PERUZZO und MARTENS gegen Deutschland (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerden Nrn. 7841/08 und 57900/12

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerden Nrn. 7841/08 und 57900/12
P. gegen Deutschland und
M. gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 4. Juni 2013 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Mark Villiger, Präsident,
Angelika Nußberger,
Boštjan M. Zupančič,
Ann Power-Forde,
André Potocki,
Paul Lemmens,
Helena Jäderblom,,
sowie Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannten Individualbeschwerden, eingelegt am 16. Januar 2008 (Beschwerdeführer P.) bzw. 1. September 2012 (Beschwerdeführer M.),

nach Beratung wie folgt entschieden.

SACHVERHALT

1. Der 19[…] geborene Beschwerdeführer in der ersten Rechtssache, Herr P. (nachfolgend auch „der erste Beschwerdeführer“) ist italienischer Staatsangehöriger und lebt in F., Schweiz. Vor dem Gerichtshof wurde er von der Rechtsanwaltskanzlei E. & Kollegen aus F., Deutschland, vertreten.

2. Der 19[…] geborene Beschwerdeführer in der zweiten Rechtssache, Herr M. (nachfolgend auch „der zweite Beschwerdeführer“) ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in N.

A. Die Umstände der Rechtssache

3. Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.

1. Allgemeiner Kontext der Beschwerden

4. Die vorliegenden Individualbeschwerden beziehen sich auf Beschlüsse der innerstaatlichen Gerichte, durch welche die Entnahme von Körperzellen bei den in der Vergangenheit wegen Straftaten verurteilten Beschwerdeführern angeordnet worden war. Die Maßnahmen wurden auf der Grundlage des § 81g StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“) außerhalb von laufenden Strafverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft angeordnet, um die DNA-Identifizierungsmuster der Beschwerdeführer zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren zu bestimmen.

5. In beiden Fällen ordneten die Gerichte für den Fall, dass die Beschwerdeführer die freiwillige Bereitstellung von Körperzellen durch eine Speichelprobe verweigern sollten, gemäß § 81a Abs. 1 StPO (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“) die Entnahme einer Blutprobe durch einen Arzt an. Sie führten ferner aus, dass jegliche Körperzellen der Beschwerdeführer an den für die Untersuchung zuständigen Sachverständigen zu übergeben seien, ohne die Identität der Beschwerdeführer zu offenbaren, dass die Proben ausschließlich für die in § 81g StPO genannten molekulargenetischen Untersuchungen verwendet werden dürften und dass sie unverzüglich zu zerstören seien, sobald sie nicht mehr für die Erstellung der DNA-Identifizierungsmuster benötigt würden.

2. Das Verfahren betreffend Herrn P. (Individualbeschwerde Nr. 7841/08)

6. In seinem am 2. Februar 2007 mit Bezug auf Herrn P. erlassenen Beschluss stellte das Amtsgericht Freiburg fest, dass der erste Beschwerdeführer durch Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 25. Januar 2006 wegen Drogenhandels in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt worden sei. In vier Fällen sei der Straftat die unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln vorausgegangen und in zwei Fällen habe der erste Beschwerdeführer zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln angestiftet. Das Amtsgericht wies ferner auf zwei frühere Verurteilungen des Herrn P. in der Schweiz wegen Verstößen gegen das Schweizer Betäubungsmittelgesetz hin. Es verwies in diesem Zusammenhang auf die Urteile des Bezirksgerichts Horgen vom 10. Februar 1982 und des kantonalen Strafgerichts Schwyz vom 22. April 2005, mit denen eine Freiheitsstrafe in Höhe von zwei Jahren und acht Monaten bzw. eine 15-monatige Bewährungsstrafe verhängt worden seien.

7. Angesichts der Schwere der in der Vergangenheit begangenen Straftaten und der daraus resultierenden ungünstigen Kriminalprognose für den ersten Beschwerdeführer befand das Amtsgericht Freiburg, dass die Anordnung der Entnahme einer DNA-Probe und die Durchführung dieser Maßnahme verhältnismäßig seien.

8. Mit Beschluss vom 25. April 2007 bestätigte das Landgericht Freiburg den Beschluss des Amtsgerichts Freiburg und verwarf die diesbezügliche Beschwerde des ersten Beschwerdeführers. Es befand, dass die Voraussetzungen für die Entnahme einer DNA-Probe aus § 81g Abs. 1 StPO in der vorliegenden Rechtssache vorlägen. Nach Auffassung des Landgerichts ergab sich aus der erheblichen Länge der 2006 vom Landgericht Karlsruhe gegen den ersten Beschwerdeführer verhängten Freiheitsstrafe, dass es sich bei den zugrunde liegenden Betäubungsmitteldelikten um Straftaten von erheblicher Bedeutung im Sinne dieser Bestimmung handele. In diesem Zusammenhang und insbesondere angesichts der beträchtlichen Menge an Betäubungsmitteln, mit denen Handel getrieben worden sei, sei es unmaßgeblich, dass der Beschwerdeführer „nur“ mit Marihuana gehandelt habe. Das Landgericht befand ferner, dass Grund zu der Annahme bestehe, dass gegen den Beschwerdeführer künftig Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen seien. Die ungünstige Kriminalprognose für den ersten Beschwerdeführer folge insbesondere daraus, dass seiner Verurteilung im Jahr 2006 nicht nur eine einzelne, spontan begangene Straftat des Handelns mit Betäubungsmitteln, sondern eine Reihe von Straftaten zugrunde gelegen hätten, die über einen Zeitraum von Mai 2004 bis Januar 2005 begangen worden seien. Darüber hinaus sei er bereits zuvor in der Schweiz wegen ähnlicher Straftaten verurteilt worden. Durch die Tatsache, dass seine erste Verurteilung durch das Bezirksgericht Horgen bereits im Jahr 1982 erfolgt sei, werde seine ungünstige Kriminalprognose nicht in Frage gestellt. Das Urteil des kantonalen Strafgerichts Schwyz vom 22. April 2005 habe gezeigt, dass der Beschwerdeführer im Zeitraum 2002 bis 2003, also vor seiner Verurteilung in Deutschland im Jahr 2006, weitere Betäubungsmitteldelikte in der Schweiz begangen habe. Das Landgericht führte ferner aus, dass eine mögliche Abschiebung des Beschwerdeführers in die Schweiz sich nicht auf die Beurteilung der Sache auswirke. Nach dem deutschen Strafrecht unterlägen Straftaten dieser Art auch dann der deutschen Strafgerichtsbarkeit, wenn sie im Ausland begangen würden. Darüber hinaus stehe ein Wohnsitz im Ausland nicht der Begehung von Straftaten in Deutschland entgegen.

