Gericht: OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat. Entscheidungsdatum 11.08.2021. Aktenzeichen: OVG 3 L 133/20

Gericht: OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat
Entscheidungsdatum 11.08.2021
Aktenzeichen: OVG 3 L 133/20
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0811.OVG3L133.20.00
Dokumententyp: Beschluss
Normen: § 94 VwGO, § 6 Abs 3 AufenthG, § 22 AufenthG, § 25 Abs 2 S 1 AufenthG, § 32 Abs 1 Nr 2 AufenthG, Art 4 Abs 1 UAbs 1 Buchst b EGRL 86/2003, Art 10 Abs 1 EGRL 86/2003

Tenor

Der Aussetzungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22. April 2020 wird aufgehoben.

Gründe

I.

Die am … 1999 geborene Klägerin, die syrische Staatsangehörige ist, wendet sich gegen die Aussetzung des Klageverfahrens, das auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug gerichtet ist.

Der Vater der Klägerin hält sich seit September 2015 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihm zunächst mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 den subsidiären Schutzstatus zu, worauf die Beigeladene ihm eine ab 6. Dezember 2016 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilte. Nachdem das Verwaltungsgericht Sigmaringen das Bundesamt mit rechtskräftigem Urteil vom 9. Februar 2018 verpflichtet hatte, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, erging am 9. April 2018 der entsprechende Bescheid. Die Beigeladene stellte dem Vater der Klägerin daraufhin im Oktober 2018 rückwirkend zum 24. März 2018 (Eintritt der Rechtskraft des Urteils) eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG aus.

Die Klägerin beantragte am 26. Januar 2017 zusammen mit ihrer Mutter und ihrer 2005 geborenen Schwester den Nachzug zu ihrem Vater. Mit Schreiben vom 5. April 2017 lehnte das deutsche Generalkonsulat in Istanbul den Visumantrag der Klägerin ebenso ab wie die Anträge der Mutter und der Schwester. Eine E-Mail der Ökumenischen Flüchtlingshilfe Köln vom 24. April 2018 wertete die Beklagte als Remonstration der drei Visumantragstellerinnen. Das Generalkonsulat erteilte – nach erneuter Beteiligung der Beigeladenen – der Mutter und der Schwester der Klägerin am 6. November 2018 Visa zum Zweck der Familienzusammenführung, die daraufhin am 24. Dezember 2018 in das Bundesgebiet einreisten.

Die Ablehnung einer Visumerteilung an die Klägerin hielt das Generalkonsulat mit Bescheid vom 5. November 2018 unter Verweis darauf aufrecht, dass sie bei Eintritt ihrer Volljährigkeit nicht die Voraussetzungen für einen Kindernachzug gemäß § 32 AufenthG erfüllt habe, weil ihr Vater zu diesem Zeitpunkt nicht über einen zum Nachzug berechtigenden Aufenthaltstitel verfügt habe, ihm dieser vielmehr erst 2018 ausgestellt worden sei. Auch seien die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG nicht erfüllt.

Die Klägerin hat am 5. Dezember 2018 beim Verwaltungsgericht Berlin Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Visumerteilung erhoben.

Am 23. März 2020 hat der Vater der Klägerin beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage mit dem Ziel einer Verpflichtung der Beigeladenen erhoben, ihm rückwirkend zum 1. Dezember 2016 einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG zu erteilen (Az. 1 K 984/20).

Das Verwaltungsgericht Berlin setzte das vorliegende Klageverfahren mit Beschluss vom 22. April 2020 gemäß § 94 VwGO aus. Die Aussetzung erscheine sachgerecht, da Streitgegenstand des beim Verwaltungsgericht Sigmaringen anhängigen Verfahrens des Vaters die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei, die wiederum streitentscheidend für das im vorliegenden Klageverfahren begehrte Visum gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2, § 6 Abs. 3 AufenthG sei.

Mit der Beschwerde macht die Klägerin geltend, der Aussetzungsbeschluss leide unter einem Ermessensausfall. Das hiesige Klageverfahren sei bereits seit 2018 anhängig, während das in Bezug genommene Klageverfahren noch Jahre bis zu einer Entscheidung benötigen werde. Sie befinde sich in einem schlechten Gesundheitszustand. Für die weiteren Rechtsgrundlagen (§ 22, § 36 Abs. 2 und § 36a AufenthG) komme es auf den Ausgang des anderen Verfahrens nicht an.

