EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE R ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 20084/07)
URTEIL
STRASSBURG
16. Mai 2013
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache R. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
Ganna Yudkivska,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal, Richter,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,
nach nicht öffentlicher Beratung am 9. April 2013
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 20084/07) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, R. („der Beschwerdeführer“), am 4. Mai 2007 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2 Der Beschwerdeführer, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, wurde durch Herrn S., Rechtsanwalt in M., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch zwei ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.‑J. Behrens, und Frau Regierungsdirektorin K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer behauptete, dass seine fortdauernde Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, obwohl die innerstaatlichen Gerichte festgestellt hätten, dass er nicht an einem Zustand der verminderten Schuldfähigkeit leide, sein nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention garantiertes Recht auf Freiheit verletzt habe.
4. Am 9. Januar 2012 wurde die Beschwerde der Regierung übermittelt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren. Derzeit ist er in dem psychiatrischen Krankenhaus R. untergebracht.
A. Die früheren Verurteilungen des Beschwerdeführers, die Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und deren Vollstreckung
6. Am 26. Januar 1983 verurteilte das Landgericht Frankfurt am Main den Beschwerdeführer wegen Totschlags in zwei Fällen zu sieben Jahren Freiheitsstrafe. Es stellte fest, dass der seinerzeit neunzehnjährige Beschwerdeführer, der bei den Taten voll schuldfähig gewesen sei, 1982 die Eltern seiner Freundin nach einem Streit mit 25 Messerstichen getötet habe. Im Januar 1987 wurde er aus dem Strafvollzug entlassen.
7. Am 15. März 1995 sprach das Landgericht Gießen den Beschwerdeführer des Totschlags schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB (siehe Rdnr. 41) an. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer im April 1994 seine frühere Partnerin nach einem Streit, zu dem es gekommen sei, weil sie eine intime Beziehung mit einem Mieter aus ihrem Haus eingegangen sei, mit acht Messerstichen getötet habe. Anschließend habe er versucht, sich selbst umzubringen.
8. Das Landgericht Gießen, das die Sachverständigen Sch. und P. hinzugezogen hatte, befand überdies, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen sei. Es stellte fest, dass der Beschwerdeführer die Straftat im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangen habe (§ 21 StGB; siehe Rdnr. 39). Seine Steuerungsfähigkeit sei bei der Tatbegehung aufgrund einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung erheblich vermindert gewesen. Bei ihm liege eine durch Gewaltausbrüche gekennzeichnete schwere Persönlichkeitsstörung vor, die zu einer verminderten Steuerungsfähigkeit geführt habe. Unter Berücksichtigung des Zustands des Beschwerdeführers sei zu erwarten, dass dieser in einer ähnlichen Beziehungskonfliktsituation erneut töten werde. Das Gericht milderte die Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers, weil er im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit gehandelt habe (§ 49 StGB; siehe Rdnr. 40). Da der Beschwerdeführer keine Revision einlegte, wurde das Urteil rechtskräftig.
9. Der Beschwerdeführer verbüßte vier Jahre seiner Freiheitsstrafe. Am 14. April 1998 wurde er dann in das psychiatrische Krankenhaus H. verlegt. Im anschließenden Unterbringungsprüfungsverfahren kam der ärztliche Direktor des Krankenhauses zu dem Schluss, dass es sich bei der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus um eine Fehleinweisung handele, da bei ihm nie eine überdauernde psychische Störung von Krankheitswert vorgelegen habe. Er sei eine „akzentuierte Persönlichkeit,“ deren Profil immer noch normal sei, und er leide nicht an einer Persönlichkeitsstörung im Sinne der Definition der WHO. Es fehle ihm eine echte Therapiemotivation zum Erlernen von Bewältigungsstrategien bei Beziehungskonflikten. Deshalb sei die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass er bei einem schwerwiegenden Beziehungskonflikt außerhalb des Vollzugs erneut eine Straftat gegen das Leben verüben werde. Daraufhin ordnete das Strafvollstreckungsgericht im Juni 2000 die Rückverlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt Kassel an, wo er seine Restfreiheitsstrafe verbüßte.
10. Am 22. Oktober 2002 verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Az. 3 Ws 557/02) die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Landgerichts Marburg vom 17. April 2002. Das Landgericht hatte es abgelehnt, die restliche Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, und die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht für erledigt erklärt.
11. Das Oberlandesgericht stellte fest, dass das Landgericht einen psychiatrischen Sachverständigen, S., hinzugezogen hatte. In seinem Gutachten vom 17. September 2001 sei der Sachverständige zu der Einschätzung gekommen, dass bei dem Beschwerdeführer entgegen den Schlussfolgerungen des Landgerichts Gießen zur Zeit der Tat keine schwere Persönlichkeitsstörung mit verminderter Schuldfähigkeit vorgelegen habe. In Übereinstimmung mit den psychiatrischen Sachverständigen, die den Beschwerdeführer 1982, 1994 und 1995 untersucht hatten, war der Sachverständige S. der Auffassung, dass der Beschwerdeführer nicht an einer schweren seelischen Abartigkeit leide (§ 20 StGB; siehe Rdnr. 38). Insoweit sei die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aus ärztlicher Sicht nicht gerechtfertigt.
12. Das Oberlandesgericht war jedoch der Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht für erledigt zu erklären sei. Es merkte an, dass die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus durch das erkennende Gericht auf einer fehlerhaften Bewertung des Zustands des Beschwerdeführers in rechtlicher Hinsicht beruhte, die aufgrund einer zutreffenden Tatsachengrundlage vorgenommen worden sei. Diese rechtliche Bewertung könne nicht durch das Strafvollstreckungsgericht geändert werden, weil dies zu einer Aushebelung der mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen führen würde.
13. Seit dem 13. Oktober 2003 ist der Beschwerdeführer nach Verbüßung seiner gesamten Freiheitsstrafe in einem psychiatrischen Krankenhaus, zunächst in H., untergebracht.
B. Das in Rede stehende Verfahren
1. Verfahren vor dem Landgericht
14. Am 28. April 2006 lehnte es das Landgericht Gießen im Überprüfungsverfahren nach § 67e StGB (siehe Rdnr. 42), in dem der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten war, ab, die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen.
15. Das Landgericht merkte an, dass laut Stellungnahme des ärztlichen Direktors des psychiatrischen Krankenhauses in H. von dem Beschwerdeführer, der bereits drei Personen getötet hatte, im Falle seiner Entlassung weitere vergleichbare Straftaten zu erwarten seien. Diese Gefahr sei jedoch nicht in einer seelischen Abartigkeit des Beschwerdeführers begründet, sondern in der mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften zusammenhängenden Möglichkeit, dass es innerhalb eines Beziehungskonfliktes zu einer krisenhaften Zuspitzung kommen könne. Daher regte der ärztliche Direktor des psychiatrischen Krankenhauses die Unterbringung des Beschwerdeführers in der nachträglichen Sicherungsverwahrung (siehe Rdnrn. 49-52) an.
16. Das Landgericht hatte auch den neurologisch-psychiatrischen Gutachter B. hinzugezogen, der in seinem Gutachten vom 9. November 2005 zu dem Ergebnis gekommen war, dass bei dem Beschwerdeführer eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung festzustellen sei, die mit einer Neigung zu unkontrollierten Gewaltreaktionen einhergehe. Diese Störung sei nicht krankhaft und stelle aus psychiatrischer Sicht keine schwere seelische Abartigkeit dar (siehe § 20 StGB). Er schloss sich insoweit den Feststellungen der 2001 bzw. 1994 beigezogenen psychiatrischen Sachverständigen S. und Sch. an, die ebenfalls festgestellt hatten, dass bei dem Beschwerdeführer keine krankhafte Persönlichkeitsstörung im Sinne des § 20 StGB vorliege. Nach Auffassung des Sachverständigen B. bestehe bei dem Beschwerdeführer, der den Umgang mit Beziehungskonflikten seit den begangenen Straftaten nicht gelernt habe, die Neigung zu Straftaten, die der Tat ähnlich seien, welche zu seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geführt habe, und derartige Handlungen seien von ihm nach seiner Entlassung auch zu befürchten.
17. Das Landgericht merkte an, dass die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers nach § 66b StGB (siehe Rdnrn. 50-52) aus rechtlicher Sicht nicht möglich sei. Insbesondere lägen keine neuen Tatsachen vor, die auf die erhebliche Gefährlichkeit des Beschwerdeführers hinwiesen. Darüber hinaus dürfe das Gericht die Verurteilung des Beschwerdeführers aus dem Jahre 1983 wegen zweifachen Mordes rechtlich nicht als frühere Verurteilung verwerten, weil sie zu weit zurückliege. Daher habe die Staatsanwaltschaft ihren Antrag, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären, und ihren Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung des Beschwerdeführers zurückgenommen.
18. Nach Auffassung des Landgerichts war die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen. Es merkte an, dass der Sachverständige B. frühere Feststellungen, wonach die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus durch das erkennende Landgericht Gießen auf einer rechtlich falschen Bewertung einer zutreffend festgestellten Tatsachengrundlage beruhe, bestätigt habe.
19. Das Landgericht führte aus, dass dieser Fall sich von dem unterscheide, in dem das erkennende Gericht den Sachverhalt zur verminderten Schuldfähigkeit eines Betroffenen falsch aufgeklärt habe. Im letzteren Fall habe einer Person, die nie an den für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erforderlichen Defekten gelitten habe, nicht abverlangt werden können, sich der von strafrechtlicher Schuld unabhängigen psychiatrischen Behandlung zu unterziehen. In diesem Fall erspare die Beendigung der Unterbringung durch die Vollstreckungsgerichte dem Betroffenen die Beantragung eines Wiederaufnahmeverfahrens.
20. Im vorliegenden Fall hingegen würde das Vollstreckungsgericht die mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen aushebeln, wenn es die rechtliche Würdigung des Sachverhalts seitens des erkennenden Gerichts durch seine eigene rechtliche Bewertung ersetzte. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens sei unter diesen Umständen nicht möglich. Das Landgericht war darüber hinaus der Auffassung, dass § 67d Abs. 6 StGB in Verbindung mit § 66b Abs. 3 StGB (siehe Rdnrn. 44 und 51), wie auch die frühere Rechtsprechung zu dieser Frage (siehe Rdnrn. 45-48), nur die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus aufgrund falscher Feststellung der Tatsachen betreffe.
21. Unter Bekräftigung der Feststellungen des Sachverständigen B. befand das Landgericht überdies, dass die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers erforderlich sei, weil dieser immer noch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Da die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung einen vierten Menschen töten könnte, sei seine Verwahrung nicht unverhältnismäßig.
2. Das Verfahren vor dem Oberlandesgericht
22. Der Beschwerdeführer legte gegen den Beschluss des Landgerichts Gießen Beschwerde ein. Er trug vor, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 StGB für erledigt zu erklären sei, da er nicht an einer Störung von Krankheitswert leide. Daher könne seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht gerechtfertigt sein.
