RECHTSSACHE WERRA NATURSTEIN GMBH & CO KG ./. DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 32377/12

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE W. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 32377/12)
URTEIL
STRASSBURG
19. Januar 2017

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

In der Rechtssache W. ./. Deutschland

hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern

Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
Khanlar Hajiyev,
Ganna Yudkivska,
Faris Vehabović,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
und Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 13. Dezember 2016

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 32377/12) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutsches Unternehmen, die W. („die Beschwerdeführerin“), nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte.

2 Die Beschwerdeführerin wurde von Herrn T., Rechtsanwalt in T., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Die Beschwerdeführerin behauptete insbesondere, in ihren Rechten aus Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention verletzt worden zu sein, weil sie keine Entschädigung erhalten habe, nachdem sie den Abbau eines Kalksteinvorkommens aufgrund einer geplanten Autobahn, die durch den Steinbruch führen sollte, habe einstellen müssen.

4. Am 3. Februar 2016 wurde die Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention betreffende Rüge der Regierung übermittelt und die Individualbeschwerde gemäß Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs im Übrigen für unzulässig erklärt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES

5. Die Beschwerdeführerin ist ein deutsches Unternehmen mit Sitz in A.

A. Der Hintergrund der Rechtssache

6. Im Juli 1994 erwarb die Beschwerdeführerin Grundstücke, unter deren Oberfläche sich ein Kalksteinvorkommen befand. Sie erlangte eine Bewilligung zum Abbau des Kalksteins für den Zeitraum von 25 Jahren. Im Anschluss wurde begonnen, Kalkstein im Tagebau abzubauen. Es war notwendig, dass die Beschwerdeführerin unmittelbar neben dem Steinbruch eine Anlage betrieb, um den Kalkstein zu Baustoffen aufzubereiten. 1997 erhielt sie die Zulassung, den Steinbruch als Deponie zu nutzen und ihn mit Bodenabfällen aus Erdarbeiten an anderen Orten zu verfüllen.

7. In der Zwischenzeit begannen die Bundesbehörden mit der Planung einer neuen Autobahn, wobei die bevorzugte Streckenvariante durch den Steinbruch führte. Vom 29. Oktober bis zum 6. Dezember 1993 wurden in der Gemeinde, in der sich der Steinbruch befand, Landkarten und Unterlagen zur öffentlichen Einsichtnahme ausgelegt. Zusätzlich wurden am 28. Oktober 1993 Informationen zu dem Planungsverfahren im Amtsblatt der Gemeinde veröffentlicht. Aus den offengelegten Unterlagen war ersichtlich, dass der Abbaubetrieb von der Autobahn betroffen sein würde. Allerdings war das Ausmaß der nachteiligen Auswirkungen nicht vollständig absehbar, da die genaue Trassenführung noch nicht abschließend feststand. Die Beschwerdeführerin hat behauptet, dass ihr das Planungsverfahren nicht bekannt gewesen sei, als sie die Grundstücke 1993 erworben habe.

8. Am 7. November 2000 versagte das Bergamt Bad Salzungen angesichts der gewählten Trassenführung durch den Steinbruch die Zulassung des Hauptbetriebsplans der Beschwerdeführerin für die Jahre 2000 bis 2002, die eine verwaltungsrechtliche Voraussetzung für den Betrieb bzw. Weiterbetrieb eines Steinbruchs darstellt. Eine Zulassung wurde nur für den Kalksteinabbau in einem bestimmten Gebiet und nur in dem Umfang, in dem die neue Autobahn nicht beeinträchtigt wurde, erteilt. Folglich musste die Beschwerdeführerin den Kalksteinabbau im Jahr 2001 einstellen und sie verlagerte ihren Betrieb an einen anderen, in der Nähe gelegenen Bergbaustandort. Am alten Standort verblieben 4.700.000 Kubikmeter Kalkstein (67% des ursprünglichen Volumens) im Boden. Die Beschwerdeführerin musste die Kosten der Betriebsverlegung tragen, einschließlich der Umsetzung des Maschinenparks und des Baus von Zuwegen und Gebäuden. Über den von ihr eingelegten Widerspruch gegen die Entscheidung des Bergamts wurde nie entschieden.

B. Das Planungsverfahren zum Bau der Autobahn

9. Am 26. Mai 2003 erließ das Land Thüringen einen Planfeststellungsbeschluss zum Bau der Autobahn, in dem es u. a. hieß, dass eine Umgehung der Grundstücksflächen der Beschwerdeführerin zu kostspielig und zeitaufwendig wäre.

10. Die Beschwerdeführerin erhob Klage zum Bundesverwaltungsgericht. Sie beantragte die Aufhebung des Planfestellungsbeschlusses, hilfsweise, in dem Planfeststellungsbeschluss festzulegen, dass die Beschwerdeführerin wegen des Eingriffs in ihren Abbaubetrieb zu entschädigen sei, oder hilfsweise, den Freistaat Thüringen in dem Planfeststellungsbeschluss zur Übernahme des Steinbruchbetriebs, einschließlich der verbleibenden Grundstückflächen und der Bewilligung, zu verpflichten.

