Chernega u.a. gg. die Ukraine – 74768/10 (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte)

Urteil vom 18.6.2019, Sektion IV

Sachverhalt

Die elf Bf. beteiligten sich zwischen 20.5. und 6.7.2010 an Protesten gegen den Bau einer Straße und das damit verbundene Fällen von Bäumen im Gorky Park in Charkiw. Die städtische Bauabteilung hatte einen Generalunternehmer mit den Bauarbeiten beauftragt. Dieser schloss einen Vertrag über die Bewachung der Baustelle mit dem im Eigentum der Stadtverwaltung stehenden privaten Unternehmen »Kommunale Wache« (im Folgenden: KW). Außerdem beauftragte der Generalunternehmer das private Sicherheitsunternehmen »P-4« damit, ab 28.5.2010 Unbefugte am Betreten der Baustelle zu hindern. Beide Unternehmen verfügten über eine vom Innenministerium erteilte Genehmigung zur Erbringung privater Sicherheitsdienstleistungen.

Das Fällen der Bäume, das am 20.5.2010 begann, war von Protesten begleitet. Einige der Demonstranten versuchten, die Arbeiten aktiv zu behindern, indem sie auf die Bäume kletterten oder sich vor Baumaschinen stellten. Ungeachtet dieser Protestaktionen wurden die Arbeiten fortgesetzt. Die privaten Sicherheitskräfte versuchten, die Demonstranten abzudrängen, wobei es immer wieder zu Zusammenstößen kam. Die vor Ort anwesende Polizei blieb im Wesentlichen passiv. Der Großteil der Proteste wurde am 2.6.2010 beendet, allerdings setzten einige der Demonstranten ihre Blockadetaktik bis Mitte August fort.

Die Bf., die sich an den Protesten beteiligten, behaupteten eine Reihe von Übergriffen auf sie selbst und andere Demonstranten durch privates Sicherheitspersonal und Holzfäller. Sie brachten insbesondere vor, der NeuntBf. wäre am 27.5.2010 von Unbekannten geschlagen worden. Am 31.5.2010 wäre die SiebtBf. von Männern angegriffen worden, die Abzeichen der KW trugen. Des Weiteren behaupten sie, der DrittBf. wäre am 2.6.2010 von einem Holzfäller mit einer Kettensäge bedroht worden.

Am 28.5.2010 wurden die Bf. Nr. 1-5, 8 und 10 gemeinsam mit weiteren Demonstranten festgenommen. Ihnen wurde vorgeworfen, den wiederholten Aufforderungen der Polizei, die Baustelle zu verlassen, keine Folge geleistet zu haben. Nach ihren weitgehend übereinstimmenden Aussagen wäre ihnen nicht bewusst gewesen, dass sie sich in einem abgesperrten Bereich befunden hätten. Sie wären von schwarzgekleideten Männern mit Abzeichen eingekreist und anschließend von der Polizei festgenommen worden. Der ErstBf. und der ZweitBf. wurden am 9.6.2010 zu fünfzehn Tagen Haft verurteilt. Die Strafe wurde sofort vollstreckt. Am 18.6.2010 bestätigte das Berufungsgericht diese Entscheidung in einer Verhandlung, an der zwar ihr Anwalt, nicht aber die Bf. selbst teilnehmen konnten. Das Gericht reduzierte die Strafe auf neun Tage Haft, was die Freilassung der Bf. am selben Tag nach sich zog. Über den DrittBf. und den ViertBf. wurden Geldbußen in der Höhe von umgerechnet zwischen € 14,– und € 17,– verhängt. Die Verwaltungsstrafverfahren gegen die übrigen Bf. wurden eingestellt.

Der SechstBf. wurde am 6.7.2010 festgenommen und wegen der Missachtung polizeilicher Anordnungen angeklagt. Er räumte im Verfahren ein, sich den Anordnungen bewusst widersetzt zu haben und so bald als möglich auf die Baustelle zurückkehren zu wollen. Das BG verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen. Dieses Urteil wurde vom Berufungsgericht bestätigt.

Einige der Bf. beschwerten sich bei den Sicherheitsbehörden darüber, von Holzfällern und unbekannten Männern angegriffen worden zu sein, die schwarz gekleidet waren und Abzeichen der KW getragen hatten. Die Staatsanwaltschaft entschied am 9.8.2010, das Verfahren einzustellen. Auch die Behauptungen der SiebtBf. und des NeuntBf., misshandelt worden zu sein, zogen keine strafrechtlichen Ermittlungen nach sich. Nachdem die Polizei am 13.8.2010 eine Untersuchung der Beschwerde der SiebtBf. abgelehnt hatte, behob das BG diese Entscheidung am 20.3.2012. Die SiebtBf. wurde über den weiteren Verlauf des Verfahrens nicht informiert. Am 20.8.2010 entschied die Polizei, auch im Hinblick auf die Behauptungen des NeuntBf. kein Strafverfahren einzuleiten.

Ein von den Bf. und weiteren Demonstranten angestrengtes Verfahren, in dem sie den fehlenden polizeilichen Schutz ihrer friedlichen Versammlung geltend machten, war zur Zeit der letzten Stellungnahme der Bf. an den GH noch anhängig.

Rechtsausführungen

Die Bf. behaupteten Verletzungen von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung), Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 11 EMRK (hier: Versammlungsfreiheit) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

I. Zum Status der Beschäftigten, die an den Ereignissen im Gorky Park beteiligt waren

(125) […] Ein Mitgliedstaat ist nach der EMRK für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, die durch Handlungen seiner Organe in Ausübung ihrer Pflichten verursacht werden. Wenn das Verhalten eines staatlichen Organs rechtswidrig ist, muss anhand der Gesamtumstände […] beurteilt werden, ob die umstrittenen Handlungen dem Staat zugerechnet werden können […].