23. Am 16. Juni 2006 wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Es befand, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers nach § 67d Abs. 6 StGB nicht für erledigt erklärt werden könne. Das Oberlandesgericht merkte an, dass der vom Landgericht beauftragte Sachverständige B. im Einklang mit sämtlichen Vorgutachtern zu dem Ergebnis gekommen sei, dass bei dem Beschwerdeführer eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vorliege. Seiner Neigung zu unkontrollierten Ausbrüchen von Wut oder Gewalt und seine Unfähigkeit zur Kontrolle seines Verhaltens komme jedoch kein Krankheitswert zu. Der unveränderte Zustand des Beschwerdeführers stelle keine überdauernde Störung im Sinne des § 63 StGB dar.
24. Mit Blick auf seine Entscheidung vom 22. Oktober 2002 (siehe Rdnrn. 10‑12) stellte das Oberlandesgericht fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht auf einer fehlerhaften Würdigung der erheblichen Tatsachen, also der Diagnose des Zustands des Beschwerdeführers, beruhe. Sie sei auf eine fehlerhafte rechtliche Bewertung des Zustands des Beschwerdeführers aufgrund einer zutreffend festgestellten Tatsachengrundlage zurückzuführen. Das erkennende Gericht habe die Tat des Beschwerdeführers als Folge einer schweren Persönlichkeitsstörung gewertet und dessen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, ohne die Frage des Überdauerns dieser Störung als Eingangsvoraussetzung des § 63 StGB in den Blick zu nehmen. Diese fehlerhafte rechtliche Bewertung sei im Revisionsverfahren zu korrigieren. Sie könne indes nicht im Strafvollstreckungsverfahren geändert werden, weil dies zu einer Aushebelung der mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen führen würde.
25. Das Oberlandesgericht bestätigte überdies, dass die Neuregelung des § 67d Abs. 6 StGB an dieser Feststellung nichts ändere. Unter Bezugnahme auf seine früheren Entscheidungen (darunter insbesondere seine Entscheidung vom 3. Juni 2005, Az. 3 Ws 298 und 299/05, siehe Rdnr. 48) vertrat es die Auffassung, dass eine Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus, die auf einem Rechtsfehler des erkennenden Gerichts beruhe, nicht aber auf einer fehlerhaften Bewertung des Sachverhalts, von dieser Regelung, die lediglich die bisherige Rechtsprechung der Strafvollstreckungsgerichte festschreibe, ebenfalls nicht erfasst sei.
26. Das Oberlandesgericht, das sich den Feststellungen des Landgerichts anschloss, stellte weiterhin fest, dass mit außerordentlichhoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen sei, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung andere Personen – insbesondere in einer Beziehungskrise – aufs Schwerste schädigen werde. In Anbetracht der Tatsache, dass er bereits drei Menschen getötet habe, sei seine weitere Unterbringung verhältnismäßig. Bei dem Beschwerdeführer sei keine Haltungsänderung zu verzeichnen, und er habe auch nicht gelernt, sein Verhalten zu kontrollieren.
3. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
27. Am 14. Juli 2006 legte der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Er trug insbesondere vor, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sein Grundrecht auf Freiheit verletze. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 67d Abs. 6 StGB sei seine Unterbringung für erledigt zu erklären, weil bei ihm nie eine psychische Störung von Krankheitswert im Sinne des § 20 StGB vorgelegen habe. Daher lägen die Voraussetzungen für seine weitere Unterbringung nach § 63 StGB nicht vor, und seine Unterbringung sei unrechtmäßig.
28. Am 19. Oktober 2006 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (2 BvR 1486/06) zur Entscheidung anzunehmen, da sie keine Aussicht auf Erfolg habe.
29. Das Bundesverfassungsgericht wies erneut darauf hin, dass es die Anwendung des einfachen Rechts mit Ausnahme verfassungsrechtlicher Bestimmungen nur begrenzt überprüfe. Die Anwendung dieses Rechts durch die Strafvollstreckungsgerichte sei nicht willkürlich gewesen. Es sei von Verfassungs wegen – auch unter Berücksichtigung des besonderen Gewichts des Freiheitsgrundrechts – nicht zu beanstanden, dass die Fachgerichte § 67d Abs. 6 StGB nicht auf Fälle ausschließlich fehlerhafter Rechtsanwendung in dem der Unterbringung zu Grunde liegenden Urteil angewendet hätten. Die Rechtsanwendung durch die erkennenden Gerichte sei rechtskräftig, und insoweit bestehe keine Wiederaufnahmemöglichkeit. Die Rechtskraft von Gerichtsurteilen sei Ausprägung der Rechtssicherheit als einem neben dem Gebot materieller Gerechtigkeit im Rechtsstaatsgebot enthaltenen Prinzip. Es sei in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, den Widerstreit dieser Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips zum Ausgleich zu bringen.
30. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wurde dem Anwalt des Beschwerdeführers am 13. November 2006 zugestellt.
C. Weitere Entwicklungen
31. Am 26. März 2007, 21. April 2008, 14. April 2009 und 29. Januar 2010 beschloss das Landgericht Gießen, die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht zur Bewährung auszusetzen.
32. Das Landgericht hatte den ärztlichen Direktor des psychiatrischen Krankenhauses H. vor dem Erlass seiner Entscheidungen angehört; dieser hatte wiederholt bestätigt, dass der Beschwerdeführer nicht an einer krankhaften Störung leide, die die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertige; eine derartige krankhafte Störung habe bei ihm auch nie vorgelegen. Allerdings sei mit Blick auf seine Persönlichkeit und seine fehlende Motivation, eine Veränderung in seiner Person herbeizuführen, damit zu rechnen, dass er bei einer Entlassung weitere erhebliche Straftaten im Sinne der Tat begehen werde, die zu seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus geführt habe.
33. Alle Entscheidungen des Landgerichts wurden anschließend vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main bestätigt. Das Oberlandesgericht betonte mehrfach, insbesondere in seiner Entscheidung vom 29. August 2008, dass das psychiatrische Krankenhaus verpflichtet sei, dem Beschwerdeführer ein geeignetes Therapieangebot zu unterbreiten, obwohl bei ihm keine psychische Störung von Krankheitswert vorliege. Es betonte überdies, etwa in seiner Entscheidung vom 30. Juni 2009, dass der Beschwerdeführer seinerseits die Bereitschaft zur Therapie zeigen müsse.
34. Im Januar 2010 wurde der Beschwerdeführer aus dem psychiatrischen Krankenhaus H., das geschlossen wurde, vorübergehend in das psychiatrische Krankenhaus W. überwiesen.
35. Am 21. März 2011 ordnete das Landgericht Heidelberg die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
36. Am 1. April 2011 wurde der Beschwerdeführer aus der Klinik in W. in das psychiatrische Krankenhaus R. verlegt, wo er derzeit untergebracht ist.
37. Am 18. Januar 2012 ordnete das Landgericht Darmstadt die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Am 5. März 2012 verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die von dem Beschwerdeführer gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde. Der vom Gericht beauftragte psychiatrische Sachverständige H. habe bestätigt, dass der Beschwerdeführer eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine eingeschränkte Fähigkeit, impulshaftes Verhalten zu kontrollieren, habe, und dass seine Persönlichkeit in dieser Hinsicht von der Norm abweiche. Diese Auffälligkeiten erreichten aber nicht den Schweregrad einer Persönlichkeitsstörung, geschweige denn denjenigen einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ im Sinne von § 20 StGB. Es bestehe ein hohes Risiko, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung in Konfliktsituationen weitere gewalttätige Sexualstrafen begehen werde. Das Oberlandesgericht betonte, dass sich der Beschwerdeführer einer Therapie in einem psychiatrischen Krankenhaus unterziehen und dadurch seine Gefährlichkeit deutlich mindern könne. Jedoch fehle es ihm an der notwendigen Motivation, die von ihm begonnenen Therapien abzuschließen. Dessen ungeachtet sei die Klinik gehalten, Behandlungsmöglichkeiten für den Beschwerdeführer und Ansätze, seine Therapiemotivation zu wecken, auszuschöpfen.
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Bestimmungen zur Schuldfähigkeit
38. § 20 StGB enthält Vorschriften über die Schuldunfähigkeit aufgrund psychischer Störungen. Danach handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
39. In § 21 StGB ist die verminderte Schuldfähigkeit geregelt. Danach kann die Strafe in Übereinstimmung mit § 49 Abs. 1 StGB gemildert werden, wenn die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist.
40. § 49 Abs. 1 StGB enthält Vorschriften über die Strafzumessung in Fällen, in denen das Gesetz eine Milderung der Strafe nach dieser Vorschrift vorschreibt oder zulässt. Er sieht insbesondere vor, dass im Falle einer zeitigen Freiheitsstrafe höchstens auf drei Viertel des angedrohten Höchstmaßes erkannt werden darf (§ 49 Abs. 1 Nr. 2 StGB).
B. Bestimmungen über die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
1. Anordnung der Unterbringung einer Person in einem psychiatrischen Krankenhaus
41. § 63 StGB sieht vor, dass das Gericht für den Fall, dass jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begangen hat, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnet, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
2. Gerichtliche Überprüfung und Dauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
42. Gemäß § 67e StGB kann das Gericht (d. h. die zuständige Strafvollstreckungskammer) jederzeit prüfen, ob die weitere Vollstreckung der Unterbringung einer Person in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung auszusetzen ist. Es muss dies vor Ablauf bestimmter Fristen prüfen (§ 67e Abs. 1 StGB). Für in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachte Personen beträgt die Frist ein Jahr (§ 67e Abs. 2).
43. § 67d StGB enthält Bestimmungen über die Dauer der Unterbringung. In Absatz 2 ist festgelegt, dass, sofern keine Höchstfrist vorgesehen oder die Frist noch nicht abgelaufen ist, das Gericht die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aussetzt, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte nach seiner Entlassung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Mit der Aussetzung tritt Führungsaufsicht ein.
44. § 67d Abs. 6 StGB, in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung, lautete wie folgt:
„(6) Stellt das Gericht nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus fest, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre, so erklärt es sie für erledigt. Mit der Erledigung der Maßregel tritt Führungsaufsicht ein. …“
45. § 66b und § 67d Abs. 6 wurden mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004, das am 29. Juli 2004 in Kraft trat, in das Strafgesetzbuch eingeführt. Es kodifiziert die frühere Rechtsprechung der Strafvollstreckungsgerichte zur Beendigung der Unterbringung einer Person in einem psychiatrischen Krankenhaus in Fällen, in denen der Betroffene nicht mehr an einem Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit litt oder dieser tatsächlich nie bestanden hatte.