9. In einem Schreiben an das Landgericht Freiburg vom 9. Mai 2007 brachte der erste Beschwerdeführer vor, dass es keine Anzeichen dafür gebe, dass er weitere Straftaten begehen würde, welche mit den seinen früheren Verurteilungen zugrunde liegenden Taten vergleichbar seien. Er machte insbesondere geltend, dass die vom Amtsgericht Freiburg in dessen Beschluss vom 2. Februar 2007 in Bezug genommenen Straftaten einige Jahre zurücklägen und er diesbezüglich schon Freiheitsstrafen von beträchtlicher Dauer verbüßt habe. Da er nach Verbüßung der Hälfte seiner Freiheitsstrafe in die Schweiz abgeschoben werden solle, sei es darüber hinaus unwahrscheinlich, dass er in Deutschland erneut straffällig werden und damit riskieren würde, als Folge daraus den Rest seiner Freiheitsstrafe verbüßen zu müssen.

10. Am 11. Mai 2007 befand das Landgericht Freiburg, dass die Ausführungen des ersten Beschwerdeführers keine zusätzlichen Argumente enthielten, welche dem Gericht Anlass gäben, von seiner früheren Entscheidung vom 25. April 2007 abzuweichen.

11. Mit Beschluss vom 14. August 2007 (2 BvR 1340/07) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen.

3. Das Verfahren betreffend Herrn M. (Individualbeschwerde Nr. 57900/12)

12. In seinem Beschluss bezüglich Herrn M. vom 24. Mai 2012 befand das Amtsgericht Nürnberg unter Bezugnahme auf dessen Strafregister ab 1999, dass die wiederholte Begehung von Straftaten durch den zweiten Beschwerdeführer in der Vergangenheit einen Unrechtsgehalt erreicht habe, der der Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 81g StPO gleichkomme. 1999 habe das Amtsgericht Nürnberg den zweiten Beschwerdeführer wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer siebenmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Mit Urteil vom 18. Mai 2006 habe das Amtsgericht Erlangen ihn wegen versuchter Nötigung in zwei Fällen zu einer in 60 Tagessätzen zu zahlenden Geldstrafe in Höhe von 900 EUR verurteilt. Am 19. März 2008 habe dasselbe Gericht den zweiten Beschwerdeführer wegen einer weiteren Straftat mit schwerer Körperverletzung zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Zuletzt sei der Beschwerdeführer am 12. Mai 2011 durch Urteil des Landesgerichts St. Pölten in Österreich wegen beharrlicher Verfolgung einer Frau zu einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt worden. Im Hinblick auf die zwei Körperverletzungen in den Jahren 1999 und 2008 führte das Amtsgericht Nürnberg aus, dass der zweite Beschwerdeführer seinen jeweiligen Opfern aus kurzer Entfernung Tränengas bzw. Pfefferspray ins Gesicht gesprüht habe, wodurch das eine Opfer schmerzhafte Hautreizungen und das andere eine Augenentzündung erlitten habe.

13. Nach Auffassung des Amtsgerichts Nürnberg zeigte die Art der Begehung der Straftaten, dass der zweite Beschwerdeführer eine Neigung dazu habe, das körperliche Wohl anderer erheblich zu beeinträchtigen, und dass künftig weitere erhebliche Straftaten von ihm zu erwarten seien. Das Gericht stellte ferner fest, dass angesichts der Abstände der begangenen Straftaten davon auszugehen sei, dass der zweite Beschwerdeführer wiederholt weitere schwere Straftaten begehen werde, welche den in der Vergangenheit gegen ihn geführten Strafverfahren zugrunde liegenden Straftaten ähneln würden. Angesichts der Art der in Rede stehenden Straftaten sei es denkbar, dass DNA-Spuren am Tatort künftiger Straftaten zurückbleiben würden, weshalb die vom Gericht angeordnete Maßnahme gerechtfertigt und für den Zweck der Feststellung von Identität und Geschlecht in künftigen Strafverfahren notwendig sei.

14. Mit Schreiben vom 26. Mai 2012 legte der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss ein. Er brachte insbesondere vor, dass die in der Vergangenheit von ihm begangenen Straftaten nicht von einer Bedeutung gewesen seien, die einen Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte nach § 81g StPO rechtfertige. Er rügte ferner, dass das Amtsgericht seinem Antrag auf persönliche Anhörung nicht nachgekommen sei und seine Entscheidung nicht ausreichend begründet habe.

15. Mit Beschluss vom 5. Juli 2012 verwarf das Landgericht Nürnberg-Fürth die Beschwerde mit der Begründung, dass die Voraussetzungen für die Entnahme einer DNA-Probe nach § 81g StPO in der vorliegenden Rechtssache eindeutig erfüllt seien und die Anordnung des Amtsgerichts folglich verhältnismäßig gewesen sei. Das Landgericht befand zunächst, dass die zwei den Verurteilungen des zweiten Beschwerdeführers in den Jahren 1999 und 2008 zugrunde liegenden Körperverletzungen Straftaten von erheblicher Bedeutung im Sinne der genannten Bestimmung darstellten. Bei beiden Gelegenheiten habe der zweite Beschwerdeführer aggressives Verhalten gegenüber Dritten an den Tag gelegt, ohne von diesen besonders provoziert worden zu sein. Beide Taten wiesen eine ähnliche Begehungsweise auf und zeugten von einer nicht unerheblichen kriminellen Energie seitens des zweiten Beschwerdeführers sowie von seinem Aggressionspotential.

Das Landgericht stellte auch erneut fest, dass § 81g StPO zum Zwecke der Rechtfertigung der Entnahme einer DNA-Probe die wiederholte Begehung von sonstigen Straftaten auf eine Stufe mit der Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung stelle. Das Landgericht führte aus, dass der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang konkret erwähnt habe, dass wiederholte Straftaten in Fällen des sogenannten Stalking wie sie der Verurteilung des zweiten Beschwerdeführers durch das Landesgericht St. Pölten im Jahr 2011 zu Grunde lägen, ein Beispiel für Fälle darstellten, in denen die wiederholte Begehung einer Straftat einen Unrechtsgehalt erreiche, der der Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichkomme. Die früheren Verurteilungen des zweiten Beschwerdeführers zeigten außerdem, dass er einen hartnäckigen und unbelehrbaren Charakter habe, was sich auch in seinen teilweise wirren und kaum nachvollziehbaren Vorbringen gegenüber dem Landgericht im vorliegenden Verfahren spiegele. Im Hinblick auf die zahlreichen früheren Verurteilungen des zweiten Beschwerdeführers, seine Persönlichkeit und die Umstände, unter denen die Straftaten begangen worden seien, befand das Landgericht, dass zweifelsfrei weiterhin die Gefahr bestehe, dass zukünftig Strafverfahren wegen ähnlicher Straftaten gegen ihn zu führen seien.