11. Am 2. Februar 2004 änderte das Land den Planfeststellungsbeschluss ab, nachdem das Bundesverwaltungsgericht erklärt hatte, dass die entsprechende Passage des Beschlusses nicht präzise genug sei. Es änderte den Wortlaut dahingehend ab, dass die Formulierung „Umfang und Höhe einer Entschädigung sind privatrechtlich zu vereinbaren“ und „[s]oweit über die Entschädigung keine Einigung erzielt werden kann, wird diese in einem
gesonderten Verfahren vor der Enteignungsbehörde festgelegt […]“ entfiel und es stattdessen hieß: „Für die Inanspruchnahme besteht
Anspruch auf Entschädigung dem Grunde nach“ und „[ü]ber die Höhe und den Umfang der Entschädigung wird nicht im Planfeststeilungsverfahren entschieden“. Daraufhin erklärten die Beschwerdeführerin und das Land die Angelegenheit für erledigt und das Bundesverwaltungsgericht beschloss 2004, das Verfahren einzustellen. Die Kosten des Verfahrens wurden zwischen der Beschwerdeführerin und dem Land aufgeteilt.

C. Das Enteignungsverfahren

12. 2005 nahm die Bundesregierung die Grundstücksflächen der Beschwerdeführerin zum Zwecke des Straßenbaus in Besitz, nachdem sie in dem Verfahren auf vorzeitige Besitzeinweisung eine Einigung mit der Beschwerdeführerin erzielt hatte. Nachdem ein förmliches Enteignungsverfahren eingeleitet worden war, wurden in einem Gutachten eines vereidigten Sachverständigen Verluste und Mehrkosten in Höhe von 3.589.566,42 Euro erfasst, einschließlich des Werts des Kalksteins, entgangener Gewinne aus der Deponie, der Kosten der Betriebsverlagerung und der Zinsen.

13. Am 26. März 2008 enteignete das Landesverwaltungsamt Thürigen den Teil der Grundstücksflächen der Beschwerdeführerin, auf dem die Autobahn gebaut worden war, und entschied, dass die Bundesregierung eine Entschädigung von rund 865.000 Euro an die Beschwerdeführerin zu zahlen habe. Dieser Betrag umfasste etwa 22.800 Euro Entschädigung für den Wert der als landwirtschaftliche Nutzflächen eingestuften Grundstücke sowie einen Teil der Kosten der Betriebsverlagerung (neue Infrastruktur, Transport des Maschinenparks und Aufschluss des neuen Abbaustandorts). Es erfolgte keine formelle Enteignung der Bewilligung.

14. Beide Parteien stellten einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung. Die Bundesregierung war insbesondere der Auffassung, dass für die Kosten der Betriebsverlagerung keine Entschädigung zu zahlen sei. Die Beschwerdeführerin beantragte eine zusätzlich Entschädigung in Höhe von 2.301.649,53 Euro nebst Zinsen, davon 1.108.297,00 Euro für den Verlust der Deponiekapazität und der entsprechenden Gewinne, 492.763,22 Euro für weitere Betriebsverlagerungskosten und 700.589,31 Euro für die verminderte Lieferfähigkeit während des Übergangszeitraums. Die Entschädigungansprüche bezüglich des Bodenwerts und des Werts des Kalksteins wurden fallen gelassen.

15. Am 18. Februar 2009 wies das Landgericht Meiningen den Antrag der Beschwerdeführerin ab und reduzierte den Entschädigungsbetrag dem Antrag der Bundesregierung entsprechend auf etwa 22.800 Euro. Es stellte fest, dass ein Anspruch auf Entschädigung lediglich in Höhe des Werts der enteigneten Grundstücke ohne Einbeziehung des Kalksteinvorkommens bestehe. Gemäß § 124 Abs. 3 des Bundesberggesetzes (BBergG, siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“, Rdnr. 22) würden Rechte zur Gewinnung von Bodenschätzen nach den Vorschriften dieses Gesetzes nur unter der gesetzlichen Voraussetzung gewährt, dass sie einem öffentlichen Infrastrukturprojekt entschädigungslos weichen müssten. Folglich lösten das faktische Abbaurecht und die mit der Betriebsverlagerung und der Nichtverfüllung des Deponieraums verbundenen Aufwendungen und Nachteile keinen Entschädigungsanspruch aus. Bei den erworbenen Abbaurechten handele es sich zwar um Eigentum im Sinne von Artikel 14 des Grundgesetzes, der Inhaber der Bergbauberechtigung könne sich jedoch nicht darauf verlassen, von seinen Abbaurechten uneingeschränkt Gebrauch machen zu können; er könne nur unter den, unter anderem, von § 124 Abs. 3 des Bundesberggesetztes vorgegebenen Einschränkungen tätig sein. Der Planfeststellungsbeschluss konkretisiere somit lediglich die Bestimmung des Inhalts und der Grenzen, die dem erworbenen Abbaurecht bereits inhärent seien.