(126) […] Ob eine Person im Hinblick auf die Konvention als staatliches Organ anzusehen ist, wird anhand einer Vielzahl an Faktoren bestimmt, von denen keiner für sich alleine entscheidend ist. Die Schlüsselkriterien zur Entscheidung, ob ein Staat für die Handlungen einer Person – sei sie offiziell ein öffentlicher Beamter oder nicht – verantwortlich ist, sind die folgenden: Art der Bestellung, Überwachung und Rechenschaftspflicht sowie Ziele, Befugnisse und Funktionen der fraglichen Person.

(127) Zudem kann die Duldung der Handlungen von Privatpersonen, die die Konventionsrechte anderer Personen […] verletzen, durch die Behörden eines Mitgliedstaats oder ihr Gewährenlassen die Verantwortung dieses Staates nach der Konvention nach sich ziehen. Ein Staat kann auch zur Rechenschaft gezogen werden, wenn seine Organe ultra vires oder entgegen ihren Anweisungen handeln.

(128) […] Die Befehlsbefugnisse der Mitarbeiter der KW, um die es im vorliegenden Fall geht, beruhten auf einer Lizenz, die jedem kommerziellen Unternehmen erteilt werden kann, das Sicherheitsund Wachdienste anbietet. In dieser Hinsicht unterschied sich eine solche Lizenz nicht von jener privater Wachleute. Auch wenn das Unternehmen zur Gänze im Eigentum der Stadt stand, unterschied es sich insofern von kommunalen Einrichtungen, als es im Gegensatz zu diesen kommerziellen Aktivitäten nachging, die weitgehend privatrechtlichen Regeln unterworfen waren. Dies wird durch die Tatsache weiter veranschaulicht, dass das Unternehmen und seine Mitarbeiter von einer privatrechtlichen Einrichtung, nämlich dem Generalunternehmer, mittels eines privatrechtlichen Vertrags engagiert worden waren, um die Baustelle zu bewachen. Diese Überlegungen reichen allerdings nicht aus, um den Staat von seiner konventionsrechtlichen Verantwortung für die Handlungen der Wachleute zu befreien.

(129) Der GH erinnert an sein Urteil Basenko/UA, in dem er den Staat für die Handlungen eines Fahrscheinkontrolleurs verantwortlich gemacht hat, der wie das Personal der KW im vorliegenden Fall ein Angestellter eines kommunalen Unternehmens war, den das innerstaatliche Recht zur Anwendung eines gewissen Grads von Zwang ermächtigte. In diesem Fall wies der GH das Argument der Regierung zurück, sie wäre für die Handlungen dieses Angestellten nicht verantwortlich, weil dieser, als er den Bf. verletzte, ultra vires gehandelt hatte und nicht wegen eines Dienstvergehens, sondern wegen einer in seiner Eigenschaft als Privatperson begangenen Straftat verurteilt worden war. Der GH betonte, dass die Einordnung von Handlungen nach dem innerstaatlichen Recht nicht entscheidend sein kann für die Frage der Zuordnung der Verantwortung nach der Konvention.

(130) Zudem […] waren während einiger der wichtigsten Ereignisse, an denen Mitarbeiter der KW und andere Wachleute beteiligt waren, Polizisten anwesend und diese scheinen passiv geblieben zu sein […]. Nach der Rechtsprechung des GH könnte dieser Faktor allein in bestimmten Kontexten für die Zuordnung der Verantwortung zum belangten Staat ausreichend sein.

(131) Daher findet der GH […], dass die Handlungen der Wachleute dem belangten Staat zurechenbar sind.

(132) Angesichts seiner unten getroffenen Feststellungen (siehe insbesondere Rn. 147, 212 und 216) erachtet es der GH nicht als notwendig zu entscheiden, ob auch die Handlungen der Holzfäller dem belangten Staat zugerechnet werden können.

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK

(133) Die Bf. Nr. 3, 7 und 9 behaupten, sie wären von den Wachleuten und Holzfällern misshandelt worden und der belangte Staat habe es verabsäumt, sie davor zu schützen und ihre diesbezüglichen Beschwerden effektiv zu untersuchen. […]

1. Zulässigkeit

(145) Was den DrittBf. angeht, sieht der GH keinen Grund dafür, die Schlussfolgerung der innerstaatlichen Behörden in Zweifel zu ziehen, wonach er sich am 2.6.2010 aktiv der laufenden Kettensäge genähert und ihn der Arbeiter nicht bedroht hatte. […]

(146) […] Dass er sich dieser Gefahr aussetzte, kann daher nicht den Handlungen [des Arbeiters] zugerechnet werden. […] Es stand dem DrittBf. in jedem Fall frei, jede aus dieser Situation resultierende Gefahr zu vermeiden, indem er sich zurückzog. […]

(147) Die Beschwerde des DrittBf. ist daher offensichtlich unbegründet und somit […] [als unzulässig] zurückzuweisen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

(148) Im Gegensatz dazu sind die Beschwerden der SiebtBf. und des NeuntBf. nicht […] offensichtlich unbegründet. Sie sind auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig. Dieser Teil der Beschwerde muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache

a. Substantieller Aspekt der Beschwerde

(149) Der GH erinnert daran, dass eine Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um in den Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK zu fallen. […]

(150) Er ruft weiters in Erinnerung, dass […] die Staaten eine positive Verpflichtung trifft sicherzustellen, dass ihrer Hoheitsgewalt unterstehende Personen vor allen Formen einer gemäß Art. 3 EMRK verbotenen Misshandlung geschützt werden, einschließlich solcher Behandlungen, die von Privatpersonen ausgehen. […]

(151) Behauptungen einer Misshandlung müssen von angemessenen Beweisen unterstützt werden. Bei der Einschätzung dieser Beweise folgt der GH dem Standard des »über vernünftige Zweifel erhabenen« Beweises. Ein solcher Beweis kann aus dem Zusammentreffen ausreichend starker, eindeutiger und übereinstimmender Schlussfolgerungen oder aus ähnlichen, nicht widerlegten Tatsachenvermutungen folgen.