II.

Die Beschwerde hat Erfolg.

Sie ist gemäß § 146 Abs. 1, § 147 VwGO zulässig. Ein Beschluss des Verwaltungsgerichts über die Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO stellt insbesondere keine prozessleitende Maßnahme dar, die gemäß § 146 Abs. 2 VwGO nicht anfechtbar wäre (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2018 – OVG 3 L 150.17 – juris Rn. 3 m.w.N.).

Die Beschwerde ist auch begründet.

Nach § 94 VwGO kann das Gericht – wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist – anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei (Aussetzung wegen Vorgreiflichkeit). Die danach erforderliche Vorgreiflichkeit besteht nur, wenn kraft Gesetzes oder rechtslogisch die Entscheidung in einem anhängigen Verfahren von dem Bestehen oder Nichtbestehen des im anderen Verfahren anhängigen Rechtsverhältnisses abhängt. Eine solche Abhängigkeit setzt voraus, dass das Ergebnis des anderen gerichtlichen Verfahrens entscheidungserheblich ist für den Ausgang des Verfahrens, das ausgesetzt werden soll (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Januar 2020 – OVG 3 L 163.19 – juris Rn. 13).

Ob bei Vorliegen der Voraussetzungen das Verfahren auszusetzen ist, steht im Ermessen des Gerichts; es kann die vorgreifliche Frage auch selbst beantworten. Das Ermessen ist nach dem Zweck der Vorschrift, divergierende Entscheidungen zu vermeiden, sowie nach Gesichtspunkten der Prozessökonomie auszuüben. Die Aussetzung soll erfolgen, wenn das Prozessgericht an die vorgreifliche Entscheidung nach deren Ergehen rechtlich gebunden ist; sie muss erfolgen, wenn anders eine sachgerechte Entscheidung nicht möglich ist, etwa wenn es selbst an der Beantwortung der vorgreiflichen Frage rechtlich gehindert ist. Eine Aussetzung nach § 94 VwGO kommt vor dem Hintergrund des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) dagegen insbesondere dann nicht in Betracht, wenn ein Stillstand des Verfahrens für einen der Beteiligten mit der Gefahr der Rechtsvereitelung verbunden wäre (vgl. VGH München, Beschluss vom 3. März 2016 – 3 C 15.2578 – juris Rn. 13; Beschluss vom 26. November 2019 – 10 C 19.2267 – juris Rn. 8).

Auf die gegen einen Aussetzungsbeschluss erhobene Beschwerde prüft das Beschwerdegericht nur, ob die (formellen) Tatbestandsvoraussetzungen für eine Aussetzung vorlagen und ob das Verwaltungsgericht ermessensfehlerfrei entschieden hat (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2018 – OVG 3 L 150.17 – juris Rn. 5). Im Rahmen der Beschwerde ist die Überprüfung grundsätzlich darauf beschränkt, ob die Vorgreiflichkeit auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Würdigung des Streitstoffes durch das Ausgangsgericht zu Recht bejaht wurde, denn anderenfalls würde das Beschwerdegericht in dem die Aussetzung des Verfahrens betreffenden Zwischenstreit den gesamten Streitstoff entscheiden und damit dem Verwaltungsgericht praktisch sein Urteil in der Hauptsache vorgeben. Anderes gilt jedoch dann, wenn das Ausgangsgericht die materielle Rechtslage offensichtlich grob fehlerhaft beurteilt oder seine Überzeugung fehlerhaft nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat oder ein Aufklärungsmangel vorliegt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Januar 2020 – OVG 3 L 163.19 – juris Rn. 14). Angesichts des Umstands, dass durch das Beschwerdegericht hinsichtlich der Vorgreiflichkeit die materiell-rechtliche Bewertung des Verwaltungsgerichts zu Grunde zu legen ist, bedarf es entsprechender Ausführungen im Aussetzungsbeschluss. Jedenfalls dann, wenn die Vorgreiflichkeit nicht zweifelsfrei zu Tage tritt, sondern begründeten Zweifeln begegnet, hat sich das Verwaltungsgericht damit auseinanderzusetzen. Fehlt es daran, ist der Aussetzungsbeschluss schon aus diesem Grund aufzuheben (vgl. VGH München, Beschluss vom 16. Juli 2020 – 10 C 20.1417 – juris Rn. 27; Beschluss vom 8. Juli 2003 – 14 C 03.1428 – juris Rn. 9).