16. Am 27. Januar 2010 wies das Thüringer Oberlandesgericht die zuvor von der Beschwerdeführerin eingelegte Berufung zurück. Es stellte fest, dass der Bau der Autobahn nicht zu einem Verlust des Abbaurechts der Beschwerdeführerin geführt habe, sondern nur zu einer Einschränkung der Ausübung dieses Rechts in tatsächlicher Hinsicht, die Folge des Vorrangs von Verkehrsinfrastrukturprojekten sei. Die einschlägigen Bestimmungen, nämlich § 124 Abs. 3 und 4 des Bundesberggesetzes, schlössen Entschädigungsforderungen aus. Die Klarstellung des Planfeststellungsbeschlusses habe hinsichtlich der Beeinträchtigung des Abbaurechts der Beschwerdeführerin und der damit verbundenen Geschäftstätigkeit, einschließlich des Deponiebetriebs, keinen Entschädigungsanspruch ausgelöst. Artikel 14 des Grundgesetzes (siehe „Das einschlägige innerstaatliche Recht“, Rdnr. 20) sei nicht verletzt worden, weil die ergriffene Maßnahme nicht unangemessen gewesen sei, selbst wenn man bedenke, dass der Wertverlust hinsichtlich des Gewinnungsrechts 67 % betragen habe.

17. Am 14. April 2011 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision der Beschwerdeführerin. Er wies den Anspruch auf Entschädigung wegen eines Eingriffs in das Abbaurecht zurück und stützte sich dabei vorwiegend auf § 124 Abs. 3 des Bundesberggesetzes, und insbesondere darauf, dass auch wegen eines Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb eine Entschädigung nicht in Betracht komme. Das Unternehmen könne keinen weitergehenden gesetzlichen Schutz genießen als seine wirtschaftliche Grundlage: das Abbaurecht. Unter Berufung auf seine Rechtsprechung bekräftigte er, dass die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin sowohl über die Bergbauberechtigung als auch über das Eigentum an den Grundstücken verfügt habe, daran nichts ändere. Nach deutschem Bergrecht seien beide Ansprüche getrennt voneinander zu beurteilen.

18. Der Bundesgerichtshof räumte weiter ein, dass der Abbau faktisch nicht mehr möglich sei. Er führte aus, dass es aus Verhältnismäßigkeitserwägungen in einem Fall wie dem vorliegenden geboten sein könnte, in Bezug auf die Abbaurechte eine förmliche Enteignung vorzunehmen und eine entsprechende Entschädigung zuzuerkennen, stellte jedoch fest, dass ein solcher Anspruch – ebenso wie die Frage einer möglichen Unverhältnismäßigkeit – in dem Verfahren über den Planfeststellungsbeschluss hätte geltend gemacht werden müssen (siehe Rdnr. 10). Schließlich wies er darauf hin, dass die entgangenen zukünftigen Gewinne aus der Deponie lediglich eine Erwartung zukünftiger Einnahmen darstellten und somit nicht als Eigentumsrecht im Sinne von Artikel 14 des Grundgesetzes angesehen werden könnten, sondern nur unter Artikel 12 des Grundgesetzes (Berufsfreiheit) fielen.

19. Am 21. Dezember 2011 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1499/11).

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT UND DIE EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS

20. Artikel 14 des Grundgesetzes lautet wie folgt:

„(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.

(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

(3) Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig. Sie darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Wegen der Höhe der Entschädigung steht im Streitfalle der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen.“

21. § 3 des Bundesberggesetzes unterscheidet zwischen mineralischen Rohstoffen, die bergfrei sind, und solchen, die zum betreffenden Grundeigentum gehören. Während letztere ohne Genehmigung der Bergbaubehörde abgebaut werden dürfen, sind erstere nicht Eigentum des Grundeigentümers. Bergfreie Rohstoffe dürfen von jedem abgebaut werden, der nach § 8 des Bundesberggesetzes für ein bestimmtes Feld eine Bewilligung erwirbt. Erst nach Gewinnung des Rohstoffs erwirbt der Bewilligungsnehmer ein Eigentumsrecht daran.

22. § 124 des Bundesberggesetzes lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„[…]

(3) Soweit der gleichzeitige Betrieb einer öffentlichen Verkehrsanlage und eines Gewinnungsbetriebes ohne eine wesentliche Beeinträchtigung der öffentlichen Verkehrsanlage ausgeschlossen ist, gehen die Errichtung, Erweiterung, wesentliche Änderung und der Betrieb der öffentlichen Verkehrsanlage der Gewinnung von Bodenschätzen vor, es sei denn, daß das öffentliche Interesse an der Gewinnung der Bodenschätze überwiegt.

(4) Ist Voraussetzung für die Errichtung, Erweiterung, wesentliche Änderung oder den Betrieb einer öffentlichen Verkehrsanlage, daß der Unternehmer in seinem Gewinnungsbetrieb Einrichtungen herstellt, beseitigt oder ändert, so ist ihm […] Ersatz in Geld zu leisten, soweit seine Maßnahmen ausschließlich der Sicherung der Verkehrsanlage dienen. […]“

23. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts (siehe Bundesgerichtshof, Rechtssachen III ZR 229/09, 14. April 2011; III ZR 158/75, 1. Juni 1978; III ZR 176/70, 16. Oktober 1972; Bundesverwaltungsgericht, Rechtssachen 4 A 2/97, 26. März 1998; 4 A 1/98, 30. Juli 1998), schließt § 124 Abs. 4 Satz 1 des Bundesberggesetzes (ebenso wie ähnliche Bestimmungen in früheren deutschen Bergbaugesetzen) alle weitergehenden Entschädigungsansprüche aus.

24. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Rechtssache (4 A 2/97, 26. März 1998), die unter § 124 des Bundesberggesetzes fiel, die Auffassung vertreten, dass ein Planfeststellungsbeschluss, der es erlaubt, dass eine öffentliche Verkehrsanlage ein Abbaufeld durchschneidet, möglicherweise ein förmliches Enteignungsverfahren und eine Entschädigung für die Abbaurechte vorsehen müsste, um einen gerechten Ausgleich zwischen den öffentlichen und den privaten Interessen herbeizuführen, wenn das Projekt jeglichen weiteren Abbau unmöglich macht. Da der betreffende Fall nur 11 % des Abbaufeldes betraf, hielt das Bundesverwaltungsgericht es nicht für erforderlich, diese Frage abschließend zu entscheiden.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 1 DES PROTOKOLLS NR. 1

25. Die Beschwerdeführerin rügte nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur Konvention, dass sie in ihren Eigentumsrechten verletzt worden sei, weil sie keinerlei Entschädigung erhalten habe für den Verlust ihrer Abbaurechte, die Kosten der Verlagerung des Abbaubetriebs und die entgangenen Gewinne aus der nach Erschöpfung der Schicht im Steinbruch eingerichteten Deponie, was alles Folge der Planung und des Baus einer Autobahn auf ihren Grundstücken durch die innerstaatlichen Behörden sei. Es ging nicht um eine Entschädigung für die enteigneten Grundstücksflächen..

26. Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 lautet:

„Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.

Absatz 1 beeinträchtigt jedoch nicht das Recht des Staates, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse oder zur Sicherung der Zahlung der Steuern oder sonstigen Abgaben oder von Geldstrafen für erforderlich hält.“

A. Zulässigkeit

27. Die Regierung trug vor, dass die Beschwerdeführerin den innerstaatlichen Rechtsweg nicht erschöpft habe, weil sie das verwaltungsgerichtliche Verfahren bezüglich des Planfeststellungsbeschlusses von sich aus beendet habe. Indem sie die Sache für erledigt erklärt habe, habe sie nicht nur ihren ursprünglichen Anspruch – die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses – nicht weiter verfolgt, sondern auch die Erlangung einer umfassenden Entschädigung. Nach dem innerstaatlichen Recht sei über den Entschädigungsanspruch zunächst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren und über die Entschädigungshöhe dann im anschließenden Enteignungsverfahren zu entscheiden. Der Planungsfeststellungsbeschluss habe Bestandskraft erlangt, ohne dass darin ausdrücklich erklärt worden sei, dass aufgrund des Eingriffs in den Gewerbebetrieb und in die Bewilligung eine Entschädigung veranlasst sei. Daher sei die Beschwerdeführerin mit der Geltendmachung von anderen Entschädigungsansprüchen als für die enteigneten Grundstückflächen ausgeschlossen.

28. Die Beschwerdeführerin behauptete, dass sie von den in der innerstaatlichen Rechtsordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht habe. Nachdem der Wortlaut des Planfeststellungsbeschlusses abgeändert worden sei, habe sie die Sache für erledigt erklärt, weil sie davon überzeugt gewesen sei, dass ihr eine umfassende Entschädigung zustehe. Lediglich über deren Höhe sei im Rahmen des Enteignungsverfahren noch zu entscheiden gewesen.

29. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass die in Artikel 35 Abs. 1 der Konvention enthaltene Regel der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe verhältnismäßig flexibel und ohne übermäßigen Formalismus anzuwenden ist. Bei der Prüfung, ob sie eingehalten wurde, ist es unbedingt erforderlich, die konkreten Umstände jedes einzelnen Falles zu berücksichtigen (siehe z. B. Bistrović ./. Kroatien, Individualbeschwerde Nr. 25774/05, Rdnr. 27, 31. Mai 2007).

30. Der Gerichtshof stellt eingangs fest, dass das Landgericht Meiningen und das Thüringer Oberlandesgericht in der Sache geprüft haben, ob die Beschwerdeführerin neben der Entschädigung für den Verlust des Bodenwerts noch für andere Verluste entschädigt werden sollte. Mit Ausnahme des Bundesgerichtshofs sahen die innerstaatlichen Gerichte den Entschädigungsanspruch nicht allein aus dem Grund als unbegründet an, dass eine umfassende Entschädigung bereits in dem Verfahren über den Planfeststellungsbeschluss geltend zu machen gewesen wäre. Zunächst hatte das Landesverwaltungsamt Thüringen der Beschwerdeführerin sogar eine Entschädigung für einen Teil der Kosten der Betriebsverlagerung zuerkannt.

31. Auch scheint die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den inhaltlichen Erfordernissen von Entschädigungsregelungen im Rahmen von Planfeststellungsbeschlüssen nicht vollständig mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte übereinzustimmen. In einem Fall (siehe Bundesverwaltungsgericht, Az.: 4 A 2004/05, 27. Juni 2007) stellte das innerstaatliche Gericht fest, dass über die Entschädigung für die mit einer Grundstücksenteignung verbundenen nachteiligen Auswirkungen auf einen Betrieb im Enteignungsverfahren zu entscheiden sei. In einem anderen Fall, in dem es um die teilweise Enteignung eines Grundstücks ging (siehe Bayrischer Verwaltungsgerichtshof, Az.: 22 B 05.233, 18. Oktober 2006) stellte das innerstaatliche Gericht fest, dass noch nicht einmal zwingend Einwendungen gegen den Planfeststellungsbeschluss erhoben werden müssten, um eine Entschädigung für die nachteiligen Auswirkungen der Enteignung auf die verbleibenden Grundstücksflächen geltend zu machen.

