Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
RECHTSSACHE F. ./. DEUTSCHLAND
(Individualbeschwerde Nr. 23621/11)
URTEIL
STRASSBURG
16. März 2017
Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Abs. 2 der Konvention endgültig. Es wird gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.
In der Rechtssache F. ./. Deutschland
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Faris Vehabović,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni,
Mārtiņš Mits,
und Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
nach nicht öffentlicher Beratung am 21. Februar 2017
das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.
VERFAHREN
1. Der Rechtssache lag eine Individualbeschwerde (Nr. 23621/11) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die der deutsche Staatsangehörige F. („der Beschwerdeführer“) am 10. April 2011 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention”) beim Gerichtshof eingereicht hatte.
2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn M., Rechtsanwalt in S., vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch einen ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Herrn Ministerialrat H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.
3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass ihm in dem innerstaatlichen Gerichtsverfahren über die Entziehung der Entschädigung und der besonderen Zuwendung, die ihm für eine in den Jahren 1958/59 in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) verbüßte Freiheitsstrafe gewährt worden war, unter Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 der Konvention eine mündliche Verhandlung verwehrt worden sei.
4. Am 24. Juni 2014 wurde die Rüge bezüglich der Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung der Regierung übermittelt und die Beschwerde im Übrigen nach Artikel 54 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs für unzulässig erklärt.
SACHVERHALT
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
5. Der Beschwerdeführer wurde 19.. geboren und lebt in S. Vor der deutschen Wiedervereinigung lebte er in der ehemaligen DDR, wo er von 1952 bis 1954 bei der Volkspolizei tätig war.
A. Die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers in der ehemaligen DDR
6. Am 13. Juni 1958 sprach das Bezirksgericht Frankfurt (Oder) den Beschwerdeführer des verbrecherischen Angriffs gegen die örtlichen Organe der Staatsmacht für schuldig, nachdem er einen Abgeordneten des DDR-Parlaments, der der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei angehörte, angegriffen hatte. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, von der er 14 Monate verbüßte.
B. Das Rehabilitierungsverfahren nach der deutschen Wiedervereinigung
7. Am 8. Februar 1994 hob das Landgericht Frankfurt (Oder) das Urteil aus dem Jahr 1958 aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit auf und rehabilitierte den Beschwerdeführer nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz), mit dem Strafgefangene des DDR-Regimes in Bezug auf ihre rechtstaatswidrige Freiheitsentziehung rehabilitiert und entschädigt werden sollen.
8. Am 25. April 1994 beantragte der Beschwerdeführer eine Entschädigung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz. In dem Antragsformular wurde darauf hingewiesen, dass gemäß § 16 Abs. 2 des Gesetzes (siehe einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis, Rdnrn. 23 und 24) eine solche Entschädigung nicht gewährt werden könne, wenn der Betroffene gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe. Der Beschwerdeführer erklärte in dem Fragebogen, nie gegen diese Grundsätze verstoßen und nie für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR gearbeitet zu haben. Am 13. Februar 1995 sprach der Präsident des Landgerichts Frankfurt (Oder) als zuständige Behörde ihm nach § 17 i. V. m. § 16 Abs. 1 und 3 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes eine Entschädigung in Höhe von 8.250 DM zu, was etwa 4.128 Euro entspricht.
9. Am 7. August 2007 beantragte der Beschwerdeführer nach einer Änderung des Gesetzes eine einkommensabhängige „monatliche besondere Zuwendung für Haftopfer“. Er bekräftigte erneut, weder gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit verstoßen, noch für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR gearbeitet zu haben. Am 14. November 2007 wurde ihm nach § 17a des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes eine monatliche besondere Zuwendung in Höhe von 250 Euro unter dem Vorbehalt gewährt, dass die Informationen der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik („die Bundesbeauftragte“) den Darstellungen des Beschwerdeführers nicht widersprechen dürften. Eine entsprechende Auskunftsanfrage wurde am 19. November 2007 gestellt.
