Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 78306/12
C.
gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 6. Oktober 2015 als Ausschuss mit der Richterin und den Richtern
Boštjan M. Zupančič, Präsident,
Helena Jäderblom,
Aleš Pejchal,
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 6. Dezember 2012 erhoben wurde,
im Hinblick auf die am 8. April 2015 von der beschwerdegegnerischen Regierung vorgelegte Erklärung, mit der sie den Gerichtshof ersucht, die Beschwerde in seinem Register zu streichen, und die Erwiderung des Beschwerdeführers auf diese Erklärung,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT UND VERFAHREN
Der 19.. geborene Beschwerdeführer, C., ist italienischer Staatsangehöriger und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Frau S. , Rechtsanwältin in B., vertreten.
Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihre Verfahrensbevollmächtigte, Frau K. Behr vom Bundesministerium der Justiz, vertreten.
Die italienische Regierung machte von ihrem Recht auf Beteiligung an dem Verfahren nach Artikel 36 der Konvention keinen Gebrauch.
Der Sachverhalt, so wie er von den Parteien vorgebracht wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen.
Der Beschwerdeführer hat zwei Söhne, die 19.. bzw. 19.. geboren wurden.
Nach der Trennung der Eltern räumte das italienische Gericht in Monza dem Beschwerdeführer 2002 ein Umgangsrecht ein. Ende jenes Jahres zog die Mutter mit den Kindern von Italien nach B., wo sie seitdem leben.
Am 18. Januar 2003 beantragte die Mutter beim Familiengericht Kreuzberg‑Zehlendorf, das Umgangsrecht des Beschwerdeführers auszuschließen.
Am 10. November 2004 ordnete das Familiengericht im Wege einer einstweiligen Anordnung begleitete Umgangskontakte an und erklärte ausdrücklich, dass durch diese Entscheidung die frühere Umgangsentscheidung des Gerichts in Monza abgeändert werde.
Zwischen 2005 und 2009 setzte das Familiengericht das Umgangsrecht des Beschwerdeführers vorläufig aus, gab zwei Sachverständigengutachten in Auftrag und hielt am 1. Dezember 2009 eine mündliche Verhandlung ab. Es betraute dann eine Umgangspflegerin mit der Aufgabe, die Kinder auf einen Umgang mit ihrem Vater vorzubereiten.
Am 10. Mai 2010 setzte das Berliner Kammergericht den Beschluss des Familiengerichts, mit dem eine Umgangspflegerin mit der Aufgabe betraut worden war, die Kinder auf einen Umgang mit dem Beschwerdeführer vorzubereiten, außer Kraft.
Mit Beschluss vom 29. Oktober 2010 hob das Kammergericht, nachdem es die Parteien, die Kinder, den Sachverständigen und die Verfahrenspflegerin angehört hatte, den Beschluss des Familiengerichts auf und schloss das Umgangsrecht des Beschwerdeführers erneut für die Dauer von zwei Jahren aus. Es wies darauf hin, dass die Kinder sich konstant weigerten, den Beschwerdeführer zu sehen. Dieser Wunsch müsse unter dem Aspekt des Kindeswohles akzeptiert werden. Es bestehe derzeit keine Notwendigkeit einer Psychotherapie, da die Kinder keinen Leidensdruck hätten. Sie wollten nur, dass das Gerichtsverfahren beendet werde und sie „ihre Ruhe“ hätten. Wie der Sachverständige S. während des Gerichtstermins bestätigt habe, bestehe die Gefahr, dass eine Therapie ihre Stabilität erschüttern würde. Die Verfahrenspflegerin teile diese Einschätzung. Sie sei der Auffassung, dass die Kinder zusammenbrechen würden, wenn sie mit einer anderen Realität konfrontiert würden. Diese Einschätzung stimme mit dem persönlichen Eindruck überein, den das Kammergericht bei der Anhörung gewonnen hätte. Es sei erkennbar, dass das gesamte Verfahren die Kinder sehr belaste. Das Kammergericht entschied ferner, dass der Vater weiterhin das Recht habe, seinen Kindern Briefe zu schreiben und dass die Mutter ihm Auskunft über die persönliche Entwicklung der Kinder erteilen müsse.
Am 29. Mai 2012 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 18/11).
