therapie durch einen externen Psychiater. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Beschwerdeführer erst nach dem Zeitraum, um den es in dem hier in Rede stehenden Verfahren geht, einen Teil der ihm angebotenen Therapien akzeptierte (siehe Rdnrn. 47). Jedoch hat der Gerichtshof keinen Grund, daran zu zweifeln, dass die dem Beschwerdeführer zur maßgeblichen Zeit angebotenen Therapien angemessen, hinreichend und verfügbar waren. Daher ist die Tatsache, dass der Beschwerdeführer von den Angeboten zunächst keinen Gebrauch machte, für die Feststellungen des Gerichtshofs zur Art und zum Zweck der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers unerheblich.
222. Wie in früheren Urteilen festgestellt (siehe insbesondere G., a.a.O., Rdnrn. 98 bis 99, und B., a.a.O., Rdnrn. 121 bis 123), haben die innerstaatlichen Behörden nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache M. ./. Deutschland (a.a.O.) und dem darauf eingehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 weitreichende Maßnahmen auf justizieller, legislativer und exekutiver Ebene getroffen, um den Vollzug der Sicherungsverwahrung an die Erfordernisse des Grundgesetzes und der Konvention anzupassen. Um in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen eine individuelle und intensive psychiatrische, psycho- oder sozialtherapeutische Behandlung zuteilwerden zu lassen, die darauf abzielt, ihre Gefährlichkeit für die Allgemeinheit zu mindern, wurden mit beträchtlichen finanziellen Mitteln substanzielle Maßnahmen ergriffen.
223. Unter Berücksichtigung des ihm zur Verfügung stehenden Materials ist der Gerichtshof überzeugt, dass diese von den innerstaatlichen Behörden getroffenen Maßnahmen zu einer beträchtlichen Verbesserung der Bedingungen führten, unter denen Sicherungsverwahrten die Freiheit entzogen ist. Eine Behandlung, die darauf ausgerichtet ist, die Gefährlichkeit dieser Personen für die Allgemeinheit soweit zu mindern, dass ihre Freiheitsentziehung möglichst bald beendet werden kann, steht nun im Zentrum dieser Art der Freiheitsentziehung, was sowohl den Interessen des Sicherungsverwahrten als auch denen der Allgemeinheit entspricht.
224. In diesem Zusammenhang stimmt der Gerichtshof mit der Auffassung der Regierung überein, die Reform des deutschen Sicherungsverwahrungssystems sei vor dem Hintergrund eines Dialogs zwischen dem Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht durchgeführt und umgesetzt worden (siehe insbesondere die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen M. ./. Deutschland, J., a.a.O.; S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 30493/04, 9. Juni 2011; G. und B., a.a.O.; sowie die Urteile und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, 2 BvR 1152/10 und 2 BvR 571/10), vom 15. September 2011 (2 BvR 1516/11), vom 6. Februar 2013 (2 BvR 2122/11 und 2 BvR 2705/11), vom 11. Juli 2013 (2 BvR 2302/11 und 2 BvR 1279/12), und vom 29. Oktober 2013 (2 BvR 1119/12).
225. Nach Auffassung des Gerichtshofs sind die im Vollzug der Sicherungsverwahrung erfolgten Veränderungen für Personen, die wie der Beschwerdeführer als psychisch Kranke untergebracht sind, von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang misst der Gerichtshof der Tatsache entscheidende Bedeutung zu, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nach §§ 7 Abs. 2 und 105 Abs. 1 JGG i.V.m. den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 niedergelegten Voraussetzungen zur maßgeblichen Zeit nur unter einer neuen, zusätzlichen Voraussetzung angeordnet werden konnte, nämlich der, dass er an einer psychischen Störung litt.
226. Diese Voraussetzung galt unabhängig von der ursprünglich wegen einer Straftat auferlegten Sanktion. Sie unterscheidet daher die im Falle des Beschwerdeführers vorliegende Art der Sicherungsverwahrung von der nicht nachträglich angeordneten (oder verlängerten) Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter. Bei dieser Personengruppe ist die Zulässigkeit der Sicherungsverwahrung nach innerstaatlichem Recht nicht daran geknüpft, dass sie an psychischen Störungen leiden, und sie werden nicht zum Zweck der Behandlung dieser Störungen in der Sicherungsverwahrung untergebracht.
227. Bei Personen, denen wegen psychischer Krankheit die Freiheit entzogen ist, kommt dem von der Neuregelung der Sicherungsverwahrung verfolgten vorbeugenden Zweck entscheidendes Gewicht zu. Der Gerichtshof übersieht nicht, dass auch bei dieser Gruppe von Sicherungsverwahrten der Zusammenhang zwischen der Maßnahme und der Straftat oder den Straftaten, derentwegen sie angeordnet wurde, nicht ganz aufgehoben ist. Dass die betreffende Person einer schweren Straftat schuldig gesprochen wurde, bleibt Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung oder Verlängerung der Sicherungsverwahrung. Jedoch ist der Gerichtshof im Hinblick auf die Umgebung, in der Sicherungsverwahrungen nach der neuen Regelung vollzogen werden, davon überzeugt, dass der Fokus der Maßnahme nunmehr auf der ärztlichen und therapeutischen Behandlung der Betroffenen liegt. Die ärztliche und therapeutische Versorgung stand im Zentrum der besonderen Betreuungsmaßnahmen, die dem Beschwerdeführer angeboten wurden. Dies hat die Art und den Zweck der bei Personen wie dem Beschwerdeführer vorliegenden Freiheitsentziehung verändert und diese Freiheitsentziehung zu einer Maßnahme umgestaltet, die auf die medizinisch-therapeutische Behandlung von Personen mit krimineller Vorgeschichte ausgerichtet ist (vgl. auch B., a.a.O., Rdnrn. 164 bis 177).
228. In diesem Zusammenhang möchte der Gerichtshof in Übereinstimmung mit den Feststellungen in seinem Urteil in der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnr. 181) sowie seiner früheren Rechtsprechung (siehe M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 124 bis 132) klarstellen, dass die „gewöhnliche“ Sicherungsverwahrung, die auch dann nicht im Hinblick auf die Behandlung der psychischen Störung des Sicherungsverwahrten erfolgt, wenn sie gemäß dem neuen gesetzlichen Rahmen vollzogen wird, immer noch eine Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 der Konvention darstellt. Unter derartigen Umständen reicht die Verbesserung der materiellen Bedingungen und der Betreuung nicht aus, um die auf eine Strafe hindeutenden Faktoren zu überlagern.