46. Nach dieser Rechtsprechung war die Unterbringung einer Person in einem psychiatrischen Krankenhaus in Fällen zu beenden, in denen festgestellt wurde, dass der Betroffene zum Zeitpunkt der Entscheidung des Vollstreckungsgerichts nicht mehr an einer psychischen Störung im Sinne von § 20 StGB litt, insbesondere weil er geheilt wurde (siehe z. B. Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Az. 3 Ws 1119/01, Entscheidung vom 26. November 2001; Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Az. 2 Ws 572/02, Entscheidung vom 22. Oktober 2002, NStZ 2003, S. 222 ff.; Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Az. 3 Ws 298‑299/05,
Entscheidung vom 3. Juni 2005; und die Verweise in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12. Mai 2010, Az. 4 StR 577/09).
47. Die Unterbringung war auch in Fällen zu beenden, in denen eine solche Störung von Anfang nicht vorlag, ein solcher Zustand vom erkennenden Gericht aber aufgrund fehlerhafter Tatsachengrundlage angenommen wurde (Fehleinweisung aus tatsächlichen Gründen). Entscheidend war nur, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung des Vollstreckungsgerichts festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht erfüllt waren (siehe z.B. Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Az. 3 Ws 1119/01, Entscheidung vom 26. November 2001; Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Az. 2 Ws 572/02, Entscheidung vom 22. Oktober 2002, NStZ 2003, S. 222 ff.; Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Az. 3 Ws 298-299/05, Entscheidung vom 3. Juni 2005).
48. Die innerstaatlichen Strafvollstreckungsgerichte hingegen, deren Auffassung von einer Reihe von Wissenschaftlern gestützt wurde, stellten wiederholt fest, dass eine Fehleinweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus, die auf reinen Rechtsfehlern seitens des erkennenden Gerichts beruhten, nicht unter § 67d Abs. 6 StGB falle, obwohl der Wortlaut dieser Bestimmung in dieser Hinsicht offen sei. Ein solcher reiner Rechtsfehler komme in Fällen vor, in denen das erkennende Gericht die psychische Störung in tatsächlicher Hinsicht korrekt festgestellt, in rechtlicher Hinsicht aber fehlerhaft als eine Störung im Sinne der §§ 20, 21, 63 StGB angesehen habe (siehe z. B. Oberlandesgerichts Frankfurt am Main, Az. 3 Ws 298-299/05, Entscheidung vom 3. Juni 2005; und W. Stree / J. Kinzig, in: A. Schönke / H. Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, 28. Aufl., München 2010, § 67d, Nr. 16 mit zahlreichen weiteren Verweisen).
C. Bestimmungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung
49. Wie bereits dargelegt worden ist (siehe Rdnr. 45), wurde mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juni 2004 nicht nur § 67d Abs. 6, sondern auch § 66b in das Strafgesetzbuch eingeführt. Mit der Bestimmung sollte die Freilassung von Personen verhindert werden, deren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht länger möglich war, weil die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht mehr erfüllt waren (einschließlich der Fälle, in denen diese Voraussetzungen von vornherein nie gegeben waren), die aber für die Allgemeinheit immer noch gefährlich waren (vgl. BT-Drucksache Nr. 15/2887, S. 13/14).
50. § 66b StGB enthält Bestimmungen über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung einer Person in der Sicherungsverwahrung. Zur maßgeblichen Zeit war die Anordnung nach den Absätzen 1 und 2 zulässig, wenn der Betroffene bestimmte erhebliche Straftaten begangen hatte. Darüber hinaus mussten nach der Verurteilung des Betroffenen neue Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinwiesen. Überdies musste es sehr wahrscheinlich sein, dass der Betroffene wieder erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden.
51. Darüber hinaus sah § 66b Abs. 3 StGB zur maßgeblichen Zeit vor, dass das Gericht für den Fall, dass die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 für erledigt erklärt wurde, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der Erledigungsentscheidung nicht bestanden hatte, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung unter den folgenden Voraussetzungen nachträglich anordnen konnte. Erstens musste die Unterbringung des Betroffenen nach § 63 wegen mehrerer der in § 66 Abs. 3 Satz 1 genannten erheblichen Taten angeordnet worden sein. Alternativ musste der Betroffene wegen einer oder mehrerer solcher Taten, die er vor der zur Unterbringung nach § 63 führenden Tat begangen hatte, schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt oder in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht worden sein. Zweitens musste die Gesamtwürdigung des Betroffenen, seiner Straftaten und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Maßregel ergeben haben, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche Straftaten begehen würde, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.
52. § 66b Abs. 3 und § 67d Abs. 6 StGB blieben auch nach dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung vom 22. Dezember 2010 für solche Straftaten gültig, die nach In Krafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2011 begangen wurden. Aufgrund der Aufhebung des § 66b Abs. 1 und 2 StGB bleibt lediglich der frühere Absatz 3 dieser Bestimmung in geringfügig veränderter Fassung bestehen.
D. Revision und Wiederaufnahme des Strafverfahrens
53. Nach § 337 Abs. 1 StPO kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe. § 337 Abs. 2 StGB sieht vor, dass das Gesetz verletzt ist, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist.
54. In § 359 StPO werden die Umstände aufgezählt, unter denen die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig ist. Nach § 359 Nr. 5 ist dies insbesondere der Fall, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind. Die Feststellung eines Rechtsfehlers hingegen wurde in dieser Bestimmung nicht als Grund für die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens genannt.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 5 ABSATZ 1 DER KONVENTION
55. Der Beschwerdeführer rügte, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sein Grundrecht auf Freiheit verletzt habe. Seine Unterbringung sei trotz der Feststellung verlängert worden, dass er nicht an einem Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit gelitten habe und dieser bei ihm auch nie bestanden habe. Daher könne ihm nicht wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit entzogen werden. Er berief sich auf Artikel 5 Abs. 1 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„1. Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:
a) rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht;…
e)rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; […]“
56. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Die Regierung
57. Nach dem Vorbringen der Regierung hat der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft. Er habe keine Revision gegen das Urteil des Landgerichts Gießen vom 15. März 1995 eingelegt. Dieses Gericht habe irrtümlicherweise festgestellt, dass der Zustand des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat rechtlich als Zustand der verminderten Schuldfähigkeit einzuordnen sei, und habe seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die falsche Rechtsanwendung im Urteil des Landgerichts Gießen, das die Grundlage für die nachfolgende Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus war, hätte im Revisionsverfahren korrigiert werden können. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer die Sechs-Monats-Frist, die mit seiner Verurteilung 1995 zu laufen begonnen habe, nicht eingehalten.
58. Die Regierung vertrat ferner die Auffassung, dass die Entscheidung des Landgerichts Gießen vom 28. April 2006 der falsche Beschwerdegegenstand sei. In einem Überprüfungsverfahren nach § 67e StGB (siehe Rdnr. 42) könnten die innerstaatlichen Gerichte nur untersuchen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus noch vorlägen – was bei dem Beschwerdeführer der Fall gewesen sei. Jedoch könnten die Gerichte in diesem Verfahren keine Rechtsfehler wie den hier in Rede stehenden korrigieren, der in einem rechtskräftigen Urteil eines erkennenden Gerichts gemacht worden sei.
59. Die Regierung trug ferner vor, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg auch insofern nicht erschöpft habe, als er jetzt rüge, dass ihm keine ausreichende therapeutische Behandlung angeboten worden sei.
b) Der Beschwerdeführer
60. Der Beschwerdeführer bestritt diese Auffassung und trug vor, dass seine Beschwerde zulässig sei. Er habe den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpft und die Sechs-Monats-Frist eingehalten. Zwar treffe es zu, dass das Urteil des erkennenden Landgerichts Gießen vom 15. März 1995 rechtskräftig geworden sei, jedoch sei dieses Urteil nicht Gegenstand seiner Beschwerde. Er habe die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Gießen vom 28. April 2006 gerügt, das seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht für erledigt erklärt habe, obwohl er nicht an einer psychischen Krankheit leide; diese Entscheidung sei im Beschwerdeverfahren und vom Bundesverfassungsgericht am 19. Juni [sic.] 2006 bestätigt worden.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
61. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Beschwerde rügte, dass die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in dem hier in Rede stehenden Überprüfungsverfahren sein Recht auf Freiheit nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt hätten, weil sie seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verlängert hätten, obwohl er nicht psychisch krank sei. Er rügte die Entscheidung des Landgerichts Gießen vom 28. April 2006, die das Oberlandesgericht Frankfurt am Main im Beschwerdeverfahren am 16. Juni 2006 und das Bundesverfassungsgericht am 19. Oktober 2006 bestätigten; die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 13. November 2006 zugestellt.
62. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg in Bezug auf diesen Sachverhalt, der allein Gegenstand seiner Beschwerde an den Gerichtshof ist, erschöpft hat. Darüber hinaus erhob er seine Beschwerde am 4. Mai 2007 und damit innerhalb von sechs Monaten nach der Zustellung (siehe in diesem Zusammenhang u.a. Worm ./. Österreich, 29. August 1997, Rdnr 33, Reports of JudgmentsandDecisions 1997‑V) der endgültigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Folglich hielt er die Zulässigkeitsvoraussetzungen nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention ein. Die Einwände der Regierung sind daher zurückzuweisen.
63. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1.Die Stellungnahmen der Parteien
a)Der Beschwerdeführer
64. Der Beschwerdeführer trug vor, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegen Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verstoßen habe. Sie sei weder nach einem der Buchstaben a bis f des Artikels 5 Abs. 1 gerechtfertigt, noch sei sie rechtmäßig gewesen.
(i) Rechtfertigung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a
65. Der Beschwerdeführer betonte, das Ziel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sei die Heilung einer psychischen Erkrankung. Da er nicht an einer krankhaften psychischen Störung leide, könne er auch nicht in einem psychiatrischen Krankenhaus geheilt und das Ziel der Unterbringung in einem solchen Krankenhaus nicht erreicht werden.
(ii) Rechtfertigung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e
66. Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers könne er auch nicht als „psychisch krank“ im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e angesehen werden. Alle konsultierten psychiatrischen Sachverständigen seien sich einig gewesen, dass er nicht an einer krankhaften psychischen Störung im Sinne der §§ 20 und 21 StGB leide und dass die Voraussetzungen für seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB daher nicht erfüllt seien. Er könne in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht geheilt werden, da er nicht krank sei. Er hob hervor, dass der deutsche Gesetzgeber psychische Erkrankungen in den §§ 20 und 21 definiert habe. Es könne jetzt nicht argumentiert werden, der Gesetzgeber habe „psychisch Kranke“ anders, breiter definiert und seine Unterbringung könne damit möglicherweise doch unter Art. 5 Abs. 1 Buchstabe e fallen.