16. Am 17. Juli 2012 hob das Amtsgericht Erlangen auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Aussetzung der mit Urteil vom 19. März 2008 (siehe Rdnr. 12) verhängten Freiheitsstrafe des zweiten Beschwerdeführers auf, Unter Bezugnahme auf die Verurteilung wegen Stalking durch das Landesgericht St. Pölten vom 12. Mai 2011, das zwischenzeitlich rechtskräftig geworden sei, führte das Amtsgericht aus, die Tatsache, dass der Beschwerdeführer während seiner Bewährungszeit erneut straffällig geworden sei, zeige, dass eine Bewährungsstrafe im Hinblick auf die Rückfallgefahr nicht ausreiche.

17. Mit Beschluss vom 29. August 2012 (2 BvR 1934/12) lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 24. August 2012 gegen den Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 5. Juli 2012 zur Entscheidung anzunehmen. Es befand ferner, dass sich damit auch der Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt habe.

4. Weitere Entwicklungen

18. In ihren Vorbringen deuten die Beschwerdeführer zwar an, dass die gerichtlichen Anordnungen anschließend ausgeführt und DNA-Proben von beiden entnommen worden seien, allerdings hat keiner von beiden ein konkretes Datum für den Eingriff genannt oder angegeben, ob die Proben durch eine Speichel- oder eine Blutprobe entnommen wurden.

B. Einschlägiges innerstaatliches und internationales Recht und einschlägige innerstaatliche und internationale Praxis

1. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

(a) Die Strafprozessordnung

19. §§ 81a bis f StPO sehen die Entnahme von DNA-Proben für den Zweck der Verurteilung von Verdächtigen im Rahmen eines laufenden Strafverfahrens vor. § 81 StPO hingegen regelt die Entnahme von Körperzellen von Verdächtigen oder Verurteilten zum Zweck der Feststellung von deren DNA-Identifizierungsmuster zur Verwendung in künftigen Strafverfahren. § 81g Abs. 1 in der jetzigen Fassung, die auch zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Verfahren anwendbar war, sieht eine solche Maßnahme vor, wenn eine Person einer Straftat von erheblicher Bedeutung oder einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung verdächtig ist oder wegen einer solchen verurteilt wurde, und wenn wegen der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Unter diesen Bedingungen dürfen der Person zur Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren Körperzellen entnommen und zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters sowie des Geschlechts molekulargenetisch untersucht werden.

In der Bestimmung wird ferner ausgeführt, dass die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichstehen kann. Diese alternative Begründung für die Entnahme von Körperzellen wurde durch das Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse vom 12. August 2005 (BGBl. I, S. 2360) in § 81g Abs. 1 eingeführt. Laut der Begründung des Gesetzes wird durch die wiederholte Begehung von Straftaten nicht automatisch der gleiche Bedeutungsgrad erreicht wie mit einer schweren Straftat. Eine Anordnung der Entnahme von Körperzellen mit dieser Begründung sei nur dann zulässig, wenn im Einzelfall die Gesamtschau für die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten einen gleichen Unrechtsgehalt wie bei einer Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne dieser Bestimmung ergebe. Während beispielsweise durch wiederholtes „Schwarzfahren“ die Erheblichkeitsschwelle in aller Regel nicht erreicht werde, könne dies hingegen bei wiederholtem Hausfriedensbruch im Rahmen von Stalking der Fall sein.

20. § 81g Abs. 2 StPO legt fest, dass entnommene Körperzellen nur für die zuvor genannte molekulargenetische Untersuchung verwendet werden dürfen und unverzüglich zu vernichten sind, sobald sie hierfür nicht mehr erforderlich sind. Bei der Untersuchung dürfen andere Feststellungen als diejenigen, die zur Ermittlung des DNA-Identifizierungsmusters sowie des Geschlechts erforderlich sind, nicht getroffen werden; hierauf gerichtete Untersuchungen sind unzulässig. Die Entnahme der Körperzellen darf ohne schriftliche Einwilligung der betroffenen Person nur durch das Gericht, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 Gerichtsverfassungsgesetz) angeordnet werden. Die molekulargenetische Untersuchung der Körperzellen darf ohne schriftliche Einwilligung der betroffenen Person nur durch das Gericht angeordnet werden. Die entsprechende Gerichtsanordnung muss in jedem Einzelfall die für die Beurteilung der Erheblichkeit der in Rede stehenden Straftat bestimmenden Tatsachen, die Erkenntnisse, die Grund zu der Annahme geben, dass gegen den Beschuldigten künftig Strafverfahren zu führen sein werden, sowie eine Abwägung der jeweils maßgeblichen Umstände darlegen.

21. Nach § 81g i. V. m. § 81f Abs. 2 StPO bestellen die Gerichte die Sachverständigen für die Untersuchung des DNA-Materials und die Bestimmung des DNA-Identifizierungsmusters. Die Sachverständigen müssen bestimmte Anforderungen erfüllen, damit ihre Unabhängigkeit von der ermittlungsführenden Behörde und ihre berufliche Integrität gewährleistet sind. Sie treffen die technischen und organisatorischen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass unzulässige molekulargenetische Untersuchungen und unbefugte Kenntnisnahme Dritter ausgeschlossen sind. Dem Sachverständigen sind die zu untersuchenden Körperzellen ohne Mitteilung des Namens, der Anschrift und des Geburtstages und -monats des Betroffenen zu übergeben.

22. § 81g Abs. 5 StPO sieht vor, dass die erhobenen Daten beim Bundeskriminalamt gespeichert und nach Maßgabe des Bundeskriminalamtgesetzes verwendet werden dürfen. Die Daten dürfen nur für Zwecke eines Strafverfahrens, der Gefahrenabwehr und der internationalen Rechtshilfe hierfür übermittelt werden.

23. Im Falle der Entnahme von Körperzellen durch eine Blutprobe gilt § 81a StPO sinngemäß. Die Entnahme von Blutproben ist von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorzunehmen, wenn kein Nachteil für die Gesundheit des Betroffenen zu befürchten ist. Blutproben oder sonstige Körperzellen dürfen nur für die in der Strafprozessordnung aufgeführten Zwecke verwendet werden und sind unverzüglich zu vernichten, sobald sie für diese Zwecke nicht mehr erforderlich sind.