(e) Mit der Schaffung und Umsetzung der Maßnahme verbundene Verfahren
229. Hinsichtlich der mit dem Erlass und dem Vollzug der Anordnung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers verbundenen Verfahren stellt der Gerichtshof fest, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers durch die (zur Strafrechtspflege gehörenden) Tatgerichte angeordnet wurde; über ihren nachfolgenden Vollzug hatten die Strafvollstreckungsgerichte zu entscheiden, die ebenfalls Teil der Strafrechtspflege sind.
230. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass es den therapeutischen Charakter der Maßnahme hervorgehoben hätte, wenn die Zivilgerichte für Anordnungen der Unterbringung besonders gefährlicher, an einer psychischen Störung leidender Straftäter zuständig wären, wie dies in §§ 1 und 4 ThUG (siehe Rdnr. 85) vorgesehen war, in der Praxis jedoch anscheinend keine Bedeutung erlangt hat.
231. Der Gerichtshof nimmt jedoch das von der Regierung vorgebrachte Argument zur Kenntnis, die zur Strafrechtspflege gehörenden Gerichte seien besonders erfahren darin, die Erforderlichkeit der Unterbringung von psychisch Kranken, die eine Straftat begangen hätten, zu beurteilen, da sie auch für Entscheidungen über die Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern nach § 63 StGB zuständig seien (siehe Rdnr. 84; vgl. auch B., a.a.O., Rdnrn. 178). Er stellt weiterhin fest, dass die Kriterien für die Verhängung der Sicherungsverwahrung dieselben gewesen wären, unabhängig davon, ob Zivil- oder Strafgerichte, die beide Teil der ordentlichen Gerichtsbarkeit seien, über die Auferlegung dieser Maßnahme zu entscheiden hätten.
(f) Schwere der Maßnahme
232. Zur Schwere der Maßnahme schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Beschwerdeführer eine zeitlich unbegrenzte Freiheitsentziehung beinhaltete. Die Sicherungsverwahrung gehörte daher weiter zu den schwersten Maßnahmen, die nach dem Strafgesetzbuch verhängt werden konnten. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass sowohl die jährliche Strafstatistik des Europarats also auch die von der Regierung vorgelegte Statistik bestätigen, dass die Maßregel der Sicherungsverwahrung als ultima ratio angeordnet wird. Im März 2017 befanden sich in Deutschland, einem Land mit etwa 81 Millionen Einwohnern, 591 Personen in der Sicherungsverwahrung.
233. Der Gerichtshof übersieht auch nicht, dass der Beschwerdeführer ein Heranwachsender war, als er seine erste Straftat beging, derentwegen im Jahr 2012, als er 35 Jahre alt war, gegen ihn die Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Daher könnte er potenziell länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden als Personen, die bei der Anordnung dieser Maßnahme bereits älter waren.
234. Wie der Gerichtshof wiederholt bestätigt hat (siehe Rdnr. 203), ist die Schwere der Maßnahme an sich jedoch nicht entscheidend. Anders als bei einer Freiheitsstrafe gab es bei der Sicherungsverwahrung auch keine Mindestdauer. Die Freilassung des Beschwerdeführers war nicht vor Ablauf einer gewissen Zeit ausgeschlossen, sondern war davon abhängig, dass ein Gericht feststellte, es bestehe keine hochgradige Gefahr mehr, dass der Beschwerdeführer infolge einer psychischen Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen werde.
235. Somit hing die Dauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers in einem beträchtlichen Maße von seiner Mitwirkung bei den erforderlichen therapeutischen Maßnahmen ab. In diesem Zusammenhang stellt der Gerichtshof fest, dass die Überstellung des Beschwerdeführers in die neue Einrichtung für Sicherungsverwahrte in X. ihn besser in die Lage versetzte, mittels auf seine Bedürfnisse zugeschnittener Therapien auf seine Entlassung hinzuarbeiten. Darüber hinaus unterlag seine Sicherungsverwahrung regelmäßigen, in relativ kurzen Zeitabständen erfolgenden gerichtlichen Überprüfungen (siehe Rdnr. 64). Dies machte eine überlange Vollziehung der Maßnahme weniger wahrscheinlich. Die Schwere der Anordnung der Sicherungsverwahrung wurde durch diese Faktoren gemildert (vgl. auch B., a.a.O., Rdnrn. 179 bis 180).
(g) Schlussfolgerungen
236. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof, der die erheblichen Faktoren in ihrer Gesamtheit gewürdigt und seine eigene Beurteilung vorgenommen hat, der Auffassung, dass die gemäß dem neuen gesetzlichen Rahmen umgesetzte Sicherungsverwahrung im Falle des Beschwerdeführers während des hier in Rede stehenden Zeitraums nicht mehr als Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 eingestuft werden kann. Die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers wurde aufgrund seiner psychischen Störung und im Hinblick auf die Behandlung dieser Störung unter Berücksichtigung seiner kriminellen Vorgeschichte angeordnet. Der Gerichtshof lässt gelten, dass seine Sicherungsverwahrungsverwahrung sich insbesondere hinsichtlich ihrer Art und ihres Zweckes beträchtlich von der gewöhnlichen, unabhängig von einer psychischen Störung vollzogenen Sicherungsverwahrung unterschied. Der strafende Charakter der Sicherungsverwahrung und ihr Zusammenhang mit der von dem Beschwerdeführer begangenen Straftat trat soweit in den Hintergrund, dass die Maßnahme nicht länger eine Strafe darstellte.
237. In Anbetracht dieser Feststellungen ist es nicht notwendig, zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer durch die Anordnung und den Vollzug seiner nachträglichen Sicherungsverwahrung eine schwerere als die zur Tatzeit angedrohte Maßnahme auferlegt wurde.
238. Der Gerichtshof merkt an, dass seine Feststellungen mit seinen Schlussfolgerungen in der Rechtssache B. (a.a.O., Rdnrn. 182 bis 83) im Einklang stehen. In Übereinstimmung mit seiner früheren Rechtsprechung (siehe einerseits u. a. M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnrn. 122 ff., sowie andererseits K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 61827/09, Rdnrn. 79 ff., 7. Juni 2012, und G. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 65210/09, Rdnrn. 70 ff., 7. Juni 2012) ist er nicht der Auffassung, dass die Unterschiede zwischen der nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere gesetzliche Höchstdauer hinaus (wie sie in den Rechtssachen B. und W.P. ./. Deutschland, beide a.a.O., in Rede stand) und der nachträglichen Verhängung der Sicherungsverwahrung durch ein gesondertes, nach dem Urteil des Tatgerichts erlassenes Urteil dazu führen, dass die Vereinbarkeit dieser Maßnahmen mit der Konvention unterschiedlich zu beurteilen ist.