67. Darüber hinaus argumentierte der Beschwerdeführer, dass die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht vom Fortbestehen seiner psychischen Störung abhänge. Alle beigezogenen psychiatrischen Sachverständigen hätten nicht nur bestätigt, dass er nicht an einer krankhaften psychischen Störung leide, sondern auch, dass seine Gefährlichkeit nicht auf eine solche Störung zurückzuführen sei. Daher sei seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht gerechtfertigt. Es sei in diesem Zusammenhang unerheblich, dass ihm auch in einem psychiatrischen Krankenhaus möglicherweise eine sinnvolle therapeutische Behandlung angeboten werden könne.
68. Der Beschwerdeführer brachte weiter vor, er sei motiviert gewesen, sich einer Therapie zu unterziehen. Jedoch sei er durch die Art und Weise, in der er über viele Jahre behandelt und in zahlreiche verschiedene psychiatrische Krankenhäuser verlegt worden sei, ohne dass es ein Gesamtkonzept für seine Therapie gegeben hätte und ohne dass ihm die von ihm beantragte Therapie angeboten worden wäre, demotiviert worden. Die Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, während der ihm die therapeutische Behandlung, zu der er bereit gewesen sei, versagt worden sei, sei unverhältnismäßig. Es sei ihm dadurch die Möglichkeit genommen worden, auf seine Entlassung hinzuarbeiten.
(iii) Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung
69. Der Beschwerdeführer vertrat die Auffassung, dass seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unrechtmäßig war. Nach dem eindeutigen Wortlaut von § 67d Abs. 6 StGB seien die innerstaatlichen Gerichte verpflichtet gewesen, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu beenden. Nach dieser Bestimmung hätten die Gerichte festzustellen, ob der Betroffene zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung an einem Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20 und 21 StGB litt und ob folglich zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 63 StGB erfüllt waren. Sei dies nicht der Fall, so sei die Unterbringung zu beenden. Es sei jedoch nicht Aufgabe der Vollstreckungsgerichte, die Richtigkeit des Urteils des erkennenden Gerichts zu überprüfen.
70. Der Beschwerdeführer betonte, dass eine andere Auslegung dazu führen würde, dass Personen, die nicht im Sinne der §§ 20 und 21 StGB psychisch krank seien, dennoch in einem psychiatrischen Krankenhauses untergebracht würden. Da in seinem Fall die Voraussetzungen für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht erfüllt seien, könnten ferner auch die Ziele, die üblicherweise mit einer solchen Maßnahme verfolgt würden – nämlich die Behandlung der psychischen Erkrankung des Betroffenen -, nicht erreicht werden. Seiner Ansicht nach bedeute die Tatsache, dass das erkennende Gericht einen Fehler gemacht habe, nicht, dass die Vollstreckungsgerichte denselben Rechtsfehler fortsetzen dürften. Unter diesen Umständen sei die Fortdauer seiner Unterbringung auch nicht vorhersehbar gewesen.
b) Die Regierung
71. Die Regierung vertrat die Auffassung, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus mit Artikel 5 der Konvention vereinbar sei.
(i) Rechtfertigung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a
72. Die Regierung trug vor, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus sei nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a als „Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht“ gerechtfertigt.
73. Sie führte aus, es bestehe weiterhin ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das erkennende Landgericht Gießen im Jahre 1995 und der Fortdauer seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Die Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB durch das erkennende Gericht sei insbesondere darauf gerichtet, die Allgemeinheit vor weiteren von ihm begangenen schweren Straftaten zu schützen. Trotz des Zeitablaufs seit dem Urteil des erkennenden Gerichts werde dieses Ziel mit der in Rede stehenden Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers immer noch verfolgt, denn es sei weiterhin wahrscheinlich, dass er im Falle seiner Freilassung weitere schwere Straftaten begehen werde.
74. Mit der Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus habe das erkennende Gericht ferner das Ziel verfolgt, den Beschwerdeführer behandeln zu lassen. Auch die Fortdauer seiner Unterbringung diene weiterhin diesem therapeutischen Zweck.
(ii) Rechtfertigung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e
75. Die Regierung brachte ferner vor, dass die vom Landgericht Gießen am 28. April 2006 angeordnete Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus auch unter Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e falle.
76. Nach Ansicht der Regierung leide der Beschwerdeführer derzeit an einer psychischen Störung und sei daher im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e „psychisch krank“. „Psychisch krank“ in diesem Sinne setze weder voraus, dass der Zustand der betroffenen Person krankhaft sein müsse, noch, dass sie in ihrer strafrechtlichen Schuldfähigkeit eingeschränkt sein müsse. Entscheidend sei, dass ihre Störung so schwerwiegend sei, dass sie eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle.
77. Die Regierung trug vor, dass beim Beschwerdeführer, wie von zahlreichen während seiner Freiheitsentziehung konsultierten psychiatrischen Sachverständigen bestätigt, eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vorliege, die eine „psychische Krankheit“ begründe, auch wenn bei ihm kein Zustand vorliege, der zur verminderten Schuldfähigkeit führe. Die psychische Störung des Beschwerdeführers erreiche einen Schweregrad, der seine zwangsweise Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertige. Wie alle konsultierten psychiatrischen Sachverständigen bestätigten, bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer erneut ähnliche Straftaten wie die drei brutalen Verbrechen, wegen derer er verurteilt worden sei, begehen werde, und zwar dann, wenn innerhalb eines Beziehungskonfliktes erneut eine emotionale Ausnahmesituation auftreten würde. Er habe immer noch keine Therapie abgeschlossen, in der er sich mit seiner Persönlichkeitsstörung auseinandergesetzt und gelernt habe, seine emotionalen Gewaltausbrüche zu kontrollieren, und sei daher weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit.
78. Die Regierung hob ferner hervor, dass die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus vom Fortbestehen seiner Persönlichkeitsstörung abhänge, wie es die Rechtsprechung des Gerichtshofs verlange. Wenn der Beschwerdeführer eine Therapie erfolgreich abschließen würde – was, wie von den psychiatrischen Sachverständigen bestätigt worden sei, bei entsprechender Therapiemotivation des Beschwerdeführers möglich sei – wäre er nicht mehr für die Allgemeinheit gefährlich und seine Unterbringung würde nach § 67d Abs. 2 zur Bewährung ausgesetzt (siehe Rdnr. 43).
79. Die Regierung brachte vor, dass der Beschwerdeführer auch in einer für psychisch kranke Patienten geeigneten Einrichtung untergebracht gewesen sei. Die Persönlichkeitsstörung, an der der Beschwerdeführer leide, könne in den verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern, in denen er untergebracht worden sei, ungeachtet dessen behandelt werden, dass seine Schuldfähigkeit durch seine Störung nicht vermindert sei. Die dem Beschwerdeführer angebotenen geeigneten Therapien, die dringend erforderlich seien, um seine Gefährlichkeit zu vermindern, hätten jedoch nicht abgeschlossen werden können, weil es ihm an einer echten und ausreichenden Therapiemotivation gefehlt habe.
(iii) Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung
80. Die Regierung führte aus, das erkennende Landgericht Gießen sei der Auffassung gewesen, dass der psychische Zustand, in dem sich der Beschwerdeführer zur Tatzeit befunden habe, eine verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB begründete. Das Gericht habe bei seiner rechtlichen Einordnung verkannt, dass der psychische Zustand des Beschwerdeführers noch keine „schwere andere seelische Abartigkeit“ im Sinne der §§ 20, 21 StGB dargestellt habe und er deshalb im Zustand der vollen Schuldfähigkeit gehandelt habe. Das Gericht habe deshalb die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, obwohl eine der Voraussetzungen von § 63 StGB – dass der Betroffene eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat – nicht erfüllt gewesen sei Dieses Urteil sei dennoch rechtskräftig geworden, nachdem der Beschwerdeführer keine Revision eingelegt habe
81. Nach Ansicht der Regierung war die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers rechtmäßig und erfolgte in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise. Sie räumte ein, dass nach dem Wortlaut von § 67d Abs. 6 StGB (siehe Rdnr. 44) die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt zu erklären sei, wenn das Gericht nach Beginn der Vollstreckung feststelle, dass die Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorlägen. In Übereinstimmung mit der vorherrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur sei diese Bestimmung jedoch nicht auf den Sachverhalt in der vorliegenden Rechtssache anwendbar, bei dem das erkennende Gericht die Störung in tatsächlicher Hinsicht korrekt festgestellt habe, in rechtlicher Hinsicht aber fehlerhaft als eine fortdauernde Störung im Sinne der §§ 20, 21, 63 StGB angesehen habe (siehe auch Rdnr. 48). Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung in der vorliegenden Rechtssache bestätigt, dass diese Auslegung mit der Verfassung übereinstimme.
82. Die Regierung trug vor, dass, eine Reihe von Gründen für diese Auslegung von § 67d Abs. 6 StGB spreche. Rechtsfehler seien im Rahmen der Revision zu beanstanden. Sobald ein Urteil rechtskräftig sei, bestehe – außer im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens nach § 359 StPO – keine Möglichkeit mehr, auf eine Korrektur hinzuwirken (siehe Rdnr. 54). Eine Wiederaufnahme nach dieser Bestimmung könne jedoch nur erfolgen, wenn neue Tatsachen beigebracht würden, die geeignet seien, eine andere Entscheidung über die Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen. Keine Wiederaufnahme könne hingegen erfolgen, wenn die Entscheidung auf einem reinen Rechtsfehler beruhe. Folglich könnten Rechtsfehler, die nicht einmal durch das Wiederaufnahmeverfahren korrigiert werden könnten, nicht im Rahmen des Verfahrens nach § 67e StGB zur Überprüfung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus korrigiert werden.
Anderenfalls würde die materielle Rechtskraft des Ausgangsurteils durchbrochen und die Rechtssicherheit beeinträchtigt.
83. Die Regierung fügte hinzu, der Beschwerdeführer habe in der vorliegenden Rechtssache von der Wertung des erkennenden Gerichts, dass er im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB gehandelt habe, profitiert. Im Ergebnis habe der Rechtsfehler dazu geführt, dass die ihm auferlegte Freiheitsstrafe – gegenüber der Strafe, die er bekommen hätte, wenn er als voll schuldfähig gegolten hätte – nach § 49 Abs. 1 StGB deutlich gemildert worden sei (siehe Rdnr. 40).
84. Die Regierung brachte weiter vor, dass die Strafvollstreckungsgerichte festzustellen gehabt hätten, ob die Voraussetzungen für die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB i.V.m. §§ 20 und 21 StGB zum Zeitpunkt ihrer Entscheidungen erfüllt waren. Wenn sich jedoch der psychische Zustand des Betroffenen seit seiner Verurteilung nicht geändert habe, seien die Strafvollstreckungsgerichte infolge der Rechtskraft des Urteils des erkennenden Gerichts an die rechtliche Wertung dieses Zustands durch dieses Gericht gebunden gewesen. In der vorliegenden Rechtssache seien die Strafvollstreckungsgerichte daher an die Wertung des erkennenden Gerichts, dass der – unveränderte – Zustand des Beschwerdeführers ein Zustand der verminderten Schuldfähigkeit gewesen sei, gebunden gewesen.