32. In dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beantragte die Beschwerdeführerin schließlich die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses und hilfsweise eine Entschädigung für den Eingriff in ihr Recht auf einen eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Nachdem der Wortlaut abgeändert worden war, erklärte die Beschwerdeführerin die Sache für erledigt, weil, auch wenn die Aufhebung nicht gewährt worden sei, ein Entschädigungsanspruch ausdrücklich festgestellt worden sei. Das Bundesverwaltungsgericht hob die Kosten des Verfahrens zwischen der Beschwerdeführerin und dem Land gegeneinander auf. Dies war die übliche Praxis, wenn das Ergebnis offen war oder wenn der Antragsteller teilweise Erfolg hatte.

33. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Kostenentscheidung und der abgeänderte Wortlaut des Planfeststellungsbeschlusses so verstanden werden konnten, dass bei der Beschwerdeführerin der Eindruck entstand, dass es im Rahmen des anschließenden Enteignungsverfahrens tatsächlich zu einer Entschädigung kommen würde. Es kann ihr daher nicht zum Vorwurf gemacht werden, den Anspruch vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht weiterverfolgt zu haben.

34. Im Lichte dieser Umstände kommt er zu dem Schluss, dass die Beschwerde nicht wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückgewiesen werden kann.

35. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Beschwerde nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Anwendungsbereich von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1

36. Es war unstreitig, dass die Bewilligung der Beschwerdeführerin und ihr Abbaubetrieb nach dem innerstaatlichen Recht als Eigentumsrechte anzusehen waren.

37. Der Gerichtshof erkennt an, dass die wirtschaftlichen Interessen im Zusammenhang mit dem Betrieb des Kalkstein-Steinbruchs „Eigentum“ im Sinne von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 darstellten (siehe Tre Traktörer AB ./. Schweden, 7. Juli 1989, Rdnr. 53, Serie A Band 159, und Fredin ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 12033/86, Rdnr. 40, 18. Februar 1991). Diese Interessen umfassten nicht nur die Bewilligung, sondern auch den Weiterbetrieb der Anlage, des Maschinenparks sowie der Zuwege und Gebäude zur Gewinnung und Aufbereitung des Kalksteins.

38. Was die entgangenen Gewinne aus dem Deponiebetrieb angeht, hat der Bundesgerichtshof befunden (siehe Rdnr. 18), dass es sich hierbei um eine bloße Gewinnerwartung handele, die als solche nicht nach Artikel 14 des Grundgesetzes, sondern lediglich nach Artikel 12 des Grundgesetzes (Berufsfreiheit) geschützt sei.

39. Im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss eine berechtigte Erwartung, dass das Eigentum auch weiterhin geachtet wird, eine hinreichende Grundlage im innerstaatlichen Recht haben (siehe z. B. Kopecký ./. Slowakei [GK], Individualbeschwerde Nr. 44912/98, Rdnrn. 45-52, ECHR 2004‑IX). Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass die Beschwerdeführerin keine berechtigte Erwartung hinsichtlich etwaiger zukünftiger Gewinne aus dem Deponiebetrieb hatte. Folglich fällt dieser Teil ihrer Rüge nicht unter Artikel 1 des Protokolls Nr. 1.

2. Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Eigentums

40. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Enteignung der sich im Eigentum der Beschwerdeführerin befindlichen Grundstücke kein Gegenstand des Verfahrens vor dem Gerichtshof ist (siehe Rdnr. 25). Ferner nimmt er zur Kenntnis, dass die Bewilligung und der Abbaubetrieb nicht enteignet wurden. Die Beschwerdeführerin hätte ihr Abbaugeschäft auch an anderer Stelle betreiben können (siehe Rdnr. 8).

41. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass unstrittig war, dass der Bau der Autobahn in die Bewilligung und in den Abbaubetrieb eingriff. Die Beschwerdeführerin war zwar immer noch Inhaberin der Bewilligung, konnte sie jedoch nicht nutzen. Sie war auch immer noch Eigentümerin des Abbaubetriebs, konnte aber die Anlage, den Maschinenpark, die Zuwege und Gebäude nicht nutzen, weil sich die Anlage zur Verarbeitung des Kalkstein notwendigerweise neben dem Steinbruch befinden musste. Daher muss der Eingriff als Regelung der Benutzung des Eigentums angesehen werden, die unter Artikel 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 1 fällt (siehe Fredin, a. a. O., Rdnrn. 43-47; Tre Traktörer AB, a. a. O., Rdnr. 55; und Ouzounoglou ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 32730/03, Rdnr. 28, 24. November 2005).

3. Erfüllung der Voraussetzungen aus Artikel 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 1

(a) Rechtmäßigkeit und Zweck des Eingriffs

42. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Eingriff auf § 124 Abs. 3 und 4 des Bundesberggesetzes gestützt wurde (siehe Rdnr. 22). Es wurde nicht bestritten, dass der Bau der Autobahn in dieser Region der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik wichtig war, um nach der deutschen Wiedervereinigung die Verkehrsinfrastruktur zu verbessern. Somit war die Regelung der Benutzung des Eigentums rechtmäßig und es wurde mit ihr ein Ziel verfolgt, das im Allgemeininteresse stand.