239. Artikel 7 Abs. 1 der Konvention ist daher nicht verletzt worden.
V. RÜGE DER ÜBERLANGEN DAUER DER GERICHTLICHEN PRÜFUNG
240. In der Individualbeschwerde Nr. 10211/12 rügte der Beschwerdeführer weiter, dass die innerstaatlichen Gerichte in dem Verfahren, in dem er die Rechtmäßigkeit der gegen ihn angeordneten einstweiligen Sicherungsverwahrung angefochten hatte, nicht zügig entschieden hätten. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention.
241. Wie die Kammer festgestellt hatte, sind Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung wie das hier in Rede stehende Verfahren nach Artikel 5 Abs. 4 der Konvention zu prüfen; dieser lautet:
„4. Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist.“
242. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Das Urteil der Kammer
243. Die Kammer stellte fest, dass der zu untersuchende Zeitraum am 29. Juni 2011 mit dem Eingang der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Unterbringungsanordnung vom 6. Mai 2011 beim Landgericht begonnen habe. Er habe am 30. Mai 2012 mit der Zustellung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts an den Rechtsanwalt des Beschwerdeführers geendet. Somit habe er elf Monate und einen Tag betragen und drei Instanzen umfasst. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht selbst habe 8 Monate und 22 Tage gedauert.
244. Angesichts der Besonderheiten verfassungsgerichtlicher Verfahren und der Komplexität des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht stellte die Kammer fest, dass das Verfahren vor jenem Gericht dennoch das Erfordernis der kurzen Frist erfüllt habe. Die Kammer betonte, dass die anders geartete Rolle des Verfassungsgerichts innerhalb der innerstaatlichen Rechtsordnung sich auch daran ablesen lasse, dass eine Person, der die Freiheit entzogen sei, die Unterbringungsanordnung selbst dann erneut vor den ordentlichen Gerichten überprüfen lassen könne, wenn ein früheres Verfahren noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig sei.
B. Die Stellungnahmen der Parteien
1. Der Beschwerdeführer
245. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass die Dauer des Verfahrens, in dem er die Rechtmäßigkeit seiner Sicherungsverwahrung angefochten habe, gegen das Erfordernis der kurzen Frist aus Artikel 5 Abs. 4 der Konvention verstoßen habe.
246. Er vertrat die Auffassung, dass die Gesamtdauer des Verfahrens über die Rechtmäßigkeit seiner einstweiligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung überlang gewesen sei. Nachdem er am 27. Juni 2011 Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts A. vom 6. Mai 2011 eingelegt habe, seien etwa elf Monate vergangen, bis das Bundesverfassungsgericht mit dem Beschluss vom 22. Mai 2012, der seinem Anwalt am 30. Mai 2012 zugestellt worden sei, endgültig über die Rechtmäßigkeit seiner einstweiligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung entschieden habe. Besonders das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, das es abgelehnt habe, seine Verfassungsbeschwerde vom 7. September 2011 zur Entscheidung anzunehmen, habe mit 8 Monaten und 23 Tagen unangemessen lange gedauert.
247. Der Beschwerdeführer trat der Behauptung entgegen, die Besonderheiten verfassungsgerichtlicher Verfahren hätten die längere Verfahrensdauer gerechtfertigt. Das Verfassungsgericht habe lediglich die Vereinbarkeit der angefochtenen Entscheidungen mit dem Freiheitsgrundrecht prüfen müssen und von ihm hätte daher erwartet werden können, eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu treffen, wie dies beim Landgericht und Oberlandesgericht der Fall gewesen sei. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sei nur durchschnittlich komplex gewesen, da die über die Beschwerde des Beschwerdeführers erkennenden Richter in seiner Rechtssache lediglich ein Jahr zuvor das Leiturteil vom 4. Mai 2011 erlassen hätten und somit mit seinem Fall vertraut gewesen seien. Darüber hinaus habe es zwischen der am 1. Januar 2012 erfolgten Erwiderung des Beschwerdeführers auf die Schriftsätze der Institutionen, denen die Verfassungsbeschwerde zugestellt worden sei, und dem Erlass des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts am 22. Mai 2012 eine lange Verzögerung gegeben. Er brachte vor, dass er während der Anhängigkeit des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht keine weitere Beschwerde hätte einlegen können.
2. Die Regierung
248. Nach Auffassung der Regierung war das in Rede stehende Verfahren, wie nach Artikel 5 Abs. 4 erforderlich, zügig geführt worden.
249. Die Regierung betonte, dass die deutschen Gerichte zur maßgeblichen Zeit verpflichtet gewesen seien, das deutsche Recht zur nachträglichen Sicherungsverwahrung so eng wie möglich an die Erfordernisse der Konvention anzupassen. In dem Zeitraum zwischen 4. Mai 2011 und 1. Juni 2013, in dem das deutsche Sicherungsverwahrungssystem noch nicht durch den Gesetzgeber reformiert gewesen sei, hätten sich alleine die Gerichte um die Erfüllung dieser Aufgabe bemüht.
250. Die Regierung nahm auf die Feststellungen der Kammer zu Artikel 5 Abs. 4 Bezug und schloss sich diesen an. Sie brachte insbesondere vor, das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht habe das Erfordernis der kurzen Frist beachtet. Das Verfahren sei komplex gewesen, denn das Bundesverfassungsgericht habe zum ersten Mal prüfen müssen, ob die ordentlichen Gerichte sein Leiturteil vom 4. Mai 2011 korrekt umgesetzt hätten. Außerdem hätten die Besonderheiten verfassungsgerichtlicher Verfahren und die besondere Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der deutschen Justiz berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt, beim Landgericht einen neuen Antrag auf gerichtliche Überprüfung seiner Sicherungsverwahrung zu stellen, während das in Rede stehende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig gewesen sei, und von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht.
C. Die Beurteilung durch die Große Kammer
1. Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
251. Der Gerichtshof stellt erneut fest, dass Artikel 5 Abs. 4 der Konvention dadurch, dass er inhaftierten Personen das Recht auf Anfechtung der Rechtmäßigkeit ihrer Freiheitsentziehung garantiert, nach Einleitung des entsprechenden Verfahrens auch ein Recht auf zügige gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung sowie auf deren Beendigung bei Feststellung ihrer Unrechtmäßigkeit gewährt (siehe M. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11364/03, Rdnr. 106, 9. Juli 2009, und Idalov ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 5826/03, Rdnr. 154, 22. Mai 2012).
