ALTERNATIVE FUR DEUTSCHLAND (AFD) gegen Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 57939/18) (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 57939/18
X.
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 11. Juni 2019 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin

André Potocki, Präsident,
Angelika Nußberger und
Mārtiņš Mits
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 7. Dezember 2018 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

Bei der Beschwerdeführerin, X., handelt es sich um eine deutsche politische Partei. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn C., Rechtsanwalt in K., vertreten.

A. Die Umstände des Falles

1. Der Sachverhalt, so wie er von der beschwerdeführenden Partei dargelegt worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Die Beschwerdeführerin

2. Die beschwerdeführende Partei wurde am 6. Februar 2013 gegründet. Sie ist seither bei Wahlen zum Europäischen Parlament sowie bei Bundes- und Landtagswahlen angetreten. Seit der letzten Europawahl im Jahr 2014 ist sie im Europäischen Parlament vertreten. Seit der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017 ist sie im Bundestag vertreten.Sie ist auch in allen 16 Landesparlamenten vertreten.

2. Das Bundesamt für Verfassungsschutz

3. Das der Aufsicht des Bundesministeriums des Innern unterstehende Bundesamt für Verfassungsschutz ist für die Sammlung von Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen verantwortlich. Es erfüllt diese Aufgabe durch systematische Beobachtung öffentlich zugänglicher Quellen. Das Amt kann unter weiteren Voraussetzungen auch zu nachrichten­dienstlichen Mitteln greifen, beispielswiese der (geheimen) Sammlung und Verarbeitung personenbezogener Daten, dem Einsatz von verdeckten Ermittlern und Vertrauensleuten sowie der Brief- und Telefonüberwachung. Darüber hinaus informiert das Bundesamt für Verfassungsschutz die Öffentlichkeit, wenn hinreichende Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen erkennbar sind.

3. Öffentliche Erklärungen zur Beobachtung der Beschwerdeführerin

4. Die Leiter der Verfassungsschutzbehörden, zu denen nicht nur das Bundesamt für Verfassungsschutz, sondern auch die verschiedenen Landesbehörden für Verfassungsschutz gehören, gaben bei ihrer Tagung im März 2018 eine Erklärung heraus, die besagte, dass es aktuell keine Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen seitens der beschwerdeführenden Partei gebe. Sie führten jedoch aus, dass die Behörden die beschwerdeführende Partei und ihre Aktivitäten, Äußerungen aus dem Kreis ihrer Mitglieder und ihr nahestehender Organisationen sowie eine eventuelle Zusammenarbeit mit extremistischen Gruppen als Prüffall ständig beobachteten. Nachdem es Ende August 2018 zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, die in C. am auffälligsten waren und sich insbesondere gegen Migranten und die Migrationspolitik der Bundesregierung richteten, stieg der öffentliche Druck, aktiv gegen den wachsenden Einfluss von Rechtsextremisten vorzugehen. Im Oktober 2018 teilte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz in einer Anhörung vor dem Bundestag mit, dass das Amt in Zusammenarbeit mit den anderen Verfassungsschutzbehörden aktiv Informationen sammle, um bis zum Ende des Jahres darüber entscheiden zu können, ob die beschwerdeführende Partei, Teile der beschwerdeführenden Partei oder einzelne Mitglieder der beschwerdeführenden Partei zu überwachen seien.

4. Weitere Entwicklungen

5. Am 15. Januar 2019 kündigte das Bundesamt für Verfassungsschutz in einer offiziellen Pressemitteilung an, dass die Jugendorganisation der beschwerdeführenden Partei, die „Y.“, sowie eine Untergruppierung der beschwerdeführenden Partei namens „Z.“ als Verdachtsfall eingestuft würden. Es gebe hinreichende Anhaltspunkte für eine migrationsfeindliche und antimuslimische Einstellung, ihre Programme enthielten klar menschenverachtende Positionen und Mitglieder der Untergruppe hätten Verbindungen zu extremistischen Gruppen. Gleichzeitig gab das Amt in seiner Mitteilung an, dass die Einstufung als Verdachtsfall sich nicht auf die beschwerdeführende Partei insgesamt beziehe, dass das Amt die beschwerdeführende Partei jedoch weiterhin als Prüffall behandeln werde.