(b) Verhältnismäßigkeit des Eingriffs

43. Die Beschwerdeführerin rügte, dass die innerstaatlichen Behörden keinen gerechten Ausgleich zwischen dem Allgemeininteresse und dem Interesse der Beschwerdeführerin herbeigeführt hätten. Beim Erwerb der Grundstücke habe sie keine Kenntnis davon gehabt, dass die Autobahn durch den Steinbruch führen würde. Durch die gewählte Streckenführung durch den Steinbruch ohne Umgehung seien der Allgemeinheit Kosten gespart worden, die Beschwerdeführerin sei jedoch übermäßig belastet worden.

44. Die Regierung bestritt, dass der Beschwerdeführerin eine übermäßige individuelle Belastung auferlegt wurde. Der Beschwerdeführerin sei die der Bewilligung innewohnende Grenze bekannt gewesen, sie habe ihren Abbaubetrieb während eines Übergangszeitraums am alten Standort und danach an einem nahegelegenen Abbaustandort mit einer neuen Bewilligung weiterführen können, und sie habe zahlreiche Möglichkeiten gehabt, um sich gegen den Eingriff zu wenden.

Unter Verweis auf die Rechtssache Matczyński (Matczyński ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 32794/07, Rdnr. 106, 15. Dezember 2015) trug sie vor, dass der Beschwerdeführerin zu dem Zeitpunkt, zu dem sie das Grundstück und die Bewilligung erworben hatte, die sich aus § 124 des Bundesberggesetzes (siehe Rdnrn. 21-22) ergebenden Einschränkungen bekannt gewesen seien oder bei vernünftiger Betrachtungsweise hätten bekannt sein müssen. Darüber hinaus sei nach der deutschen Wiedervereinigung bekannt gewesen, dass eine Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in Südthüringen notwendig sein würde und dass eine Autobahn geplant gewesen sei, von der der Abbaubetrieb möglicherweise betroffen sein würde, zumal die genaue Streckenführung noch nicht festgestanden habe. Schließlich trug sie vor, dass die Vertragsstaaten im Bereich der öffentlichen Infrastrukturplanung über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen.

45. Der Gerichtshof muss daher darüber entscheiden, ob zwischen den betroffenen Interessen ein gerechter Ausgleich herbeigeführt wurde. Die Suche nach diesem Ausgleich ist der gesamten Konvention inhärent und spiegelt sich auch in der Struktur von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 wider (siehe u. a. Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, 23. September 1982, Rdnr. 69, Serie A Bd. 52). Die Entschädigungsregelung nach dem einschlägigen innerstaatlichen Recht ist ausschlaggebend für die Beurteilung der Frage, ob die angefochtene Maßnahme den erforderlichen gerechten Ausgleich berücksichtigt, und insbesondere, ob sie den Beschwerdeführer nicht unverhältnismäßig belastet. In diesem Zusammenhang stellt die Eigentumsentziehung („taking of property“) ohne Zahlung einer dem Wert des Eigentums angemessenen Summe in der Regel einen unverhältnismäßigen Eingriff dar und das völlige Fehlen einer Entschädigung kann nur unter außergewöhnlichen Umständen als nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 vertretbar angesehen werden (siehe Lithgow u. a. ./. Vereinigtes Königreich, 8. Juli 1986, Rdnr. 120, Serie A Bd. 10, und J. u. a. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerden Nrn. 46720/99, 72203/01 und 72552/01, Rdnr. 94, ECHR 2005‑VI).

(i) Nachteilige Auswirkungen auf das verbleibende Eigentum

46. Der Gerichtshof stellt fest, dass in der vorliegenden Rechtssache nur für die Enteignung der Grundstücksflächen eine Entschädigung gezahlt wurde (siehe Rdnrn. 13-17). Der faktische Verlust der bergrechtlichen Bewilligung der Beschwerdeführerin und der Eingriff in ihren verbleibenden Abbaubetrieb wurden von den innerstaatlichen Gerichten losgelöst von der Grundstücksenteignung beurteilt und es wurde insoweit keinerlei Entschädigung geleistet.

47. Der Gerichtshof hat bereits mehrere vergleichbare Fälle von Teilenteignungen geprüft, in denen der betreffende Beschwerdeführer keine Entschädigung für die nachteiligen Auswirkungen auf das verbleibende Eigentum, insbesondere den Wertverlust, erhielt. In einigen Fällen stellte der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Festsetzung der Entschädigung weder die Art des Straßenbaus noch die Frage, ob dieser den Eigentümern einen Vorteil brachte, berücksichtigten, sondern die Entschädigung nur im Hinblick auf die tatsächlich enteigneten Grundstücke festsetzten. Nach Auffassung des Gerichtshofs schienen jedoch unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums, der den innerstaatlichen Behörden nach Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 verbleibt, keine Anhaltspunkte vorzuliegen, die die Schlussfolgerung rechtfertigen würden, dass die Nichtgewährung besonderer Schadenersatzleistungen einen Verstoß gegen Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 darstellen könnte (siehe z. B. Azas ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 50824/99, Rdnrn. 51‑53, 19. September 2002; und Athanasiou u. a. ./. Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 2531/02, Rdnr. 24, 9. Februar 2006).