85. Angesichts der vorstehenden Ausführungen sei die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nur dann nach den §§ 67e und 67d Abs. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen, wenn erwartet werde könne, dass er nach seiner Entlassung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Die innerstaatlichen Gerichten hätten jedoch festgestellt, dass mit außerordentlich hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen sei, dass der Beschwerdeführer andere Personen – insbesondere in einer Beziehungskrise – aufs Schwerste schädigen werde. In Anbetracht der Tatsache, dass der Beschwerdeführer bereits drei Menschen getötet habe, sei seine weitere Unterbringung auch verhältnismäßig.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
a) Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze
(i) Freiheitsentziehungsgründe
86. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung in Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f enthalten ist und eine Freiheitsentziehung nur rechtmäßig sein kann, wenn sie von einem dieser Gründe erfasst wird (siehe u. a. Guzzardi ./. Italien, 6. November 1980, Rdnr. 96, Serie A Band 39; Witold Litwa ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 26629/95, Rdnr. 49, ECHR 2000‑III; und Saadi ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13229/03, Rdnr. 43, ECHR 2008). Die Anwendbarkeit eines Grundes schließt jedoch nicht notwendigerweise die eines anderen aus; eine Freiheitsentziehung kann je nach den Umständen nach mehr als einem der Buchstaben gerechtfertigt sein (siehe u. a. Eriksen ./. Norwegen, 27. Mai 1997, Rdnr. 76, Reports 1997‑III, Erkalo ./. Niederlande, 2. September 1998, Rdnr. 50, Reports 1998‑VI; und Witold Litwa, a. a. O., Rdnr. 49). Nur eine enge Auslegung der erschöpfenden Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung entspricht dem Ziel von Artikel 5, nämlich sicherzustellen, dass niemandem willkürlich die Freiheit entzogen wird (sie u.v.a. Winterwerp ./. die Niederlande, 24. Oktober 1979, Rdnr. 37, Serie A Nr. 33; Guzzardi, a. a. O., Rdnr. 98; und Shimovolos ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 30194/09, Rdnr. 51, 21. Juni 2011).
87. Im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a ist der Begriff „Verurteilung“ (englisch: „conviction“) unter Berücksichtigung des französischen Textes („condamnation“) so zu verstehen, dass er sowohl eine Schuldfeststellung bezeichnet, nachdem das Vorliegen einer Straftat in der gesetzlich vorgesehenen Weise festgestellt wurde (s. Guzzardi, a. a. O., Rdnr. 100), als auch die Verhängung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme (siehe Van Droogenbroeck ./. Belgien, 24. Juni 1982, Rdnr. 35, Serie A Band 50, und M. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnr. 87, ECHR 2009).
88. Nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a muss die Freiheitsentziehung des Betroffenen rechtmäßig sein, nicht seine Verurteilung. Da der Zweck von Artikel 5 darin besteht, den Einzelnen vor willkürlicher Freiheitsentziehung zu schützen, kann eine Freiheitsentziehung (nur) dann aufgrund einer fehlerhaften Verurteilung unrechtmäßig sein, wenn diese Verurteilung das Ergebnis einer flagranten Rechtsverweigerung ist (vgl. Ilaşcu u.a. ./. Moldawien und Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 48787/99, Rdnr. 461, ECHR 2004‑VII).
89. Überdies bedeutet das Wort „nach” in Buchstabe a nicht einfach, dass die „Freiheitsentziehung“ zeitlich auf die „Verurteilung“ folgen muss: Zusätzlich muss die „Freiheitsentziehung” sich aus dieser „Verurteilung“ ergeben, ihr folgen und von ihr abhängen oder kraft dieser „Verurteilung“ angeordnet werden (siehe van Droogenbroeck, a. a. O., Rdnr. 35).Kurz gefasst muss zwischen der Verurteilung und der in Rede stehenden Freiheitsentziehung ein hinreichender Kausalzusammenhang bestehen (siehe Weeks ./. Vereinigtes Königreich, 2. März 1987, Rdnr. 42, Serie A Band 114; Stafford ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 46295/99, Rdnr. 64, ECHR 2002‑IV; Waite ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 53236/99, Rdnr. 65, 10. Dezember 2002; und Kafkaris ./. Zypern [GK], Individualbeschwerde Nr. 21906/04, Rdnr. 117, ECHR 2008). Jedoch kann die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und einer weiteren Freiheitsentziehung mit zunehmendem Zeitablauf allmählich schwächer werden (vgl. Eriksen, a. a. O., Rdnr. 78, und Van Droogenbroeck, a. a. O., Rdnr. 40). Der nach Buchstabe a erforderliche Kausalzusammenhang könnte schließlich durchbrochen werden, wenn eine Position erreicht würde, in der die Entscheidung, keine Freilassung bzw. eine neue Haft anzuordnen, sich auf Gründe stützte, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung (durch ein erkennendes Gericht) unvereinbar wären, oder auf eine Einschätzung, die im Hinblick auf diese Ziele unangemessen wäre. Unter diesen Umständen würde sich eine Freiheitsentziehung, die zu Beginn rechtmäßig war, in eine willkürliche Freiheitsentziehung verwandeln, die folglich mit Artikel 5 nicht vereinbar wäre (vgl. Van Droogenbroeck, a. a. O., Rdnr. 40; Eriksen, a. a. O., Rdnr. 78; Weeks, a. a. O., Rdnr. 49; und M ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 88).
90. Überdies weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass der Begriff „psychisch Kranke“ aus Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e sich nicht genau definieren lässt, weil seine Bedeutung sich mit dem Fortschreiten der psychiatrischen Forschung ständig verändert (siehe Winterwerp ./. Niederlande, a. a. O., Rdnr. 37, und Rakevich ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 58973/00, Rdnr. 26, 28. Oktober 2003). Einer Person kann wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit nur entzogen werden, wenn die drei folgenden Mindestvoraussetzungen vorliegen: Erstens muss die psychische Krankheit zuverlässig nachgewiesen sein, d. h. eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund objektiver ärztlicher Fachkompetenz vor einer zuständigen Behörde festgestellt werden; zweitens muss die psychische Störung ihrer Art oder ihrer Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigen; drittens hängt die Fortdauer der Unterbringung vom Fortbestehen einer derartigen Störung ab (siehe Winterwerp ./. die Niederlande, a. a. O., Rdnr. 39, und Stanev ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 36760/06, Rdnr. 145, ECHR 2012 ).
91. Eine psychische Störung erfordert ihrer Art oder Schwere nach dann eine Zwangsunterbringung, wenn festgestellt wird, dass die Unterbringung des Betroffenen erforderlich ist, weil er eine Therapie, Medikamente oder eine sonstige klinische Behandlung benötigt, um seinen Zustand zu heilen oder zu verbessern, aber auch wenn der Betroffene der Kontrolle und Aufsicht bedarf, um ihn davon abzuhalten, beispielsweise sich selbst oder anderen zu schaden (vgl. z. B. Witold Litwa, a. a. O., Rdnr. 60; und Hutchison Reid ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 50272/99, Rdnr. 52, ECHR 2003‑IV).
92. Im Hinblick auf die Entscheidung, ob einer Person wegen „psychischer Krankheit“ die Freiheit entzogen werden sollte, ist anzuerkennen, dass die nationalen Behörden, insbesondere hinsichtlich klinischer Befunde, über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen, weil in erster Linie die nationalen Behörden dafür zuständig sind, die ihnen beigebrachten Beweise in einem bestimmten Fall zu würdigen; die Aufgabe des Gerichtshofs besteht darin, im Lichte der Konvention die Entscheidungen dieser Behörden zu überprüfen (siehe Rechtssachen Winterwerp, a. a. O. Rdnr. 40; und H. L. ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 45508/99, Rdnr. 98, EGMR 2004‑IX). Der maßgebliche Zeitpunkt, zu dem die psychische Erkrankung einer Person für die Erfordernisse des § 5 Abs. 1 Buchstabe e zuverlässig nachgewiesen sein muss, ist der Tag des Erlasses der Maßnahme, mit der jener Person aufgrund dieses Zustands die Freiheit entzogen wird (vgl. Luberti ./. Italien, 23. Februar 1984, Rdnr. 28, Serie A Band 75; B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr.61272/09, Rdnr. 68, 19. April 2012).
93. Darüber hinaus muss ein Zusammenhang zwischen dem angeführten Grund einer zulässigen Freiheitsentziehung und dem Ort und den Bedingungen der Freiheitsentziehung bestehen. Grundsätzlich ist die „Freiheitsentziehung“ einer Person wegen psychischer Krankheit nur dann im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e „rechtmäßig“, wenn sie in einem Krankenhaus, einer Klinik oder einer anderen geeigneten Einrichtung erfolgt (siehe Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, 28. Mai 1985, Rdnr. 44, Serie A Band 93; Aerts ./. Belgien, 30. Juli 1998, Rdnr. 46, Reports 1998‑V; Hutchison Reid, a. a. O., Rdnr. 49; Brand ./. Niederlande, Individualbeschwerde Nr. 49902/99, Rdnr. 62, 11. Mai 2004; und H. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 6587/04, Rdnr. 78, 13. Januar 2011).
2.„Rechtmäßige” Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“
94. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f muss jede Freiheitsentziehung unter eine der Ausnahmen nach diesen Bestimmungen fallen und darüber hinaus „rechtmäßig“ sein. Sofern es um die „Rechtmäßigkeit“ der Freiheitsentziehung geht, was auch die Frage beinhaltet, ob sie „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgt ist, verweist die Konvention im Wesentlichen auf das innerstaatliche Recht und erlegt die Verpflichtung auf, dessen materiell- und verfahrensrechtliche Bestimmungen einzuhalten (siehe u.v.a. Erkalo, a. a. O., Rdnr. 52; Brand, a. a. O., Rdnr. 60; Saadi ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 67, und Kafkaris, a. a. O., Rdnr. 116). Dies bedeutet in erster Linie, dass jede Festnahme oder Freiheitsentziehung eine gesetzliche Grundlage im innerstaatlichen Recht haben muss, betrifft aber auch die Qualität des Gesetzes, das rechtsstaatlichen Anforderungen genügen muss, einer Leitidee, die in allen Konventionsartikeln verankert ist (siehe Stafford, a. a. O., Rdnr. 63; Kafkaris, a. a. O., Rdnr. 116; und De Schepper ./. Belgien, Individualbeschwerde Nr. 27428/07, Rdnr. 36, 13. Oktober 2009). „Qualität des Gesetzes” bedeutet in diesem Sinne, dass das Gesetz in den Fällen, in denen die Freiheitsentziehung nach innerstaatlichem Recht zulässig ist, hinreichend zugänglich sein muss und seine Anwendung präzise und vorhersehbar sein muss, um jegliche Gefahr der Willkür zu vermeiden (siehe Amuur ./. Frankreich, 25. Juni 1996, Rdnr. 50, Reports 1996‑III; Nasrulloyev ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 656/06, Rdnr. 71, 11. Oktober 2007; und M. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 11364/03, Rdnr. 76, 9. Juli 2009). Der von der Konvention gesetzte Maßstab hinsichtlich der „Rechtmäßigkeit“ besagt, dass alle Rechtsvorschriften hinreichend präzise sein müssen, so dass eine Person – nötigenfalls mit entsprechender Beratung – in einem Maß, das unter den jeweiligen Umständen angemessen ist, voraussehen kann, welche Folgen eine bestimmte Handlung nach sich ziehen kann (siehe Steel u.a. ./. Vereinigtes Königreich, 23. September 1998, Rdnr. 54, Reports 1998‑VII, und Baranowski ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 28358/95, Rdnr. 52, ECHR 2000‑III; und M. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnr. 90).