252. Die Frage, ob das Recht auf eine zügige Entscheidung beachtet worden ist, muss im Lichte der Umstände jedes einzelnen Falles entschieden werden (siehe u. a. R.M.D. ./. Schweiz, 26. September 1997, Rdnr. 42, Reports 1997‑VI, Fešar ./. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 76576/01, Rdnr. 68, 13. November 2008, und Stephens ./. Malta (Nr. 2), Individualbeschwerde Nr. 33740/06, Rdnr. 84, 21. April 2009), wozu auch – wie dies auch für das Erfordernis der angemessenen Frist aus Artikel 5 Abs. 3 und Artikel 6 Abs. 1 der Konvention gilt – die Komplexität des Verfahrens, die Verfahrensführung seitens der nationalen Behörden und des Beschwerdeführers sowie die Bedeutung des Verfahrens für den Beschwerdeführer gehören (siehe M., a.a.O., Rdnr. 106, mit weiteren Nachweisen, S.T.S. ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 277/05, Rdnr. 43, ECHR 2011, und Shcherbina ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 41970/11, Rdnr. 62, 26. Juni 2014).
253. Der Gerichtshof lässt gelten, dass die Komplexität der bei einem Antrag auf Entlassung zu prüfenden medizinischen oder sonstigen Fragen ein Faktor sein kann, der bei der Einschätzung der Beachtung des Erfordernisses der kurzen Frist aus Artikel 5 Abs. 4 berücksichtigt werden muss. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Komplexität eines bestimmten – wenn auch außergewöhnlichen – Vorgangs die nationalen Behörden von ihren wesentlichen Pflichten nach dieser Bestimmung entbindet (vgl. Musiał ./. Polen [GK], Individualbeschwerde Nr. 24557/94, Rdnr. 47, ECHR 1999‑II, Baranowski, a.a.O., Rdnr. 72, und Frasik ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 22933/02, Rdnr. 63, ECHR 2010 (Auszüge)).
254. Artikel 5 Abs. 4 verpflichtet die Vertragsstaaten nicht, Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Freiheitsentziehungen und zur Verhandlung über Freilassungsanträge mehrinstanzlich auszugestalten. Wenn ein Staat jedoch eine zweite Instanz vorsieht, muss er Personen, denen die Freiheit entzogen ist, im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich dieselben Garantien zugestehen wie in der ersten Instanz (siehe Navarra ./. Frankreich, 23. November 1993, Rdnr. 28, Serie A Band 273‑B, Khudobin ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 59696/00, Rdnr. 124, ECHR 2006‑XII (Auszüge), und S.T.S. ./. Niederlande, a.a.O., Rdnr. 43), auch im Hinblick auf die Zügigkeit der Überprüfung einer durch ein unteres Gericht angeordneten Freiheitsentziehung in der Rechtsmittelinstanz (siehe Piotr Baranowski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 39742/05, Rdnr. 63, 2. Oktober 2007). Dasselbe gilt für Verfassungsgerichte, die über die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung entscheiden und im Falle der Unrechtmäßigkeit dieser Freiheitsentziehung die Entlassung des Betroffenen anordnen (vgl. Smatana ./. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 18642/04, Rdnr. 123, 27. September 2007, und Mercan ./. Türkei (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 56511/16, Rdnr. 24, 8. November 2016).
255. Bei der Entscheidung darüber, ob das Erfordernis, dass eine Entscheidung innerhalb „kurzer Frist“ zu ergehen hat, erfüllt worden ist, ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen, wenn das Verfahren in mehr als einer Instanz geführt wurde (siehe Navarra, a.a.O., Rdnr. 28, und M., a.a.O., Rdnr. 106). Wurde die ursprüngliche Unterbringungsanordnung von einem Gericht (also von einem unabhängigen und unparteiischen Organ der Rechtspflege) unter Gewährung angemessener rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien erlassen und sieht das innerstaatliche Recht ein Rechtsmittelsystem vor, ist der Gerichtshof bereit, im zweitinstanzlichen Verfahren eine längere Überprüfungsdauer hinzunehmen (siehe Lebedev ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 4493/04, Rdnr. 96, 25. Oktober 2007, und Shcherbina, a.a.O., Rdnr. 65). Diese Erwägungen gelten auch für Beschwerden nach Artikel 5 Abs. 4 über Verfahren vor den Verfassungsgerichten, die nach den maßgeblichen strafprozessrechtlichen Bestimmungen getrennt von Verfahren vor den ordentlichen Gerichten geführt wurden (siehe Žúbor ./. Slowakei, Individualbeschwerde Nr. 7711/06, Rdnr. 89, 6. Dezember 2011).
256. In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof hinsichtlich der Frage, ob ein Staat das Erfordernis der kurzen Frist beachtet hat, relativ strenge Maßstäbe niedergelegt. Eine Analyse seiner Rechtsprechung ergibt, dass in Rechtsmittelverfahren vor den ordentlichen Gerichten, die auf die Anordnung einer Freiheitsentziehung durch ein Gericht erster Instanz folgen, den Behörden zuzurechnende Verzögerungen von mehr als drei bis vier Wochen geeignet sind, eine Frage nach dem aus Artikel 5 Abs. 4 herrührenden Erfordernis der „kurzen Frist“ aufzuwerfen, sofern nicht nach den Umständen des Falles ausnahmsweise eine längere Überprüfungsdauer gerechtfertigt war (vgl. u. a. Rechtssache G. B. ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 27426/95, Rdnrn. 27 und 32 bis 39, 30. November 2000 – in der eine Dauer von zweiunddreißig Tagen für die Entscheidung über den Freilassungsantrag des Beschwerdeführers durch eine Bundesanwältin und ein Bundesgericht als Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 gewertet wurde – und Lebedev, a.a.O., Rdnrn. 98 bis 102 – wo eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 festgestellt wurde, da die Verantwortung für einen Zeitraum von 27 Tagen innerhalb des gesamten bis zur Entscheidung des Rechtsmittelgerichts über den Freilassungsantrag des Beschwerdeführers vergangenen Zeitraums den Behörden zuzurechnen war; als weitere Beispiele siehe Piotr Baranowski, a.a.O., Rdnr. 64, und Shcherbina, a.a.O., Rdnr. 65).
2. Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
257. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Zeitraum, der für die Entscheidung darüber maßgeblich war, ob der beschwerdegegnerische Staat das Erfordernis der kurzen Frist aus Artikel 5 Abs. 4 einhielt, am 29. Juni 2011 mit dem Eingang der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Unterbringungsanordnung vom 6. Mai 2011 begann. Er endete am 30. Mai 2012 mit der Zustellung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 2012 an den Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers (bezüglich der Berechnung des Zeitraums vgl. Smatana, a.a.O., Rdnr. 117, mit weiteren Nachweisen). Er belief sich somit auf elf Monate und einen Tag und umfasste drei Instanzen.
258. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer bestritt, dass die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht (8 Monate und 23 Tage) und die sich daraus ergebende Gesamtdauer des Verfahrens mit Artikel 5 Abs. 4 vereinbar war; er scheint nicht vorzubringen, dass das Verfahren vor den ordentlichen Gerichten das Erfordernis der kurzen Frist nicht erfüllt habe.