(b)Das Bundeskriminalamtgesetz

24. Seit 1998 führt das Bundeskriminalamt eine nationale DNA-Datenbank, in der die im Einklang mit den §§ 81a bis g StPO erstellten DNA-Identifizierungsmuster gespeichert werden. Das Bundeskriminalamtgesetz enthält Vorschriften für die Speicherung und Verwendung dieser DNA-Identifizierungsmuster. Laut § 2 BKAG sammelt das Bundeskriminalamt als Zentralstelle für das polizeiliche Auskunfts- und Nachrichtenwesen im Zusammenhang mit der Verhütung und Verfolgung von Straftaten mit länderübergreifender, internationaler oder erheblicher Bedeutung alle hierfür erforderlichen Informationen und wertet diese aus. Nach § 8 Abs. 5 BKAG dürfen personenbezogene Daten verurteilter Personen für die Verwendung in künftigen Strafverfahren in Dateien gespeichert werden, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Betroffenen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden. Wird der Beschuldigte einer Straftat freigesprochen oder das Verfahren endgültig eingestellt, müssen die im Hinblick auf die betroffene Person erhobenen personenbezogenen Daten grundsätzlich gelöscht werden (§ 8 Abs. 3). Die in der nationalen DNA-Datenbank zusammengestellten Daten dürfen den Polizeien des Bundes und der Länder zur Verfügung gestellt werden und laut § 11 BKAG sind die Staatsanwaltschaften befugt, für Zwecke der Strafrechtspflege Daten aus der Datenbank abzurufen. § 32 BKAG sieht vor, dass die in Dateien gespeicherten personenbezogenen Daten zu löschen sind, wenn ihre Speicherung unzulässig geworden ist oder ihre Aufbewahrung für die Aufgabenerfüllung des Bundeskriminalamts nicht mehr erforderlich ist. Es gibt zwar keine gesetzlich vorgeschriebenen Fristen für die Speicherung von DNA-Identifikationsmustern, allerdings ist das Bundeskriminalamt verpflichtet, in regelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob die gespeicherten personenbezogenen Daten zu berichtigen oder zu löschen sind. Die hierfür festzulegenden Fristen dürfen bei Erwachsenen zehn Jahre, bei Jugendlichen fünf Jahre und bei Kindern zwei Jahre nicht überschreiten, wobei in jedem Fall nach Zweck der Speicherung sowie Art und Schwere des Sachverhalts zu unterscheiden ist.

(c) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

25. In seinem Urteil vom 14. Dezember 2000 (2 BvR 1741/99; 2 BvR 276/00 und 2 BvR 2061/00) stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Bestimmung des § 81g StPO verfassungsgemäß ist. Es betonte, dass der Anwendungsbereich dieser Vorschrift auf die Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters eines Verdächtigen oder eines Verurteilten zum Zweck der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren begrenzt sei und das Genmaterial nach der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters vernichtet werden müsse. Durch das DNA-Identifizierungsmuster an sich würden Rückschlüsse auf persönlichkeitsrelevante Merkmale wie Erbanlagen, Charaktereigenschaften oder Krankheiten des Betroffenen, also ein Persönlichkeitsprofil, nicht ermöglicht. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgericht ist der verfassungsrechtlich absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeit durch die nach § 81g erlaubten Maßnahmen nicht betroffen.

Das Bundesverfassungsgericht befand allerdings, dass die Feststellung, Speicherung und künftige Verwendung des DNA-Identifizierungsmusters in das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreife. Dieses Recht dürfe nur im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Das Bundesverfassungsgericht führte in diesem Zusammenhang aus, dass § 81g nicht auf die Verhinderung künftiger Straftaten abziele, aber die Aufklärung künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung erleichtere und damit einer geordneten Rechtspflege diene. Das Bundesverfassungsgericht stellte ferner fest, dass die Bestimmung hinreichend genau sei, um aus verfassungsrechtlicher Sicht als Gesetz zu gelten. Der Begriff „Straftat von erheblicher Bedeutung“ finde sich in einer Reihe von Bestimmungen der Strafprozessordnung; nach der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte sei der Begriff so definiert, dass er Verbrechen der mittleren Kriminalität umfasse, welche den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.

Schließlich befand das Gericht, dass die vorsorgliche Beweisbeschaffung nach § 81g StPO nicht gegen das Übermaßverbot verstoße. Eine solche Beweisbeschaffung könne nur angeordnet werden, wenn der Betroffene zuvor wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung verurteilt worden sei und wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gebe, dass gegen ihn künftig weitere Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sein werden. Indem er die Verwendung der für die in dieser Vorschrift niedergelegten Zwecke entnommenen Körperzellen stark eingegrenzt habe und ihre Vernichtung für den Moment vorgeschrieben hat, in dem das DNA-Identifizierungsmuster der betroffenen Person erstellt sei, habe der Gesetzgeber außerdem einen Schutz vor Missbrauch der entnommenen Körperzellen geschaffen.

Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Anordnung einer Maßnahme nach § 81g StPO die Umstände jedes einzelnen Falles festzustellen und zu prüfen hätten. Bei ihrer Beurteilung hätten sie die verfügbaren Straf- und Vollstreckungsakten der betroffenen Person zu berücksichtigen und plausible Gründe für die Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung vorzubringen.

26. In einem späteren Beschluss vom 14. August 2007 (2 BvR 1293/07) stellte das Bundesverfassungsgericht ferner fest, dass die Möglichkeit, die Entnahme einer DNA-Probe anzuordnen, wenn die wiederholte Begehung von Straftaten im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichstehe (eine durch das Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse vom 12. August 2005 eingeführte Alternative), keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Unter Bezugnahme auf die Begründung des genannten Gesetzes (s. Rdnr. 19) legte das Bundesverfassungsgericht dar, dass diese Alternative den innerstaatlichen Gerichten nicht erlaube, automatisch zu schlussfolgern, dass die wiederholte Begehung von Straftaten eine Anordnung der Entnahme von Körperzellen rechtfertige. Vielmehr seien die innerstaatlichen Gerichten gehalten, die maßgeblichen Umstände des Einzelfalls und insbesondere die Persönlichkeit der betroffenen Person sowie die Art der Begehung der Taten zu berücksichtigen. Auf Grundlage dessen hätten sie sodann, stets unter strenger Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, im Wege einer Gesamtschau das Maß des verwirklichten und zu erwartenden Unrechts festzustellen.