(152) Wie der GH betont, handelt es sich beim vorliegenden Fall nicht um einen solchen, in dem die relevanten Informationen ausschließlich den Behörden bekannt sind. Es gibt nicht nur eine Menge Videos und Fotos vom Ort des Geschehens, sondern dieses Material bezeugt die Anwesenheit zahlreicher Zeugen, unter denen sich offensichtlich auch einige der Demonstranten befinden. Trotzdem kam kein spezifischer Beweis hervor, der irgendeine bestimmte Person mit den Verletzungen in Verbindung bringt, die den Bf. zugefügt wurden.

(153) Außerdem gibt es im Gegensatz zu anderen vom GH geprüften Fällen keine Hinweise darauf, dass die Polizei oder andere Personen, deren Handlungen dem Staat zugerechnet werden könnten, jemals Tränengas, Schlagstöcke oder andere schwere Ausrüstung einsetzten, die gekoppelt mit der Art der Verletzungen der Bf. den Schluss zulassen würde, dass sie mit einer derartigen Ausrüstung zugefügt wurden.

(154) Die Aussagen der Bf. selbst zeigen, dass die Demonstranten an den Tagen, an denen sie verletzt wurden, aktiv versuchten, laufende Baumaschinen zu stoppen, und dass die Gegenmaßnahmen hauptsächlich in Versuchen bestanden, sie aus dem Bereich der Arbeiten abzudrängen, was für sich selbst nicht als Misshandlung qualifiziert werden kann.

(155) Unter solchen Umständen ist der GH nicht in der Lage, dem erforderlichen Beweismaßstab entsprechend festzustellen, dass der SiebtBf. und der NeuntBf. eine Misshandlung erlitten, die die Schwelle des Art. 3 EMRK erreicht und von den Behörden verlangt hätte, sie davor zu schützen.

(156) Es hat folglich im Hinblick auf die SiebtBf. und den NeuntBf. keine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem materiellen Aspekt stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

b. Prozessualer Aspekt der Beschwerde

(160) […] Die Behauptungen der SiebtBf. und des NeuntBf., im Zuge der Proteste im Gorky Park Misshandlungen erlitten zu haben, wurden durch ärztliche Atteste über Verletzungen untermauert. Es steht außer Zweifel, dass die Bf. an den fraglichen Tagen am Ort der Zusammenstöße im Gorky Park anwesend waren und dass sie ihre Verletzungen dort erlitten haben. Ihre Beschwerden waren somit im Hinblick auf Art. 3 EMRK vertretbar, was von den innerstaatlichen Behörden die Durchführung einer effektiven Untersuchung erforderte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass der Ausdruck »vertretbare Behauptung« nicht mit der Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem substantiellen Aspekt […] gleichgesetzt werden kann.

(161) Wie das Material im Akt zeigt, fand die innerstaatliche Untersuchung der Ereignisse im Gorky Park von Mai und Juni 2010 im Kern im Rahmen von Vorermittlungen statt, die von der Staatsanwalt durchgeführt wurden und in die Entscheidung vom 9.8.2010 mündeten, kein Strafverfahren einzuleiten. […]

(162) Allerdings befasste sich diese Entscheidung nicht endgültig mit den spezifischen Fällen der SiebtBf. und des NeuntBf., da deren Beschwerden von der Polizei untersucht wurden. Diese Ermittlungen führten zu den Entscheidungen vom 13.8.2010 […] bzw. vom 20.8.2010 […], mit denen kein Strafverfahren eingeleitet wurde.

(163) Es ist bedauerlich, dass die letztgenannte Entscheidung dem GH nicht zur Verfügung gestellt wurde. Der Grund für diese Unterlassung ist unklar. Dieses Versäumnis, Aufzeichnungen über die Ermittlung vorzulegen, hat den GH der unbeschränkten Möglichkeit beraubt, die von den Behörden zur Aufklärung der Behauptungen der Bf. unternommenen Schritte zu überprüfen. Allerdings behaupten die Bf., von dieser Entscheidung erst aus der Stellungnahme der Regierung [an den GH] erfahren und nie eine Ausfertigung zugestellt bekommen zu haben […]. Diese Behauptung blieb unbestritten. […]

(164) Unter diesen Umständen erachtet es der GH als erwiesen, dass die Bf. daran gehindert wurden, den Ausgang der Untersuchung ihrer Beschwerden zu erfahren.

(165) Der GH hat bereits in einer Reihe von Fällen zumindest zum Teil aus dem Grund Verletzungen von Art. 3 EMRK festgestellt, dass das Recht der Bf., sich effektiv an der Untersuchung zu beteiligen, nicht gewährleistet war […].

(166) Genau dies ist im vorliegenden Fall geschehen. Das Vorbringen der Bf. zeigt, dass ihnen die Behörden […] Informationen über alle ihre Entscheidungen beharrlich vorenthielten oder zumindest erst mit erheblicher Verzögerung übermittelten. Unter diesen Umständen wurde die Entscheidung vom 20.8.2010 von den innerstaatlichen Gerichten nie überprüft. Dies bedeutet auch, dass die Feststellung des innerstaatlichen Gerichts, wonach die Entscheidung vom 13.8.2010 völlig unbegründet war, unangefochten blieb.

(168) Der GH verweist auch auf seine Feststellungen betreffend das Versäumnis der Behörden, die Anwesenheit nicht identifizierter Personen, die Abzeichen von Wachleuten trugen aber möglicherweise keine ordnungsgemäß befugten Wachleute waren, am Ort der Ereignisse, bei denen die Bf. verletzt wurden, zu untersuchen [siehe unten Rn. 280].