6. Am 26. Februar 2019 entschied das Verwaltungsgericht zugunsten der beschwerdeführenden Partei, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die Beschwerdeführerin nicht öffentlich als Prüffall bezeichnen dürfe. Das Gericht befand, dass die Bezeichnung der beschwerdeführenden Partei als Prüffall einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, da sie geeignet sei, die Chancen der Beschwerdeführerin im politischen Wettbewerb zu mindern. Das Bundesverfassungsschutzgesetz, insbesondere § 16 Abs. 1 BVerfSchG (siehe Rdnr. 11), biete keine derartige Grundlage, denn es erlaube nachrichtendienstliche Tätigkeiten nur im Falle eines Verdachts auf verfassungsfeindliche Bestrebungen, nicht jedoch im Prüffall.

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

1. Grundgesetz

7. Die maßgeblichen Bestimmungen des Grundgesetzes lauten wie folgt:

Artikel 21 [Politische Parteien]

„(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.

(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht. […]“

Artikel 93 [Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts]

„(1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet:

1. über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind;

[…]

4. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein;

[…]“

2. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz

8. Im Hinblick auf Verfassungsbeschwerden lauten die einschlägigen Bestimmungen wie folgt:

§ 13

„Das Bundesverfassungsgericht entscheidet […]

8. über Verfassungsbeschwerden (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b des Grundgesetzes) […]“

§ 90

„(1) Jedermann kann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, Artikel 33, 38, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erheben.

(2) Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden. Das Bundesverfassungsgericht kann jedoch über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, wenn sie von allge­meiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde.“

9. Im Hinblick auf Organstreitverfahren lauten die einschlägigen Bestimmungen wie folgt:

§ 13

„Das Bundesverfassungsgericht entscheidet […]

5. über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes) […]“

§ 63

„Antragsteller und Antragsgegner können nur sein: der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe.“

3. Die Verwaltungsgerichtsordnung

10. Die einschlägigen Bestimmungen der Verwaltungsgerichtsordnung lauten wie folgt:

§ 40

„(1) Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts können einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden.“

4. Das Bundesverfassungsschutzgesetz

11. Die einschlägige, in dieser Form seit 21. November 2015 anwendbare Bestimmung lautet wie folgt:

§ 16

„(1) Das Bundesamt für Verfassungsschutz informiert die Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten nach § 3 Absatz 1, soweit hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte hierfür vorliegen […].“

5. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

12. In seinem von der beschwerdeführenden Partei angeführten Beschluss vom 24. Mai 2005, Az. 1 BvR 1072/01, vertrat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, dass eine auf § 15 Abs. 2 des anwendbaren Landesverfassungsschutzgesetzes basierende Information der Öffentlichkeit über den Verdacht auf verfassungsfeindliche Bestrebungen eines Verlags unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Grundrecht auf Pressefreiheit aus Artikel 5 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes vereinbar sei. In diesem Beschluss vertrat das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus die Auffassung, dass diese Voraussetzungen entgegen den Annahmen der Verwaltungsgerichte im bisherigen innerstaatlichen Verfahren unter den konkreten Umständen des Falles nicht vorlägen.

13. Ferner hat das Bundesverfassungsgericht stets die Auffassung vertreten, dass sich politische Parteien in Verfassungsbeschwerdeverfahren im Sinne von Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a des Grundgesetzes auf Grundrechte berufen können, jedoch nur auf die, welche ihnen ungeachtet ihrer besonderen verfassungsmäßigen Stellung nach Artikel 21 des Grundgesetzes zustehen. Gleichzeitig sieht das Bundesverfassungsgericht politische Parteien häufig als nach Artikel 21 des Grundgesetzes mit eigenen verfassungsmäßigen Rechten ausgestattete Organe an, die gemäß Artikel 93 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes Zugang zu Organstreitverfahren haben (siehe, mit weiteren Nachweisen, Beschluss vom 17. Juni 2006, Az. 2 BvR 383/03, und N../.Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 55977/13, Rdnr. 18, 4. Oktober 2016).

6. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts

14. Die Verwaltungsgerichte sehen Streitigkeiten zwischen Einzelpersonen und Verfassungsschutzbehörden über die Information der Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen im Allgemeinen als öffentlich-rechtliche Streitigkeiten im Sinne von § 40 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung an (vgl. z. B. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21. Mai 2008, Az. 6 C 13/07).

15. In seinem von der Beschwerdeführerin angeführten Urteil vom 26. Juni 2013, Az. 6 C 4/12, befand das Bundesverwaltungsgericht, dass es das Bundesverfassungsschutzgesetz in seiner damaligen Fassung dem Ministerium des Innern nicht erlaube, die Öffentlichkeit über den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen einer politischen Organisation, die sich an einer Kommunalwahl beteiligt hatte und im Stadtrat vertreten war, zu informieren, wenn hierfür lediglich tatsächliche Anhaltspunkte, nicht aber verlässliche Nachweise vorlägen. In diesem Urteil vertrat das Bundesverwaltungsgericht in einer allgemeineren Bemerkung die Auffassung, dass eine Unterrichtung der Öffentlichkeit über Verdachtsfälle materiellrechtlich mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

RÜGEN

16. Die beschwerdeführende Partei rügte nach den Artikeln 10 und 11 der Konvention sowie nach Artikel 14 in Verbindung mit den Artikeln 10 und 11 der Konvention, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz kurz davorstehe, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass die beschwerdeführende Partei als Verdachtsfall eingestuft werde, was einer Stigmatisierung und einem de-facto-Verbot gleichkomme. Als Beispiel hierfür nannte die beschwerdeführende Partei die politische Partei „Q.“, deren Niedergang auf eine derartige Stigmatisierung zurückzuführen gewesen sei, die sich erst im Nachhinein als unrechtmäßig erwiesen habe. Darüber hinaus rügte sie nach den Artikeln 6 und 13 der Konvention, dass ihr kein wirksamer Rechtsbehelf auf nationaler Ebene zur Verfügung stehe, um sich gegen die Information der Öffentlichkeit zu wehren.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

17. Bezüglich der Rügen nach den Artikeln 10 und 11 der Konvention sowie nach Artikel 14 in Verbindung mit den Artikeln 10 und 11 der Konvention hat der Gerichtshof Zweifel daran, dass die Beschwerdeführerin, deren Antrag zum Verwaltungsgericht – der in Bezug auf die explizite Bezeichnung als „Prüffall“ in der offiziellen Pressemitteilung vom 15. Januar 2019 und somit nach der Einlegung dieser Individualbeschwerde gestellt wurde – Erfolg hatte (siehe Rdnrn. 5 bis 6), noch gelten machen kann, im Sinne von Artikel 34 der Konvention Opfer einer Konventionsverletzung zu sein. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass die Beschwerdeführerin vor dem Verwaltungsgericht anscheinend nur rügte, öffentlich als „Prüffall“ eingestuft zu werden, also auf einer Ebene unterhalb des Verdachtsfalls beobachtet zu werden, wogegen sie vor dem Gerichtshof rügte, bald öffentlich als „Verdachtsfall“ eingestuft zu werden, d. h. auf der Ebene des Verdachtsfalls beobachtet zu werden. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die Frage, ob sich die Entscheidung des Verwaltungsgerichts auf den Opferstatus der beschwerdeführenden Partei auswirkt, in Anbetracht des jeweiligen Inhalts der Rügen vor dem Verwaltungsgericht und dem Gerichtshof offen gelassen werden kann, weil die Beschwerde in jedem Fall aus den nachfolgend aufgeführten Gründen unzulässig ist.