2. Das einschlägige Völkerrecht und die einschlägige völkerrechtliche Praxis

27. Eine Zusammenfassung der einschlägigen Rechtsinstrumente des Europarats und der Europäischen Union sowie ein Überblick über die einschlägige nationale Gesetzgebung in einer Auswahl von Europaratsstaaten ist im Urteil des Gerichtshofs in der Sache S. und Marper ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerden Nrn. 30562/04 und 30566/04, Rdnrn. 41 bis 53, ECHR 2008, enthalten.

RÜGEN

28. Die Beschwerdeführer rügten unter Berufung auf Artikel 8 der Konvention, dass die Entnahme und Speicherung von DNA-Material zum Zweck der Identitätsfeststellung in potentiellen künftigen Strafverfahren einen unzulässigen und unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Recht auf Achtung ihres Privatlebens, namentlich ihr informationelles Selbstbestimmungsrecht, darstellten.

Der erste Beschwerdeführer brachte in diesem Zusammenhang vor, dass der in § 81g StPO verwendete Begriff „Straftat von erheblicher Bedeutung“ auf einen unbestimmten, auslegungsfähigen Rechtsbegriff Bezug nehme. Es sei nicht hinreichend deutlich und vorhersehbar, welche Arten von Straftaten unter diese Vorschrift fielen, weshalb der daraus folgende Eingriff nicht im Sinne von Artikel 8 Abs. 2 „gesetzlich vorgesehen“ sei. Zudem sei fraglich, ob ein solcher Eingriff ein legitimes Ziel verfolge, wie nach der genannten Bestimmung erforderlich. Jedenfalls sei die Erstellung eines „genetischen Fingerabdrucks“ ein solch erheblicher Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens, dass dies lediglich durch den Zweck einer künftigen Verfolgung wegen erheblicher Straftaten zu rechtfertigen sei. Nach Ansicht des ersten Beschwerdeführers könne das Einführen von und Handeln mit Cannabisprodukten, welche nur geringe Gesundheitsgefahren und wenig Suchtpotential mit sich brächten, diesbezüglich nicht als erhebliche Straftat gelten. Der aus der Anordnung durch das Amtsgericht Freiburg resultierende Eingriff in sein Recht auf Privatleben sei folglich unverhältnismäßig gewesen und habe gegen Artikel 8 der Konvention verstoßen.

Der zweite Beschwerdeführer brachte in ähnlicher Weise vor, dass angesichts der Art der von ihm in der Vergangenheit begangenen Straftaten und deren Zeitabständen die vom Amtsgericht Nürnberg angeordnete Maßnahme nicht mit § 81g StPO gerechtfertigt werden könne. Diese Maßnahme sei folglich unverhältnismäßig gewesen und habe gegen Artikel 8 Abs. 2 der Konvention verstoßen.

29. Unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 2 der Konvention trugen die Beschwerdeführer vor, die Annahme der innerstaatlichen Gerichte, dass die Beschwerdeführer künftig weitere Straftaten begehen würden, welche sich in den angegriffenen Entscheidungen spiegele, verstoße gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung.

30. Die Beschwerdeführer rügten darüber hinaus, dass die von den innerstaatlichen Gerichten angeordneten Maßnahmen diskriminierend gewesen seien und die zugrunde liegenden Verfahren unfair gewesen seien und Artikel 6 der Konvention verletzt hätten. Der zweite Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass das Amtsgericht Nürnberg seinem Antrag auf persönliche Anhörung nicht stattgegeben hätte. Unter Berufung auf die Artikel 3 und 5 Abs. 1 Buchst. b der Konvention brachte der zweite Beschwerdeführer zusätzlich vor, dass die Umsetzung der innerstaatlichen Gerichtsbeschlüsse ohne seine Einwilligung eine Verletzung seines Rechts auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit darstelle. Schließlich brachte er vor, dass die Erfolglosigkeit seiner Verfassungsbeschwerde zeige, dass ihm entgegen Artikel 13 der Konvention kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf bezüglich der zuvor genannten Rügen zur Verfügung gestanden habe.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

31. Nach Artikel 42 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beschließt der Gerichtshof, die Beschwerden wegen ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds zu verbinden.

A. Rügen der Beschwerdeführer nach Artikel 8 der Konvention

32. Die Beschwerdeführer brachten vor, dass die Entnahme von Körperzellen zum Zweck der Feststellung und Verwendung ihrer DNA-Identifizierungsmuster auf der Grundlage der angegriffenen Beschlüsse der innerstaatlichen Gerichte sowie die Speicherung der gewonnenen Daten einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Recht auf Privatleben darstelle und gegen Artikel 8 der Konvention verstoße, der wie folgt lautet:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

Bei der Prüfung der Rügen geht der Gerichtshof davon aus, dass die genannten gerichtlichen Anordnungen vollstreckt und die angegriffenen Maßnahmen durchgeführt wurden (s. Rdnr. 18).

33. Der Gerichtshof hat bereits in früheren Entscheidungen festgestellt, dass die Entnahme von Körperzellen und deren Aufbewahrung sowie die Feststellung und Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern auf der Basis von Zellproben einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne von Artikel 8 Abs. 1 der Konvention darstellt (siehe S. und Marper, a. a. O., Rdnrn. 71-77, ECHR 2008; Van der Velden ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 29514/05, 7. Dezember 2006; und W. ./. Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 20689/08, 20. Januar 2009).

34. Ein solcher Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn er kann nach Abs. 2 gerechtfertigt werden, weil er„gesetzlich vorgesehen“ ist, ein oder mehrere darin genannte legitime Ziele verfolgt, und „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ ist, um diese Ziele zu erreichen.