RÜGEN
Der Beschwerdeführer rügte unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention, dass die Dauer des Umgangsverfahrens eine angemessene Frist überschritten habe und dass daher sein Recht auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist und sein Recht auf Familienleben verletzt worden seien. Überdies rügte er unter Berufung auf Artikel 6 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention, dass die deutschen Gerichte die Umgangsentscheidung des italienischen Gerichts in Monza vom 30. Mai 2002 nicht umgesetzt hätten.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
A. Die Rüge des Beschwerdeführers in Bezug auf die unterbliebene Beschleunigung des Umgangsverfahrens
Der Beschwerdeführer rügte, dass die Familiengerichte nicht innerhalb angemessener Frist über sein Recht auf Umgang mit seinen Söhnen entschieden hätten. Er berief sich auf Artikel 8 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres … Familienlebens…
2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist … zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“
Die Rüge bezüglich der Dauer des Umgangsverfahrens wurde der Regierung nach Artikel 8 der Konvention übermittelt (vgl. Eberhard und M. ./. Slowenien, Individualbeschwerden Nr. 8673/05 und Nr. 9733/05, Rdnrn. 111 und 143, 1. Dezember 2009).
Nachdem Versuche, eine gütliche Einigung zu erreichen, gescheitert waren, unterrichtete die Regierung den Gerichtshof mit Schreiben vom 8. April 2015 von ihrem Vorschlag, eine einseitige Erklärung zur Erledigung der in der Beschwerde aufgeworfenen Frage abzugeben. Ferner beantragte sie beim Gerichtshof, die Beschwerde gemäß Artikel 37 der Konvention im Register zu streichen.
Die Erklärung lautete wie folgt:
„1. Die Bundesregierung möchte daher nunmehr – durch eine einseitige Erklärung – anerkennen, dass der Beschwerdeführer in der vorliegenden Rechtssache durch den Verlauf des innerstaatlichen Verfahrens auf Regelung des Kindesumgangs in seinem Recht aus Artikel 8 EMRK auf Achtung des Familienlebens verletzt worden ist.
2. Die Bundesregierung ist bereit, im Falle der Streichung dieses Individualbeschwerdeverfahrens durch den Gerichtshof eine Entschädigungsforderung in Höhe von 18.000,00 € anzuerkennen. Mit diesem Betrag in Höhe von 18.000,00 € würden sämtliche Ansprüche des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der o. g. Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere auf Schadensersatz (auch für Nichtvermögensschäden), Kosten und Auslagen, als abgegolten gelten.
3. Die angebotene Summe entspricht nach Auffassung der Bundesregierung einer gerechten Entschädigung nach Art. 41 EMRK. Der angebotene Betrag von 18.000,00 € stellt sicher, dass der Beschwerdeführer neben Erstattung der gesetzlichen Gebühren eines beauftragten Rechtsanwalts sowie Erstattung der dem Beschwerdeführer in Rechnung gestellten Gerichtskosten eine immaterielle Entschädigung von zumindest 10.000,00 € erlangen wird.
…“
Mit Schreiben vom 8. Mai 2015 erklärte der Beschwerdeführer, dass er mit den Bedingungen der einseitigen Erklärung nicht zufrieden sei, weil die Erklärung der Regierung keine Entschädigung hinsichtlich der überlangen Verfahrensdauer umfasse.
Der Gerichtshof erinnert daran, dass er nach Artikel 37 der Konvention jederzeit während des Verfahrens entscheiden kann, eine Beschwerde in seinem Register zu streichen, wenn die Umstände Grund zu einer der in Absatz 1 Buchstabe a, b oder c genannten Annahmen geben. Insbesondere kann der Gerichtshof nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c eine Rechtssache in seinem Register streichen, wenn
„eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist.“
Er erinnert auch daran, dass er unter bestimmten Umständen eine Beschwerde auch dann nach Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c aufgrund einer einseitigen Erklärung einer beschwerdegegnerischen Regierung streichen kann, wenn der Beschwerdeführer die Fortsetzung der Prüfung der Rechtssache wünscht.
Zu diesem Zweck hat der Gerichtshof die Erklärung sorgfältig im Lichte der Grundsätze geprüft, die sich aus seiner Rechtsprechung ergeben, insbesondere aus dem Urteil Tahsin Acar (Tahsin Acar ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 26307/95, Rdnrn. 75-77, EGMR 2003-VI; WAZA Spółka z o.o. ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 11602/02, 26. Juni 2007; und Sulwińska ./. Polen (Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 28953/03, 18. September 2007).
Der Gerichtshof hat in einer Reihe von Fällen, darunter auch Beschwerden gegen Deutschland, seine Praxis in Bezug auf Rügen festgelegt, die unter dem verfahrensrechtlichen Aspekt von Artikel 8 der Konvention erhoben werden und mit denen geltend gemacht wird, dass ein Gericht ein Umgangsrecht nicht mit der gebotenen besonderen Zügigkeit durchgesetzt habe (siehe z. B. Bergmann ./. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr. 8857/08, Rdnrn. 38 und 46, 27. Oktober 2011; S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98, Rdnr. 100, 10. November 2005).
