KLINKEL ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 47156/16

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 47156/16
K. ./. Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 11. Dezember 2018 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger,
Síofra O’Leary,
Mārtiņš Mits und
Gabriele Kucsko-Stadlmayer,
Lәtif Hüseynov und
Lado Chanturia
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 9. August 2016 eingelegt wurde,
im Hinblick auf die Stellungnahme der beschwerdegegnerischen Regierung und die Erwiderung des Beschwerdeführers,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, K., ist deutscher Staatsangehöriger und befindet sich derzeit in Sicherungsverwahrung in der Einrichtung für Sicherungsverwahrte auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt X. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn W., Rechtsanwalt in R., vertreten.

2. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer rügte insbesondere, dass seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in dem Zeitraum vom 10. November 2012 bis zum 8. Juli 2014 nicht mit Artikel 5 Abs. 1 der Konvention vereinbar gewesen sei.

4. Am 11. September 2017 wurde die Artikel 5 Abs. 1 der Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.

A. Die Umstände des Falls

1. Hintergrund des Falls

5. Seit 1972 wurde der Beschwerdeführer mehrfach wegen schwerwiegender gewalttätiger Sexualstraftaten zu Freiheitsstrafen verurteilt.

6. Am 9. November 2004 wurde der Beschwerdeführer vom Landgericht M. u. a. wegen besonders schwerer Vergewaltigung, tateinheitlich mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung, und in einem weiteren Fall wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung, beide begangen im Jahr 2004, verurteilt. Es verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten und ordnete seine anschließende Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 des Strafgesetzbuchs (StGB) an. Das Landgericht, das den psychiatrischen Sachverständigen H. hinzugezogen hatte, stellte fest, dass der Beschwerdeführer einen Hang zur Begehung gewalttätiger Sexualstraftaten habe und daher für die Allgemeinheit gefährlich sei.

2. Das in Rede stehende Verfahren

7. Am 30. Juli 2012 beantragte der Beschwerdeführer, seine Sicherungsverwahrung nach der vollständigen Verbüßung seiner Freiheitsstrafe am 9. November 2012 zur Bewährung auszusetzen oder hilfsweise für erledigt zu erklären.

8. Am 7. September 2012 beschloss die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Q., ein schriftliches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung noch erfordere (§ 67c StGB). Mit der Erstattung des Gutachtens wurde der externe psychiatrische Sachverständige H. beauftragt, der auch schon das Gutachten in dem Prozess des Beschwerdeführers vor dem Landgericht M. im Jahr 2004 erstellt hatte.

9. Am 18. September 2012 beantragte der Beschwerdeführer bei dem Landgericht, H. durch einen anderen Sachverständigen zu ersetzen, weil die Besorgnis der Befangenheit des Sachverständigen im Hinblick auf seine Tätigkeit im Zusammenhang mit der Verurteilung des Beschwerdeführers bestehe. Am 16. Oktober 2012 verwarf das Landgericht den Befangenheitsantrag. Die Vorbefassung von H. führe nicht per se zur Befangenheit, sondern vielmehr dazu, dass er etwaige Änderungen in der Persönlichkeit des Beschwerdeführers besser beurteilen könne. Andere Befangenheitsgründe seien nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer legte sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss ein, die er später zurücknahm. Auch stellte er einen erneuten Befangenheitsantrag gegen den Sachverständigen, den das Landgericht ebenfalls als unbegründet zurückwies. In der Zwischenzeit weigerte er sich mehrfach, von H. untersucht zu werden. Am 7. Juni 2013 hörte das Landgericht den Beschwerdeführer im Beisein seines Prozessbevollmächtigten an, der erneut die Einholung eines Gutachtens durch einen anderen Sachverständigen beantragte. Der Beschwerdeführer erklärte sich einverstanden, sich von einem anderen Sachverständigen untersuchen zu lassen.

10. Am 12. Juni 2013 stellte das Landgericht fest, dass die Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers noch erforderlich und nicht unverhältnismäßig sei. Gestützt auf das Gutachten von H. von 2004 und eine Stellungnahme der Justizvollzugsbehörden zum Vollzug der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers ging es davon aus, dass die 2004 festgestellte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nach wie vor gegeben sei, weil nicht festgestellt werden könne, dass wesentliche Veränderungen zum Positiven hin eingetreten seien. Der Beschwerdeführer habe selbst zu verantworten, dass es kein aktuelles Gutachten gebe, weil er sich einer Begutachtung durch H. stets verwehrt habe.