1. Gesetzlich vorgesehen

35. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt der Ausdruck „gesetzlich vorgesehen“ voraus, dass die angegriffene Maßnahme eine gewisse innerstaatliche Rechtsgrundlage haben muss; er betrifft auch die Qualität des in Rede gestellten Gesetzes, wobei vorausgesetzt ist, dass es der betroffenen Person zugänglich ist und seine Folgen absehbar sind. Eine Regelung ist vorhersehbar, wenn sie so genau formuliert ist, dass es jeder Einzelperson – erforderlichenfalls mit entsprechender Rechtsberatung – möglich ist, ihr Verhalten entsprechend anzupassen (siehe Rotaru ./. Rumänien [GK], Individualbeschwerde Nr. 28341/95, Rdnrn. 52 und 55, ECHR 2000-V). Damit das innerstaatliche Recht diesen Anforderungen genügt, muss es einen angemessenen Rechtsschutz gegen Willkür gewährleisten und daher den Umfang des den zuständigen Behörden gewährten Ermessensspielraums und die Art und Weise, in der dieser zu nutzen ist, hinreichend klar definieren (siehe Malone ./. Vereinigtes Königreich, 2. August 1984, Rdnrn. 66-68, Serie A Band 82; Rotaru a. a. O.; und Amann ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 27798/95, Rdnr. 56, ECHR 2000‑II). Der Grad der Genauigkeit, der von den innerstaatlichen Rechtsvorschriften gefordert wird – die aber keinesfalls jede Eventualität regeln können – hängt in beträchtlichem Maße vom Inhalt des in Rede stehenden Instruments, vom Bereich, den es abdecken soll, sowie von der Zahl und vom Status derjenigen Personen ab, an die es gerichtet ist (Hasan und Chaush ./. Bulgarien [GK], Individualbeschwerde Nr. 30985/96, Rdnr. 84, ECHR 2000-XI, mit weiteren Verweisen).

36. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Anordnungen der Entnahme von Körperzellen der Beschwerdeführer zum Zweck der Feststellung und Verarbeitung ihrer DNA-Identifizierungsmuster auf innerstaatlichem Recht beruhten, namentlich auf § 81g StPO. Die Beschwerdeführer bestreiten zwar nicht, dass diese rechtliche Grundlage für die angegriffenen gerichtlichen Anordnungen dem Erfordernis der Zugänglichkeit gerecht werden, allerdings brachte der erste Beschwerdeführer vor, dass die Bedingungen, unter denen die Vorschrift den innerstaatlichen Gerichten die Entnahme von Körperzellen erlaube, nicht hinreichend genau dargestellt seien. Er trug insbesondere vor, dass der Ausdruck „Straftat von erheblicher Bedeutung“ der Auslegung zugänglich sei und es daher nicht vorhersehbar sei, welche Arten von Straftaten unter diese Bestimmung fallen.

37. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf die zuvor genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Dezember 2000 (siehe Rdnr. 25), in der es heißt, dass sich der betreffende Ausdruck in einer Reihe von Bestimmungen der Strafprozessordnung finde und nach der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte so definiert sei, dass er Verbrechen der mittleren Kriminalität umfasse, welche den Rechtsfrieden empfindlich störten und dazu geeignet seien, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Was die in der zweiten Alternative von § 81g Abs. 1 vorgesehene Entnahme von DNA-Proben von Wiederholungstätern angeht, erinnert der Gerichtshof daran, dass das innerstaatliche Recht eine solche Maßnahme erlaubt, wenn die wiederholte Begehung sonstiger Straftaten im Unrechtsgehalt einer Straftat von erheblicher Bedeutung gleichsteht. Das Gesetz verweist demnach auf den gleichen Begriff von Verbrechen mittlerer Kriminalität und die dazugehörige Definition wie die ständige Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte.

38. Diese Definition selbst mag zwar der Auslegung zugänglich sein, trotzdem ist der Gerichtshof der Auffassung, dass es für den Einzelnen vorhersehbar ist, dass es bei einer Verurteilung wegen wiederholten Drogenhandels und illegaler Einfuhr von Betäubungsmitteln, die wie im Fall des ersten Beschwerdeführers eine Freiheitsstrafe von über fünf Jahren zur Folge hat, um eine Straftat von mindestens mittlerer Kriminalität geht und dies folglich eine gerichtliche Anordnung nach § 81g StPO zur Folge haben kann. Ähnliche Erwägungen gelten im Hinblick auf den zweiten Beschwerdeführer, soweit die Anordnung der Entnahme einer DNA-Probe von ihm auf der Schwere der in der Vergangenheit von ihm begangenen Straftaten wie gefährlicher Körperverletzung beruhte. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof im Hinblick auf die Feststellung des Nürnberger Gerichts, wonach das Stalken einer Frau durch den zweiten Beschwerdeführer der wiederholten Begehung einer Straftat nach der zweiten Alternative des § 81g Abs. 1 StPO gleichkomme, fest, dass der Gesetzgeber in seiner Begründung zu dieser Bestimmung genau auf diese Art von Straftaten Bezug genommen hat, um ihren Anwendungsbereich zu veranschaulichen (siehe Rdnr. 19).

39. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Beschwerdeführer keine Beschwer hinsichtlich des Grads der Genauigkeit des § 81g StPO i. V. m. den einschlägigen Bestimmungen des Bundeskriminalamtgesetzes geltend machten, soweit diese die Modalitäten und die Dauer der Speicherung der gewonnen DNA-Identifizierungsmuster sowie deren Verwendung regeln. Er ist der Auffassung, dass diese Fragen jedenfalls eng mit der Frage verbunden sind, ob der aus den angefochtenen Maßnahmen herrührende Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war, und wird diese dementsprechend im Rahmen der damit verbundenen Analyse in den Rdnrn. 41 bis 50 prüfen.

2. Legitimes Ziel

40. Im Hinblick auf das legitime Ziel der angegriffenen Maßnahme hat der Gerichtshof zuvor festgestellt, dass die Erstellung und Speicherung von DNA-Identifizierungsmustern den legitimen Zielen der Verhütung von Straftaten und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienen (siehe S. Marper, a. a. O., Rdnr. 100). Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 14. Dezember 2000 befunden, dass die nach § 81g StPO erlaubten Maßnahmen nicht die Verhütung künftiger Straftaten zum Ziel habe; dennoch hat es dargelegt, dass derartige Maßnahmen dem Zweck dienten, die Ermittlungen bei künftigen Straftaten zu erleichtern.

3. In einer demokratischen Gesellschaft notwendig

41. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die auf den angegriffenen Anordnungen der innerstaatlichen Gerichte beruhenden Eingriffe in das Privatleben der Beschwerdeführer als in einer demokratischen Gesellschaft für das verfolgte legitime Ziel notwendig angesehen werden können.