(169) Diese Überlegungen reichen aus, um dem GH die Schlussfolgerung zu ermöglichen, dass im Hinblick auf die SiebtBf. und den NeuntBf. eine Verletzung von Art. 3 EMRK in seinem prozessualen Aspekt stattgefunden hat (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

(171) Der ErstBf. und der ZweitBf. brachten vor, sie hätten vor dem Berufungsgericht, das ihre Verwaltungsstrafsachen prüfte, kein faires Verfahren gehabt, weil das Gericht ihre Anwesenheit in der Verhandlung nicht gewährleistet hatte. […]

1. Zulässigkeit

(172) […] Aufgrund der Schwere der Sanktion sind Verwaltungsverfahren wie jene, die im vorliegenden Fall gegen die Bf. geführt wurden, als »strafrechtlich« […] anzusehen, was die Anwendbarkeit der vollen Garantien des Art. 6 EMRK bedeutet.

(173) Dieser Teil der Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet […] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache

(178) […] Nach dem innerstaatlichen Recht hatte das Berufungsgericht die Befugnis, die Berufung abzuweisen, die erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben und das Verfahren einzustellen, ein neues Urteil zu erlassen oder das Urteil abzuändern. […]

(179) Die Formulierung der Berufungen gegen die Verurteilungen der Bf. durch ihren Anwalt zeigten, dass er eine Überprüfung sowohl der Tatsachenfeststellungen als auch der rechtlichen Beurteilung erreichen wollte. Tatsächlich nahm das Berufungsgericht eine solche Prüfung vor […]. Die Berufungen warfen auch die Frage der Strafhöhe auf, was eine Einschätzung des Charakters und der Motive der Bf. erforderte. […]

(180) Es war folglich nach Ansicht des GH essentiell für die Fairness des Verfahrens, dass die Bf. bei den Berufungsverhandlungen anwesend waren, es sei denn, sie hätten auf dieses Recht in gültiger Weise verzichtet. […]

(181) Die bloße Tatsache, dass der Anwalt der Bf. ihre Anwesenheit bei der Verhandlung nicht beantragt hat, ist in dieser Hinsicht […] nicht ausschlaggebend. Der GH erachtet es vielmehr als relevant, dass die Bf. erstens nicht über die Verhandlung vor dem Berufungsgericht informiert wurden, und dass es zweitens für die Bf., die sich in Haft befanden, kein eindeutig festgelegtes Verfahren dafür gab, die Vorführung zu den Verhandlungen des Berufungsgerichts zu beantragen.

(185) Unter solchen Umständen kann nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass die Bf. auf ihr Recht auf Anwesenheit verzichtet haben. Jedenfalls kann nicht gesagt werden, dass die erforderlichen Sicherungen vorhanden gewesen wären, um sicherzustellen, dass jeder Verzicht wirksam war.

(186) Es hat folglich im Hinblick auf den ErstBf. und den ZweitBf. eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK

(188) Die Bf. behaupteten, es habe aufgrund der folgenden Ereignisse ein nicht gerechtfertigter Eingriff in ihr Recht auf friedliche Versammlung iSv. Art. 11 EMRK stattgefunden: (1) die Festnahme und strafrechtliche Verfolgung des Erstbis SechstBf.; (2) die Bedrohung des DrittBf. mit einer Kettensäge […]; (3) die gegen die Bf. im Zuge der Versuche zur Auflösung der Proteste am 25.5.2010 von der Polizei und zwischen 20.5. und 6.6.2010 von den Holzfällern und den Mitarbeitern der KW ausgeübte physische Gewalt; (4) die verbalen Drohungen, die von Holzfällern und Polizisten ausgesprochen wurden […]; (5) […] die Verletzung mehrerer Bf. durch eine Baggerschaufel; (6) die Verletzungen, die von anderen [nicht an der Beschwerde beteiligten] Demonstranten erlitten wurden, als ein Baum gefällt wurde […];

(7) die gegen die SiebtBf. und den NeuntBf. angewendete physische Gewalt […].

1. Zulässigkeit

(211) Die sich auf die behauptete Bedrohung mit einer Kettensäge beziehende Beschwerde des DrittBf. stellt eine Wiederholung des Vorbringens zu Art. 3 EMRK dar und ist aus denselben Gründen zurückzuweisen.

(212) Die Beschwerden über verbale Bedrohungen sind gänzlich unsubstantiiert. […]

(213) Nichts deutet darauf hin, dass die Bf. behaupten können, in Bezug auf ihre Beschwerden betreffend unbekannte Demonstranten […] »Opfer« iSv. Art. 34 EMRK zu sein.

(214) Ähnliche Überlegungen gelten bezüglich der Behauptungen der Bf. betreffend die im Zuge der versuchten Auflösung der Proteste […] gegen sie angewendete physische Gewalt. […]

(215) […] Es ist unklar, welcher der Bf. an welchem Tag an welcher Aktion teilgenommen hat. […]

(216) Dementsprechend sind die oben genannten Beschwerdepunkte als offensichtlich unbegründet bzw.

als ratione personae unvereinbar mit der Konvention [und somit als unzulässig] zurückzuweisen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

(217) Der Rest der Beschwerden der Bf. Nr. 1-7 und 9 unter Art. 11 EMRK ist nicht […] offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Er muss deshalb für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache

a. Zu den Festnahmen und Verurteilungen der ersten sechs Bf.

i. Zum Vorliegen eines Eingriffs

(224) […] Die Demonstranten im Gorky Park scheinen die Haltung vertreten zu haben, den Park als für alle zugänglichen öffentlichen Ort der Erholung zu verteidigen, ohne ihren Aktionen ein formelles Etikett zu geben. Die Behauptung des ErstBf. und des ZweitBf., sie hätten den Park als öffentlichen Ort genutzt, scheinen ganz auf dieser […] Linie zu liegen. Angesichts dieser Umstände war ihr Widerstand gegen Bauarbeiten in dem Park dieser Haltung inhärent. Zudem ist unbestritten, dass der ErstBf. und der ZweitBf. sich in der Gruppe von Demonstranten befanden, die am 28.5.2010 innerhalb der als Baustelle markierten Zone den Bahnübergang für eine Planierraupe blockierten, zum Verlassen der Baustelle […] aufgefordert wurden und die, nachdem sie dies verweigert hatten, von Mitarbeitern der KW umringt und von der Baustelle entfernt wurden. Wie sich aus dieser Abfolge der Ereignisse klar ergibt, konnten jene, die sich bis zum Zeitpunkt der Festnahme weiterhin in dieser Gruppe von Demonstranten befanden, keine bloßen Schaulustigen sein, die zufällig in die Ereignisse hineingeraten waren und die nicht wussten, was auf dem Spiel stand, da jeder solche Schaulustige die Gelegenheit gehabt hätte, sich zu entfernen, bevor er von Wachleuten eingekreist wurde.