95. Die Einhaltung des innerstaatlichen Rechts reicht jedoch nicht aus: Artikel 5 Abs. 1 verlangt auch, dass jede Freiheitsentziehung mit der Absicht, den Einzelnen vor Willkür zu schützen, vereinbar sein sollte (siehe u.v.a. Winterwerp, a .a. O.,Rdnr. 37; Saadi ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 67, und M., a. a. O., Rdnr. 72). Der Gerichtshof hat im Zusammenhang mit Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e mehrfach festgestellt, dass Freiheitsentziehung eine derart schwerwiegende Maßnahme darstellt, dass sie nur gerechtfertigt ist, wenn andere, weniger einschneidende Maßnahmen in Betracht gezogen und zum Schutz des Einzelnen oder der Allgemeinheit für nicht ausreichend befunden wurden, so dass dem Betroffenen gegebenenfalls die Freiheit entzogen werden muss. Es ist nachzuweisen, dass die Freiheitsentziehung unter den gegebenen Umständen notwendig war (siehe Witold Litwa, a. a. O., Rdnr. 78; Varbanov ./. Bulgarien, Individualbeschwerde Nr. 31365/96, Randnr. 46, ECHR 2000‑X; Saadi ./. Vereinigtes Königreich, a. a. O., Rdnr. 70, und Puttrus, a. a. O.).
b) Anwendung dieser Grundsätze auf die vorliegende Rechtssache
(i) Freiheitsentziehungsgründe
96. Der Gerichtshof ist aufgefordert zu untersuchen, ob dem Beschwerdeführer während seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die aufgrund des hier in Rede stehenden Verfahrens erfolgte, die Freiheit gemäß einem der Buchstaben a bis f von Artikel 5 Abs. 1 rechtmäßig entzogen wurde.
97. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus vom Landgericht Gießen in seinem Urteil vom 15. März 1995 nach § 63 StGB im Zusammenhang mit seiner Verurteilung wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten angeordnet wurde (siehe Rdnrn. 7-8). Der Gerichtshof wird daher zunächst prüfen, ob die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus, wie von der Regierung vorgebracht, nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a als „Freiheitsentziehung nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht“ gerechtfertigt war.
98. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus, eine freiheitsentziehende Maßnahme, 1995 durch das erkennende Landgericht Gießen, das ihn des Totschlags für schuldig befunden hatte, angeordnet wurde. Dieses Urteil erfüllt damit die Voraussetzung der „Verurteilung“ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 (siehe Rdnr. 87; vgl. auch M. ./. Deutschland, a. a. O., Rdnrn. 95-96, und Brand, a. a. O., Rdnr. 59).
99. Der Gerichtshof muss ferner feststellen, ob die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus „nach Verurteilung“ erfolgte, ob, anders ausgedrückt, noch ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers durch das erkennende Gericht im Jahre 1995 und der Fortdauer seiner Freiheitsentziehung nach dem 28. April 2006 bestand. Dieser nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a erforderliche Kausalzusammenhang könnte insbesondere durchbrochen sein, wenn die Entscheidung, den Beschwerdeführer nicht freizulassen, sich auf Gründe stützte, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung des erkennenden Gerichts bei der Anordnung seiner Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unvereinbar wären (siehe Rdnr. 89).
100. Der Gerichtshof stellt fest, dass das erkennende Landgericht Gießen die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB anordnete, weil es der Auffassung war, dass der Beschwerdeführer, als er seine frühere Lebensgefährtin tötete, mit verminderter Schuldfähigkeit gehandelt habe, die auf eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung zurückzuführen sei. Nach Ansicht der Landgerichts liege bei ihm eine durch Gewaltausbrüche gekennzeichnete schwere Persönlichkeitsstörung vor, die zu einer verminderten Steuerungsfähigkeit geführt habe. Das Landgericht stellte ferner fest, dass im Hinblick auf den Zustand des Beschwerdeführers zu erwarten sei, dass dieser in einer ähnlichen Beziehungskonfliktsituation erneut töten werde (siehe Rdnrn. 7-8).
101. In dem in Rede stehenden Überprüfungsverfahren im Jahre 2006 ordneten das Landgericht Gießen und das Oberlandesgericht Frankfurt am Main aus folgenden Gründen die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus an: Sie schlossen sich den Feststellungen des hinzugezogenen Sachverständigen an, dass bei dem Beschwerdeführer eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vorliege, die mit einer Neigung zu unkontrollierten Gewaltreaktionen einhergehe. In tatsächlicher Hinsicht sei diese Störung seit der Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahre 1995 unverändert geblieben. Entgegen der Ansicht des erkennenden Gerichts könne sie jedoch rechtlich nicht auf Grundlage des § 63 StGB als eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung, die zu einem Zustand der verminderten Schuldfähigkeit führe, eingestuft werden. Dennoch sahen sich die innerstaatlichen Gerichte im Überprüfungsverfahren aus rechtlichen Gründen – nämlich aufgrund des Verfassungsgrundsatzes der Rechtskraft von Urteilen – an die vom erkennenden Gericht vorgenommene rechtliche Einordnung der Störung des Beschwerdeführers als eine die Schuldfähigkeit vermindernde psychische Störung gebunden. Sie stellten ferner fest, dass der Beschwerdeführer nicht im Rahmen einer Therapie gelernt habe, mit Konflikten umzugehen. Es sei daher weiterhin wahrscheinlich, dass er im Falle seiner Entlassung in einer Beziehungskrise eine vierte Person töten würde; er sei immer noch gefährlich für die Allgemeinheit.
102. Bei der Entscheidung darüber, ob die von den innerstaatlichen Gerichten in dem in Rede stehenden Verfahren angeführten Gründe für die weitere Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus mit den Zielen des Urteils des erkennenden Gerichts bei der Anordnung der Unterbringung vereinbar waren, stellt der Gerichtshof fest, dass sich die innerstaatlichen Gerichte einig waren, dass bei dem Beschwerdeführer eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vorliege, die mit einer Neigung zu unkontrollierten Gewaltreaktionen einhergehe. Diese Gerichte waren sich ferner einig darüber, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Gefährlichkeit unterzubringen sei. Sowohl das erkennenden Gericht als auch die Strafvollstreckungsgerichte hielten es für wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung in einer Beziehungskrise eine vierte Person töten würde.
103. Es trifft zu, dass die Strafvollstreckungsgerichte im Hinblick auf die korrekte rechtliche Einordnung der psychischen Störung des Beschwerdeführers nicht mit dem erkennenden Gericht übereinstimmten. Sie erkannten jedoch an, dass diese rechtliche Einordnung Rechtskraft erlangt hatte und im Überprüfungsverfahren nicht abgeändert werden konnte. Auf dieser Grundlage untersuchten sie, ob es Raum für die Anwendung von § 67d Abs. 2 StGB gab, nach dem die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte nach seiner Entlassung keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Ihre Entscheidung, den Beschwerdeführer nicht zu entlassen, gründete sich auf die Tatsache, dass diese Voraussetzung in dem in Rede stehenden Verfahren noch nicht gegeben war.
104. Der Gerichtshof möchte in diesem Zusammenhang anmerken, dass in der Regel keine Frage nach Artikel 5 Abs. 1 der Konvention aufgeworfen wird, wenn sich die innerstaatlichen Gerichte auf die Feststellungen in einem rechtskräftigen Urteil eines Strafgerichts stützen, um die Freiheitsentziehung einer Person trotz der Tatsache zu rechtfertigen, dass die Feststellungen des erkennenden Gerichts möglicherweise oder tatsächlich falsch waren. Er verweist auf seine Rechtsprechung (a. a. O., Rdnr. 88), wonach eine Freiheitsentziehung aufgrund einer fehlerhaften Verurteilung nur dann unrechtmäßig sein kann, wenn diese Verurteilung das Ergebnis einer flagranten Rechtsverweigerung ist – was von dem Urteil des erkennenden Gerichts im Fall des Beschwerdeführers nicht behauptet werden kann.
105. Der Gerichtshof ist ferner davon überzeugt, dass das Ziel der Entscheidung der Strafvollstreckungsgerichte, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus zu verlängern, immer noch darin bestand, die Allgemeinheit zu schützen, solange er gefährlich war, und für eine Behandlung der Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers zu sorgen, um seine Gefährlichkeit zu mindern.
106. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Entscheidung der innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Überprüfungsverfahren, den Beschwerdeführer nicht freizulassen, sich auf Gründe stützte, die mit den Zielen, die vom erkennenden Gericht mit der Anordnung der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus verfolgt wurden, vereinbar war.
107. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers nicht auf einer Bewertung beruhte, die im Hinblick auf die Ziele des Urteils des erkennenden Gerichts unangemessen gewesen wäre. Er stellt insbesondere fest, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Verfahren seine Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten vollständig verbüßt (siehe Rdnr. 9) und insgesamt etwa fünf Jahre in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht hatte. Ungeachtet der Tatsache, dass die Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung des Beschwerdeführers und der weiteren Freiheitsentziehung mit zunehmendem Zeitablauf möglicherweise schwächer geworden ist (vgl. Rdnr. 89), war die Bewertung der innerstaatlichen Gerichte, dass der Beschwerdeführer immer noch gefährlich sei, weil er nicht gelernt habe, sein Verhalten zu kontrollieren, nicht willkürlich. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen (siehe Rdnrn. 103-106) gilt dasselbe für die Einschätzung der innerstaatlichen Gerichte, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus angesichts seiner emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, die mit einer Neigung zu unkontrollierten Gewaltreaktionen einhergehe, immer noch gerechtfertigt sei.
108. Daher bestand weiterhin ein hinreichender Kausalzusammenhang im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahre 1995 und seiner weiteren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die das Ergebnis des in Rede stehenden Verfahrens war. Angesichts dieser Feststellungen ist eine Entscheidung des Gerichtshof darüber entbehrlich, ob die in Rede stehende Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers (auch) nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e gerechtfertigt sein könnte.