Er weist erneut darauf hin, dass dieses Erfordernis erfüllt ist, wenn der in Rede stehende Eingriff „einem dringenden sozialen Bedürfnis“ entspricht und, insbesondere, wenn er in Bezug auf das verfolgte legitime Ziel verhältnismäßig ist und wenn die von den innerstaatlichen Behörden zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe „zutreffend und ausreichend“ sind. Für die Beurteilung, ob der Eingriff in dieser Hinsicht notwendig ist, muss den innerstaatlichen Behörden ein Ermessensspielraum eingeräumt werden. Der Umfang dieses Spielraums ist unterschiedlich und hängt von einer Reihe von Faktoren ab, zu denen die Art des in Rede stehenden Konventionsrechts, seine Bedeutung für den Betroffenen, die Art des Eingriffs und das mit dem Eingriff verfolgte Ziel gehören. Der Spielraum wird in der Regel enger sein, wenn das in Rede stehende Recht von entscheidender Bedeutung dafür ist, ob der Betroffene sehr persönliche oder wichtige Rechte effektiv wahrnehmen kann (siehe Connors ./. Vereinigtes Königreich, Individualbeschwerde Nr. 66746/01, Rdnr. 82, 27. Mai 2004, mit weiteren Verweisen). Geht es um einen besonders wichtigen Aspekt der Existenz oder Identität des Betroffenen, wird der dem Staat gewährte Spielraum eingeschränkt sein (siehe Evans ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 6339/05, Rdnr. 77, ECHR 2007‑…)

42. Der Gerichtshof hat bereits auf den erheblichen Beitrag hingewiesen, den DNA-Informationen in den letzten Jahren im Bereich Strafverfolgung und Kriminalitätsbekämpfung geleistet haben (siehe Van der Velden, a. a. O., und S. und Marper, a. a. O., Rdnr. 105). Andererseits hat er auch die grundlegende Bedeutung des Schutzes personenbezogener Daten für das nach Artikel 8 der Konvention geschützte Recht einer Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens betont. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass das innerstaatliche Recht geeignete Schutzvorkehrungen vorsehen muss, die verhindern, dass personenbezogene Daten in einer Weise verwendet werden, die mit den Garantien nach diesem Artikel nicht vereinbar sind. Die Notwendigkeit solcher Vorkehrungen ist noch größer, wenn es um den Schutz personenbezogener Daten geht, die einer automatischen Verarbeitung unterliegen, insbesondere wenn diese Daten zu polizeilichen Zwecken genutzt werden. Das innerstaatliche Recht sollte insbesondere sicherstellen, dass diese Daten für die Zwecke, zu denen sie gespeichert werden, erheblich sind und nicht darüber hinausgehen, und dass sie insbesondere in einer Form aufbewahrt werden, welche die Identifizierung der Betroffenen nur so lange erlaubt, wie dies für den Zweck, zu dem diese Daten gespeichert werden, erforderlich ist. Das innerstaatliche Recht muss auch angemessene Garantien gegen eine falsche oder missbräuchliche Verwendung gespeicherter personenbezogener Daten vorsehen. Diese Erwägungen gelten besonders für den Schutz spezieller, sensiblere Daten beinhaltender Kategorien und dabei vor allem für den Schutz von DNA-Informationen, welche den genetischen Bauplan des Betroffenen enthalten, der für diesen selbst und für seine Familie von großer Bedeutung ist (siehe S. und Marper, a. a. O., Rdnr. 103, mit Verweis auf die einschlägigen Bestimmungen hierzu in Verbindung stehender Rechtsinstrumente des Europarats; und Bouchacourt ./. Frankreich, Individualbeschwerde Nr. 5335/06, Rdnr. 61, 17. Dezember 2009).

43. Der Gerichtshof verweist in diesem Zusammenhang auf seine Feststellungen in der Rechtssache S. und Marper (a. a. O., Rdnr. 119), in der es um die Speicherung von DNA-Informationen von zwei Beschwerdeführern ging, die nicht wegen einer Straftat verurteilt worden waren. In diesem Fall war dem Gerichtshof die pauschale und unterschiedslose Befugnis zur Aufbewahrung von DNA-Informationen in England und Wales aufgefallen, aufgrund derer DNA-Material unbefristet und unabhängig von der Art und Schwere der Straftat oder der persönlichen Umstände der betroffenen Person gespeichert werden durfte. Der Gerichtshof stellt allerdings fest, dass die vorliegenden Fälle unter diversen Gesichtspunkten von der Rechtssache S. und Marper unterschieden werden können.

44. Zunächst einmal geht es in den vorliegenden Fällen um die Entnahme, Speicherung und Aufbewahrung von DNA-Informationen von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof fest, dass DNA-Material nach § 81g Abs. 1 StPO nur von Personen entnommen werden darf, die wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung verurteilt wurden oder wenn die wiederholte Begehung von Straftaten einen vergleichbaren Unrechtsgehalt erreicht hat und wenn darüber hinaus Grund zu der Annahme besteht, dass gegen den Verurteilten künftig Strafverfahren wegen ähnlicher Straftaten zu führen sind. Bei ihrer Beurteilung, ob diese Voraussetzungen bei einer Anordnung der Entnahme von DNA-Material erfüllt sind, sind die innerstaatlichen Gerichte verpflichtet, die Umstände des speziellen Falls und die Persönlichkeit des Verurteilten zu berücksichtigen und Gründe für ihre Annahme vorzulegen, dass gegen den Verurteilten künftig Strafverfahren wegen ähnlicher Straftaten zu führen seien.

45. Darüber hinaus dürfen gewonnene Körperzellen nach der genannten Bestimmung nur zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters verwendet werden. Die Identität der Person, der die DNA-Probe entnommen wurde, wird den mit der Erstellung des DNA-Identifizierungsmusters betrauten Sachverständigen nicht preisgegeben; letztere sind zudem verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass die untersuchten Körperzellen in einer unerlaubten Weise verwendet werden. Die Körperzellen selbst müssen unverzüglich vernichtet werden, sobald sie für den Zweck der Erstellung des DNA-Identifizierungsmusters nicht mehr erforderlich sind. Nur die aus diesem Zellmaterial gewonnenen DNA-Identifizierungsmuster dürfen in der Datenbank des Bundeskriminalamtes gespeichert werden.

46. Außerdem gibt es zwar keine gesetzlich vorgeschriebenen Fristen für die Speicherung von DNA-Identifikationsmustern, allerdings ist das Bundeskriminalamt verpflichtet, in regelmäßigen Abständen zu überprüfen, ob die fortdauernde Speicherung der Daten für die Durchführung ihrer Aufgaben noch erforderlich ist oder, wenn nicht, ob sie zu löschen sind. Die hierfür festzulegende Frist darf bei Erwachsenen zehn Jahre nicht überschreiten, wobei in jedem Fall der Zweck der Datenspeicherung sowie die Art und Schwere des Sachverhalts zu berücksichtigen sind. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Frist angesichts der Tatsache, dass DNA-Identifizierungsmuster nur für Verurteilte erstellt werden dürfen, die Straftaten einer bestimmten Schwere begangen haben, nicht unangemessen ist. Er stellt in diesem Zusammenhang ferner fest, dass die Beschwerdeführer nicht vorgebracht haben, dass sie keine Möglichkeit hätten, die Löschung gespeicherter Daten mit der Begründung zu beantragen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Speicherung nicht mehr erfüllt seien. Lehnt das Bundeskriminalamt einen solchen Antrag ab, könnte diese Entscheidung entsprechend den allgemeinen Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensrechts den Verwaltungsgerichten zur Überprüfung vorgelegt werden.