18. Obwohl sie vorher überhaupt noch keinen innerstaatlichen Rechtsbehelf eingelegt hatte, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass der innerstaatliche Rechtsweg gemäß Artikel 35 Abs. 1 der Konvention erschöpft sei. Sie sei nicht verpflichtet, einen Rechtsbehelf einzulegen, ohne über die Kenntnisse zu verfügen, die ihr die Anfechtung der Rechtmäßigkeit einer Handlung ermöglichen würden (sie verwies auf Akpınar und Altun ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 56760/00, Rdnr. 42, 27. Februar 2007); die innerstaatliche Regelung billige jedoch nur natürlichen Personen das Recht zur Einsicht der vom Bundesamt für Verfassungsschutz verarbeiteten Daten zu, nicht jedoch der Beschwerdeführerin als politischer Partei. Darüber hinaus sei sie nicht verpflichtet, Rechtsbehelfe einzulegen, die keine hinreichenden Erfolgsaussichten böten (sie verwies u. a. auf Dulaş ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 25801/94, 30. Januar 2001). Die innerstaatlichen Gerichte hätten klar die Auffassung geäußert, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die Öffentlichkeit in Fällen des Verdachts auf verfassungsfeindliche Bestrebungen unterrichten dürfe, wie sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2005, Az. 1 BvR 1072/01, sowie der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 2013, Az. 6 C 4/12, ergebe. Zwar hätten beide Gerichte in diesen Verfahren zugunsten der Kläger entschieden, jedoch sei zu beachten, dass das Bundesverfassungsschutzgesetz damals keine hinreichende Rechtsgrundlage geboten habe. Später sei jedoch § 16 Abs. 1 des Gesetzes überarbeitet und auf eine Weise neu formuliert worden, die nunmehr die Erfordernisse erfülle, welche die beiden Gerichte formuliert hätten.

19. Der Gerichtshof weist erneut auf seine Rechtsprechung zur Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs hin, die in jüngster Zeit in der Rechtssache Mendrei ./. Ungarn ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 54927/15, Rdnrn. 23 bis 26, 19. Juni 2018, mit weiteren Nachweisen) zusammengefasst wurde.

20. Im Hinblick auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die Streitigkeit zwischen der Beschwerdeführerin und dem Bundesamt für Verfas­sungsschutz gemäß § 40 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung und der (in Rdnr. 14 zitierten) verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte fallen würde, da sie öffentlich-rechtlicher Art ist. Ob eine Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a des Grundgesetzes in Verbindung mit § 13 Nr. 8 und § 90 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes nach Erschöpfung des verwaltungsgerichtlichen Rechtswegs zulässig wäre, scheint nach der angeführten Rechtsprechung u. a. von den konkreten Rügen abzuhängen, insbesondere davon, ob diese sich auf die allgemeineren Grundrechte des Grundgesetzes oder die konkretere Garantie in Artikel 21 des Grundgesetzes stützen. Schließlich scheint es sich bei der Streitigkeit nicht um eine „Streitigkeit zwischen Staatsorganen“ zu handeln, denn das Bundesamt für Verfassungsschutz ist kein solches Staatsorgan und die Streitigkeit betrifft nicht das Verhältnis zwischen der beschwerdeführenden Partei und dem Ministerium des Innern, dem Staatsorgan, das die Aufsicht über das Bundesamt für Verfassungsschutz ausübt.

21. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof darüber zu entscheiden, ob die beschwerdeführende Partei überzeugend dargelegt hat, dass die im innerstaatlichen System vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfe nicht zugänglich und wirksam waren. Bezüglich des Vorbringens der beschwerdeführenden Partei, mangels Kenntnis des einschlä­gigen Sachverhalts und mangels Akteneinsicht sei es ihr nicht möglich gewesen ein (verwaltungsrechtliches) Rechtsmittel zu substantiieren, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das innerstaatliche Verfahren entsprechend den Vorbringen der beschwerdeführerendenPartei vor dem Gerichtshof nicht die Zulässigkeit von Überwachungsmaßnahmen an sich, sondern eher die Informationstätigkeit des Bundesamts für Verfassungsschutz betreffen würde. Der Gerichtshof ist nicht davon überzeugt, dass die Fähigkeit der beschwerdeführenden Partei, geltend zu machen, die Informationstätigkeit sei unrechtmäßig, durch fehlende Kenntnisse über die beantragten Überwachungsmaßnahmen eingeschränkt wäre. Die beiden Fragen sind nicht derart miteinander verbunden oder voneinander abhängig, wie die beschwerdeführende Partei dies vorbringt.

22. In Bezug auf das Vorbringen der beschwerdeführenden Partei, in Anbetracht der Rechtsprechung der höchsten innerstaatlichen Gerichte sei jeder Rechtsbehelf sinnlos, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die beschwerdeführende Partei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts anführte, in denen diese Gerichte tatsächlich befanden, dass eine Information der Öffentlichkeit über Verdachtsfälle verfassungsfeindlicher Bestrebungen –wobei es in einem der beiden Fälle um eine zumindest teilweise politisch tätige Organisation ging –grundsätzlich und unter bestimmten Voraussetzungen aus der Perspektive des Bundesverfassungsschutzgesetzes und des Grund­gesetzes zulässig sei. Gleichzeitig basiert die Einschätzung der beiden Gerichte, dass diese Bedingungen unter den Umständen der Rechtssache anscheinend nicht erfüllt seien, jedoch offensichtlich auf einer strengen Prüfung. Da sie keine innerstaatlichen Rechtsbehelfe einlegte, hat die beschwerdeführende Partei die Möglichkeit, auch in diesem Fall eine solche strenge Prüfung vornehmen zu lassen, nicht hinreichend genutzt. Außerdem stellt der Gerichtshof fest, dass die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts anders formulierte Bestimmungen betrafen und sich auf Zeiträume bezogen, in denen § 16 Abs. 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes in der angewandten Fassung noch nicht in Kraft getreten war. Daher hat die beschwerdeführende Partei keine sich auf die anwendbaren Bestimmungen beziehende Rechtsprechung angeführt. Schließlich stellen die auf die Einlegung der vorliegenden Beschwerde folgenden Ereignisse, insbesondere die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 26. Februar 2019, einen klaren Nachweis für die Wirksamkeit der vorgesehenen Rechtsbehelfe dar. Vor diesem Hintergrund kann der Gerichtshof nicht feststellen, dass die im innerstaatlichen System vorgesehenen Rechtsbehelfe keine hinreichende Erfolgsaussicht bieten.

23. Im Lichte der vorstehenden Erwägungen ist der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass es keine zugänglichen und wirksamen Rechtsbehelfe gab, oder dass besondere Umstände vorlagen, welche die beschwerdeführende Partei von ihrer Pflicht entbunden hätten, von diesen Rechtsbehelfen Gebrauch zu machen. Dementsprechend sind die Rügen nach den Artikeln 10 und 11 der Konvention sowie nach Artikel 14 in Verbindung mit den Artikeln 10 und 11 der Konvention nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe zurückzuweisen.

24. Was die nach den Artikeln 6 und 13 erhobene Rüge wegen nichtvorhandener Rechtsbehelfe betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass der beschwerdeführenden Partei innerstaatliche Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen und sie darüber hinaus aktuell von ihnen Gebrauch macht. Diese Rüge ist daher offensichtlich unbegründet im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention und ist nach Artikel 35 Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 4. Juli 2019.

Milan Blaško                                      André Potocki
Stellvertretender Sektionskanzler         Präsident

Zuletzt aktualisiert am November 10, 2020 von eurogesetze

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