11. Am 6. August 2013 hob das Oberlandesgericht auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers hin diesen Beschluss auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurück. Es führte aus, dass der Beschluss des Landgerichts an wesentlichen Verfahrensmängeln leide, weil die Einholung eines aktuellen Sachverständigengutachtens nicht erfolgt sei, obwohl das innerstaatliche Recht dies zwingend vorschreibe (§ 463 Abs. 3 S. 3 i. V. m. § 454 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) i. V. m. § 67c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB). Ohne erkennbaren Grund habe der Sachverständige H. kein Gutachten erstellt. In Anbetracht der Weigerung des Beschwerdeführers, sich von H. untersuchen zu lassen, hätte H. das Gutachten auch nach Aktenlage erstellen können. Aufgrund der im Strafvollzug und in der sozialtherapeutischen Anstalt erstellten Dokumentation hätten genügend Anhaltspunkte für eine Beurteilung der Entwicklung des Beschwerdeführers einschließlich seiner Gefährlichkeit zur Verfügung gestanden. Das Gericht fügte hinzu, dass ein auf der Grundlage einer ausführlichen persönlichen Exploration gewonnenes Sachverständigengutachten einen ungleich höheren Aufklärungsgewinn als ein nach Aktenlage erstelltes Gutachten verspreche. Daher sei es geboten, einen anderen Sachverständigen zu beauftragen, wenn ein Untergebrachter sich von dem von der Strafvollstreckungskammer ausgewählten Sachverständigen nicht explorieren lassen wolle, wohl aber von einem anderen Sachverständigen.

12. Am 2. September 2013 beauftragte das Landgericht Q. den externen psychiatrischen Sachverständigen N., der den Beschwerdeführer anschließend mehrfach persönlich untersuchte. Am 1. April 2014 erstattete N. ein Gutachten, demzufolge der Beschwerdeführer an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung in Form einer Psychopathie litt. Am 3. Juni 2014 fand eine mündliche Anhörung des Sachverständigen N. und des Beschwerdeführers vor dem Landgericht statt.

13. Am 8. Juli 2014 stellte das Landgericht fest, dass der Zweck der Maßregel die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung noch erfordere und eine solche Unterbringung nicht unverhältnismäßig sei. Im Wesentlichen seien keine positiven Veränderungen gegenüber 2004 eingetreten, als er von H. als hochgefährlich eingeschätzt worden sei. Zwar habe der Beschwerdeführer von Februar bis Mai 2013 an einem Gruppentraining für soziale Kompetenz teilgenommen und von April 2013 an ein R&R Training besucht, was positiv zu vermerken sei. Gleichwohl habe er seit Dezember 2013 die Urinkontrollen verweigert und kein Kontakt zum Psychologischen Dienst gehabt, da er diese Zusammenarbeit ebenfalls verweigere. Bei der Anhörung habe der Beschwerdeführer seine Haltung mit dem Umstand begründet, dass das Vertrauensverhältnis gestört sei, weil die Mitarbeiter nur negative Dinge über ihn berichteten. Der Sachverständige N. sehe einen positiven Aspekt lediglich in dem zunehmenden Alter des Beschwerdeführers und der absolvierten Therapie, der die von ihm ausgehende Gefahr geringfügig reduziere. Jedoch sei N. zufolge bei einer Entlassung des Beschwerdeführers nach wie vor von einer nicht absehbaren Rückfallgefahr auszugehen. N. habe auch von einer „Sabotage des Vertrauens“ durch den Beschwerdeführer gesprochen, weil dieser gegen die Unterbringungsregeln verstoßen habe, indem er in seiner Zelle einen selbst hergestellten Alkohol aufbewahrt habe, obwohl er N. gegenüber geäußert habe, nach seinem früheren Alkoholmissbrauch lange Zeit abstinent gewesen zu sein. Nach Auffassung von N. seien vorbereitende Maßnahmen vor einer Entlassung zwingend notwendig; vorausgesetzt, dass keine weiteren Regelverstöße durch den Beschwerdeführer festzustellen seien, sei ein Zeitrahmen von 2 bis 3 Jahren erforderlich, um genügend Vertrauen aufzubauen und Lockerungsmaßnahmen zu erwägen. Das Landgericht schloss sich der Auffassung von N. an.