Unter Berücksichtigung der Art des in der Erklärung der Regierung enthaltenen Eingeständnisses stellt der Gerichtshof fest, dass die Regierung anerkannt hat, dass die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 8 der Konvention durch den Verlauf des innerstaatlichen Verfahrens verletzt wurden.Darüber hinaus hat die Regierung vorgeschlagen, dem Beschwerdeführer durch die Zahlung einer immateriellen Entschädigung sowie der Kosten und Auslagen Wiedergutmachung zu leisten. Die Höhe der Entschädigung entspricht den in ähnlichen Fällen zugesprochenen Beträgen und ist somit angemessen (vgl. K. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 62198/11, Rdnr. 149, 15. Januar 2015).Daher ist der Gerichtshof der Ansicht, dass eine weitere Prüfung der Beschwerde nicht länger gerechtfertigt ist (Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c).
Ferner ist der Gerichtshof im Lichte vorstehender Erwägungen und insbesondere in Anbetracht der eindeutigen und umfangreichen Rechtsprechung zu diesem Thema überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte, wie sie in der Konvention und den Protokollen dazu definiert sind, keine weitere Prüfung dieser Beschwerde erfordert (Artikel 37 Abs. 1 in fine).
Schließlich möchte der Gerichtshof betonen, dass, sollte die Regierung die Bedingungen ihrer einseitigen Erklärung nicht einhalten, die Beschwerde nach Artikel 37 Abs. 2 der Konvention wieder in das Register eingetragen werden könnte (Josipović ./. Serbien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 18369/07, 4. März 2008).
Nach alledem ist es angezeigt, die Rechtssache im Register zu streichen, soweit sie die vorgenannte Rüge betrifft.
B. Die Rüge des Beschwerdeführers nach Artikel 6 der Konvention betreffend die überlange Verfahrensdauer
Gestützt auf Artikel 6 Abs. 1 der Konvention rügte der Beschwerdeführer auch die überlange Dauer des Verfahrens. Artikel 6 der Konvention, soweit maßgeblich, lautet wie folgt:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem … Gericht in einem fairen Verfahren … innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“
Im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer nach dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (im Folgenden: das Rechtsschutzgesetz) Anspruch auf gerechte Entschädigung hätte geltend machen können, was er aber nicht tat. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass das Rechtsschutzgesetz grundsätzlich geeignet ist, angemessene Wiedergutmachung für eine Verletzung des Rechts auf ein Verfahren innerhalb angemessener Frist zu leisten, und dass von einem Beschwerdeführer erwartet werden kann, von diesem Rechtsbehelf Gebrauch zu machen, auch wenn er erst verfügbar wurde, nachdem er seine Individualbeschwerde beim Gerichtshof erhoben hat (siehe K., a. a. O., Rdnrn. 124 f.;T../. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53126/07, Rdnrn. 40-43, 29. Mai 2012). Er ist der Auffassung, dass der Beschwerdeführer keine Gründe vorgebracht hat, die die Schlussfolgerung nahelegen würden, dass eine Klage zur Durchsetzung des Anspruchs auf gerechte Entschädigung keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn er diesen im Hinblick auf die mutmaßlich unangemessene Dauer des gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht hätte.
Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen.
C. Die übrigen Rügen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer rügte außerdem nach Artikel 6 Abs. 1 und Artikel 8 der Konvention, dass die innerstaatlichen Gerichte die Entscheidung des Gerichts in Monza aus dem Jahr 2002 nicht umgesetzt hätten.
Der Gerichtshof hat die übrigen von dem Beschwerdeführer vorgebrachten Rügen geprüft. Unter Berücksichtigung aller ihm vorliegenden Unterlagen stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass diese Rüge keine Anzeichen für eine Verletzung der in der Konvention oder den Protokollen dazu garantierten Rechte und Freiheiten erkennen lässt.
Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen ist.
Aus diesen Gründen entscheidet der Gerichtshof einstimmig:
Er nimmt den Wortlaut der Erklärung der beschwerdegegnerischen Regierung nach Artikel 8 der Konvention sowie die Modalitäten für die Erfüllung der darin enthaltenen Verpflichtungen zur Kenntnis;
er beschließt, den Teil der Beschwerde, der die Rüge nach Artikel 8 betreffend die Dauer des Umgangsverfahrens zum Gegenstand hat, gemäß Artikel 37 Abs. 1 Buchstabe c der Konvention im Register zu streichen;
und erklärt die Individualbeschwerde im Übrigen für unzulässig.
Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 29. Oktober 2015.
Milan Blaško Boštjan M. Zupančič
Stellvertretender Kanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Januar 2, 2021 von eurogesetze
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