(225) Die innerstaatlichen Gerichte sahen es zudem als erwiesen an, dass der ErstBf. und der ZweitBf. Widerstand leisteten, als sie von der Polizei abgeführt wurden, was […] dem Charakter der Blockadetaktik der Demonstranten entsprach. […]

(227) Nach der ständigen Rechtsprechung des GH begründen von den Behörden während einer Versammlung ergriffene Maßnahmen wie deren Auflösung oder die Festnahme von Teilnehmern und wegen der Teilnahme an einer Versammlung verhängte Strafen einen Eingriff in das Recht auf friedliche Versammlung.

(229) Die Regierung scheint nicht zu bestreiten, dass der FünftBf. ungeachtet der Einstellung des Strafverfahrens gegen ihn nach wie vor behaupten kann, »Opfer« einer Verletzung seiner durch Art. 11 EMRK garantierten Rechte zu sein. […]

(230) [Was den Dritt-, Viertund SechstBf. betrifft] bestritt die Regierung nicht, dass ihre Verurteilung einen Eingriff in ihr Recht auf friedliche Versammlung begründete. […]

(231) Es hat folglich ein Eingriff in das Recht der ersten sechs Bf. auf friedliche Versammlung stattgefunden. […]

ii. Zur gesetzlichen Grundlage

(232) Der Eingriff hatte eine Grundlage im innerstaatlichen Recht, nämlich Art. 185 des Verwaltungsstrafgesetzes, der das Versäumnis bestraft, der rechtmäßigen Anordnung eines Polizisten Folge zu leisten. […]

(233) Allerdings behaupteten die Bf., jede ihren Protest betreffende Gegenmaßnahme wäre unrechtmäßig gewesen, weil Art. 39 der Verfassung von den Behörden verlange, eine gerichtliche Genehmigung einer solchen Auflösung einzuholen. […]

(238) […] Die Verfassungsbestimmung, auf die sich die Bf. beziehen, scheint einen gesetzlichen Rahmen vorzusehen, in dem das Verfahren zur gerichtlichen Einschränkung von Versammlungen mit einem Anzeigeverfahren zusammenhängt, das es den Behörden erlaubt, sich mit einem Antrag auf Verhängung gewisser Einschränkungen der geplanten Versammlung an ein Gericht zu wenden. […]

(239) Der GH ist […] nicht davon überzeugt, dass ein reiner Blockadeprotest, der seiner Art nach in der Regel wegen einer Beeinträchtigung der Rechte und legitimen Interessen Dritter rechtswidrig sein wird, […] der Anforderung einer vorherigen Anzeige unterworfen werden könnte. Eine solche Voraussetzung würde vielen derartigen Aktionen ihre praktische Wirkung nehmen und auf eine Anforderung hinauslaufen, die Bereitschaft zu erklären, das Gesetz zu brechen.

(240) Dies bedeutet […], dass kein gerichtliches Verfahren zur Untersagung des Protests eingeleitet werden konnte, weil es keine Anzeige gab.

(241) Der GH verwirft folglich das diesbezügliche Argument der Bf. und akzeptiert, dass der Eingriff »gesetzlich vorgesehen« war.

iii. Legitimes Ziel

(242) […] Der GH akzeptiert das Vorbringen der Regierung, wonach der Eingriff dem legitimen Ziel des Schutzes der Gesundheit und Sicherheit der Demonstranten und der Arbeiter diente. […]

iv. Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

(243) […] Sowohl vor Beginn der Bauarbeiten als auch danach konnten Gegner dagegen in einer diese nicht behindernden Weise protestieren. Zudem wurde zumindest anfangs sogar gegenüber den Blockadeaktionen ein gewisses Maß an Toleranz aufgebracht und in dieser Anfangsphase beteiligten sich einige Demonstranten systematisch an sehr gefährlichen Aktivitäten […]. Zu der Zeit, als die Bf. verhaftet wurden, hatte das Problem bereits erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen. Gegner machten auch von ihrem Petitionsrecht Gebrauch, um das Projekt zu verhindern. […]

(244) Es ist zu bedauern, dass die Bf. dem GH nicht erklärten, welche gerichtlichen Rechtsbehelfe von den Gegnern des Projekts verwendet wurden […]. Es gibt aber jedenfalls keinen Hinweis darauf, dass den Demonstranten keine solchen Rechtsbehelfe zur Verfügung gestanden wären.

(245) Hinsichtlich der öffentlichen Anhörungen, die der Genehmigung des Projekts vorangingen, herrscht eine gewisse Verwirrung […].

(246) Der GH muss kein abschließendes Urteil darüber treffen, ob die öffentlichen Anhörungen betreffend die Entwicklung und Durchführung des Bauprojekts ausreichend waren. Es genügt festzustellen, dass die Öffentlichkeit bereits 2007 über das Projekt informiert wurde und sich Widerstand dagegen formierte und dass andere Mittel des Protests […] zur Verfügung standen.

(247) Diese Überlegungen sind für die Einschätzung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Recht der Bf. auf friedliche Versammlung relevant.