259. Auch der Gerichtshof ist der Auffassung, dass das Landgericht, das seine Entscheidung, die Unterbringungsanordnung vom 6. Mai 2011 nicht abzuändern, fünf Tage nach Eingang der Beschwerde des Beschwerdeführers am 29. Juni 2011 traf, also am 4. Juli 2011, das bei ihm anhängige Verfahren zügig führte.
260. Im Anschluss an die Entscheidung des Landgerichts entschied das Oberlandesgericht, nachdem es die Stellungnahmen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung erhalten hatte, am 16. August 2011 über die Beschwerde des Beschwerdeführers; das Verfahren vor diesem Gericht dauerte somit zweiundvierzig Tage.
261. Der Beschwerdeführer, der seine Beschwerdebegründung fünf Mal ergänzte (siehe Rdnr. 18), trug anscheinend nicht wesentlich zur Dauer des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht bei.
262. Der Gerichtshof ist jedoch der Auffassung, dass das Verfahren vor dem Oberlandesgericht sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht relativ komplex war. Nachdem das Bundesverfassungsgericht in einem Leiturteil eine Wende in seiner Rechtsprechung vollzogen hatte, musste das Oberlandesgericht prüfen, inwieweit nach den vom Bundesverfassungsgericht neu festgelegten strengen Maßstäben weiterhin dringende Gründe für die Annahme gegeben waren, dass die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet werden würde. Insbesondere war es nunmehr notwendig, festzustellen, ob hinreichende Gründe für die Annahme einer psychischen Störung bei dem Beschwerdeführer vorlagen. Nach der früheren Auslegung des Jugendgerichtsgesetzes war eine solche Prüfung nicht erforderlich gewesen. Im Falle des Beschwerdeführers berücksichtigte das Oberlandesgericht bei dieser Prüfung die Tatsachenfeststellungen, die das Landgerichts A. in seinem Urteil vom 22. Juni 2009 vorgenommen hatte, sowie die Gutachten von vier ärztlichen Sachverständigen, die in diesem und vorausgegangenen Verfahren angefordert worden waren. Seine Entscheidung, die einstweilige Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung anzuordnen, war umfassend begründet.
263. Da das Verfahren komplex war und das Oberlandesgericht als Gericht zweiter Instanz eine durch ein erstinstanzliches Gericht erlassene und überprüfte Anordnung einer Freiheitsentziehung überprüfte – also eine Situation vorlag, in welcher der Gerichtshof bereit ist, eine längere Überprüfungsdauer hinzunehmen (siehe Rdnr. 255) – stellt der Gerichtshof fest, dass das Verfahren vor dem Oberlandesgericht unter den Umständen der Rechtssache mit dem Gebot der kurzen Frist immer noch vereinbar war.
264. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Oberlandesgericht seine Entscheidung über die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers sowie seine Gegenvorstellung gegen den Beschluss vom 16. August 2011 am 29. August 2011 traf; diese Entscheidung wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 6. September 2011 zugestellt. Das Verfahren dauerte demnach 21 Tage, was im Lichte der vorstehenden Erwägungen nicht als überlang angesehen werden kann.
265. Hinsichtlich des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde am 7. September 2011 bei diesem Gericht einreichte. Am 25. Oktober 2011, also innerhalb von 47 Tagen, lehnte das Bundesverfassungsgericht den Antrag des Beschwerdeführers ab, die Unterbringungsanordnung im Wege einer einstweiligen Anordnung auszusetzen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 2012, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, wurde dem Rechtsanwalt des Beschwerdeführers am 30. Mai 2012 zugestellt. Die Dauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht betrug also insgesamt 8 Monate und 23 Tage.
266. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Recht des Beschwerdeführers auf eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist in Anbetracht dieses relativ langen Zeitraums gewahrt wurde, lässt der Gerichtshof gelten, dass das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht komplex war. Nach seinem Leiturteil vom 4. Mai 2011, das u. a. in Bezug auf den Beschwerdeführer erging, musste dieses Gericht zum ersten Mal beurteilen, ob die Auslegung und Anwendung dieses Leiturteils durch die ordentlichen Gerichte mit der Verfassung vereinbar waren. Das Bundesverfassungsgericht musste insbesondere darüber entscheiden, ob die ordentlichen Gerichte die neuen, strengeren Maßstäbe für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, insbesondere die, komplexe medizinische und rechtliche Fragen aufwerfende Voraussetzung, dass die betroffene Person an einer psychischen Störung leidet, in Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlichen Freiheitsgebot auslegten.
267. Die Komplexität des Verfahrens kann auch daran ermessen werden, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde der betroffenen Landesregierung, dem Präsidenten des Bundesgerichtshofs sowie dem Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof zuleitete und deren Stellungnahmen und auch die Erwiderung des Beschwerdeführers erhielt, bevor es seine Entscheidung traf.
268. Der Gerichtshof stellt fest, dass nicht behauptet werden kann, der Beschwerdeführer, der mit Schriftsatz vom 1. Januar 2012 auf die vom 28., 24. bzw. 25. November 2011 datierenden Stellungnahmen der betroffenen Landesregierung, des Präsidenten des Bundesgerichtshofs sowie des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof erwiderte, habe maßgeblich zur Gesamtdauer des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht beigetragen.
269. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits war in dem Zeitraum, in dem das Verfahren bei ihm anhängig war, nicht untätig. Es führte das Verfahren unter angemessener Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers, denn es entschied ziemlich rasch über seinen Antrag, die Unterbringungsanordnung im Wege einer einstweiligen Anordnung auszusetzen, und leitete die Verfassungsbeschwerde mehreren Parteien zur Stellungnahme zu.
270. Weiterhin ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Bundesverfassungsgericht das ihm vorliegende Verfahren in einem rechtlichen Kontext führte, der anders gelagert war als der bei den ordentlichen Gerichten, und dass die Besonderheiten des Verfahrens vor diesem Gericht bei der Beurteilung der Einhaltung des Erfordernisses der „kurzen Frist“ aus Artikel 5 Abs. 4 berücksichtigt werden müssen. Der Gerichtshof stellt fest, dass er bei seiner Untersuchung der Vereinbarkeit einer freiheitsentziehenden Anordnung mit dem Freiheitsgrundrecht ebenso wie die Fachgerichte die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung überprüft, und im Falle der Unrechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung die Zuständigkeit besitzt, die Entscheidung der ordentlichen Gerichte aufzuheben und gegebenenfalls die Entlassung der Person, der die Freiheit entzogen ist, anzuordnen (siehe diesbezüglich beispielsweise das Leiturteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011, Rdnrn. 68 bis 75).