48. In anderen Fällen, in denen es um eine Teilenteignung aufgrund des Baus einer Autobahn in der nahen Umgebung des Hauses eines Beschwerdeführers ging, hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein solcher Eingriff die Gewährung einer zusätzlichen Entschädigung für die Einschränkung der Nutzung des Hauses rechtfertigen könnte. Die Art des Bauprojekts hatte hier offensichtlich unmittelbarer zu der erheblichen Wertminderung des verbleibenden Eigentums beigetragen (siehe Bistrović, a. a. O., Rdnrn. 40-42, und Ouzounoglo, a. a. O., Rdnr. 30).

49. Nach Ansicht des Gerichtshofs fällt die vorliegende Rechtssache in die letztgenannte Fallgruppe. Die Beschwerdeführerin war zwar Inhaberin der bergrechtlichen Bewilligung und Eigentümerin des verbleibenden Grundstücks mit Zuwegen, Gebäuden, Maschinenpark und der Anlage, sie konnte diese aber nicht nutzen, weil die Autobahn durch das verbleibende Kalksteinsteinvorkommen gebaut worden war. Daher könnte der in Rede stehende Eingriff die Gewährung einer zusätzlichen Entschädigung rechtfertigen.

(ii) Kenntnis oder mögliche Kenntnis von Beschränkungen

50. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführerin die sich aus § 124 Abs. 3 und 4 des Bundesberggesetzes ergebenden Beschränkungen bekannt waren, wonach eine öffentliche Verkehrsanlage einem Gewinnungsbetrieb vorging. Darüber hinaus hatte die Beschwerdeführerin Kenntnis davon oder hätte bei vernünftiger Betrachtungsweise Kenntnis davon haben müssen, dass ihr Abbaubetrieb von der geplanten Autobahn betroffen sein könnte. Daher muss der Gerichtshof prüfen, ob die Kenntnis oder mögliche Kenntnis von Einschränkungen oder künftigen Einschränkungen das gänzliche Fehlen einer Entschädigung rechtfertigt.

51. Der Gerichtshof hat bereits Fälle geprüft, in denen ein Beschwerdeführer bei vernünftiger Betrachtungsweise nicht in Unkenntnis der rechtlichen Beschränkungen gewesen sein konnte und infolgedessen daran gehindert war, ein weiteres Haus auf seinem Grundstück zu bauen (siehe sinngemäß Allan Jacobsson ./. Schweden (Individualbeschwerde Nr. 1), 25. Oktober 1989, Rdnrn. 60-61, Serie A Bd. 163). Allerdings war die Beschwerdeführerin in der vorliegenden Rechtssache nicht nur daran gehindert, ihr Grundstück weiter zu entwickeln. Es gab einen Eingriff in ein gesondertes Recht, bei dem es sich nicht um das Recht auf das Grundstück handelte, denn die Beschwerdeführerin hatte auch eine bergrechtliche Bewilligung für 25 Jahren erhalten und hatte nur ein Drittel des Vorkommens abbauen können.

52. Ähnlich wie in der Rechtssache Matczyński (a. a. O., Rdnr. 106) erwarb die Beschwerdeführerin ein Grundstück, von dem anzunehmen war, dass es Beschränkungen unterlag, aber im Unterschied zu dem Beschwerdeführer im Fall Matczyński erlangte sie gleichzeitig eine bergrechtliche Bewilligung vom Staat (siehe sinngemäß Pyrantienė ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 45092/07, Rdnrn. 54‑56, 12. November 2013). Anzumerken ist, dass das Bergamt bei der Erteilung der Bewilligung Kenntnis von der geplanten Autobahn hatte oder bei vernünftiger Betrachtungsweise hätte Kenntnis davon haben können. Es erteilte die Bewilligung, obwohl Unsicherheit darüber bestand, wo genau die Autobahn gebaut werden würde und in welcher Weise der Abbaubetrieb davon betroffen sein würde.

In mehreren Fällen hat der Gerichtshof das gänzliche Fehlen einer Entschädigung akzeptiert, wenn dem Eigentümer die Möglichkeit künftiger Beschränkungen bekannt war, hätte bekannt sein sollen oder bei vernünftiger Betrachtungsweise bekannt gewesen wäre. In der Rechtssache Fredin (a. a. O., Rdnrn. 12, 16, 54) sah das Umweltrecht nach Ablauf von zehn Jahren die Aufhebung einer bergrechtlichen Bewilligung ohne Entschädigung vor. Es war bereits mehrere Jahre in Kraft, als der betreffende Beschwerdeführer die Investition in die Wege leitete. Anders als in der vorliegenden Rechtssache hieß es in der bergrechtlichen Bewilligung, dass eine Überprüfung der Genehmigung im Hinblick auf ihre mögliche Beendigung beabsichtigt sei (siehe Fredin, a. a. O., Rdnrn. 18 und 54). In der Rechtssache Łącz (siehe Łącz ./. Polen (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 22665/02, 23. Juni 2009) waren dem Kaufvertrag relevante Auszüge aus dem lokalen Entwicklungsplan bezüglich des Straßenbaus beigefügt.