(248) Der GH erachtet die folgende Abfolge der Ereignisse am 28.5.2010 als erwiesen. Die [ersten fünf] Bf. waren Teil einer Gruppe von Demonstranten in einer als Baustelle gekennzeichneten Zone. Eine in Zivil gekleidete Person […] forderte sie auf, sich zu entfernen. Sie verweigerten dies. Daraufhin wurden die Demonstranten von Wachleuten in einem engen Kreis umringt. Die inzwischen angekommenen Polizisten forderten die nach wie vor eingekreisten Demonstranten auf, die Baustelle zu verlassen. Dann begannen die Polizisten damit, die Bf. festzunehmen. Diese Abfolge ist auf den von den Bf. vorgelegten Videoaufnahmen klar zu erkennen […]. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Einschätzung der Abfolge der Ereignisse […] nicht den Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte widerspricht.

(249) […] Der GH sieht keinen Grund, am Vorbringen der Bf. zu zweifeln, wonach die einzige polizeiliche Anordnung die oben erwähnte war, die erging, als die Bf. bereits von Wachleuten eingekreist waren.

(250) […] Diese polizeiliche Aufforderung scheint trotz der lauten Umgebung mit normaler Sprechlautstärke ohne Verwendung von Verstärkereinrichtungen erfolgt zu sein. Die vorangegangene erste Aufforderung sich zu zerstreuen war durch eine Person ohne polizeiliche Abzeichen, also offensichtlich einen Zivilisten, erfolgt und das Versäumnis, ihr Folge zu leisten, hatte die Einkreisung der Demonstranten durch Wachleute nach sich gezogen. Es gibt Grund zu bezweifeln, dass die von der Polizei wiederholte Aufforderung sofort für alle Demonstranten hörbar und eindeutig war […]. In jedem Fall erfolgte diese Wiederholung erst, als die Demonstranten bereits in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt waren. Überdies kann auch nicht gesagt werden, dass die Behörden überwältigt gewesen wären oder dass operative Umstände sie an größerer Klarheit in der Kommunikation gehindert hätten: Schließlich waren die Demonstranten zum Zeitpunkt der polizeilichen Anordnung von Wachleuten in einem kleinen Bereich vollständig eingekreist.

(251) Unter solchen Umständen kann der GH nicht ausschließen, dass bei den Demonstranten, einschließlich den Bf., ein gewisser Grad an Verwirrung hinsichtlich der Behörde bestand, von der die Anordnung, das Gelände zu räumen, erlassen wurde, sowie hinsichtlich der praktischen Wege zu ihrer Umsetzung. Diese Verwirrung scheint zum Teil aus der fehlenden Klarheit hinsichtlich der Aufteilung der Befugnisse zwischen den Wachleuten und der Polizei resultiert zu haben. […]

(252) Dieser Aspekt des Falls ist von besonderer Bedeutung angesichts der international zum Ausdruck gebrachten Sorge über die Angemessenheit des Einsatzes privater Wachleute zur Zerstreuung von Personen, die ihr Recht auf friedliche Versammlung ausüben, und der Notwendigkeit, im Zweifel auf Interventionen durch die Polizei und nicht durch privates Sicherheitspersonal zurückzugreifen.

(253) Dennoch reichen die obigen Überlegungen für sich alleine nicht für die Feststellung des GH aus, die innerstaatlichen Gerichte […] hätten sich geirrt, als sie feststellten, dass die Bf. die polizeiliche Anordnung, sich zu zerstreuen, tatsächlich missachtet hatten. Schlussendlich muss die Situation vom 28.5.2010 nicht isoliert, sondern im größeren Kontext der Ereignisse betrachtet werden […]. Den Bf. […] musste bewusst sein, dass wahrscheinlich die Polizei eingesetzt werden würde, um sie davon abzuhalten, die Baumfällungen und Bauarbeiten zu behindern. […]

(254) […] Die Bf. wurden allem Anschein nach wegen des Versäumnisses verurteilt, der spezifischen Aufforderung vom 28.5.2010 nachzukommen, das Gelände zu verlassen. Angesichts der Wichtigkeit des Rechts auf friedliche Versammlung […] wäre es Sache der innerstaatlichen Gerichte gewesen, in ihrer Begründung die oben genannte mögliche Verwirrung seitens der Bf. darüber, wer die Quelle dieser Anordnung war und wie genau sie befolgt werden sollte, zu berücksichtigen.

(255) Die Gerichte verabsäumten es jedoch, dies zu tun. Sie verabsäumten es auch, die Strenge der gegen den ErstBf. und den ZweitBf. verhängten Sanktion zu erklären […]. Diese verbüßten […] neuntägige Gefängnisstrafen.

(256) Unter solchen Umständen findet der GH, dass die innerstaatlichen Gerichte keine ausreichenden Gründe für ihre Entscheidung vorbrachten, über den ErstBf. und den ZweitBf. derart strenge Haftstrafen zu verhängen. Die Regierung hat somit nicht gezeigt, dass die über diese Bf. verhängten Sanktionen verhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel waren.

(257) Die Feststellung der prozessualen Unfairness im Verfahren gegen den ErstBf. und den ZweitBf. (siehe oben Rn. 186) untermauern diese Unverhältnismäßigkeit.

(258) Es hat folglich im Hinblick auf den ErstBf. und den ZweitBf. eine Verletzung von Art. 11 EMRK stattgefunden (einstimmig).

(259) Was den Drittbis FünftBf. betrifft, liegen dem GH […] keine zwingenden Gründe dafür vor, die sie betreffenden Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte in Zweifel zu ziehen. Das vorliegende Material zeigt, dass sie in einer Gefahrenzone in einer bewusst widersetzlichen Art und Weise gehandelt hatten. Überdies blieben die Behörden eine Zeit lang selbst gegenüber einer solchen gefährlichen Form des Protests tolerant und die Bf. wurden nicht wegen ihrer Protestaktion als solcher verhaftet und verurteilt, sondern wegen ihrer Weigerung, der Aufforderung Folge zu leisten, das Gelände zu verlassen. Ein gewisser Grad an Reaktion auf ein solches Verhalten kann als angemessen angesehen werden. Ihre Entfernung von der Baustelle und Verurteilung wegen eines Verwaltungsdelikts war angesichts der Art der verhängten Sanktion verhältnismäßig zum verfolgten Ziel.

(260) Es hat folglich im Hinblick auf die Verhaftung und Verurteilung des Dritt-, Viertund FünftBf. keine Verletzung von Art. 11 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

(261) […] Der SechstBf. weigerte sich nicht nur, einer direkten Anordnung der Polizei zu folgen, das Gelände zu verlassen, sondern er leistete hartnäckig zumindest passiven und vielleicht sogar aktiven Widerstand gegen die Versuche der Polizisten, ihn abzuführen.

(263) […] Nichts lässt an der Schlussfolgerung zweifeln, dass die Verhängung einer Sanktion über den SechstBf. gerechtfertigt war. Es bleibt allerdings zu prüfen, ob eine Haftstrafe von solcher Strenge verhältnismäßig war. […]

(264) […] Nichts weist darauf hin, dass die Anordnung unangemessen oder unklar war oder dass der Bf. daran gehindert gewesen wäre, sie zu befolgen. Wäre er ihr nachgekommen, so hätte er seinen Protest außerhalb der Baustelle fortsetzen können. Überdies hatte der Bf. seine Absicht klar kundgetan, auf das Gelände zurückzukehren und seine Blockadeaktivitäten fortzusetzen. Nachdem er seine Absicht, erneut straffällig zu werden, gegenüber der Polizei klargemacht hatte, weigerte er sich, diese Aussagen vor Gericht zu widerrufen […].

(266) […] Seine […] vor den innerstaatlichen Gerichten eingenommene hartnäckige Haltung bestätigt die Richtigkeit der Einschätzung, wonach er sein Verhalten weiterhin als völlig legitim ansah und dieses wahrscheinlich fortgesetzt hätte, womit er ein erhebliches Risiko für die Sicherheit der andauernden Bauarbeiten darstellte.

(267) Unter solchen Umständen kann die über den Bf. verhängte zehntägige Freiheitsstrafe nach Ansicht des GH nicht als grob unverhältnismäßige Sanktion angesehen werden.

(268) Angesichts dieser Überlegungen gelangt der GH zu dem Schluss, dass die innerstaatlichen Gerichte unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls ihren Ermessensspielraum nicht überschritten haben.

(269) Es hat folglich im Hinblick auf die Festnahme und Verurteilung des SechstBf. keine Verletzung von Art. 11 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Pinto de Albuquerque).

b. Die die SiebtBf. und den NeuntBf. betreffenden Ereignisse vom 31.5. und 27.5.2010

(270) Die SiebtBf. und der NeuntBf. behaupteten, von Personen verletzt worden zu sein, die versucht hatten, sie an ihren Protesten zu hindern.

(271) […] Die Behörden sind verpflichtet, im Hinblick auf rechtmäßige Demonstrationen angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um ihren friedlichen Verlauf und die Sicherheit aller Bürger zu gewährleisten. Dieselbe Verpflichtung gilt nach Ansicht des GH für eine Versammlung, die – unabhängig davon, ob sie nach innerstaatlichem Recht rechtmäßig ist oder nicht – unter den Schutz von Art. 11 EMRK fällt und von der die Behörden formal oder de facto ausreichende Kenntnis hatten, um solche Maßnahmen ergreifen zu können. Die Bedingungen, die diese Verpflichtung auslösen, waren nach Ansicht des GH im vorliegenden Fall gegeben, da die geplanten Protestaktivitäten den Behörden ohne Zweifel im Voraus […] bekannt waren, was ihnen ausreichende Zeit zur Vorbereitung einräumte.

(272) Die Bf. behaupteten nicht, dass die Polizei am

27.5. oder 31.5.2010 direkt an irgendeiner gegen ihre Protestaktionen gerichteten Aktivität beteiligt war. Unbestritten ist, dass Wachleute auf dem Gelände eingesetzt wurden und dass diese einen gewissen Zwang ausübten, um die Demonstranten von der Baustelle abzudrängen.

(273) Die Grundlage für die Befugnisse der Wachleute zur Anwendung von Zwang gegen die Demonstranten bildeten die »Regeln über die Genehmigung von Geschäftstätigkeiten, die Sicherheitsdienste und die Bewachung von Eigentum und Personen umfassen«, die diese Befugnisse eng mit dem Schutz »bewachter Einrichtungen« verknüpften. Der Wortlaut dieser […] Regeln deutet darauf hin, dass unter einer »bewachten Einrichtung« in erster Linie eine klar definierte physische Anlage verstanden wurde, bei der der Zugang von Wächtern kontrolliert werden kann […].

(274) Im Gegensatz dazu scheinen die innerstaatlichen Regeln private Wachleute nicht befugt zu haben, Funktionen zur Kontrolle von Menschenmengen und deren Zerstreuung an öffentlichen Orten auszuüben. Selbst in klar definierten bewachten Bereichen scheinen ihre Zwangsbefugnisse zudem grundsätzlich darauf beschränkt gewesen zu sein, den unbefugten Zutritt zu verwehren. Darüber hinaus konnte Zwang nur unter dringenden Umständen angewendet werden, wenn dies durch den Handlungsdruck geboten war. Dem scheint die Anforderung innegewohnt zu haben, dass die Wachleute in jeder nicht dringlichen Situation die Hilfe der Polizei anfordern mussten […].

(275) Die Realität war am 27.5. und 31.5.2010 allerdings eine andere. […] Die von den Bf. vorgelegten Videoaufnahmen […] zeigen, dass zwar das Gelände mit Bändern markiert war, die Demonstranten sich aber de facto schon vor der Anbringung dieser Markierung dort befunden hatten und an beiden Tagen dort verblieben. Der Zutritt zu diesem Bereich war abgesehen von den Warnbändern physisch nicht in besonderer Weise versperrt. […] Unter solchen Umständen bestand die Beteiligung des Sicherheitspersonals eher in Versuchen, die Demonstranten aus der Bahn der Baumaschinen und von der Baustelle zu entfernen, als in deren Hinderung am Zutritt. Diese Situation war spannungsgeladen und geeignet, größeren Widerstand zu schaffen als eine einfache Verweigerung des Zugangs zu einem klar definierten und bewachten Gebiet. Mit anderen Worten handelten die Wachleute auf der Grundlage eines Rahmens, der auf Operationen innerhalb beschränkter und klar definierter Grenzen mit beschränktem Zutritt abzielte und der im Kontext der sich tatsächlich entwickelnden Ereignisse nicht anwendbar oder zumindest nicht praktikabel war.

(276) […] Der innerstaatliche Rahmen scheint den Wachleuten erlaubt zu haben, im weiteren Sinne jede angemessene Handlung zu setzen, um im Notfall Straftaten zu verhindern oder den Schaden zu begrenzen. Im vorliegenden Fall weist jedoch nichts auf das Vorliegen eines solchen Notfalls hin. In der Tat war die Situation alles andere als unerwartet, da zur Zeit der umstrittenen Ereignisse (27. und 31.5.2010) die Blockade bereits sieben bzw. elf Tage angedauert und der Generalunternehmer […] die Polizei im Vorhinein auf die Wahrscheinlichkeit von Zusammenstößen zwischen dem von ihm engagierten Sicherheitspersonal und den Demonstranten hingewiesen hatte. Die Polizei war in voller Stärke aufgeboten […], griff jedoch nicht in einer Weise ein, die nennenswert und geeignet gewesen wäre, die Zusammenstöße wirksam zu verhindern oder zu kontrollieren.

(277) Während eine gewisse Zurückhaltung seitens der Polizei beim Umgang mit Versammlungen angemessen und sogar von der Konvention verlangt sein kann, wurden im vorliegenden Fall keine spezifischen operativen Gründe für die Taktik der Nichtintervention geliefert. […]

(278) Überdies wurde die oben genannte fehlende Klarheit über den Status des Sicherheitspersonals durch die Behauptung untermauert, dass sich bestimmte unbekannte Personen auf dem Gelände befanden, die unbefugt Abzeichen von Wachdiensten trugen, ohne Wachleute zu sein. Diese Behauptung des Direktors der KW gegenüber der Staatsanwaltschaft wurde nie bestritten oder widerlegt […]. Der GH erachtet sie daher als glaubwürdig. […]

(279) Es scheint jedoch keine abgestimmten Versuche gegeben zu haben, diesen beunruhigenden Aspekt der Situation zu untersuchen. So wurde zum Beispiel nicht versucht herauszufinden, ob es sich um das Personal eines anderen privaten Sicherheitsdienstes namens P-4 handelte, das unangemessen Abzeichen der KW trug, was schon für sich ein Hinweis auf ein gefährliches Durcheinander zwischen ihnen im Hinblick auf die Befehlskette und Verantwortlichkeit wäre.

(280) […] Das Versäumnis, einen Mechanismus vorzusehen, mit dem Sicherheitskräften identifiziert werden können, die an Operationen beteiligt sind, bei denen Gewalt angewendet wird, kann Fragen unter Art. 3 EMRK aufwerfen […]. Das Versäumnis der Behörden, die behauptete Anwesenheit von unbekannten Personen am Ort der Proteste zu untersuchen, die ohne gebührende Berechtigung Abzeichen von Wachleuten trugen, ist einer der Faktoren, die zur Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK führten (siehe oben Rn. 168). Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls hat dieses Versäumnis nach Ansicht des GH auch Konsequenzen hinsichtlich der Befolgung der aus Art. 11 EMRK erwachsenden Verpflichtungen durch den belangten Staat. Das Versäumnis der Behörden, irgendwelche nachweisbaren Schritte zur Untersuchung der behaupteten Unterwanderung des Orts der Proteste

durch solche unbekannten und unbefugten Personen zu unternehmen, bildet einen Teil des Versäumnisses des belangten Staates, angemessene Schritte zu setzen, um den friedlichen Charakter der Proteste zu gewährleisten.

(281) Der GH kommt zum Ergebnis, dass es der belangte Staat verabsäumt hat, seiner Verpflichtung zur Gewährleistung des friedlichen Charakters der Proteste [am 27. und 31.5.2010] nachzukommen, weil er es unterlassen hat, (1) die Anwendung von Zwang durch Sicherheitspersonal angemessen zu regeln; (2) die Aufgabenteilung zwischen dem privaten Sicherheitspersonal und der Polizei bei der Aufrechterhaltung der Ordnung in der gebührenden Weise zu organisieren, was auch eine Identifikation des eingesetzten Sicherheitspersonals erlaubt hätte; (3) die Regeln betreffend eine angemessene Identifikation von Personen, die zur Anwendung von Zwang befugt sind, durchzusetzen; und (4) die Entscheidung der Polizei zu erklären, am 27. und 31.5.2010 […] nicht einzuschreiten.

(282) Es hat folglich im Hinblick auf die SiebtBf. und den NeuntBf. betreffend die Ereignisse vom 31.5. bzw. 27.5.2010 eine Verletzung von Art. 11 EMRK stattgefunden (einstimmig).

V. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 iVm. Art. 11 EMRK

(285) […] Der GH erachtet es nicht als geboten, über die Zulässigkeit oder die Berechtigung der Beschwerde unter Art. 13 iVm. Art. 11 EMRK gesondert abzusprechen (einstimmig).

VI. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Je € 6.000,– an den ErstBf., den ZweitBf., die SiebtBf. und den NeuntBf. für immateriellen Schaden; € 16.600,– an die genannten Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Zuletzt aktualisiert am November 10, 2020 von eurogesetze

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