271. Das Bundesverfassungsgericht führt allerdings nicht als zusätzliche Instanz eine Überprüfung in der Sache durch, sondern untersucht allein die Vereinbarkeit der freiheitsentziehenden Anordnung mit dem Grundgesetz. Diese anders gelagerte Rolle des Bundesverfassungsgerichts innerhalb der innerstaatlichen Rechtsordnung lässt sich auch daran ablesen, dass Entscheidungen nach innerstaatlichem Recht endgültig werden, wenn das letztinstanzliche ordentliche Gericht seine Entscheidung erlassen hat. Eine Person, der die Freiheit entzogen ist, kann die freiheitsentziehende Anordnung auch dann erneut vor den ordentlichen Gerichten überprüfen lassen, wenn ein früheres Verfahren noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist (siehe Rdnr. 63; vgl. auch Şahin Alpay ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 16538/17, Rdnr. 137, ECHR 2018).
272. Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass der Beschwerdeführer in dem vorliegenden Fall selbst von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Kurz nach Einlegung seiner Verfassungsbeschwerde vom 7. September 2011 stellte er am 17. November 2011 beim Landgericht einen neuen Antrag auf gerichtliche Überprüfung seiner Sicherungsverwahrung. Das Landgericht und das Oberlandesgericht prüften den erneuten Antrag des Beschwerdeführers und wiesen ihn am 28. November 2011 bzw. 2. Januar 2012, vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Mai 2012, als unbegründet ab (siehe Rdnr. 27).
273. Nach Ansicht des Gerichtshofs entbindet diese Möglichkeit das Verfassungsgericht nicht von seiner aus Artikel 5 Abs. 4 resultierenden Verpflichtung, innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers zu entscheiden, um zu gewährleisten, dass das Recht auf eine zügige Entscheidung praktisch und wirksam bleibt (vgl. auch, sinngemäß, Smatana, a.a.O., Rdnrn. 124 und 131). Jedoch steht die Berücksichtigung dieses Elements bei der Gesamtbeurteilung der Frage, ob eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist ergangen ist, im Einklang mit den Erwägungen, die der (in Rdnr. 255 zitierten) Rechtsprechung des Gerichtshofs zugrunde liegen, wonach in zweitinstanzlichen Verfahren eine längere Überprüfungsdauer akzeptiert werden kann, wenn die ursprüngliche Anordnung der Freiheitsentziehung unter Gewährung angemessener rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien erlassen wurde.
274. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die vorstehenden Erwägungen erst recht für Verfahren gelten, die vor einem Verfassungsgericht als zusätzlicher Instanz nur geführt werden, um zu überprüfen, ob eine Freiheitsentziehung mit dem Freiheitsgrundrecht vereinbar ist, und in deren Verlauf bereits ein erneutes Überprüfungsverfahren vor den ordentlichen Gerichten angestrengt werden kann. Er fügt hinzu, dass die relativ strengen Maßstäbe, die er hinsichtlich der Erfüllung des Erfordernisses der „kurzen Frist“ durch den Staat in seiner Rechtsprechung niedergelegt hat und die in einer Reihe von Rechtssachen beschrieben worden sind (siehe Rdnr. 256), nicht in Fällen entwickelt wurden, die vor den innerstaatlichen Verfassungsgerichten geführte Verfahren zur Anfechtung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung eines Beschwerdeführers betreffen.
275. Unter Berücksichtigung der Komplexität des in dem vorliegenden Fall vor dem Bundesverfassungsgericht geführten Verfahrens, der Verfahrensführung durch dieses Gericht, einschließlich des Erlasses einer begründeten einstweiligen Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers, und der Besonderheiten der Verfahren vor diesem Gericht, die es dem Beschwerdeführer erlaubten, seine Freiheitsentziehung erneut von den ordentlichen Gerichten überprüfen zu lassen, obwohl das in Rede stehende Verfahren noch vor dem Verfassungsgericht anhängig war, stellt der Gerichtshof zusammenfassend fest, dass das Erfordernis der „kurzen Frist“ aus Artikel 5 Abs. 4 unter den besonderen und konkreten Umständen des Falles (siehe Rdnrn. 270 und 271) dennoch eingehalten wurde.
276. Im Lichte dieser Feststellungen und bei Vornahme einer Gesamtbetrachtung ist der Gerichtshof ferner der Auffassung, dass das Recht des Beschwerdeführers auf eine Entscheidung innerhalb kurzer Frist in dem Verfahren über die Rechtmäßigkeit seiner vorläufigen Sicherungsverwahrung insgesamt beachtet worden ist.
277. Artikel 5 Abs. 4 der Konvention ist daher nicht verletzt worden.
VI. BEHAUPTETE MANGELNDE UNPARTEILICHKEIT DES RICHTERS P.
278. Der Beschwerdeführer rügte abschließend, dass Richter P. im Hauptverfahren vor dem Landgericht A. über die Anordnung seiner „nachträglichen“ Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ihm gegenüber befangen gewesen sei. Er berief sich auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen […] Gericht in einem fairen Verfahren […] verhandelt wird.“
279. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Das Urteil der Kammer
280. Die Kammer, die Artikel 6 Abs. 1 unter dem zivilrechtlichen Aspekt auf das Verfahren über die Rechtsmäßigkeit der Anordnung der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers für anwendbar befunden hatte, stellte unter den Umständen des vorliegenden Falles fest, dass in dem in Rede stehenden Verfahren weder eine persönliche Voreingenommenheit des Richters P. noch objektiv berechtigte Zweifel an seiner Unparteilichkeit im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 vorgelegen hätten.
B. Die Stellungnahmen der Parteien
1. Der Beschwerdeführer
281. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass das Landgericht A., das unter Beteiligung des Richters P. seine Sicherungsverwahrung angeordnet habe, nicht, wie nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention erforderlich, unparteiisch gewesen sei.
282. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass es genügend Anhaltspunkte dafür gebe, dass Richter P. aufgrund seiner persönlichen Überzeugung und seinem Verhalten (subjektiver Ansatz), nicht unparteiisch gewesen sei. Richter P. habe die Anwältin des Beschwerdeführers gewarnt, sie solle aufpassen, dass er nach seiner Freilassung nicht vor ihrer Tür stehe, um sich persönlich bei ihr zu „bedanken“. Wie die Kammer zutreffend festgestellt habe, sei diese Bemerkung so zu verstehen, dass P. der Auffassung sei, es bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung eine schwere Gewalt- oder Sexualstraftat zum Nachteil seiner Verteidigerin begehen könne.