Da die Beschwerdeführerin eine Bewilligung neueren Datums für 25 Jahren hatte, die erteilt wurde, als die Planung der Autobahn bereits lief, ist der Gerichtshof daher der Ansicht, dass ihre Kenntnis oder mögliche Kenntnis künftiger Beschränkungen unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache das gänzliche Fehlen einer Entschädigung nicht rechtfertigt.

(iii) Außergewöhnliche Umstände

53. Die Regierung hob die Bedeutung der Autobahn für die weiteren Entwicklung der Region nach der deutschen Wiedervereinigung hervor.

54. Der Gerichtshof hat bereits Fälle geprüft, in denen eine Enteignung die Folge weitreichender wirtschaftlicher Reformen oder Maßnahmen war, mit denen mehr soziale Gerechtigkeit geschaffen werden sollte. So stellte er zum Beispiel fest, dass bei der Entscheidung über den Erlass gesetzlicher Regelungen zur Verstaatlichung einer ganzen Branche üblicherweise verschiedene Fragen berücksichtigt werden, zu denen die Meinungen in einer demokratischen Gesellschaft angemessenerweise weit auseinander liegen können. Die innerstaatlichen Behörden sind aufgrund ihres unmittelbaren Wissens über ihre Gesellschaft sowie deren Bedürfnisse und Ressourcen grundsätzlich besser in der Lage als der internationale Richter zu beurteilen, welche Maßnahmen in diesem Bereich angemessen sind, und deshalb sollte bei der Entscheidung, ob ein Eigentümer enteignet werden soll, und bei der Festlegung der Bedingungen der Entschädigung ein weiter Beurteilungsspielraum gelten (siehe Lithgow, a. a. O., Rdnrn. 121-22). In jenem Fall musste der Gerichtshof allerdings nicht über das gänzliche Fehlen einer Entschädigung entscheiden, sondern stellte nach der Prüfung der Entschädigungsregelungen keinen Verstoß gegen Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 fest.

55. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass, anders als im Fall J. (a. a. O.), die Beschwerdeführerin das Eigentum nicht nach Rechtsvorschriften erwarb, die in einem Übergangszeitraum zwischen zwei Regierungssystemen galten und von einem nicht demokratisch gewählten Parlament erlassen wurden. Der Eingriff in ihre Eigentumsrechte war zudem nicht notwendig, um aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit Mängel früherer Rechtsvorschriften zu beheben (im Gegensatz dazu J., a. a. O., Rdnr. 116). Der Gerichtshof betonte, dass im Fall J. die Einzigartigkeit der allgemeinen politischen und rechtlichen Verhältnisse das gänzliche Fehlen einer Entschädigung rechtfertigte (siehe Vistiņš und Perepjolkins ./. Lettland [GK], Individualbeschwerde Nr. 71243/01, Rdnr. 123, 25. Oktober 2012).

56. Daher kann nach Ansicht des Gerichtshofs das in Rede stehende öffentliche Infrastrukturprojekt, auch wenn es kurz nach der deutschen Wiedervereinigung umgesetzt wurde, nicht als ein außergewöhnlicher Umstand angesehen werden, der das gänzliche Fehlen einer Entschädigung in Bezug auf die bergrechtliche Bewilligung und den Abbaubetrieb rechtfertigt.

57. Die vorstehenden Ausführungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass das Recht der Beschwerdeführerin auf Achtung ihres Eigentums verletzt worden ist.

Es liegt daher eine Verletzung von Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 vor.

II. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

58. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

59. Die Beschwerdeführerin machte 3.589.566,42 Euro nebst Zinsen in Bezug auf den materiellen Schaden geltend. Ferner machte sie 464.310,01 Euro für die vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen und 12.605,04 EUR für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof geltend.

60. Die Regierung trug vor, dass kein kausaler Zusammenhang zwischen der Gesamtsumme des materiellen Schadens und der behaupteten Verletzung und zwischen den Kosten in Höhe von 97.647,09 Euro und der behaupteten Verletzung nachgewiesen worden sei. Insgesamt seien die geltend gemachten Kosten und Auslagen überzogen.

61. Unter den Umständen des Falls ist der Gerichtshof der Auffassung, dass über die Frage der Anwendung von Artikel 41 der Konvention noch nicht entschieden werden kann. Daher muss ihre Beurteilung zurückgestellt werden und das weitere Verfahren die Möglichkeit einer Einigung zwischen dem beschwerdegegnerischen Staat und der Beschwerdeführerin gebührend berücksichtigen (Artikel 75 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;

2. Artikel 1 des Zusatzprotokolls ist verletzt worden;

3. die Frage der Anwendung von Artikel 41 ist nicht entscheidungsreif; dementsprechend

a) behält er sich die Beurteilung dieser Frage ganz vor;

b) fordert er die Regierung und die Beschwerdeführerin auf, ihm schriftlich innerhalb von drei Monaten, nachdem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig geworden ist, ihre Stellungnahme zu der Angelegenheit zu unterbreiten und insbesondere, ihn von jeder Einigung, die sie möglicherweise erzielen, zu unterrichten;

c) behält er sich das weitere Verfahren vor und überträgt dem Kammerpräsidenten die Befugnis, es ggf. zu bestimmen.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 19. Januar 2017 nach Artikel 77 Absätze 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško                                                           Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler                            Präsident

Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze

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