C. Das in Rede stehende Verfahren
10. Am 25. Februar 2008 unterrichtete die Bundesbeauftragte den Präsidenten des Landgerichts, dass der Beschwerdeführer vom 22. September 1953 bis zum 25. November 1954 als geheimer Informant für das Ministerium für Staatssicherheit tätig gewesen sei, während er der Volkspolizei angehörte. Diese Auskünfte stützten sich auf eine Reihe von Unterlagen, u. a. 32 angeblich von dem Beschwerdeführer verfasste handschriftliche Berichte sowie eine Verpflichtungserklärung, als geheimer Informant für den Staatssicherheitsdienst tätig zu werden.
11. Am 18. Februar 2009 nahm der Präsident des Landgerichts unter Berufung auf § 48 Abs. 1 und 2 Satz 3 Nr. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Brandenburg die Bescheide über die Gewährung einer Entschädigung und einer besonderen Zuwendung zurück und forderte den Beschwerdeführer auf, gemäß § 49a dieses Gesetzes bereits erhaltenen Geldbeträge zu erstatten. Der Präsident vertrat die Auffassung, dass die Bescheide bereits von vornherein rechtswidrig gewesen seien, weil für keinen der beiden Leistungsansprüche jemals die Voraussetzungen vorgelegen hätten und der Beschwerdeführer nicht berechtigterweise auf den Bestand dieser Bescheide vertrauen könne, da er diese durch Angaben erwirkt habe, die in wesentlicher Beziehung unrichtig seien. Unter Bezugnahme auf § 16 Abs. 2 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes stellte er fest, dass der Beschwerdeführer entgegen den Ausführungen in seinen Anträgen als geheimer Informant für das Ministerium für Staatssicherheit tätig gewesen sei und mindestens fünf Berichte für das Ministerium verfasst habe, mit denen er die von ihm denunzierten Personen ernsthaft in Gefahr gebracht habe.
12. Am 9. März 2009 stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und bat um eine persönliche Anhörung. Er machte geltend, dass die in den Unterlagen der Bundesbeauftragten enthaltenen Informationen zu seiner Person unvollständig und unzutreffend seien. Auch müsse berücksichtigt werden, dass er zum Zeitpunkt der Anwerbung erst 19 Jahre alt gewesen sei und auf der Flucht aus seiner schlesischen Heimatstadt 1945 stark traumatisiert worden sei und dass er ferner die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945 miterlebt habe und nach Kriegsende mehrere Monate obdachlos gewesen sei. Sein Vater sei erst 1947 oder 1948 arbeitsunfähig aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Während seiner Tätigkeit bei der Volkspolizei sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er für andere Regierungsstellen gearbeitet habe. Die schriftliche Verpflichtungserklärung gegenüber dem Staatssicherheitsdienst sei ihm möglicherweise im Zustand der Trunkenheit diktiert worden, erinnern könne er sich daran aber nicht mehr. In jedem Fall schloss er aus, dass es sich um seine eigenen Formulierungen gehandelt habe und dass er gewusst habe, dass die Berichte vom Staatssicherheitsdienst verwendet werden sollten.
13. Am 16. Februar 2010 wies eine mit drei Richtern besetzte Kammer des Landgerichts Frankfurt (Oder) den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung zurück und stellte fest, dass seine Tätigkeit als geheimer Informant für das Ministerium für Staatssicherheit ihrer Art, Tragweite und Dauer nach ein Ausmaß an Verwerflichkeit erreicht habe, welches den Ausschluss des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Ausgleichsleistungen nach § 16 Abs. 2 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes rechtfertige. Es räumte ein, dass in einer Jahrzehnte bestehenden Diktatur geringfügige Verstrickungen in das politische System keine Seltenheit sei, und befand, dass die Stellung des Beschwerdeführers als geheimer Informant des Staatssicherheitsdienstes an sich nicht ausreiche, um die Anwendung dieser Vorschrift auszulösen. Jedoch sollten in den Genuss der nur für unschuldige Opfer bestimmten Entschädigung nach diesem Gesetz nicht auch jene kommen, die sich an Straftaten beteiligt hätten, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen und andere geschädigt oder zumindest gefährdet hätten. Dies könne angenommen werden, wenn ein geheimer Informant andere freiwillig denunziert habe und die Berichte möglicherweise zu einer Verfolgung durch den Staatssicherheitsdienst führen konnten. In diesem Fall seien Entschädigungsleistungen ausgeschlossen, ungeachtet dessen, wie groß das von dem Täter selbst erlittene Leid gewesen sei. Die Gerichte hätten das Ausmaß des jeweiligen Leids nicht zu vergleichen.
14. Das Landgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer eine handschriftliche Verpflichtung zur Tätigkeit für den Staatsicherheitsdienst verfasst habe, nachdem er bereits zweimal andere denunziert hatte. Daher sei die Einlassung des Beschwerdeführers, er habe geglaubt, er erstatte Polizeibeamten und nicht dem Staatssicherheitsdienst Bericht, im Lichte dieser Erklärung nicht glaubhaft. Ferner seien die fünf in dem Bescheid des Präsidenten des Landgerichts aufgeführten Berichte sowie zwei weitere Berichte geeignet gewesen, die denunzierten Personen in Gefahr zu bringen. Der Beschwerdeführer habe vorwiegend über deren Verbindungen nach Westdeutschland und Westberlin berichtet. Gerade eine beabsichtigte Republikflucht habe zu einer harten Strafverfolgung der betroffenen Personen führen können. Die Berichte seien nicht bedeutungslos, sondern enthielten
wertvolle Informationen für den Staatssicherheitsdienst. Die Behauptung des Beschwerdeführers, dass ihm die Berichte zum Teil unbekannt seien und inhaltlich nicht stimmten und dass ihm die Namen der Führungsoffiziere nicht bekannt seien, sei für die Entscheidung des Landgerichts unerheblich.
15. Das Landgericht wies auch darauf hin, dass eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers nicht erforderlich sei. Seine damalige Persönlichkeit und die Umstände seiner Anwerbung wären nur erheblich gewesen, wenn es Anhaltspunkte dafür gegeben hätte, dass der Beschwerdeführer unter unerträglichem Druck gehandelt habe. Es lägen jedoch keine solchen Anhaltspunkte vor, und der Beschwerdeführer habe auch nichts Entsprechendes dargetan. Er habe bereits vor seiner Anwerbung durch den Staatssicherheitsdienst zweimal andere denunziert. Ferner konnte das Gericht keinen Zusammenhang erkennen zwischen einerseits den Auswirkungen, die die Erlebnisse des Beschwerdeführers während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit auf ihn gehabt hätten, sowie den seelischen Konflikten, unter denen er damals gelitten habe, und andererseits seiner Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst.
16. Am 24. August 2010 verwarf das Brandenburgische Oberlandesgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers und schloss sich der Begründung des Landgerichts an.
17. Am 28. Oktober 2010 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2329/10).
II. EINSCHLÄGIGES INNERSTAATLICHES RECHT UND EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE PRAXIS
A. Die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte
18. Zur maßgeblichen Zeit fanden sich die Vorschriften über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte des Landes Brandenburg in dem Verwaltungsverfahrensgesetz für das Land Brandenburg und lauteten, soweit maßgeblich, wie folgt:
§ 48: Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes
„(1) Ein rechtswidriger Verwaltungsakt kann, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden.
(2) Ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, wenn er […]
2. den Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren; […]“
§ 49a: Erstattung, Verzinsung
„(1) Soweit ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen oder widerrufen worden oder infolge Eintritts einer auflösenden Bedingung unwirksam geworden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Die zu erstattende Leistung ist durch schriftlichen Verwaltungsakt festzusetzen.“
B. Das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz
19. § 1 Abs. 1 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes sah die Aufhebung gerichtlicher Entscheidungen der ehemaligen DDR, soweit sie mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar waren, sowie die Rehabilitierung der betroffenen Personen vor.
20. § 16 Abs. 1 des Gesetzes sah Ausgleichsleistungen an die rehabilitierte Person für die von ihr erlittene Freiheitsentziehung vor.
21. § 17 des Gesetzes sah eine Entschädigung in Höhe von – zur maßgeblichen Zeit – 550 DM, was etwa 281 Euro entspricht, für jeden angefangenen Kalendermonat einer mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit unvereinbaren Freiheitsentziehung vor.
22. § 17a des Gesetzes sah vor, dass Berechtigte eine monatliche besondere Zuwendung in Höhe von – zur maßgeblichen Zeit – 250 Euro erhalten konnten, wenn sie in ihrer wirtschaftlichen Lage besonders beeinträchtigt waren und eine Freiheitsentziehung von insgesamt mindestens 180 Tagen erlitten hatten.
23. § 16 Abs. 2 des Gesetzes sah vor, dass Ausgleichsleistungen nicht gewährt werden, wenn die betroffene Person gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maße ihre Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht hat. Nach ständiger Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte hat eine Person dann gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen, wenn sie freiwillig und gezielt, u. a. durch das Eindringen in die Privatsphäre anderer und den Missbrauch des ihnen entgegengebrachten Vertrauens, Informationen über Mitbürger gesammelt und an den Staatssicherheitsdienst weitergegeben und es dabei jedenfalls in Kauf genommen haben, dass diese Informationen zum Nachteil der denunzierten Personen, namentlich zur Unterdrückung ihrer Menschenrechte, benutzt werden (siehe u. a. Oberlandesgericht Rostock, I WsRH 3/03, Beschluss vom 10. Februar 2004). Falls die Person durch unerträglichen Druck gezwungen wurde, für das Ministerium für Staatssicherheit zu arbeiten, wären die Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 des Gesetzes nicht erfüllt (Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 1 Ws Reh 618/08, Beschluss vom 15. Dezember 2008).
24. Während einige Gerichte eine Abwägung zwischen dem Ausmaß des Schadens, der dem Antragsteller selbst zugefügt wurde, und dem Schaden, den er anderen zufügte, für erforderlich hielten (Landgericht Potsdam, BRH (OP) 15/18, Beschluss vom 21. November 2008), waren andere Gerichte, insbesondere das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 19. Januar 2006 (3 C 11/05) der Auffassung, dass die Gerichte das Ausmaß des jeweiligen Leids nicht zu vergleichen hätten. In diesem Urteil führte das Bundesverwaltungsgericht auch aus, dass die Anwendbarkeit des § 16 Abs. 2 des Gesetzes nicht den Nachweis voraussetze, dass die von dem Antragsteller denunzierte Person tatsächliche Nachteile erlitten habe. Vielmehr reiche es aus, dass die Berichte geeignet waren, die Denunzierten in Gefahr zu bringen (ähnlich Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws-Reha 14/04, Beschluss vom 13. Juli 2005; Oberverwaltungsgericht Berlin, 6 B 1/04, Urteil vom 1. Dezember 2004).
25. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes entschieden die Gerichte in Verfahren, die das Gesetz betrafen, in der Regel ohne mündliche Erörterung. § 11 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes gestattete es dem Gericht, eine solche Erörterung durchzuführen, wenn es dies zur Aufklärung des Sachverhalts oder aus anderen Gründen für erforderlich hielt.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 ABS. 1 DER KONVENTION
26. Der Beschwerdeführer rügte, die innerstaatlichen Gerichte hätten dadurch, dass sie ohne mündliche Verhandlung über die Entziehung seiner Entschädigung und seiner besonderen Zuwendung entschieden hätten, sein Recht auf mündliche Verhandlung nach Artikel 6 Abs. 1 der Konvention verletzt, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem […] Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich […] verhandelt wird.“
27. Die Regierung trat diesem Vorbringen entgegen.
A. Zulässigkeit
28. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich unbegründet ist. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen unzulässig. Folglich ist sie für zulässig zu erklären.
B. Begründetheit
1. Die Stellungnahmen der Parteien
a) Der Beschwerdeführer
29. Unter Bezugnahme auf seine Verfassungsbeschwerde trug der Beschwerdeführer vor, aus den Unterlagen der innerstaatlichen Gerichte gehe hervor, dass er sich 1952 in einer Drucksituation befunden habe, die genutzt worden sei, um ihn gegen seinen Willen zum Informanten zu machen. Er behauptete, wenn er persönlich angehört worden wäre, hätte er seine verzweifelte Situation als unreifer junger Mann mit übermäßigem Alkoholkonsum veranschaulichen können. Er hätte persönlich besser als die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit darstellen können, dass er nie wissentlich Informationen weitergegeben habe, um anderen zu schaden. Der Beschwerdeführer verwies ferner auf ein Urteil des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg vom 24. Januar 2014 (VfGBbg 2/13) über die Aufhebung fachgerichtlicher Entscheidungen, mit denen Bescheide über Entschädigungsleistungen mit der Begründung zurückgenommen worden waren, dass ein ehemaliger Gefangene sich verpflichtet hätte, für den Staatssicherheitsdienst zu arbeiten. Das Verfassungsgericht, das auch Artikel 6 der Konvention berücksichtigte, stellte u. a. fest, dass die Nichtdurchführung einer Anhörung und damit die Weigerung, dem Antragsteller die Gelegenheit zu geben, persönlich eine Situation unerträglichen Drucks zu erläutern, weil sein entsprechender Vortrag nicht durch Beweismittel aus den Akten der Staatssicherheitsbehörde gestützt worden sei, gegen die einschlägigen Bestimmungen der Landesverfassung verstoße.
30. Der Beschwerdeführer fügte hinzu, es habe von ihm nicht erwartet werden können, das eigentliche Wesen des Ministeriums für Staatssicherheit zu kennen, zumal es erst 1950 gegründet worden sei. Darüber hinaus hätten die innerstaatlichen Gerichte sämtliche Inhalte der Akten des Staatssicherheitsdienstes unkritisch als wahr übernommen, ohne dem Beschwerdeführer die Gelegenheit zu geben, seinen Fall persönlich zu erläutern. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung bestimmter innerstaatlicher Gerichte trug der Beschwerdeführer vor, das von ihm erlittene Unrecht hätte gegen die Nachteile abgewogen werden müssen, die den von ihm denunzierten Personen tatsächlich entstanden seien. Hierzu wäre es erforderlich gewesen, ihn persönlich anzuhören. Die Anhörung hätte gezeigt, dass das eigene Leid des Beschwerdeführers die nachteiligen Auswirkungen seiner Berichte auf andere überwogen habe. Der Beschwerdeführer hob hervor, dass es keine Beweise dafür gebe, dass von ihm denunzierte Personen aufgrund seiner Berichte, die er als „bedeutungslos“ und „nichtssagend“ beschrieb, Nachteile erlitten hätten. Der Beschwerdeführer unterstrich ferner, dass er 1954 sofort aus dem Dienst entfernt worden sei, nachdem er seine Uniform und seinen Polizeidienstausweis vor Zivilpersonen auf die Straße geworfen habe.
b) Die Regierung
31. Die Regierung trug vor, dass kein Verstoß gegen Artikel 6 vorliege, weil unter den konkreten Umständen der Rechtssache eine mündliche Verhandlung vor den innerstaatlichen Gerichten nicht erforderlich gewesen sei. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache Schlumpf ./. Schweiz (Individualbeschwerde Nr. 29002/06, Rdnr. 64, 8. Januar 2009) und Lorenzetti ./. Italien (Individualbeschwerde Nr. 32075/09, Rdnr. 32, 10. April 2012) vertrat sie die Auffassung, dass eine mündliche Verhandlung entbehrlich sei, soweit das Gericht die Sache in fairer und angemessener Weise anhand der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten und sonstiger schriftlicher Materialien klären könne. Die Möglichkeit, von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen Abstand zu nehmen, sei nicht auf seltene Ausnahmefälle beschränkt (mit Verweis auf Fexler ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 36801/06, Rdnr. 57, 13. Oktober 2011). Unter Bezugnahme auf die Rechtssache Suhadolc ./. Slowenien ((Entsch.) Individualbeschwerde Nr. 57655/08, 17. November 2011) trug die Regierung vor, dass es nicht von vornherein im Widerspruch zur Konvention stehe, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in das Ermessen der zuständigen Gerichte zu stellen.
32. Die Regierung wies ferner darauf hin, entscheidend sei allein gewesen, ob der Beschwerdeführer in erheblichem Maße als Informant für die Behörden der ehemaligen DDR tätig geworden sei. Dies hätten die Gerichte schon anhand der vorliegenden, von dem Beschwerdeführer verfassten Berichte feststellen können, die unstreitig und zudem einwandfrei nachweisbar von ihm stammten. Andere Aspekte seien für das Landgericht nicht erheblich gewesen, weil das innerstaatliche Recht eine Abwägung der Angelegenheit mit dem persönlichen Lebensschicksal des Beschwerdeführers nicht erfordere und weil § 16 Abs. 2 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes nicht voraussetze, dass eine der von dem Beschwerdeführer denunzierten Personen infolge seiner Berichte einen Nachteil erlitten habe. Auch seine wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse, wie er sie vor dem Landgericht vorgetragen habe, seien unerheblich. Insbesondere habe er keine zur Entschuldigung seiner Informantentätigkeit geeigneten Umstände aufgezeigt. Es sei nicht erforderlich gewesen, den Beschwerdeführer persönlich anzuhören, um unterschiedliche Rechtsauslegungen zu erörtern. Schlussendlich hätten die innerstaatlichen Gerichte in keiner Hinsicht von der mündlichen Anhörung des Beschwerdeführers profitiert.
2. Würdigung durch den Gerichtshof
33. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die vorliegende Rechtssache keine strafrechtliche Anklage gegen den Beschwerdeführer betrifft. Die angefochtene Entscheidung über die Entziehung der zuvor gewährten Entschädigung betrifft nicht die strafrechtliche Rehabilitierung des Beschwerdeführers als solche. Die vom 8. Februar 1994 datierende Entscheidung des Landgerichts über die Aufhebung des Urteils von 1958 (siehe Rdnr. 7) blieb unberührt. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass, wenn eine Person einen Eingriff in ihre Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts erfährt und einen individuellen wirtschaftlichen Anspruch geltend macht, der aus bestimmten, in einem Gesetz festgelegten Regeln erwächst, dieser als „zivilrechtlich“ im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 angesehen werden muss (siehe Salesi ./. Italien, 26. Februar 1993, Rdnr. 19, Serie A Nr. 257‑E). Dies gilt auch für individuelle Entschädigungsansprüche für Unrecht, das unter einem früheren Regime erlitten wurde (Wos ./. Polen (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 22860/02, Rdnr. 76, ECHR 2005‑IV, betreffend ein Opfer der NS-Verfolgung). Das Ziel des Antrags des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung war, eine weitere Entschädigung für seine strafrechtliche Verfolgung unter der ehemaligen DDR-Herrschaft zu erwirken und die bereits erhaltenen Beträge zu behalten. Ihm wurde eine Zuwendung nach § 17a des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes gewährt (siehe einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis, Rdnr. 22). Unter Berücksichtigung insbesondere der für die Leistungsberechtigung geltenden Kriterien der finanziellen Schwierigkeiten eines Antragstellers ist der Gerichtshof daher überzeugt, dass der in Rede stehende Anspruch „zivilrechtlichen“ Charakter im autonomen Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention hatte.
34. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in Verfahren vor einem Gericht des ersten und einzigen Rechtszugs das Recht auf eine öffentliche Verhandlung im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 einen Anspruch auf eine „mündliche Verhandlung“ beinhaltet, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor, die es rechtfertigen, von einer solchen Verhandlung abzusehen (siehe Göç ./. Türkei [GK], Individualbeschwerde Nr. 36590/97, Rdnr. 47, ECHR 2002‑V mit weiteren Nachweisen). Indem sie die Rechtsprechung transparent macht, trägt eine mündliche Verhandlung vor der Öffentlichkeit zur Verwirklichung des Ziels von Artikel 6 Abs. 1 – ein faires Verfahren – bei, dessen Gewährleistung eines der Grundprinzipien jeglicher demokratischer Gesellschaft im Sinne der Konvention ist (siehe Mehmet Emin Şimşek ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 5488/05, Rdnr. 28, 28. Februar 2012; Szücs ./. Österreich, 24. November 1997, Rdnr. 42, Reports of Judgments and Decisions 1997‑VII). In Verfahren, die sich über zwei Instanzen erstrecken, muss im Allgemeinen mindestens eine Instanz eine solche Verhandlung vorsehen, sofern keine entsprechenden außergewöhnlichen Umstände vorliegen (siehe Salomonsson ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 38978/97, Rdnr. 36, 12. November 2002; Alatulkkila u. a. ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 33538/96, Rdnr. 53, 28. Juli 2005).
35. Im Hinblick auf die außergewöhnliche Natur der Umstände, die einen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung über einen „zivilrechtlichen Anspruch“ rechtfertigen können, kommt es auf die Art der von dem zuständigen innerstaatlichen Gericht zu entscheidenden Fragen und nicht auf die Häufigkeit solcher Sachlagen an (Madaus ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 44164/14, Rdnr. 23, 9. Juni 2016; siehe auch Jussila ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 73053/01, Rdnr. 42, ECHR 2006‑XIV, die den strafrechtlichen Teil von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention betraf). Dies bedeutet nicht, dass die Ablehnung, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, nur in seltenen Fällen gerechtfertigt sein kann (siehe Miller ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 55853/00, Rdnr. 29, 8. Februar 2005). Der Gerichtshof hat außergewöhnliche Umstände in Fällen anerkannt, in denen das Verfahren ausschließlich rechtliche oder sehr technische Fragen betraf (siehe Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, 24. Juni 1993, Rdnr. 58, Serie A Nr. 263; Varela Assalino ./. Portugal (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 64336/01, 25. April 2002; und Speil ./. Österreich (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 42057/98, 5. September 2002). Es kann Verfahren geben, in denen eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist: zum Beispiel wenn es keine Glaubwürdigkeitsfragen oder strittige Tatsachen gibt, die eine Verhandlung erforderlich machen, und die Gerichte die Rechtssache in fairer und angemessener Weise anhand der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten und sonstiger schriftlicher Materialien entscheiden können (Jussila, a. a. O., Rdnr. 41, mit Verweis auf Döry ./. Schweden, Individualbeschwerde Nr. 28394/95, Rdnr. 37, 12. November 2002, die den zivilrechtlichen Teil von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention betraf).
36. Es muss also geprüft werden, ob außergewöhnliche Umstände vorlagen, die den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung in der vorliegenden Rechtssache rechtfertigten. Dies wäre nicht der Fall, wenn es Glaubwürdigkeitsfragen oder strittige Fragen gab, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend waren.
37. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Landgericht in seiner Entscheidung vom 16. Februar 2010 (siehe Rdnrn. 13 bis 15) festgestellt hat, dass der Beschwerdeführer wissentlich dem Staatssicherheitsdienst Berichte geliefert habe, von denen sieben geeignet gewesen seien, die denunzierten Personen in die Gefahr der Verfolgung durch den Staatssicherheitsdienst zu bringen. Das Gericht befand die Behauptung des Beschwerdeführers, er habe geglaubt, der regulären Polizei Bericht zu erstatten, für unglaubwürdig, denn die Akten der Behörden der ehemaligen DDR über den Beschwerdeführer hätten eine handschriftliche Erklärung enthalten, in der er sich gegenüber dem Staatssicherheitsdienst verpflichtet habe, als geheimer Informant tätig zu sein. Das Gericht betrachtete den Sachverhalt als hinreichend aufgeklärt und stellte keinen Grund fest, den Fall weiter zu untersuchen oder Zeugen zu laden. Es sah eine persönliche Anhörung des Beschwerdeführers nicht für erforderlich an, weil er keine Umstände vorgetragen habe, die darauf hindeuteten, dass er sich unter unerträglichem Druck zu der Tätigkeit für die Staatssicherheit verpflichtete. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich vorliegende Rechtssache daher von der Rechtssache unterscheidet, über die das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg entschieden hat (siehe Rdnr. 29) und in der dem Antragsteller lediglich deshalb die Gelegenheit verweigert wurde, persönlich eine Situation unerträglichen Drucks zu erläutern, weil sein Vortrag nicht durch Beweismittel aus den Akten des Staatssicherheitsdienstes gestützt worden sei.
38. Das Landgericht, dessen Begründung sich das Oberlandesgericht anschloss, sah alle anderen von dem Beschwerdeführer vorgetragenen Tatsacheninformationen als unerheblich für seine Entscheidung an. Der Gerichtshof stellt fest, dass nach der Rechtsprechung bestimmter innerstaatlicher Gerichte, u. a. des Bundesverwaltungsgerichts, zu § 16 Abs. 2 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (siehe einschlägiges innerstaatliches Recht und einschlägige innerstaatliche Praxis, Rdnrn. 23 und 24) das eigene Leiden des Beschwerdeführers nicht gegen die Gefahr abzuwägen war, der er andere ausgesetzt hatte. Daher waren die Einzelheiten der Freiheitsentziehung des Beschwerdeführers nicht relevant. Ebenso waren nach der Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte weder die persönlichen Umstände des Beschwerdeführers zur maßgeblichen Zeit, noch die Frage, ob von dem Beschwerdeführer denunzierten Personen tatsächlich jemand Nachteile erlitten habe, relevante Aspekte für die Anwendung dieser Vorschrift. Daher wären die innerstaatlichen Gerichte, selbst wenn sie den diesbezüglichen Tatsachenvortrag des Beschwerdeführers als wahr unterstellt hätten, zu keinen anderen Schlussfolgerungen gelangt (vgl. Pursiheimo ./. Finnland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 57795/00, 25. November 2003; vgl. und im Gegensatz dazu Özata ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 19578/02, Rdnr. 36, 20. Oktober 2005).
39. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer seine Behauptung, er habe geglaubt, der regulären Polizei und nicht der Staatssicherheit Bericht zu erstatten – was das Landgericht in Anbetracht der Beweisunterlagen für unglaubwürdig befand – nicht wiederholte, und zwar weder in seiner Beschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts, noch in seiner Verfassungsbeschwerde. Auch in seiner Beschwerde an den Gerichtshof stützte er sich nicht auf dieses Argument.
40. Daher warf der Beschwerdeführer keine Glaubwürdigkeitsfragen oder strittigen Fragen auf, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend waren. Die innerstaatlichen Gerichte konnten in fairer und angemessener Weise anhand der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten und sonstiger schriftlicher Materialien über die Rechtssache entscheiden.
41. Die vorstehenden Erwägungen sind für den Gerichtshof ausreichend für die Schlussfolgerung, dass außergewöhnlichen Umstände vorlagen, die den Verzicht auf eine öffentliche Verhandlung rechtfertigten
42. Folglich ist Artikel 6 Abs. 1 der Konvention nicht verletzt worden.
AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:
1. Die Individualbeschwerde wird für zulässig erklärt;
2. Artikel 6 Abs. 1 der Konvention ist nicht verletzt worden.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 16. März 2017 nach Artikel 77 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
Schreibe einen Kommentar