47. Darüber hinaus ist der Gerichtshof in Anbetracht der Tatsache, dass die gespeicherten DNA-Identifizierungsmuster den zuständigen Behörden nur zum Zwecke eines Strafverfahrens, der Gefahrenabwehr und der internationalen Rechtshilfe hierfür preisgegeben werden dürfen (siehe Rdnr. 22), überzeugt, dass § 81g StPO i. V. m. den einschlägigen Bestimmungen des Bundeskriminalamtgesetzes geeignete Schutzmaßnahmen gegen die pauschale und unterschiedslose Entnahme und Aufbewahrung von DNA-Proben und -Identifizierungsmustern sowie geeignete Garantien für einen wirksamen Schutz der aufbewahrten personenbezogenen Daten gegen falsche oder missbräuchliche Verwendung vorsieht.

48. Überdies befindet der Gerichtshof, dass es keine Gründe für die Feststellung gibt, dass die innerstaatlichen Gerichte oder Behörden in den in Rede stehenden Verfahren derartige Garantien nicht eingehalten hätten. Die innerstaatlichen Gerichte gründeten ihre Feststellung, dass die von dem jeweiligen Beschwerdeführer begangenen Straftaten die von § 81g StPO geforderte Schwelle hinsichtlich der Schwere überschritten, auf die besonderen Umstände beider Fälle und führten maßgebliche und ausreichende Gründe für ihre Annahme an, dass künftig Strafverfahren wegen ähnlicher Straftaten gegen sie zu führen seien und dass folglich die Entnahme ihrer DNA-Proben und die Speicherung der gewonnenen DNA-Identifizierungsmuster gerechtfertigt und verhältnismäßig seien.

49. Angesichts der vorgenannten Erwägungen befindet der Gerichtshof, dass die innerstaatlichen Regeln zur Entnahme und Aufbewahrung von DNA-Material von Personen, die wegen einer Straftat einer bestimmten Schwere verurteilt wurden, wie sie in den Fällen der Beschwerdeführer angewandt wurden, einen gerechten Ausgleich zwischen widerstreitenden öffentlichen und privaten Belangen erzielen und in den akzeptablen Ermessensspielraum des beschwerdegegnerischen Staates fallen. Dementsprechend stellen die mit den angegriffenen Gerichtsentscheidungen angeordneten Maßnahmen einen verhältnismäßigen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Privatlebens dar und können als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden.

50. Daraus folgt, dass die Rüge offensichtlich unbegründet und dementsprechend nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

B.Die Rügen der Beschwerdeführer nach Artikel 6 Abs. 2 der Konvention

51. Die Beschwerdeführer brachten ferner vor, dass die Annahme der innerstaatlichen Gerichte, dass künftig Strafverfahren gegen sie zu führen seien, welche sich in den angegriffenen Entscheidungen spiegele, gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoße. Sie beriefen sich auf Artikel 6 Abs. 2 der Konvention, der wie folgt lautet:

„2. Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

52. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass eine Anklage im Sinne des Artikels 6 der Konvention allgemein als „amtliche Mitteilung der zuständigen Behörde an den Betroffenen, dass ihm die Begehung einer Straftat angelastet wird“ definiert werden kann (siehe u. a. G.K. ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 38816/97, Rdnr. 98, 20. Januar 2004) oder eine Maßnahme sein kann, die diesen Vorwurf impliziert und sich erheblich auf die Lage des Verdächtigen auswirkt (siehe Šubinski ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 19611/04, Rdnr. 62, 18. Januar 2007, und E. gegen Deutschland, 15. Juli 1982, Rdnr. 73, Serie A Band 51).

53. Der Gerichtshof stellt fest, dass in den vorliegenden Rechtssachen die angegriffenen Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte auf in der Vergangenheit liegende Verurteilungen der Beschwerdeführer sowie deren künftige Kriminalprognose Bezug nahmen, ohne dabei anzudeuten, dass die Beschwerdeführer verdächtigt würden, rückfällig zu werden.

54. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass zur Zeit des in Rede stehenden Verfahrens nichts darauf hindeutete, dass die Beschwerdeführer im Sinne von Artikel 6 Abs. 2 der Konvention „einer Straftat angeklagt“ waren.

55. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerden selbst unter der Annahme der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs durch beide Beschwerdeführer ebenfalls offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.

C. Die übrigen Rügen der Beschwerdeführer

56. Ohne sich auf einen bestimmten Konventionsartikel zu berufen, brachten die Beschwerdeführer ferner vor, dass die mit den angegriffenen Gerichtsentscheidungen angeordneten Maßnahmen diskriminierend seien. Unter Berufung auf Artikel 6 der Konvention rügten sie, dass die zugrunde liegenden Gerichtsverfahren unfair gewesen seien. Der zweite Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass er von dem Amtsgericht nicht persönlich angehört worden sei. Er brachte außerdem vor, dass die Umsetzung der Gerichtsentscheidungen ohne seine Einwilligung unter Verstoß gegen Artikel 3 und 5 Abs. 1 Buchst. b der Konvention sein Recht auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit verletzt habe. Schließlich brachte der zweite Beschwerdeführer vor, die Erfolglosigkeit seiner Verfassungsbeschwerde zeige, dass ihm entgegen Artikel 13 der Konvention kein wirksamer innerstaatlicher Rechtsbehelf bezüglich der zuvor genannten Rügen zur Verfügung gestanden habe.

57. Der Gerichtshof hat die übrigen von den Beschwerdeführern vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass, selbst wenn die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs unterstellt wird, diese keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention bezeichneten Rechte und Freiheiten erkennen lassen.

58. Daraus folgt, dass dieser Teil der Rügen der Beschwerdeführer ebenfalls nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist.

Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof mit Stimmenmehrheit wie folgt:

Die Individualbeschwerden werden verbunden;

die Individualbeschwerden werden für unzulässig erklärt.

Claudia Westerdiek                                      Mark Villiger
Kanzlerin                                                       Präsident

Zuletzt aktualisiert am Januar 3, 2021 von eurogesetze

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