(ii).„Rechtmäßige” Freiheitsentziehung „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“
109. Der Gerichtshof muss ferner feststellen, ob die Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers gemäß Artikel 5 Abs. 2 „rechtmäßig“ war und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgt ist,
110. Der Gerichtshof stellt fest, dass laut Vortrag des Beschwerdeführers seine Unterbringung nicht unter Einhaltung der materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts angeordnet worden sei. Er brachte vor, dass die innerstaatlichen Gerichte verpflichtet gewesen seien, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 StGB, dessen Wortlaut eindeutig sei, zu beenden.
111. Der Gerichtshof stellt fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus, die das erkennende Gericht im Jahre 1995 verhängte, in Übereinstimmung mit § 67d Abs. 2 StGB anordneten, wobei sie jedoch der Auffassung waren, dass § 67d Abs. 6 nicht anwendbar sei. Somit gab es für die Freiheitsentziehung eine gesetzliche Grundlage im innerstaatlichen Recht.
112. Bei der Entscheidung darüber, ob das innerstaatliche Recht auch die erforderliche Qualität hatte, um rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen, muss der Gerichtshof insbesondere prüfen, ob die (Nicht-)Anwendung des – zugänglichen und präzise formulierten – § 67d Abs. 6 StGB im Fall des Beschwerdeführers vorhersehbar war.
113. Der Gerichtshof stellt fest, dass nach dem Wortlaut dieser Bestimmung das Gericht eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt, wenn es nach Beginn der Vollstreckung der Unterbringung feststellt, dass die – in § 63 StGB festgelegten – Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr vorliegen (siehe Rdnr. 44), d. h. wenn die betroffenen Person geheilt wurde. Da die innerstaatlichen Gerichte in dem in Rede stehenden Überprüfungsverfahren festgestellt haben, dass der Beschwerdeführer nie an einer die Schuldfähigkeit vermindernden krankhaften psychischen Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB gelitten habe, ist § 67d Abs. 6 StGB im wörtlichen Sinne nicht anwendbar. In der Rechtsprechung der deutschen Gerichte ist jedoch unbestritten, dass der Wortlaut dieser Bestimmung, indem er vorsieht, dass die Voraussetzungen „nicht mehr“ vorliegen, erst recht auch auf Fehleinweisungen aus tatsächlichen Gründen anwendbar sein kann, bei denen eine solche Voraussetzung von Anfang an nicht vorlag.
114. Die innerstaatlichen Gerichte im vorliegenden Verfahren stimmten jedoch bezüglich ihrer Auslegung von § 67d Abs. StGB dahingehend überein, dass sich die Bestimmung nicht auf Fälle wie den des Beschwerdeführers erstrecke, in denen die ursprüngliche Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus auf einer fehlerhaften rechtlichen Bewertung des Zustands des Beschwerdeführers aufgrund einer zutreffend festgestellten Tatsachengrundlage beruhte. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Auslegung des StGB vor dem Erlass von § 67d Abs. 6 StGB in der Rechtsprechung der Strafvollstreckungsgerichte fest verankert war. Eine entsprechende Entscheidung erging sogar durch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main in dem Überprüfungsverfahren, das der Beschwerdeführer selbst vor dem jetzt vorliegenden Verfahren angestrengt hatte (siehe Rdnrn. 10-12). Diese Auslegung ist nach der Kodifizierung dieser Rechtsprechung in § 67d Abs. 6 StGB bestätigt worden (siehe Rdnr. 48).
115. Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer, erforderlichenfalls mit entsprechender Rechtsberatung, voraussehen konnte, dass die innerstaatlichen Gerichte § 67d Abs. 6 StGB als auf seinen Fall nicht anwendbar ansehen würden.
116. Der Gerichtshof hat schließlich darüber zu entscheiden, ob die Freiheitsentziehung im Fall des Beschwerdeführers mit den Zielen von Artikel 5 der Konvention, nämlich dem Schutz des Einzelnen vor Willkür, übereinstimmt. Der Gerichtshof kommt in diesem Zusammenhang nicht umhin festzustellen, dass die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Anwendung des innerstaatlichen Rechts dazu führte, dass der Beschwerdeführer weiterhin in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war, obwohl unstreitig war, dass bei ihm eine psychologische Disposition, d.h. eine mit einer Neigung zu unkontrollierten Gewaltreaktionen einhergehende emotional instabile Persönlichkeitsstörung, vorlag, die als nicht krankhaft angesehen wurde, auch wenn eine Behandlung angeboten werden konnte.
117. Der Gerichtshof erinnert daran, dass das Grundrecht auf Freiheit in einer „demokratischen Gesellschaft“ im Sinne der Konvention von größter Bedeutung ist und sein Hauptzweck darin besteht, willkürliche und ungerechtfertigte Freiheitsentziehungen zu verhindern (siehe u.a. Ladent ./. Polen, Individualbeschwerde Nr.11036/03, Rdnr. 45, 18. März 2008, mit zahlreichen weiteren Verweisen). Aus dem Wortlaut von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a der Konvention, wonach die Freiheitsentziehung – in Abgrenzung zur Verurteilung – rechtmäßig sein muss, und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe Rdnr. 88) geht klar hervor, dass die Konvention den Grundsatz der Rechtskraft von Urteilen achtet, einen Grundsatz, der Rechtssicherheit als eines der Prinzipien des Rechtsstaats gewährleistet. Die Achtung des Grundsatzes der Rechtskraft von Urteilen kann daher nicht so gesehen werden, dass sie an sich im Widerspruch zum Zweck von Artikel 5 steht.
118. Der Gerichtshof nimmt die ausführliche Begründung, die die innerstaatlichen Gerichte für ihre Entscheidung gegeben haben, und den Kontext, in dem sie erfolgt ist, zur Kenntnis. Er stellt insbesondere fest, dass ihre Auslegung von § 67d Abs. 6 StGB auf den Schutz der Rechtskraft von Urteilen abzielte. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die innerstaatlichen Gerichte ihre Entscheidung gegen die Freilassung des Beschwerdeführers nicht allein auf die Rechtskraft des Urteils des erkennenden Gerichts stützten. Sie machten deutlich, dass der Beschwerdeführer nach § 67d Abs. 2 StGB einen Anspruch auf Freilassung hatte, sobald davon ausgegangen werden konnte, dass er nach seiner Freilassung keine weiteren Straftaten begehen würde. Da der Beschwerdeführer diese Voraussetzung noch nicht erfüllte, wurde die weitere Vollstreckung der Unterbringungsanordnung nicht zur Bewährung ausgesetzt. Eine Freilassung des Beschwerdeführers wurde daher durch die von den innerstaatlichen Gerichten vorgenommene Anwendung des innerstaatlichen Rechts nicht unmöglich gemacht.
119. Angesichts der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass dem Beschwerdeführer unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache nicht willkürlich die Freiheit entzogen wurde. Der Gerichtshof ist daher überzeugt, dass die sich aus dem in Rede stehenden Überprüfungsverfahren ergebende Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus entsprechend den Erfordernissen aus Artikel 5 Abs. 1 „rechtmäßig“ war und „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgte.
120. Folglich ist Artikel 5 Abs.1 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF WIE FOLGT:
1. Er erklärt die Individualbeschwerde einstimmig für zulässig;
2. Er erkennt mit fünf zu zwei Stimmen, dass Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden ist.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 16. Mai 2013 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Claudia Westerdiek Mark Villiger
Kanzlerin Präsident
_______
Gemäß Artikel 45 Absatz 2 der Konvention und Artikel 74 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist diesem Urteil die abweichende Meinung der Richter Villinger und Power-Forde beigefügt.
M.V.
C.W.
GEMEINSAME ABWEICHENDE MEINUNG
DER RICHTER VILLIGER UND POWER-FORDE
1. Wir können die Auffassung der Mehrheit, dass Artikel 5 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden ist, nicht teilen. Wir erkennen ohne Weiteres an, dass diesem Fall ein schwerwiegender Sachverhalt zugrunde liegt und der Beschwerdeführer eine Gefahr für Dritte darstellen kann, was im Falle seiner Freilassung eine intensive behördliche Überwachung erforderlich machen würde. Gefragt ist jedoch unsere Entscheidung, ob seine gegenwärtige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtmäßig ist. Angesichts der Tatsache, dass die innerstaatlichen Gerichte und alle von ihnen gehörten Sachverständigen festgestellt haben, dass der Beschwerdeführer nicht psychisch krank ist, können wir nicht anerkennen, dass seine weitere Unterbringung in einer solchen Einrichtung konventionsgemäß ist. Aus unserer Sicht kann sie nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a oder e, und letztlich auch nach keiner anderen Konventionsbestimmung gerechtfertigt werden.
Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a
2. Soll die Rechtmäßigkeit der Unterbringung einer Person im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a geprüft werden, so muss festgestellt werden, ob noch immer ein hinreichender Kausalzusammenhang zwischen der ursprünglichen Verurteilung, auf der die Unterbringung basiert, und der Fortdauer der Freiheitsentziehung besteht (siehe Rdnr. 89 des Urteils). Wir erkennen an, dass das Urteil des Landgerichts Gießen vom 15. März 1995 dem Erfordernis einer „Verurteilung“ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a entsprach. Das Gericht befand den Beschwerdeführer des Totschlags schuldig und ordnete, zusammen mit einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Das erkennende Gericht war der Auffassung, dass die `krankhafte psychische Störung´ des Beschwerdeführers seine Schuldfähigkeit mindere und dass er infolge dieses geistigen Zustands eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Nach innerstaatlichem Recht lagen mit diesen beiden Faktoren die maßgeblichen Voraussetzungen[1] für seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vor. Es ist davon auszugehen, dass das Ziel der Anordnung des erkennenden Gerichts darin bestand, dem Beschwerdeführer die Freiheit zu entziehen, solange er in einer Weise psychisch krank war, die seine Schuldfähigkeit minderte, und solange er infolge dieses Zustands eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellte. Mit seiner Unterbringung wurde folglich sowohl die Behandlung seiner psychischen Krankheit als auch der Schutz der Allgemeinheit vor der von ihr ausgehenden Gefahr bezweckt.
3. Bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Unterbringung des Beschwerdeführers im April 2006 stellten die innerstaatlichen Gerichte jedoch anhand umfassender Sachverständigenbeweise fest, dass der Beschwerdeführer nicht an einer psychischen Krankheit leide. Bei ihm sei eine `emotional instabile Persönlichkeitsstörung´ festzustellen. Seine Gewaltbereitschaft angesichts von Beziehungskrisen ergebe sich aus den Merkmalen seiner Persönlichkeit. Sein Zustandsbild stelle keine `psychische Störung von Krankheitswert´ dar und führe auch nicht zu einer Einschränkung seiner Schuldfähigkeit nach §§ 20 und 21 StGB. Anhand dieser unbestrittenen Beweismittel war offensichtlich, dass zum Zeitpunkt der Überprüfung die Voraussetzungen für die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nicht vorlagen. Seine – nicht in Zweifel gezogene – Gefährlichkeit für die Allgemeinheit resultierte nicht aus einer psychischen Krankheit, die seine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung erforderlich machte. Seine ursprüngliche Unterbringung in einer solchen Institution war das Ergebnis einer fehlerhaften rechtlichen Bewertung des Zustands des Beschwerdeführers.