283. Der Beschwerdeführer betonte, dass Richter P. diese Bemerkung über seine angebliche Gefährlichkeit nicht im Rahmen der Begründung des landgerichtlichen Urteils vom 22. Juni 2009 gemacht habe. Die angegriffene Äußerung sei in einem Gespräch zwischen Richter P. und seiner Anwältin nach der Verkündung des genannten Urteils gefallen, in dem es um eine mögliche Überweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus gegangen sei. In diesem Kontext sei diese Gefährlichkeit völlig irrelevant gewesen und die angegriffene Äußerung sei daher völlig grundlos erfolgt. Daher habe Richter P. in unzulässiger Weise in das Mandatsverhältnis zwischen ihm und seiner Verteidigerin eingegriffen und sich unprofessionell verhalten. Somit sei er parteiisch gewesen und der Beschwerdeführer habe Grund zu der Annahme gehabt, dass die mangelnde Unparteilichkeit des Richters P. in dem in Rede stehenden Verfahren, an dem P. wieder mitgewirkt habe, fortbestanden habe.
2. Die Regierung
284. Die Regierung trug vor, dass das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren und auf ein unparteiisches Gericht aus Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden sei, wie die Kammer zutreffend festgestellt habe.
285. Die Regierung schloss sich der Auffassung an, die angebliche Äußerung des Richters P. gegenüber der Verteidigerin des Beschwerdeführers im Jahre 2009 bedeute, dass Richter P. der Ansicht gewesen sei, es bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung eine schwere Gewalt- oder Sexualstraftat zum Nachteil seiner Anwältin begehen werde. Es gebe jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass Richter P. dem Beschwerdeführer gegenüber persönlich voreingenommen gewesen sei. Er habe seine angegriffene Äußerung im Verlauf eines vertraulichen Treffens getätigt, unmittelbar nachdem das Landgericht, dem er als Kammermitglied angehört habe, die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet habe, weil dieser im Falle seiner Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Straftaten bis hin zum Mord zur Befriedigung seines Sexualtriebs begehen werde. Die Äußerung fasse die Einschätzung der von dem Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr, die unmittelbar zuvor in dem Urteil des Landgerichts vorgenommen worden sei, drastisch zusammen und sei gegenüber Juristen getätigt worden, welche mit dem Fall und dem Kontext vertraut gewesen seien.
286. Darüber hinaus lasse der Umstand, dass Richter P. am 22. Juni 2009 etwas drastisch bestätigt habe, dass er den Beschwerdeführer für gefährlich halte, keine objektiv berechtigten Zweifel dahingehend aufkommen, dass es dem Richter in dem hier in Rede stehenden Verfahren, das etwa drei Jahre später stattgefunden und mit dem Urteil des Landgerichts vom 3. August 2012 geendet habe, an Unparteilichkeit gemangelt habe. Es gebe keinen berechtigten Grund zu der Befürchtung, dass Richter P. diese erforderliche erneute Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nicht auf der Grundlage der beigebrachten neuen Beweise und der zwischenzeitlich durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 veränderten Gesetzeslage vorgenommen habe.
C. Die Beurteilung durch die Große Kammer
1. Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
287. In ihrem in der vorliegenden Rechtssache ergangenen Urteil vom 2. Februar 2017 hat die Kammer die auf den Fall einschlägigen Grundsätze treffend zusammengefasst (a.a.O., Rdnrn. 120 bis 123):
Der Gerichtshof wiederholt, dass die Unparteilichkeit im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 (i) anhand eines subjektiven Ansatzes, bei dem auf die persönliche Überzeugung und das Verhalten eines bestimmten Richters zu achten ist, also darauf, ob der Richter in einem konkreten Fall persönliche Vorurteile oder Voreingenommenheiten an den Tag legte, und (ii) anhand eines objektiven Ansatzes, also durch die Feststellung, ob das Gericht selbst sowie neben anderen Aspekten auch seine Zusammensetzung hinreichend Gewähr für den Ausschluss aller berechtigten Zweifel an seiner Unparteilichkeit bot, zu prüfen ist (siehe u. a. Kleyn u. a. ./. die Niederlande [GK], Individualbeschwerden Nrn. 39343/98, 39651/98, 43147/98 und 46664/99, Rdnr. 191, ECHR 2003 VI; und Oleksandr Volkov ./. Ukraine, Individualbeschwerde Nr. 21722/11, Rdnr. 104, ECHR 2013).
[…] Beim subjektiven Ansatz ist bis zum Beweis des Gegenteils die persönliche Unparteilichkeit eines Richters zu unterstellen (siehe Morel ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 34130/96, Rdnr. 41, ECHR 2000‑VI; und Micallef ./. Malta [GK], Individualbeschwerde Nr. 17056/06, Rdnr. 94, ECHR 2009).
[…] Beim objektiven Ansatz muss festgestellt werden, ob es abgesehen vom Verhalten des Richters feststellbare Tatsachen gibt, die Zweifel an seiner Unparteilichkeit begründen können. Folglich ist bei der Entscheidung darüber, ob in einem bestimmten Fall ein berechtigter Grund zu der Befürchtung besteht, dass ein bestimmter Richter oder Spruchkörper parteiisch ist, der Standpunkt des Betroffenen zwar wichtig, aber nicht entscheidend. Entscheidend ist, ob diese Befürchtung als objektiv gerechtfertigt angesehen werden kann (siehe Wettstein ./. Schweiz, Individualbeschwerde Nr. 339587/96, Rdnr. 44, ECHR 2000-XII; und Micallef, a.a.O., Rdnr. 96).
[…] Aus der Pflicht zur Unparteilichkeit kann kein allgemeiner Grundsatz abgeleitet werden, wonach eine Rechtsmittelinstanz, die eine Verwaltungs- oder eine Gerichtsentscheidung aufhebt, verpflichtet wäre, die Sache an eine andere Gerichtsbehörde oder ein anders zusammengesetztes Organ der betreffenden Behörde zurückzuverweisen (siehe Ringeisen ./. Österreich, 16. Juli 1971, Rdnr. 97, Serie A Band. 13; und Diennet ./. Frankreich, 26. September 1995, Rdnr. 38, Serie A Band 325 A).“
2. Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
288. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Kammer in ihrem im vorliegenden Fall ergangenen Urteil folgende Gründe für ihre Feststellung, der Fall des Beschwerdeführers sei von einem „unparteiischen Gericht“ im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 verhandelt worden, angeführt hat (a.a.O., Rdnrn. 124 bis 128):
„Was die behauptete mangelnde Unparteilichkeit des Richters P. im vorliegenden Fall anbelangt, stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Rechtssache unter der Annahme geprüft haben, dass die fragliche Bemerkung […] von Richter P. geäußert worden sein könnte; daher geht der Gerichtshof ebenfalls von dieser Annahme aus. Er stellt weiterhin fest, dass Richter P. die angegriffene Bemerkung im Rahmen eines vertraulichen Gesprächs zwischen den Richtern des Landgerichts und den zwei Verteidigern des Beschwerdeführers geäußert hat. Bei dieser Besprechung, die kurz nach der Verkündung des landgerichtlichen Urteils stattfand, mit dem am 22. Juni 2009 die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, ging es um eine mögliche künftige Überweisung des Beschwerdeführers in ein psychiatrisches Krankenhaus. Dass die angeblich von Richter P. in diesem Zusammenhang getätigte Äußerung, wonach die Verteidigerin des Beschwerdeführers aufpassen solle, dass der Beschwerdeführer sie nach seiner Freilassung nicht aufsuche und sich bei ihr „bedanke“, so zu verstehen sei, dass Richter P. der Ansicht war, es bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung eine schwere Gewalt- oder Sexualstraftat (ähnlich derjenigen, für die er verurteilt worden war) gegen seine Rechtsanwältin begehen würde, ist zwischen den Parteien offenbar unstreitig und der Gerichtshof schließt sich dieser Deutung an.
