Gericht: VG Berlin 1. Kammer. Entscheidungsdatum: 28.07.2021. Aktenzeichen: 1 K 100/21 V

Gericht: VG Berlin 1. Kammer
Entscheidungsdatum: 28.07.2021
Aktenzeichen: 1 K 100/21 V
ECLI: ECLI:DE:VGBE:2021:0728.1K100.21V.00
Dokumenttyp: Beschluss

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

1. Mit Beschluss vom 27. Juli 2021 hat die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – dem Vorsitzenden als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

2. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe kommt angesichts der mangelnden Erfolgsaussichten der vorliegenden Klage nicht in Betracht (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung – ZPO -). Nach der im Prozesskostenhilfeverfahren hinreichenden, aber auch gebotenen summarischen Prüfung nach Lage der Akten ist der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 15. Dezember 2020 voraussichtlich rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Sie hat danach keinen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Nachzug zu ihrem in Deutschland lebenden Sohn.

3. Rechtsgrundlage für die Erteilung des begehrten Visums zum Familiennachzug zu einem in Deutschland lebenden Ausländer ist §§ 4 Abs. 1, 6 Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m. §§ 27 Abs. 1, 36 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG. Nach §§ 4 Abs. 1, 6 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG ist für längerfristige Aufenthalte ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird; die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn dies zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.

4. Das mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der „außergewöhnlichen Härte“ umschriebene Tatbestandsmerkmal stellt im Vergleich mit dem im Aufenthaltsgesetz an anderer Stelle verwendeten Terminus der besonderen Härte – welcher bereits eine vom Gesetzgeber vorgesehene hohe Hürde bezeichnet – noch erhöhte Anforderungen. Dieses Merkmal stellt praktisch die höchste tatbestandliche Hürde dar, die der Gesetzgeber aufstellen kann; der Nachzug sonstiger Familienangehöriger wird dadurch gesetzlich auf seltene Ausnahmefälle beschränkt, in denen die Verweigerung des Aufenthaltsrechts und damit der Familieneinheit im Lichte des Schutzes der Familie grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widerspräche, also schlechthin unvertretbar wäre (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Oktober 2014 – OVG 6 B 1.14, juris Rn. 13 f.). Dies setzt grundsätzlich voraus, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht mehr führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe zwingend angewiesen ist und diese Hilfe zumutbar nur in Deutschland erbracht werden kann. Die danach erforderliche spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe liegt nicht bei jedem Betreuungsbedarf vor, sondern kommt nur dann in Betracht, wenn geleistete Nachbarschaftshilfe oder im Herkunftsland angebotener professioneller Beistand den Bedürfnissen des Nachzugswilligen in keiner Weise nicht gerecht werden kann (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. April 2013 – 10 C 10.12, BVerwGE 146, 198, juris Rn. 38 f. und vom 10. März 2011 – 1 C 7.10, Buchholz 402.242 § 7 AufenthG Nr 5, juris Rn. 10; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. Februar 2014 – OVG 2 B 12.12, juris Rn. 34 und Beschluss vom 20. August 2020 – OVG 3 M 264.19, Seite 3 f.; s.a. VG Berlin, Urteil vom 21. Februar 2012 – VG 1 K 361.11 V, juris Rn. 20).

5. Die Ausführungen der Klägerin sind nicht geeignet, diese Voraussetzungen für das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte zu belegen. Es lässt sich bei der Würdigung der maßgeblichen Umstände nicht feststellen, dass die Klägerin entsprechend den dargelegten Grundsätzen zwingend auf eine familiäre Lebenshilfe in Deutschland angewiesen ist. Der Hausarzt der Klägerin im Heimatland hat mit „Medizinischer Bescheinigung“ vom 14. Juli 2020 lediglich bestätigt, dass sie an arterieller Hypertonie (Bluthochdruck) leide. Diese Erkrankung wird – ausweislich des Attestes von Frau Dr. Riedesel vom 23. Dezember 2020 – mit einem Betablocker behandelt. Wegen einer von dieser Ärztin außerdem festgestellten Kardiomyopathie erfolgt zusätzlich die Behandlung mit einem Diuretikum. Ebenso wenig belegen die weiteren Diagnosen in diesem Attest (teilweise Erblindung, erhebliche Visuseinschränkung, Schwerhörigkeit, schwere Gonarthrose, mittelgradige Depression) einen völligen Autonomieverlust, so dass die Klägerin zwingend auf eine familiäre Unterstützung in Deutschland angewiesen sein könnte. Die notwendige Unterstützung kann vielmehr offenkundig durch eine medizinische und pflegerische Betreuung im Heimatland gewährleistet werden.

6. Im Übrigen bestehen erhebliche Zweifel, ob die vorgelegten beiden Atteste überhaupt den formalen Mindestanforderungen an die Verwertbarkeit ärztlicher Stellungnahmen entsprechen. Danach müssen hierin nachvollziehbar die tatsächlichen Umstände angegeben werden, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt (Befundtatsachen), müssen gegebenenfalls die Methoden der Tatsachenerhebung benannt werden, ist die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose) nachvollziehbar darzulegen und muss schließlich eine prognostische Diagnose erstellt werden (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 20. März 2014 – OVG 11 B 16.14, juris Rn. 39 und vom 27. Februar 2014 – OVG 2 B 12.12, juris Rn. 45). Diese notwendigen Angaben finden sich in beiden Attesten nicht. Entsprechend ist auch das Ergebnis aus dem Attest von Frau Dr. Riedesel vom 23. Dezember 2020, dass bei der Klägerin Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit vorliege, nicht nachvollziehbar begründet.

7. Im Übrigen kann dahinstehen, ob das durch § 36 Abs. 2 AufenthG eröffnete Ermessen zugunsten der Klägerin auszuüben wäre und ob darüber hinaus eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG betreffend die – wohl nicht gegebene – Sicherung des Lebensunterhaltes vorliegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 10 C 10.12 – BVerwGE 146, 198, juris Rn. 39).

Zuletzt aktualisiert am August 17, 2021 von eurogesetze

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