Unter Zugrundelegung dieses Kontrollmaßstabes ist die angegriffene verwaltungsgerichtliche Entscheidung aufzuheben. Das Verwaltungsgericht hat bereits die Vorgreiflichkeit des beim Verwaltungsgericht Sigmaringen anhängigen Verfahrens für die vorliegende Klage auf Verpflichtung zur Erteilung eines Visums nicht hinreichend dargelegt. Das Verwaltungsgericht hat seine Rechtsauffassung zur Vorgreiflichkeit im Aussetzungsbeschluss allein damit begründet, die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG sei streitentscheidend für das begehrte Visum gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 AufenthG i.V.m. § 6 Abs. 3 AufenthG, weshalb die Aussetzung sachgerecht erscheine. Der Nichtabhilfebeschluss verweist lediglich darauf, dass es ausreiche, wenn der Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen, von dem der Ausgang des hiesigen Verfahrens abhänge, vor dem Aussetzungsbeschluss anhängig gewesen sei. Dies wird jedoch den insoweit bestehenden Zweifelsfragen nicht gerecht.

Für die Beurteilung der Voraussetzungen des Kindernachzugs nach § 32 AufenthG bedarf es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer auf zwei unterschiedliche Zeitpunkte bezogenen Doppelprüfung, da die Bestimmung mit der Beschränkung auf minderjährige Kinder eine Höchstaltersgrenze normiert. Maßgeblich ist danach, dass sowohl im Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung oder Entscheidung als auch spätestens im Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze die übrigen Anspruchsvoraussetzungen vorgelegen haben müssen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 – 1 C 17.08 – juris Rn. 10; Urteil vom 29. November 2012 – 10 C 11.12 – juris Rn. 14; Beschluss vom 2. Dezember 2014 – 1 B 21.14 – juris Rn. 6).

Gemäß dem gegenwärtig geltenden § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (in der Fassung des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes vom 12. Juli 2018, BGBl. I S. 1147) ist bei dem Ausländer, zu dem der Nachzug erfolgen soll, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG erforderlich. Hierüber verfügt der Vater der Klägerin zwar inzwischen. Jedoch war dies bei Erreichen der Volljährigkeit durch die Klägerin am … 2017 nicht der Fall. Vielmehr war ihr Vater zu diesem Zeitpunkt nur im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG, die ihm mit Wirkung vom 6. Dezember 2016 erteilt worden war. Ein Nachzug aus familiären Gründen war der Klägerin daher aufgrund des seinerzeit geltenden § 104 Abs. 13 Satz 1 AufenthG (in der Fassung des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016, BGBl. I S. 390) nicht eröffnet. Danach wurde bis zum 16. März 2018 ein Familiennachzug zu Personen, denen nach dem 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erteilt worden ist, nicht gewährt.

Selbst wenn dem Vater der Klägerin im Ergebnis des Rechtstreits beim Verwaltungsgericht Sigmaringen eine Aufenthaltserlaubnis rückwirkend zum benannten Zeitpunkt Dezember 2016 zugesprochen würde, stellte sich vor dem Hintergrund der geschilderten Zusammenhänge aber die Frage, ob dieser unstreitig weit nach Eintritt der Volljährigkeit der Klägerin eingetretene Umstand ihr im vorliegenden Verfahren zugutekäme. Denn nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Doppelprüfung beim Kindernachzug können nach dem Erreichen der Altersgrenze eingetretene Sachverhaltsänderungen zu Gunsten des Betroffenen grundsätzlich nicht mehr berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 – 1 C 17.08 – juris Rn. 10; Urteil vom 29. November 2012 – 10 C 11.12 – juris Rn. 14; Beschluss vom 2. Dezember 2014 – 1 B 21.14 – juris Rn. 6).