[…] Der Gerichtshof möchte zunächst die Bedeutung des beruflichen Verhaltens bei der Erfüllung richterlicher Aufgaben hervorheben. Bei der Prüfung der Frage, ob Richter P. angesichts dieser angeblichen Äußerung gegenüber dem Beschwerdeführer persönlich voreingenommen war (siehe den oben dargestellten „subjektiven Ansatz“), misst der Gerichtshof dem Kontext, in dem Richter P.s Bemerkung fiel, entscheidendes Gewicht bei. Geht man wie die innerstaatlichen Gerichte davon aus, dass er sich tatsächlich wie behauptet geäußert hat, tat er dies unmittelbar nachdem das Landgericht, dem er angehörte, die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet hatte, da es der Auffassung war, dass bei dem Beschwerdeführer weiterhin sexuelle Gewaltfantasien aufträten und er im Falle seiner Freilassung mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut schwere Sexualstraftaten bis hin zum Mord zur Befriedigung seines Sexualtriebs begehen würde […]. Unter diesen Umständen stellte die behauptete Äußerung des Richters P. im Wesentlichen eine Bestätigung der Feststellung des Landgerichts in dem gerade erlassenen Urteil dar. Selbst unter der Annahme, dass die Äußerung getätigt wurde, ist der Gerichtshof daher nicht überzeugt, dass ausreichende Beweise dafür vorliegen, dass sich Richter P. aus persönlichen Gründen feindselig zeigte und dem Beschwerdeführer gegenüber folglich persönlich voreingenommen war.
[…] Der Gerichtshof wird ferner prüfen, ob das Verhalten des Richters P. aus der Sicht eines unbeteiligten Betrachters objektiv gerechtfertigte Zweifel an seiner Unparteilichkeit wecken kann (siehe den oben dargestellten „objektiven Ansatz“). Er stellt fest, dass das Landgericht unter Mitwirkung von Richter P. in dem in Rede stehenden Verfahren neu zu entscheiden hatte, ob die Anordnung der nachträglichen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung notwendig war, nachdem das Bundesverfassungsgericht sein Urteil vom 22. Juni 2009 aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen hatte.
[…] In Anbetracht seiner Rechtsprechung […] ist der Gerichtshof der Auffassung, dass allein der Umstand, dass Richter P. bereits der Kammer angehört hatte, die die erste nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet hatte, und darüber hinaus nach der Aufhebung dieses Urteils Mitglied der Kammer war, die am 3. August 2012 erneut die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung anordnete, nicht ausreicht, um objektiv berechtigte Zweifel an dessen Unvoreingenommenheit zu begründen.
[…] Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass der Umstand, dass Richter P. mit seiner angegriffenen Äußerung mutmaßlich bestätigte, dass er den Beschwerdeführer am 22. Juni 2009 für gefährlich hielt, keine objektiv berechtigten Zweifel dahingehend aufkommen lässt, dass es dem Richter in dem hier in Rede stehenden Verfahren an Unparteilichkeit gemangelt hätte. In diesem Verfahren, das etwa drei Jahre nach der angegriffenen Äußerung abgeschlossen wurde, würdigte das Landgericht neue Beweise, um festzustellen, ob zu diesem Zeitpunkt unter der veränderten Gesetzeslage infolge der Kehrtwende in der Rechtsprechung durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts die nachträgliche Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung anzuordnen war. Die angegriffene Bemerkung gibt keinen berechtigten Grund zu der Befürchtung, dass Richter P. diese erforderliche erneute Beurteilung der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nicht auf der Grundlage der in dem neuen Verfahren beigebrachten Beweismittel und vorgetragenen Argumente vorgenommen hätte.“
289. Die Große Kammer möchte betonen, dass Richter P., sollte er die in Rede stehende höchst unangemessene Äußerung getätigt haben, ein unprofessionelles Verhalten an den Tag gelegt hätte. Jedoch ist sie, aus den von der Kammer näher dargelegten Gründen, die sie ebenfalls für maßgeblich hält, der Auffassung, dass dieses Verhalten unter den Umständen des vorliegenden Falles weder eine persönliche Voreingenommenheit des Richters P. gegenüber dem Beschwerdeführer noch objektiv berechtigte Zweifel an seiner Unparteilichkeit in dem in Rede stehenden Verfahren erkennen ließ.
290. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist daher nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF
1. mit fünfzehn zu zwei Stimmen, dass keine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 der Konvention aufgrund der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ab dem 20. Juni 2013 infolge der angefochtenen Anordnung seiner nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorliegt;
2. mit vierzehn zu drei Stimmen, dass keine Verletzung von Artikel 7 Abs. 1 der Konvention aufgrund der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers ab dem 20. Juni 2013 infolge der angefochtenen Anordnung seiner nachträglichen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorliegt;
3. einstimmig, dass keine Verletzung von Artikel 5 Abs. 4 der Konvention aufgrund der Dauer des Verfahrens zur Überprüfung der einstweiligen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung vorliegt;
4. mit fünfzehn zu zwei Stimmen, dass keine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention aufgrund der behaupteten mangelnden Unparteilichkeit des Richters P. im Hauptverfahren betreffend die Anordnung der nachträglichen Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung vorliegt.
Ausgefertigt in Englisch und in Französisch und verkündet in öffentlicher Sitzung am 4. Dezember 2018 im Menschenrechtsgebäude in Straßburg.
Johan Callewaert Guido Raimondi
Stellvertretender Kanzler Präsident
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[1] Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (10. Revision), die ICD-10, wird von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben. Die ICD ist das internationale Standardinstrument zur Klassifikation von Krankheiten und Gesundheitsproblemen. Es definiert Krankheiten, Störungen, Verletzungen und andere Gesundheitsprobleme und listet sie in einer umfassenden, hierarchischen Systematik auf.
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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