4. Als sie feststellten, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Überprüfung nicht an einer psychischen Störung litt, die seine Schuldfähigkeit verminderte, und dass eine fehlerfreie Würdigung der Tatsachen ergeben hätte, dass er niemals an einer solchen Störung gelitten hat, hätten die Gerichte im Überprüfungsverfahren nach innerstaatlichem Recht[2] seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beenden müssen. Sie sahen sich jedoch ungeachtet ihrer übereinstimmenden Feststellungen im Hinblick auf die psychische Verfassung des Beschwerdeführers verpflichtet, ihn zu behandeln, als ob er an einer seine Schuldfähigkeit vermindernden psychischen Störung leiden würde. Diese ungewöhnliche Herangehensweise, die im Widerspruch zur medizinischen und rechtlichen Realität stand und einen bekannten Fehler perpetuierte, war einer Haltung der Achtung der Rechtskraft von Urteilen geschuldet.
5. Wir glauben nicht, dass die Achtung der Rechtskraft von Urteilen es jemals rechtfertigen kann, eine Person zu behandeln, als ob sie eine psychische Krankheit hat – wenn dies nicht der Fall ist – oder eine solche Person in einem psychiatrischen Krankenhaus festzuhalten, wenn sämtliche medizinischen und juristischen Beweismittel gegen eine solche Unterbringung sprechen.
6. Die Vollstreckungsgerichte hatten im Überprüfungsverfahren nur zu prüfen, ob zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung alle Voraussetzungen für die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus vorlagen. Nur sein damals aktueller Zustand war für die Frage, ob seine Unterbringung dort fortgesetzt werden sollte, ausschlaggebend. Die für die Überprüfung zuständigen Gerichte waren hinsichtlich der rechtlichen Einordnung der psychischen Verfassung des Beschwerdeführers grundlegend anderer Auffassung als das erkennende Gericht. Wenn von dem Beschwerdeführer im Falle seiner Freilassung auch zweifelsohne eine Gefahr ausging, so unterschied sich das von den für die Überprüfung zuständigen Gerichten mit der Krankenhausunterbringung verfolgte Ziel doch erheblich von dem, welches das erkennende Gericht mit dem Erlass seiner ursprünglichen Anordnung nach § 63 StGB verfolgt hatte. Der Zweck der Unterbringung bestand nicht länger in der psychiatrischen Behandlung einer psychischen Krankheit, die die Schuldfähigkeit verminderte und somit eine Gefahr für die Allgemeinheit barg, sondern vielmehr darin, die Rechtskraft eines früheren Urteils zu achten, durch das der Beschwerdeführer infolge einer fehlerhaften rechtlichen Einordnung seines Zustands fälschlicherweise in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen worden war.
7. Nach alledem kommen wir zu dem Schluss, dass die Entscheidung der Vollstreckungsgerichte, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus ungeachtet ihrer eindeutigen Tatsachenfeststellungen und der Erfordernisse des innerstaatlichen Rechts nicht für erledigt zu erklären, auf Gründe zurückging, die nicht mit dem Ziel der ursprünglichen Anordnung des erkennenden Gerichts übereinstimmten. Zwischen der Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahr 1995 und der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer psychiatrischen Einrichtung bestand folglich ab dem 28. April 2006 kein hinreichender Kausalzusammenhang mehr. Daher sind wir der Ansicht, dass die fortdauernde Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe a als Freiheitsentziehung „nach Verurteilung“ gerechtfertigt werden kann.
Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e
8. Damit die Unterbringung des Beschwerdeführers nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention gerechtfertigt ist, muss festgestellt werden, dass er nicht nur gefährlich, sondern konkreter, dass er tatsächlich psychisch krank ist. Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung keine exakte Definition des Begriffs „psychisch Kranker“ entwickelt. Dieser Begriff hat eine eigenständige Bedeutung; der Gerichtshof ist nicht an die Auslegungen der innerstaatlichen Rechtsordnungen gebunden. Fest steht jedoch, dass drei grundlegende Mindestanforderungen erfüllt sein müssen, damit die auf diesen Grund gestützte Freiheitsentziehung einer Person als rechtmäßig angesehen werden kann: i) Die psychische Krankheit der betreffenden Person muss zuverlässig nachgewiesen sein, d. h. eine tatsächliche psychische Störung muss aufgrund objektiver medizinischer Fachkompetenz vor einer zuständigen Behörde festgestellt worden sein; ii) die psychische Störung muss einen Grad aufweisen, der eine Zwangsunterbringung rechtfertigt; und iii) die Fortdauer der Unterbringung muss vom Fortbestehen einer derartigen Störung abhängen.
i) Tatsächliche psychische Störung?
9. Jeder Versuch, die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer psychiatrischen Einrichtung zu rechtfertigen, scheitert bereits an der ersten Hürde. Die den für die Überprüfung zuständigen Gerichten beigebrachten objektiven medizinischen Beweise und Gutachten sprachen allesamt dagegen, indem sie feststellten, dass der Beschwerdeführer nicht an einer seine Schuldfähigkeit vermindernden psychischen Krankheit leide. Er sei für sein Verhalten verantwortlich und die von ihm ausgehende Gefahr resultiere nicht aus einer psychischen Krankheit, sondern aus einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und einem Hang zu Gewalttätigkeit angesichts von Beziehungskrisen. Sein Zustand sei nicht krankhaft.
10. Unter diesen Umständen ist offensichtlich, dass von den innerstaatlichen Gerichten keine `tatsächliche psychische Störung´ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 `festgestellt´ worden ist.[3] Sie stellten im Gegenteil übereinstimmend fest, dass der Beschwerdeführer nicht an einer schweren psychischen Krankheit oder krankhaften Persönlichkeitsstörung und folglich nicht, wie nach innerstaatlichem Recht erforderlich, an einer seelischen Störung leide (siehe im Gegensatz dazu Hutchison Reid ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 50272/99, Rdnrn. 19 ff., 53). In der Tat ist nicht ersichtlich, dass die innerstaatlichen Gerichte jemals der Auffassung waren, der Beschwerdeführer sei `psychisch krank´ im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention. Sie ordneten seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht an, weil er tatsächlich ein psychisch kranker Patient war, der ärztliche Behandlung benötigte, sondern vielmehr, weil sie sich an seine fälschlicherweise erfolgte Unterbringung in einer derartigen Einrichtung durch das erkennende Gericht gebunden sahen.
ii) Gerechtfertigte Zwangsunterbringung?
11. Die Gefährlichkeit einer Person allein reicht nicht aus, um die Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e zu rechtfertigen. Nach der ständigen Rechtsprechung (siehe Rdnr. 90) muss eine Person, wenn ihr aufgrund ihrer `psychischen Krankheit´ die Freiheit entzogen werden soll, an einer tatsächlichen psychischen Störung leiden und zusätzlich muss diese psychische Störung ihrer Art oder Schwere nach eine Zwangsunterbringung rechtfertigen, da die Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Um in den Anwendungsbereich von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention zu fallen, muss die Gefährlichkeit des Betreffenden also das Ergebnis einer tatsächlichen psychischen Störung sein und in Kausalzusammenhang mit dieser stehen. Es reicht nicht aus, wenn sie lediglich die Folge bestimmter Persönlichkeitsmerkmale ist. Wir können nicht umhin, noch einmal festzustellen, dass die innerstaatlichen Gerichten übereinstimmend der Auffassung waren, dass die Störung des Beschwerdeführers nicht schwer genug sei, um als krankhaft zu gelten, und dass sie aus psychiatrischer Sicht keine ärztliche Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus erforderlich machte.
iii) Fortbestehen einer tatsächlichen psychischen Störung?
12. Damit eine tatsächliche psychische Störung fortbestehen kann, muss sie logischerweise zunächst einmal vorliegen. Angesichts der übereinstimmenden Feststellung der innerstaatlichen Überprüfungsgerichte, dass im Falle des Beschwerdeführers keine tatsächliche psychische Störung vorliege, kann ganz klar keine Fortdauer der Unterbringung auf der Grundlage des Fortbestehens einer derartigen Störung geltend gemacht werden. Wie bereits ausgeführt, wurde die Fortdauer seiner Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung angeordnet, obwohl die innerstaatlichen Gerichte ihn nicht als Person ansahen, deren Gefährlichkeit tatsächlich aus einer krankhaften seelischen Störung, wie im innerstaatlichen Recht definiert, oder einer psychischen Störung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe e der Konvention resultierte.
13. Der Gerichtshof hat stets bekräftigt, dass die in Artikel 5 Abs. 1 aufgeführten Gründe, aus denen eine Freiheitsentziehung zulässig ist, eng auszulegen sind. Jede an einer Persönlichkeitsstörung leidende Person, wie für die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung erforderlich, als `psychisch Kranken´ einzustufen, obwohl keine psychische Krankheit vorliegt, steht unserer Meinung nach nicht mit dem Zweck von Artikel 5 Abs. 1, dem Schutz des Einzelnen vor Willkür, in Einklang.
14. Wir erkennen zwar vollumfänglich an, dass der Staat die Pflicht hat, die Allgemeinheit vor dem Beschwerdeführer zu schützen, bis dieser gelernt hat, seine emotionale Instabilität zu überwinden und seine Reaktionen in Krisensituationen zu beherrschen – aber das ist nicht die Frage, mit der sich der Gerichtshof auseinanderzusetzen hat. Es obliegt dem Staat, seinen Pflichten auf rechtmäßigem Wege nachzukommen. Der Gerichtshof hat lediglich zu entscheiden, ob die gegenwärtige Unterbringung des Beschwerdeführers in einer psychiatrischen Einrichtung eine Konventionsverletzung darstellt.
15. Da wir der Ansicht sind, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus weder nach Buchstabe a, noch nach Buchstabe e, und letztlich auch nach keinem anderen Buchstaben von Artikel 5 Abs. 1 gerechtfertigt werden kann, stellen wir somit fest, dass Artikel 5 Abs. 1 der Konvention verletzt worden ist.
____________
[1] § 63 StGB
[2] § 67d Abs. 6 StGB
[3] Hinsichtlich der Notwendigkeit der Feststellung dieses Zustands siehe u. a. K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 17792/07, Rdnrn. 55-56, 13. Januar 2011; und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 3300/10, Rdnr. 94, 28. Juni 2012)
Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze
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