14. Am 19. August 2014 verwarf das Oberlandesgericht die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Landgerichts. Es vertrat die Auffassung, dass N. sorgfältig und überzeugend dargelegt habe, weshalb es keine wesentliche Änderung der dissozialen Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers gebe und bei ihm nach wie vor eine erhebliche Rückfallgefahr bestehe. Das Gericht befand daher, dass die Fortdauer der Sicherungsverwahrung erforderlich sei. Es berücksichtigte auch, dass dem Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung eine hinreichende Einzeltherapie angeboten worden sei. Schließlich erfordere auch die Verfahrensdauer eine Aussetzung oder Erledigung des weiteren Vollzugs der Sicherungsverwahrung nicht.

15. Zwar sei das Verfahren nach § 67c StGB nicht rechtzeitig vor der vollständigen Verbüßung der Freiheitsstrafe eingeleitet worden. Der Sachverständige H. sei erst am 7. September 2012 bestellt worden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem mit einem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens vor Strafende nicht mehr zu rechnen gewesen sei. Ferner habe das Landgericht nach Verzögerungen, die allein dem Beschwerdeführer zuzuschreiben seien (mehrfache Gesuche auf Ablehnung des zunächst bestellten Sachverständigen und endgültige Weigerung im Anhörungstermin vom 7. Juni 2013, sich von diesem Gutachter explorieren zu lassen), am 12. Juni 2013 rechtsfehlerhaft über die Fortdauer der inzwischen faktischen Sicherungsverwahrung ohne Einholung eines Gutachtens entschieden. Dies habe dazu geführt, dass das Oberlandesgericht am 6. August 2013 diesen Beschluss habe aufheben und die Sache an das Landgericht habe zurückverweisen müssen. Erst danach sei das Verfahren wieder ohne dem Staat zuzurechnende Verzögerungen betrieben worden. Mithin sei festzustellen, dass der Freiheitsentzug für die dargestellten Zeiträume aufgrund einer der Vollstreckungsbehörde und/oder der Justiz anzulastende Verzögerung rechtswidrig gewesen sei. Ob dies zu einer vorübergehenden Aussetzung der Vollstreckung der Sicherungsverwahrungsanordnung nach § 458 Abs. 1 StPO hätte führen müssen, könne dahinstehen. Die zwischenzeitliche Rechtswidrigkeit der Vollstreckung der Sicherungsverwahrungsanordnung führe jedenfalls nicht dazu, dass nunmehr die Maßregel zur Bewährung auszusetzen oder gar für erledigt zu erklären wäre. Diese Rechtswidrigkeit werde vielmehr durch die Entscheidung des Landgerichts vom 8. Juli 2014 und die vorliegende Entscheidung, mit denen festgestellt werde, dass der Zweck der Maßregel die Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers gebiete, wieder beseitigt.

16. Am 8. September 2014 wies das Oberlandesgericht die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers gegen seinen Beschluss vom 19. August 2014 zurück.

17. Am 18. Februar 2016 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 17. September 2014 (2 BvR 2339/14) zur Entscheidung anzunehmen. Zur Begründung führte es aus:

„[…] Soweit der Beschwerdeführer sich nach vollständiger Verbüßung der gegen ihn ergangenen Freiheitsstrafe am 9. November 2012 bis zum Beschluss des Landgerichts Q. vom 8. Juli 2014 – […] in faktischer Sicherungsverwahrung befand und die nicht rechtzeitige Entscheidung über den Vollzug der Unterbringung nicht auf Verzögerungen beruht, die dem Beschwerdeführer selbst zuzurechnen sind, liegt zwar eine Verletzung des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG vor. Diese wurde aber bereits mit Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. August 2014 […] ausdrücklich festgestellt. Ein schutzwürdiges Interesse des Beschwerdeführers auf nochmalige Feststellung der Verletzung seines Freiheitsrechtes durch das Bundesverfassungsgericht besteht nicht. […]“

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

18. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis sind in den Rechtssachen S. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 48038/06, Rdnrn. 48 bis 49, 24. November 2011), H.W. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 17167/11, Rdnrn. 38 bis 40 und Rdnrn. 43 bis 44, 19. September 2013), und B. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 23279/14, Rdnrn. 42-75, 7 Januar 2016) zusammengefasst.

19. Nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz ist die Freiheit der Person unverletzlich.

20. Nach der gefestigten Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte ergibt sich ein Schadenersatzanspruch gegen den Staat unmittelbar aus Artikel 5 Abs. 5 der Konvention, wenn einer Person unter Verletzung von Artikel 5 der Konvention die Freiheit entzogen wurde (siehe Bundesgerichtshof, III ZR 118/64, Urteil vom 31. Januar 1966, und III ZR 407/12, Urteil vom 9. September 2013). Der Anspruch besteht unabhängig von einem Verschulden seitens des im Auftrag des Staates handelnden Amtsträgers (ebda.). Die innerstaatlichen Gerichte legen einen auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention gestützten Anspruch dahingehend aus, dass die Gewährung echten Schadensersatzes an den Geschädigten bezweckt wird, der sowohl den materiellen als auch den immateriellen Schaden abdeckt (siehe Bundesgerichtshof, III ZR 3/92, Urteil vom 29. April 1993). Was den immateriellen Schaden angeht, schätzen die innerstaatlichen Gerichte die Höhe der zuzusprechenden Summe anhand der vom Gerichtshof in vergleichbaren Fällen zugesprochenen Beträge ein (siehe z. B. Bundesgerichtshof, III ZR 407/12, a. a. O.). Die Regelungen hinsichtlich der Verjährung deliktischer Ansprüche gelten analog für Ansprüche nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention (siehe Bundesgerichtshof, III ZR 118/64, a. a. O.; Oberlandesgericht, 15 W 2/12, Beschluss vom 9. April 2013; Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 414/04, Beschluss vom 6. Oktober 2004). Die dreijährige Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners erstmals Kenntnis erlangt hat (Anwendung gemäß § 195 und 199 Abs. 1 BGB).

RÜGE

21. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention, dass ihm ohne Rechtsgrundlage die Freiheit entzogen worden sei, weil die innerstaatlichen Gerichte nicht vor dem Ende seiner Freiheitsstrafe darüber entschieden hätten, ob die Vollstreckung der in dem Urteil des erkennenden Landgerichts M. vom 9. November 2004 gegen ihn ergangenen Sicherungsverwahrungsanordnung notwendig sei.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

22. Der Beschwerdeführer trug vor, dass er seine Freiheitsstrafe bereits am 9. November 2012 vollständig verbüßt habe, das Landgericht Q. den (weiteren) Vollzug der Sicherungsverwahrung jedoch erst am 8. Juli 2014 nach Zurückverweisung der Rechtssache angeordnet habe. Somit sei ihm ohne Rechtsgrundlage die Freiheit entzogen worden, weil er zwischen dem Ende seiner Freiheitsstrafe und der Entscheidung des Landgerichts in der Sicherungsverwahrung untergebracht worden sei. Er berief sich auf Artikel 5 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:

„(1) „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

23. Die Regierung erkannte an, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung vom 10. November 2012 bis zum 8. Juli 2014 gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe. Allerdings könne er nicht mehr behaupten, im Sinne des Artikels 34 der Konvention Opfer dieser Verletzung zu sein, denn das Oberlandesgericht und das Bundesverfassungsgericht hätten die Verletzung des Artikels 5 Abs. 1 der Konvention der Sache nach anerkannt. Diese Anerkennung reiche unter den Umständen des vorliegenden Falls als Wiedergutmachung der Konventionsverletzung aus und lasse die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers entfallen. Im vorliegenden Fall habe die Verletzung lediglich auf dem Verstoß gegen eine Fristenregelung beruht. Selbst wenn die innerstaatlichen Gerichte rechtzeitig entschieden hätten, hätten sie dennoch den (weiteren) Vollzug der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers angeordnet, weil seine weiterhin bestehende Gefährlichkeit zu keinem Zeitpunkt in Zweifel zu ziehen gewesen sei. Zudem hätte der Beschwerdeführer, gestützt auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention, vor den innerstaatlichen Gerichten eine Klage auf Entschädigung erheben können.

24. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass er nicht verpflichtet gewesen sei, sich zur Geltendmachung einer Entschädigung an die innerstaatlichen Gerichte zu wenden, und dass die Aussichten einer solchen Klage in jedem Fall ungewiss seien.

25. Der Gerichtshof weist auf die Rechtssache S. und M. ./. Deutschland (Individualbeschwerden Nrn. 8080/08 und 8577/08, ECHR 2011 (Auszüge)) hin, in der die Beschwerdeführer u. a. gerügt hatten, dass ihre Präventivhaft gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe; in Bezug auf die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe – die sich darauf stützte, dass die Beschwerdeführer vor den deutschen Gerichten keine Entschädigungsklage wegen ihrer angeblichen rechtswidrigen Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention erhoben hatten – hat der Gerichtshof dort Folgendes festgestellt:

„49. Nach der ständigen Rechtsprechung der Konventionsorgane ist eine Entschädigungsklage in einem Fall, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung geht, kein Rechtsbehelf, der erschöpft werden müsste, denn das Recht auf gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung und das Recht auf Erhalt einer Entschädigung für eine mit Artikel 5 nicht vereinbare Freiheitsentziehung sind zwei getrennte Rechte (siehe u. a. Włoch ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 27785/95, Rdnr. 90, ECHR 2000-XI; Belchev ./. Bulgarien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 39270/98, 6. Februar 2003; und Khadisov und Tsechoyev ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 21519/02, Rdnr. 151, 5. Februar 2009, mit weiteren Nachweisen). In Artikel 5 Abs. 1 der Konvention geht es um das erstgenannte, und in Artikel 5 Abs. 5 um das letztgenannte Recht (Khadisov und Tsechoyev, a. a. O. Rdnr. 151).

50. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerdeführer vor dem Gerichtshof gerügt haben, dass ihre Präventivhaft während des G8-Gipfels Artikel 5 Abs. 1 verletzt habe, und dass sie die Rechtmäßigkeit der Anordnung der Ingewahrsamnahme zuvor vor allen zuständigen innerstaatlichen Gerichten gerügt hatten. Nach seiner Rechtsprechung haben sie im Hinblick auf ihre Rüge nach Artikel 5 Abs. 1 den innerstaatlichen Rechtsweg daher erschöpft. Die Einrede der Regierung wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs ist daher zurückzuweisen.“

26. In der vorliegenden Rechtssache rügte der Beschwerdeführer keine Verletzung des Artikels 5 Abs. 5 der Konvention, sondern die Rechtswidrigkeit seiner Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention (siehe Rdnr. 21). Vor diesem Hintergrund und im Lichte der vorgenannten Feststellung im Fall S. und M. nimmt der Gerichtshof die Entscheidung der Regierung zur Kenntnis, keine Einrede wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu erheben, obwohl der Beschwerdeführer den nach dem innerstaatlichen Recht gängigen Weg, mit dem ein Entschädigungsanspruch unmittelbar nach Artikel 5 Abs. 5 der Konvention geltend gemacht werden kann, nicht beschritten hat. Zugleich trug die Regierung vor, dass die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers entfallen sei (siehe Rdnr. 23).

27. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass es primär den innerstaatlichen Behörden obliegt, Wiedergutmachung für Verstöße gegen die Konvention zu leisten. Eine Entscheidung oder Maßnahme zugunsten des Beschwerdeführers reicht grundsätzlich nicht aus, um ihm die Opfereigenschaft im Sinne von Artikel 34 der Konvention abzuerkennen, es sei denn, die innerstaatlichen Behörden haben die Konventionsverletzung ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und sodann Wiedergutmachung geleistet. Im Hinblick auf die Wiedergutmachung, die geeignet und ausreichend ist, um einer Verletzung eines Konventionsrechts auf innerstaatlicher Ebene abzuhelfen, hat der Gerichtshof im Allgemeinen die Auffassung vertreten, dass dies von den Gesamtumständen des Falls abhängt, wobei insbesondere die Art der festgestellten Konventionsverletzung zu berücksichtigen ist (G. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 22978/05, Rdnrn. 115 bis 116, ECHR 2010, mit weiteren Nachweisen).

28. Der Gerichtshof hat bereits Fälle entschieden, in denen er eine Verletzung des Artikels 5 Abs. 1 der Konvention festgestellt hat, weil die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte über den (weiteren) Vollzug der Sicherungsverwahrung nicht unter Einhaltung der entsprechenden Fristen ergangen war (siehe S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 48038/06, 24. November 2011; H.W. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17167/11, 19. September 2013). In diesen Fällen war er nicht der Auffassung, dass die Feststellung einer Verletzung bereits eine hinreichende gerechte Entschädigung darstellt, sondern sprach Entschädigungen für den immateriellen Schaden zu (S., a. a. O., Rdnr. 116; H.W. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 126). Der Gerichtshof sieht keinen Grund, in der vorliegenden Rechtssache anders zu entscheiden. Dementsprechend vertritt er die Auffassung, dass die Anerkennung einer Verletzung des Artikels 5 Abs. 1 der Konvention durch die innerstaatlichen Gerichte an sich noch keine hinreichende Wiedergutmachung für diesen Verstoß darstellt und die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers im Sinne des Artikels 34 der Konvention nicht entfallen lässt. Hierfür wäre eine angemessene Entschädigung für den immateriellen Schaden erforderlich (siehe Scordino ./. Italien (Nr. 1) [GK], Individualbeschwerde Nr. 36813/97, Rdnr. 202, ECHR 2006‑V; Moskovets ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 14370/03, Rdnr. 50, 23. April 2009; Jensen und Rasmussen ./. Dänemark (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 52620/99, 20. März 2003).

29. Der Gerichtshof bleibt zwar bei diesem Ansatz, merkt aber an, dass unter bestimmten Umständen es als hinreichende Wiedergutmachung im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 34 der Konvention anerkannt werden kann, wenn im innerstaatlichen Recht ein eindeutiger und gängiger Weg zur Geltendmachung einer angemessenen Entschädigung vorgesehen ist. In solchen Fällen wäre es nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip, das zum Kernbestand des Konventionssystems gehört, zu vereinbaren, eine Einrede wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe nicht zu gestatten und gleichzeitig den Wegfall der Opfereigenschaft mangels hinreichender Wiedergutmachung zu verneinen (siehe sinngemäß Daniel-P S.A. ./. Moldau (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 32846/07, §§ 23-25, 20 March 2012). Denn die Anerkennung und Wiedergutmachung eines Verstoßes gegen die Konvention ist üblicherweise gerade das Ergebnis der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe (siehe Cazacliu u. a. ./. Rumänien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 63945/09, Rdnr. 120, 4. April 2017).

30. Insoweit obliegt es nach Ansicht des Gerichtshofs den einzelnen Vertragsparteien zu bestimmen, auf welchem Weg eine solche Entschädigung auf innerstaatlicher Ebene erfolgt. Nach deutschem Recht kann eine Entschädigung nicht vom Bundesverfassungsgericht zugesprochen werden. Jedoch gibt es eindeutige und gefestigte Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte, wonach eine Person, der unter Verstoß gegen Artikel 5 der Konvention die Freiheit entzogen ist, vor den Fachgerichten einen Entschädigungsanspruch, auch in Bezug auf den immateriellen Schaden, gegen den beschwerdegegnerischen Staat geltend machen kann (siehe Rdnr. 20). Im vorliegenden Fall sind drei Faktoren maßgeblich. Sowohl das Oberlandesgericht als auch das Bundesverfassungsgericht haben anerkannt, dass die Verzögerung bei der Anordnung des (weiteren) Vollzugs der Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers dazu führte, dass seine faktische Freiheitsentziehung rechtswidrig war und gegen sein Recht auf Freiheit verstieß (siehe Rdnrn. 15 und 17 und im Gegensatz dazu die Rechtssache S. und M., a. a. O., in der die innerstaatlichen Gerichte einen Verstoß gegen die Rechte der Beschwerdeführer nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht anerkannt haben). Ein auf Artikel 5 Abs. 5 der Konvention basierender innerstaatlicher Entschädigungsanspruch war mit keinen zusätzlichen Erfordernissen verbunden. Wäre ein solcher Anspruch geltend gemacht worden, hätten die innerstaatlichen Gerichte die Entschädigungshöhe anhand der vom Gerichtshof in ähnlichen Fällen zugesprochenen Beträge eingeschätzt. Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer zuzumuten gewesen wäre, sich an die innerstaatlichen Gerichte zu wenden, um eine Entschädigung für den anerkannten Verstoß gegen seine Rechte nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention zu erlangen, statt diesen Gerichtshof anzurufen, um sich die bereits anerkannte Rechtswidrigkeit seiner Freiheitsentziehung bestätigen zu lassen.

31. Die vorstehenden Ausführungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass der Beschwerdeführer nicht mehr behaupten kann, im Sinne des Artikels 34 der Konvention Opfer einer Verletzung des Artikels 5 Abs. 5 der Konvention zu sein. Daher ist die Individualbeschwerde nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 17. Januar 2019.

Claudia Westerdiek                             André Potocki
Kanzlerin                                            Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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