Ungeachtet dessen ergeben sich mit Blick auf unionsrechtliche Vorgaben Bedenken, ob es für die Gewährung eines Nachzugs von Abkömmlingen eines als Flüchtling anerkannten Drittstaatsangehörigen überhaupt zwingend auf den Besitz einer mit diesem Status verknüpften Aufenthaltserlaubnis ankommt (was die Klägerin mit der Vorlage des Urteils des Verwaltungsgericht Berlin vom 12. März 2019 – VG 12 K 27.18 V – mit ihrem Schriftsatz vom 21. April 2020 auch sinngemäß bereits geltend gemacht hatte). Nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 23. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung gestatten die Mitgliedstaaten – vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Art. 16 der Richtlinie genannten Bedingungen – unter anderem den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten die Einreise und den Aufenthalt. Dies gilt nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG auch für die Familienzusammenführung von Flüchtlingen, die von den Mitgliedstaaten anerkannt worden sind (Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG), während die Richtlinie auf subsidiär Schutzberechtigte nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. c keine Anwendung findet (vgl. EuGH, Urteil vom 13. März 2019 – C-635/17 – juris Rn. 33 f.; Urteil vom 7. November 2018 – C-380/17 – juris Rn. 33). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat im Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 – (juris Rn. 53 ff.) einerseits entschieden, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach dem 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU ein deklaratorischer Akt ist und deshalb ein Drittstaatsangehöriger, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, rückwirkend ab Antragstellung als Flüchtling zu behandeln sei, und an diese materielle Flüchtlingseigenschaft das Recht auf Familienzusammenführung anknüpfe. Zudem hat der Gerichtshof Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG dahingehend ausgelegt, dass für die Bestimmung der Minderjährigkeit des den Nachzug Begehrenden auf den Zeitpunkt der Antragstellung für die Familienzusammenführung abzustellen ist (vgl. Urteil vom 16. Juli 2020 – C-133/19 u.a. – juris Rn. 44, 47). Dies führt zu der Frage, ob nach diesen Regelungen dem im Zeitpunkt der Visumbeantragung noch minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem nach einem Rechtsbehelfsverfahren der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde und der daher ab seiner Asylantragstellung als Flüchtling zu behandeln ist, die im Laufe des behördlichen Verfahrens eingetretene Volljährigkeit entgegengehalten werden kann (s. auch BVerwG, Beschluss vom 23. April 2020 – 1 C 16.19 – und Beschluss vom 8. September 2020 – 1 C 16.19 – zur Aufrechterhaltung der Vorlage). Sofern diese Frage zu verneinen ist, käme es auf die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht an.

Zudem lässt der Aussetzungsbeschluss keine tragfähigen Ermessenserwägungen erkennen, sondern erklärt lediglich, die Aussetzung sei „sachgerecht“. Hier jedoch war eine weitergehende Begründung angezeigt, da die Klägerin ihr Visumbegehren nicht allein auf die Regelungen des Familiennachzugs (§ 32, § 36 Abs. 2 und § 36a AufenthG), sondern zugleich ausdrücklich auch auf dringende humanitäre Gründe im Sinne § 22 Satz 1 AufenthG gestützt hat. Auf den rückwirkenden Besitz einer bestimmten Aufenthaltserlaubnis bei ihrem Vater kommt es hierfür erkennbar nicht an. Angesichts der ausführlichen Darlegungen der Klägerin im Klageverfahren zu ihrer Lebenssituation in der Türkei nach der Ausreise ihrer Mutter und ihrer Schwester einschließlich des Vortrags eines Suizidversuchs, mit denen sie das Vorliegen humanitärer Gründe und deren Dringlichkeit zu belegen sucht, hätte es einer Auseinandersetzung und Abwägung durch das Verwaltungsgericht bedurft, ob vor dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) dennoch eine Aussetzung gerechtfertigt ist. Das Verwaltungsgericht verhält sich jedoch nicht zu dem auf § 22 Satz 1 AufenthG gestützten Begehren. Es lässt insbesondere nicht erkennen, ob es dieses für nicht streitgegenständlich oder offensichtlich aussichtslos erachtet.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Zuletzt aktualisiert am August 29, 2021 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert