EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 19600/15
S.
gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 28. März 2017 als Kammer mit den Richterinnen und Richtern
Erik Møse, Präsident,
Angelika Nußberger,
André Potocki,
Yonko Grozev,
Síofra O’Leary,
Carlo Ranzoni
und Lәtif Hüseynov
sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 20. April 2015 erhoben wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, S., ist deutscher Staatsangehöriger und in B. wohnhaft. Vor dem Gerichtshof wurde er von Herrn M., Rechtsanwalt in B., vertreten.
A. Die Umstände der Rechtssache
2. Der Sachverhalt, wie er von dem Beschwerdeführer vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
1. Der Hintergrund der Rechtssache
3. Der Beschwerdeführer war von 1. März 2001 bis 28. Februar 2013 Soldat bei der Deutschen Bundeswehr. Am ersten Tag seines Dienstes wurde er förmlich unterwiesen, dass der Konsum von Drogen nach der geltenden Innendienstordnung für die Bundeswehr im und außer Dienst verboten und disziplinar zu würdigen sei (siehe Rdnr. 25). Zwischen Juli 2002 und März 2009 konsumierte der Beschwerdeführer bei mehreren Gelegenheiten in seiner Freizeit Cannabis.
4. Nachdem eine andere Soldatin den Disziplinarvorgesetzten des Beschwerdeführers hierüber informiert hatte, konfrontierte dieser den Beschwerdeführer am 20. März 2009 mit diesem Vorwurf. Der Beschwerdeführer bestritt, Drogen konsumiert zu haben, und war mit der Durchführung eines Drogentests am selben Tag einverstanden. Da der Test ein positives Ergebnis auswies, wurde der Beschwerdeführer ein zweites Mal vernommen. Der Disziplinarvorgesetzte wies den Beschwerdeführer auf sein Schweigerecht nach § 32 der Wehrdisziplinarordnung (WDO; siehe Rdnr. 26), nicht aber auf die Möglichkeit der Verteidigerkonsultation hin, da dieses Recht nicht in der genannten Bestimmung niedergeschrieben ist. Der Disziplinarvorgesetzte teilte dem Beschwerdeführer auch mit, dass er nach der Wehrdisziplinarordnung zu wahren Angaben verpflichtet sei, sollte er nicht von seinem Schweigerecht Gebrauch machen. Der Beschwerdeführer gestand daraufhin, Cannabis konsumiert zu haben.
5. Am 26. März 2009 unterrichtete der Disziplinarvorgesetzte die Staatsanwaltschaft, die ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer einleitete. Am 30. Juni 2009 wurde dieses Verfahren eingestellt, da die Schuld des Beschwerdeführers als gering angesehen wurde und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestanden habe.
2. Das in Rede stehende Verfahren
6. Am 26. März 2009 teilte der Disziplinarvorgesetzte des Beschwerdeführers dem Wehrdisziplinaranwalt mit, dass er die Sache an die Staatsanwaltschaft abgegeben habe. Am 21. April 2009 ordnete der Wehrdisziplinaranwalt in einem internen Dokument die Aufnahme von Vorermittlungen an.
7. Am 22. April 2009 suchte der Beschwerdeführer von sich aus den Vertreter des Disziplinarvorgesetzten auf. Er gab erneut zu, Cannabis konsumiert zu haben.
8. Nach seinem zweiten Geständnis riet der Disziplinarvorgesetzte dem Beschwerdeführer, sich an die Vertrauensperson (siehe Rdnr. 27) zu wenden, um ihm Gelegenheit zu geben, die Vertrauensperson zu einer Äußerung in seinem Sinne zu bewegen. Der Disziplinarvorgesetzte wies den Beschwerdeführer auf sein Recht hin, der Beteiligung der Vertrauensperson am Verfahren zu widersprechen. Da der Beschwerdeführer nicht widersprach, bat der Disziplinarvorgesetzte auch die Vertrauensperson, mit dem Beschwerdeführer zu sprechen. Kurz darauf suchte der Beschwerdeführer die Vertrauensperson auf und berichtete ihr von den Hintergründen seines Drogenkonsums.
9. Nachdem der Wehrdisziplinaranwalt den Disziplinarvorgesetzten dazu aufgefordert hatte, wurde der Beschwerdeführer am 28. April 2009 erstmals über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt. Außerdem wurde er zu seinem Einverständnis mit der Akteneinsicht durch die Vertrauensperson befragt. Der Beschwerdeführer erklärte sich damit einverstanden, ohne einen Rechtsanwalt zu konsultieren.
10. Am 11. Mai 2009 wurde der Beschwerdeführer erstmals förmlich vernommen. Er sagte nicht aus. Am selben Tag wurde die Vertrauensperson vernommen und sagte zu den Äußerungen des Beschwerdeführers während ihres Gesprächs aus, da der Beschwerdeführer der Vernehmung der Vertrauensperson nicht widersprochen hatte (siehe Rdnr. 27).
11. Am 27. Mai 2009 wurde ein gerichtliches Disziplinarverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet. Die entsprechende Verfügung wurde dem Beschwerdeführer am 8. Juni 2009 ausgehändigt.
12. Am 7. Oktober 2009 legte die Wehrdisziplinaranwaltschaft dem Beschwerdeführer das Dienstvergehen der vorsätzlichen Verletzung seiner Dienstpflichten durch regelmäßigen Cannabiskonsum in der Zeit von 2002 bis 2009 zur Last.
13. Am 29. Juli 2010 sprach das Truppendienstgericht Nord den Beschwerdeführer eines Dienstvergehens gemäß § 23 Abs. 1 des Soldatengesetzes (SG; siehe Rdnr. 25) schuldig. Es verhängte ein Beförderungsverbot für die Dauer von dreißig Monaten und die Kürzung seiner Dienstbezüge um ein Zwanzigstel (d. h. um fünf Prozent) für die Dauer von zehn Monaten. Es hielt die Geldstrafe aus erzieherischen Gründen für notwendig, da der Beschwerdeführer keine realistische Aussicht auf eine Beförderung habe (siehe Rdnr. 25).
14. Der Beschwerdeführer schwieg in dem Verfahren vor dem Truppendienstgericht. Das Gericht stützte seine Feststellungen daher auf das Ergebnis des Drogentests und insbesondere auf die Aussagen des Disziplinarvorgesetzten des Beschwerdeführers. Es betonte den Unterschied zwischen einem Straf- und einem Disziplinarverfahren und war der Auffassung, dass die Zulassung dieser Beweismittel das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren nicht verletze. Es wies darauf hin, dass sich das Verfahren im Stadium einer disziplinarrechtlichen Ermittlung durch den Disziplinarvorgesetzten eines Soldaten befunden habe, als der Beschwerdeführer seinem Disziplinarvorgesetzten gegenüber am 20. März 2009 erstmals seinen Drogenkonsum gestanden habe, nachdem dieser ihn auf sein Schweigerecht hingewiesen habe; die Wehrdisziplinaranwaltschaft habe noch keine Vorermittlungen aufgenommen gehabt. Es war der Auffassung, dass ein Soldat erst nach der Aufnahme von Vorermittlungen über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt werden müsse. Daher könnten die durch das erste Geständnis des Beschwerdeführers vom 20. März 2009 erlangten Beweismittel zugelassen werden (siehe Rdnr. 4). Hingegen habe das zweite Geständnis des Beschwerdeführers vom 22. April 2009 (siehe Rdnr. 7) nicht zugelassen werden dürfen, da die Wehrdisziplinaranwaltschaft zuvor die Aufnahme von Vorermittlungen angeordnet habe, weshalb der Beschwerdeführer über sein Recht auf Verteidigerkonsultation zu belehren gewesen sei.
15. Am 28. Juni 2012 wies das Bundesverwaltungsgericht die Berufung des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Truppendienstgerichts Nord zurück. Es stellte fest, dass weder das erste Geständnis des Beschwerdeführers vom 20. März 2009, noch sein zweites Geständnis vom 22. April 2009, noch die Aussagen seines Disziplinarvorgesetzten bzw. dessen Vertreters, dem gegenüber er zu den genannten Terminen ein Geständnis abgelegt habe, als Beweismittel zugelassen werden dürften, da der Beschwerdeführer zuvor nicht über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt worden sei. Das Gericht führte aus, dass eine solche Belehrung, die in Verfahren zur Verhängung einer einfachen Disziplinarmaßnahme durch den Disziplinarvorgesetzten nicht erforderlich sei, für die Zulässigkeit von Beweismitteln in gerichtlichen Disziplinarverfahren hingegen stets erforderlich sei, um die Fairness des Verfahrens sicherzustellen.
16. Allerdings könne die Feststellung, dass der Beschwerdeführer in seiner Freizeit unter Verletzung seiner Dienstpflichten Cannabis konsumiert habe, nach Auffassung des Gerichts auf drei Beweismittel gestützt werden. Erstens auf die Aussage einer Zeugin, die bereits vor der Aufnahme eines Verfahrens von dem Drogenkonsum des Beschwerdeführers gewusst habe. Zweitens auf den Drogentest, dem der Beschwerdeführer nach der ersten Befragung durch den Disziplinarvorgesetzten am 20. März 2009 zugestimmt habe. Allerdings merkte das Gericht an, dass die Ärztin, die den Test durchgeführt habe, darauf hingewiesen habe, dass das positive Ergebnis auch durch passives Cannabisrauchen habe verursacht werden können und für sich genommen nicht als Beweis für einen Cannabiskonsum des Beschwerdeführers ausreiche. Und drittens auf die Aussage der Vertrauensperson über ihr Gespräch mit dem Beschwerdeführer.
17. Das Gericht stellte fest, dass sie kein Zeugnisverweigerungsrecht habe. Vertrauenspersonen würden nicht zu dem in §§ 53 oder 53a StPO (siehe Rdnr. 28) genannten Personenkreis gehören, der aus beruflichen Gründen das Zeugnis verweigern könne. Nach der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte sei diese Bestimmung nicht auf Personal- und Betriebsräte auszudehnen und es gebe keinen Grund, die Vertrauensperson besserzustellen als diese Personen. Auch aus § 54 StPO (siehe Rdnr. 28) ergebe sich kein Zeugnisverweigerungsrecht, da für die Vertrauensperson nach der geltenden Innendienstordnung für die Bundeswehr eine Aussagegenehmigung für Aussagen vor den Wehrdienstgerichten bestehe.
18. Das Bundesverwaltungsgericht stellte ferner fest, dass die Vernehmung der Vertrauensperson als Zeuge nicht gegen § 136a StPO (siehe Rdnr. 28) verstoße. Die Tatsache, dass der Disziplinarvorgesetzte des Beschwerdeführers diesem geraten habe, das Gespräch mit der Vertrauensperson zu suchen, stelle keine „Täuschung“ im Sinne von § 136a StPO dar. Als er seinen Ratschlag erteilt habe, sei sich der Disziplinarvorgesetzte nicht bewusst gewesen, dass die Vertrauensperson in einem Gerichtsverfahren gegen den Beschwerdeführer als Zeuge vernommen werden könnte, und er habe den Beschwerdeführer hinsichtlich der fehlenden Vertraulichkeit seiner Aussagen gegenüber der Vertrauensperson nicht täuschen wollen. Es sei kein Druck auf den Beschwerdeführer ausgeübt worden, der Vertrauensperson gegenüber seinen Drogenkonsum zu gestehen. Unter Bezugnahme auf § 27 des Soldatinnen- und Soldatenbeteiligungsgesetzes (SBG; siehe Rdnr. 27) berücksichtigte das Gericht, dass der Vertrauensperson in Disziplinarverfahren eine neutrale Rolle zukomme, die nicht mit der eines im Namen des beschuldigten Soldaten handelnden Verteidigers zu vergleichen sei. Die Absicht hinter dem Ratschlag an den Beschwerdeführer, mit der Vertrauensperson zu sprechen, sei vielmehr gewesen, ihm Gelegenheit zu geben, die Vertrauensperson zu einer Äußerung in seinem Sinne zu bewegen.
19. Darüber hinaus stehe auch § 8 SBG einer Vernehmung der Vertrauensperson als Zeuge nicht entgegen. Das Bundesverwaltungsgericht verwies darauf, dass die Vertrauensperson nach dieser Bestimmung zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten verpflichtet sei und der deutsche Gesetzgeber grundsätzlich zwischen der Verpflichtung, die Verschwiegenheit zu bewahren, und dem Zeugnisverweigerungsrecht differenziere, und stellte fest, dass die Gerichte nicht Dritter im Sinne dieser Norm seien, die darüber hinaus kein Zeugnisverweigerungsrecht vorsehe. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Begriff „Vertrauensperson“. Der Begriff bringe zum Ausdruck, dass die Vertrauensperson von den Soldaten gewählt worden sei und damit das Vertrauen der Mehrzahl der Wähler genieße und dass es ihre Aufgabe sei, deren Interessen zu vertreten. Er impliziere nicht, dass eines Vergehens beschuldigte Soldaten uneingeschränkt auf die Verschwiegenheit der verfahrensbeteiligten Vertrauensperson vertrauen könnten. Vielmehr gehe aus § 27 Abs. 2 SBG hervor, dass die Vertrauensperson in gerichtlichen Disziplinarverfahren unabhängig agiere und ihre Aufgabe darin bestehe, eine „Kameradensicht“ zu vermitteln, die eine sachgerechte Ermessensausübung ermögliche. Die Interessen des beschuldigten Soldaten seien durch sein Recht, der Beteiligung der Vertrauensperson an dem gerichtlichen Disziplinarverfahren vor dessen Einleitung zu widersprechen, hinreichend geschützt. §§ 8 und 27 Abs. 2 SGB gäben dem beschuldigten Soldaten kein Recht zum nachträglichen Widerspruch gegen eine Zeugenvernehmung der Vertrauensperson zu einem späteren Zeitpunkt.
20. Das Bundesverwaltungsgericht befand ferner, dass es auch nicht gegen das Verfassungsrecht verstoße, dass die Aussage der Vertrauensperson als Beweismittel zugelassen worden sei. Das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz seiner Persönlichkeitsrechte und sein Recht auf ein faires Verfahren seien nicht verletzt worden, da er sich, wenn auch auf Anraten seines Disziplinarvorgesetzten, freiwillig dazu entschlossen habe, die Vertrauensperson über seinen Drogenkonsum zu informieren. Er sei sich auch darüber im Klaren gewesen, dass er rechtlich nicht dazu verpflichtet gewesen sei, mit der Vertrauensperson zu sprechen. Darüber hinaus hätten weder der Disziplinarvorgesetzte noch die Vertrauensperson dem Beschwerdeführer gegenüber behauptet, dass die Vertrauensperson diese Informationen vertraulich behandeln würde. Vielmehr sei der Beschwerdeführer wiederholt gefragt worden, ob er der Beteiligung der Vertrauensperson an dem Disziplinarverfahren widerspreche, und er habe sich gegen einen Widerspruch entschieden. Daher habe er nicht darauf vertrauen können, dass der Inhalt seiner Äußerungen gegenüber der Vertrauensperson vertraulich bleibe.
21. Das Gericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer vor seinen Äußerungen gegenüber der Vertrauensperson seinen Drogenkonsum bereits gegenüber seinem Disziplinarvorgesetzten und dessen Vertreter gestanden habe, ohne über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt worden zu sein. Es erkannte an, dass der Beschwerdeführer sich daher möglicherweise zu dem Gespräch mit der Vertrauensperson entschlossen habe, weil er geglaubt habe, eine frühere Selbstbelastung nicht mehr aus der Welt schaffen zu können. Die Vertrauensperson habe ihn nicht darüber belehrt, dass keine seiner früheren Geständnisse als Beweismittel gegen ihn verwendet werden könne (sogenannte qualifizierte Belehrung). Allerdings könne das Gespräch des Beschwerdeführers mit der Vertrauensperson nicht mit der Vernehmung eines Beschuldigten verglichen werden, weil es keine Ermittlungen zur Sache bezweckt habe. Da die Vertrauensperson daher nicht verpflichtet gewesen sei, den Beschwerdeführer darüber zu belehren, dass sie in dem Gerichtsverfahren als Zeuge vernommen werden könnte, sei sie noch weniger zu einer qualifizierten Belehrung des Beschwerdeführers verpflichtet gewesen.
22. Schließlich stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass durch die Zulassung der Aussage der Vertrauensperson als Beweismittel das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren nach Artikel 6 der Konvention nicht verletzt worden sei, wobei es darauf hinwies, dass es dahinstehen könne, ob das in Rede stehende Disziplinarverfahren unter den strafrechtlichen oder den zivilrechtlichen Aspekt der Bestimmung falle. Es stellte fest, dass Artikel 6 der Konvention keine Regeln über die Zulassung von Beweismitteln an sich festlege, die daher in erster Linie durch das nationale Recht zu regeln sei; die zu klärende Frage sei, ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise, wie die Beweise erlangt wurden, fair gewesen sei. Unter Bezugnahme unter anderem auf das Urteil in der Rechtssache Bykov ./. Russland [GK] (Individualbeschwerde Nr. 4378/02, Rdnr. 92, 10. März 2009) wies es darauf hin, dass bei der Prüfung, ob in einem Prozess der Wesensgehalt der Selbstbelastungsfreiheit verletzt worden sei, die Art und das Ausmaß des Zwangs, alle vorhandenen prozessualen Schutzvorkehrungen und die Verwendung jedes derart erlangten Materials zu untersuchen seien. Der Beschwerdeführer habe freiwillig mit der Vertrauensperson gesprochen, sein Geständnis sei ihm nicht durch eine Täuschung entlockt worden und es sei kein Zwang oder Druck ausgeübt worden. Das Gericht stellte auch fest, dass der Beschwerdeführer seine Argumente gegen eine Zulassung der Aussage der Vertrauensperson als Beweismittel vor den innerstaatlichen Gerichten habe vortragen und ihr bei der Berufungshauptverhandlung Fragen habe stellen können. Es betonte, dass die Aussage der Vertrauensperson nicht das einzige verwertete Beweismittel sei und dass die drei verwerteten Beweismittel inhaltlich übereinstimmten, und kam zu dem Schluss, dass das Verfahren insgesamt nicht unfair gewesen sei.
23. Am 30. Juli 2012 legte der Beschwerdeführer beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein.
24. Am 15. Oktober 2014 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Entscheidung anzunehmen (2 BvR 2258/12). Die Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer am 23. Oktober 2014 zugestellt.
B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis
25. Nach § 23 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz, SG) stellte es ein Dienstvergehen dar, wenn ein Soldat schuldhaft seine Pflichten verletzte. Nach Nr. 404 der Innendienstverordnung für die Bundeswehr (Zentrale Dienstvorschrift) 10/5 war der Konsum von Betäubungsmitteln im und außer Dienst verboten und disziplinar zu würdigen. Nach der ständigen Rechtsprechung der innerstaatlichen Gerichte würde der Konsum von Betäubungsmitteln normalerweise durch ein Beförderungsverbot oder, in schwerwiegenden Fällen, durch eine Dienstgradherabsetzung sanktioniert werden (siehe Bundesverwaltungsgericht, 2 WD 44/09, Urteil vom 12. Oktober 2010). Nach § 58 Abs. 4 der Wehrdisziplinarordnung (WDO) kann neben dem Beförderungsverbot eine Kürzung der Dienstbezüge verhängt werden, wenn erkennbar ist, dass ein Beförderungsverbot keine Auswirkungen auf den weiteren dienstlichen Werdegang des Soldaten haben wird.
26. § 32 WDO sah vor, dass der Disziplinarvorgesetzte den Sachverhalt durch die erforderlichen Ermittlungen aufzuklären hatte, wenn Tatsachen bekannt wurden, die den Verdacht eines Dienstvergehens durch einen Soldaten rechtfertigten. Der Soldat war über die Ermittlungen zu unterrichten, sobald dies ohne Gefährdung des Ermittlungszwecks möglich war, und ihm war bei Beginn der ersten Vernehmung zu eröffnen, welche Pflichtverletzungen ihm zur Last gelegt wurden. Gleichzeitig war er darauf hinzuweisen, dass es ihm freistehe, nicht auszusagen. Entschied er sich zu einer Aussage, so musste er in dienstlichen Angelegenheiten die Wahrheit sagen. Ist die vorgeschriebene Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt worden, durfte die Aussage des Soldaten nicht zu seinem Nachteil verwertet werden. In Fällen, bei denen die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens geboten war, hatte der Disziplinarvorgesetzte die Sache an die Wehrdisziplinaranwaltschaft zu verweisen (§ 41). Nach § 91 Abs. 1 WDO waren auf gerichtliche Disziplinarverfahren ergänzend zu den Vorschriften der Wehrdisziplinarordnung die Vorschriften der Strafprozessordnung anzuwenden, soweit nicht die Eigenart des gerichtlichen Disziplinarverfahrens entgegenstand.
27. Der Status der Vertrauensperson einschließlich des Wahlmodus, ihrer Zuständigkeiten und Befugnisse und ihrer Rolle innerhalb der Hierarchie waren im Soldatinnen- und Soldatenbeteiligungsgesetz niedergelegt. Zur maßgeblichen Zeit sah dieses Gesetz, das zwischenzeitlich geändert wurde, vor, dass die Vertrauensperson von Wählergruppen für einen Zeitraum von zwei Jahren gewählt wurde. Ihre Aufgabe war es, zur verantwortungsvollen Zusammenarbeit zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sowie zur Festigung des kameradschaftlichen Vertrauens beizutragen. Die Vertrauensperson und der Disziplinarvorgesetzte arbeiteten im Interesse der Soldaten und der Streitkräfte eng zusammen. Die Vertrauensperson war über Maßnahmen, die in ihren Aufgabenbereich fielen, zu unterrichten und anzuhören und hatte unter bestimmten Umständen ein Vorschlagsrecht gegenüber dem Disziplinarvorgesetzten. In alltäglichen Dienstangelegenheiten war sie anzuhören und in einer Vielzahl von Personalangelegenheiten sollte sie angehört werden. Konnte keine Einigung erzielt werden, bestand die Möglichkeit, die Angelegenheit an einen höheren Vorgesetzten zu verweisen. Die Vertrauensperson war auch mit der Personalfürsorge betraut und bot Soldaten, soweit erforderlich, Beratung an. Zur maßgeblichen Zeit war die Vertrauensperson nach § 8 Abs. 1, der mittlerweile geändert wurde, im Hinblick auf Tatsachen und Angelegenheiten, über die sie in Ausübung ihrer Aufgaben Kenntnis erlangt hat, zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten verpflichtet. § 27 Abs. 2 sah zu der Zeit vor, dass die Vertrauensperson im Hinblick auf den in Rede stehenden Soldaten und Sachverhalt anzuhören war, wenn ein gerichtliches Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet werden sollte, es sei denn, der Soldat widersprach einer solchen Anhörung. Diese Anhörung sollte sicherstellen, dass die Interessen des Soldaten vor der Entscheidung über die Eröffnung eines gerichtlichen Verfahrens gegen ihn Berücksichtigung fanden (siehe Bundesverwaltungsgericht, 2 WDB 1/98, Beschluss vom 31. August 1998). Nach § 27 Abs. 4 war über die Anhörung ein Protokoll anzufertigen, das zu den Akten zu nehmen war.
28. Die maßgeblichen Vorschriften der Strafprozessordnung lauten, soweit maßgeblich, wie folgt:
§ 53 [Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger]
„(1) Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt
1. Geistliche über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
2. Verteidiger des Beschuldigten über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist;
3. Rechtsanwälte […], Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater und Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte, Psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Apotheker und Hebammen über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist […];
3b. Berater für Fragen der Betäubungsmittelabhängigkeit in einer Beratungsstelle, die eine Behörde oder eine Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt oder bei sich eingerichtet hat, über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder bekanntgeworden ist; […]
§ 53a [Zeugnisverweigerungsrecht der Berufshelfer]
(1) Den in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 Genannten stehen ihre Gehilfen und die Personen gleich, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der berufsmäßigen Tätigkeit teilnehmen. […]
§ 54 [Aussagegenehmigung für Angehörige des öffentlichen Dienstes]
(1) Für die Vernehmung von Richtern, Beamten und anderen Personen des öffentlichen Dienstes als Zeugen über Umstände, auf die sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, und für die Genehmigung zur Aussage gelten die besonderen beamtenrechtlichen Vorschriften. […]
§ 136a [Verbotene Vernehmungsmethoden]
(1) Die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten darf nicht beeinträchtigt werden durch Mißhandlung, durch Ermüdung, durch körperlichen Eingriff, durch Verabreichung von Mitteln, durch Quälerei, durch Täuschung oder durch Hypnose. […]
(3) Das Verbot der Absätze 1 und 2 gilt ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Beschuldigten. Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, dürfen auch dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte der Verwertung zustimmt.“
RÜGE
29. Der Beschwerdeführer rügte nach Artikel 6 Abs. 1 und 3 der Konvention, dass das Disziplinarverfahren gegen ihn unfair gewesen sei, da die Aussage der Vertrauensperson zugelassen worden sei, obwohl er vor seinem Geständnis gegenüber der Vertrauensperson nicht über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt worden sei.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
30. Der Beschwerdeführer trug vor, dass seine Rechte aus Artikel 6 Abs. 1 und 3 der Konvention erstens dadurch verletzt worden seien, dass ihm im Anfangsstadium des Disziplinarverfahrens, das von seinem Disziplinarvorgesetzten durchgeführt worden sei, kein Verteidiger zur Seite gestanden habe. Zweitens seien diese Rechte verletzt worden, weil sein Disziplinarvorgesetzter ihm geraten habe, mit der Vertrauensperson zu sprechen, die ihn weder über sein Schweigerecht noch über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt habe. Unter Bezugnahme auf Stojkovic ./. Frankreich und Belgien (Individualbeschwerde Nr. 25303/08, 27. Oktober 2011) brachte er vor, dass sein Gespräch mit der Vertrauensperson, die – wie er behauptete – auf Anweisung seines Disziplinarvorgesetzten gehandelt habe, einer offiziellen Befragung geglichen habe. Die Aussage der Vertrauensperson hätte nicht als Beweismittel zugelassen werden dürfen, da der Beschwerdeführer die berechtigte Erwartung gehabt habe, dass seine dieser gegenüber getätigten Äußerungen vertraulich bleiben würden. Das Bundesverwaltungsgericht, das sich als erstes auf die Aussage der Vertrauensperson berufen habe, habe seinen dort erklärten Widerspruch gegen die Zulassung des Beweismittels zu Unrecht als verspätet zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass er nicht eines Dienstvergehens schuldig gesprochen worden wäre, wenn die Aussage der Vertrauensperson nicht zugelassen worden wäre, da die anderen herangezogenen Beweismittel seine Schuld nicht hinreichend begründen würden.
31. Artikel 6 der Konvention lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:
„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. […]
(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: […]
b) ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
c) sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen […]“
32. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Aspekts von Artikel 6 der Konvention weist der Gerichtshof erneut darauf hin, dass der Begriff „strafrechtliche Anklage“ in seiner Bedeutung „autonom“ und von den Kategorien, die in den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verwendet werden, unabhängig ist und dass er in seiner Rechtsprechung drei Kriterien festgesetzt hat, die allgemein als „Engel-Kriterien“ bekannt sind (siehe Engel u. a. ./. die Niederlande, 8. Juni 1976, Reihe A Band 22) und die bei der Entscheidung über das Vorliegen einer „strafrechtlichen Anklage“ zu berücksichtigen sind (siehe Sergey Zolotukhin ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 14939/03, Rdnr. 53, ECHR 2009). Das erste Kriterium ist die rechtliche Einordnung des Verstoßes nach innerstaatlichem Recht, das zweite die Natur des Vergehens und das dritte die Art und Schwere der angedrohten Strafe. Die Kriterien zwei und drei gelten alternativ und nicht zwangsläufig kumulativ. Dies schließt allerdings eine kumulative Herangehensweise nicht aus, wenn eine getrennte Bewertung der einzelnen Kriterien kein eindeutiges Urteil hinsichtlich des Bestehens einer strafrechtlichen Anklage erlaubt (ebenda).
33. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer wegen einer schuldhaften Verletzung seiner Pflichten als Soldat sanktioniert wurde, bei der es sich ihrer Natur nach um eine Ordnungswidrigkeit und nicht um eine Straftat handelte und die im innerstaatlichen Recht auch so eingeordnet wurde. Auch wenn es sich bei dem dieser Ordnungswidrigkeit zugrunde liegenden Verhalten des Beschwerdeführers – dem Drogenkonsum – gesamtgesellschaftlich um eine Straftat handelte und zunächst ein Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer eingeleitet wurde, wurde dieses kurz darauf eingestellt, da die Schuld des Beschwerdeführers als gering angesehen wurde und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bestanden habe (siehe Rdnr. 5). Der Gerichtshof stellt fest, dass die verhängte Sanktion auf eine vorläufige Schuldfeststellung gestützt wurde (Benham ./. Vereinigtes Königreich, 10. Juni 1996, Rdnr. 56, Reports of Judgments and Decisions 1996‑III). Allerdings ist er der Auffassung, dass die Strafe, die der Beschwerdeführer zu erwarten hatte, nämlich in erster Linie ein Beförderungsverbot und eine Kürzung der Dienstbezüge (siehe Rdnr. 25), milder war als eine Entlassung aus dem Wehrdienst und dass nicht einmal eine solche Entlassung als strafrechtliche Sanktion im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention anzusehen wäre (Suküt ./. Türkei (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 59773/00, 11. September 2007, mit weiteren Verweisen). Die innerstaatlichen Gerichte verhängten gegen den Beschwerdeführer ein Beförderungsverbot für dreißig Monate und die Kürzung seiner Dienstbezüge um fünf Prozent für die Dauer von zehn Monaten (siehe Rdnr. 13). Die Geldstrafe sollte eine erzieherische Wirkung entfalten, da der Beschwerdeführer keine realistische Aussicht auf eine Beförderung hatte (siehe Rdnr. 13). Vor diesem Hintergrund kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass der strafrechtliche Aspekt von Artikel 6 auf die vorliegende Rechtssache nicht anwendbar ist.
34. Im Hinblick auf den zivilrechtlichen Aspekt von Artikel 6 der Konvention hat der Gerichtshof bisher die Auffassung vertreten, dass es grundsätzlich keine Rechtfertigung dafür gibt, gewöhnliche arbeitsrechtliche Streitigkeiten, z. B. über Gehälter, Zulagen oder ähnliche Ansprüche, aufgrund des besonderen Verhältnisses zwischen dem betreffenden Beamten und dem fraglichen Staat von den Garantien des Artikels 6 auszuschließen. Dementsprechend wird angenommen, dass Artikel 6 anwendbar ist (Vilho Eskelinen u. a. ./. Finnland [GK], Individualbeschwerde Nr. 63235/00, Rdnr. 62, ECHR 2007‑II). In den Rechtssachen B. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 8453/04, Rdnrn. 38-39, 16. Juli 2009, und Vanjak ./. Kroatien (Individualbeschwerde Nr. 29889/04, Rdnrn. 31-33, 14. Januar 2010) hat der Gerichtshof festgestellt, dass Artikel 6 in seiner zivilrechtlichen Bedeutung auf die in Rede stehenden Disziplinarverfahren gegen die im Staatsdienst befindlichen Beschwerdeführer anwendbar war. In der vorliegenden Rechtssache hatte der Beschwerdeführer wie in der Rechtssache B. das Recht, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe vor zwei verwaltungsgerichtlichen Instanzen anzufechten. Die deutsche Rechtsordnung sicherte also das „Recht des Beschwerdeführers auf ein Gericht“, bei dem das Recht auf Zugang nur einen Aspekt darstellt. Daraus folgt, dass Artikel 6 in seiner zivilrechtlichen Bedeutung, also im Hinblick auf die verschiedenen darin enthaltenen Garantien, auf das in Rede stehende Disziplinarverfahren anwendbar ist (siehe Baka ./. Ungarn [GK], Individualbeschwerde Nr. 20261/12, Rdnr. 106, ECHR 2016).
35. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Bestimmungen aus Artikel 6 Abs. 2 und 3 zwar auch außerhalb der engen Grenzen des Strafrechts eine gewisse Bedeutung haben, insbesondere im Hinblick auf Disziplinarverfahren, die unter den zivilrechtlichen Aspekt von Artikel 6 Abs. 1 fallen (siehe Albert und Le Compte ./. Belgien, 10. Februar 1983, Rdnr. 39, Serie A Band 58), die innerstaatlichen Gerichte aber einen „größeren Spielraum“ haben, wenn sie mit Fällen befasst sind, bei denen es um zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen geht, da die Erfordernisse aus Artikel 6 Abs. 1 in diesen Fällen weniger streng sind (McKevitt und Campbell ./. Vereinigtes Königreich (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 61474/12 und 62780/12, Rdnr. 60, 6. September 2016, mit weiteren Verweisen). Artikel 6 stellt keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweismitteln als solche auf; diese richtet sich in erster Linie nach dem innerstaatlichen Recht (Bykov ./. Russland [GK], Individualbeschwerde Nr. 4378/02, Rdnr. 88, 10. März 2009). Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, zu entscheiden, ob bestimmte Beweismittel zulässig sind, sondern ob das Verfahren insgesamt, einschließlich der Art und Weise, wie die Beweise erlangt wurden, fair war. Bei der Entscheidung darüber, ob das Verfahren insgesamt fair war, ist zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte, die Beweismittel anzufechten und ihrer Verwertung zu widersprechen. Was das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit anging, waren bei der Prüfung, ob deren Wesensgehalt in einem Prozess verletzt wurde, die Art und das Ausmaß des Zwangs, alle vorhandenen prozessualen Schutzvorkehrungen und die Verwendung jedes derart erlangten Materials zu untersuchen (ebenda, Rdnrn. 89, 90 und 92).
36. Der Gerichtshof stellt fest, dass die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Beschwerdeführer in seiner Freizeit unter Verletzung seiner Dienstpflichten Cannabis konsumiert habe, auf die Aussage einer Zeugin, die bereits vor der Aufnahme eines Verfahrens von dem Drogenkonsum des Beschwerdeführers gewusst habe, auf das Ergebnis des Drogentests und auf die Aussage der Vertrauensperson über ihr Gespräch mit dem Beschwerdeführer gestützt wurde (siehe Rdnr. 16). Es befand, dass weder das erste Geständnis des Beschwerdeführers vom 20. März 2009 noch sein zweites Geständnis vom 22. April 2009 als Beweismittel zugelassen werden dürfe. Soweit der Beschwerdeführer gerügt hat, dass ihm im Anfangsstadium des Disziplinarverfahrens, das von seinem Disziplinarvorgesetzten durchgeführt worden sei, kein Verteidiger zur Seite gestanden habe, stellt der Gerichtshof fest, dass das einzige vom Bundesverwaltungsgericht in Bezug genommene Beweismittel, bei dem dieser Aspekt zum Tragen kommen könnte, die Aussage der Vertrauensperson war.
37. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer nicht über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt wurde, bevor er entschied, mit der Vertrauensperson zu sprechen und ihr gegenüber seinen Drogenkonsum zu gestehen.
38. Der Gerichtshof stellt jedoch fest, dass die Vertrauensperson erstmalig am 11. Mai 2009 vernommen wurde und der Beschwerdeführer der Beteiligung der Vertrauensperson an dem Verfahren nicht widersprochen hat, nachdem er am 28. April 2009 über sein Recht auf Verteidigerkonsultation belehrt worden war (siehe Rdnrn. 9 und 10). Darüber hinaus hatte er die Möglichkeit, die Zulässigkeit der Aussage der Vertrauensperson als Beweismittel anzufechten, und im Gegensatz zu den innerstaatlichen Gerichten in der Rechtssache Vanjak (a. a. O., Rdnrn. 59-61) hat das Bundesverwaltungsgericht ausführlich und substantiiert begründet, warum die Aussage – sowohl nach innerstaatlichem Recht als auch nach der Konvention – zulässig sei (siehe Rdnrn. 17-22). Des Weiteren konnte der Beschwerdeführer die Vertrauensperson vor dem Bundesverwaltungsgericht mit Hilfe seines Verteidigers als Zeuge vernehmen (vgl. und im Gegensatz dazu Vanjak, a. a. O., Rdnrn. 51-56).
39. Was die Umstände des Geständnisses des Beschwerdeführers gegenüber der Vertrauensperson angeht, bezweifelt der Gerichtshof, dass davon ausgegangen werden kann, dass der Beschwerdeführer die Vertrauensperson freiwillig über seinen Drogenkonsum informiert hat (siehe Rdnr. 20), da er sich nicht bewusst war, dass die Vertrauensperson in einem gerichtlichen Verfahren gegen ihn als Zeuge vernommen werden könnte. Nichtsdestotrotz stellt der Gerichtshof fest, dass der Beschwerdeführer weder rechtlich verpflichtet war, mit ihr zu sprechen, noch unter Druck gesetzt wurde, dies zu tun oder gar seinen Drogenkonsum zu gestehen (siehe Bykov, a. a. O., Rdnr. 102). Obgleich dem Beschwerdeführer von seinem Disziplinarvorgesetzten geraten wurde, mit der Vertrauensperson zu sprechen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass sich die vorliegende Rechtssache von der Rechtssache Stojkovic (a. a. O.) unterscheidet, bei der der Beschwerdeführer verdächtigt wurde, an einer Straftat beteiligt gewesen zu sein, und auf Antrag des Ermittlungsrichters polizeilich vernommen wurde. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass das Bundesverwaltungsgericht befunden hat, dass sich der Disziplinarvorgesetzte, als er ihm zum Gespräch mit der Vertrauensperson geraten habe, nicht bewusst gewesen sei, dass die Vertrauensperson in einem Gerichtsverfahren gegen den Beschwerdeführer als Zeuge vernommen werden könnte, und dass er den Beschwerdeführer hinsichtlich der fehlenden Vertraulichkeit seiner Aussagen nicht habe täuschen wollen (siehe Rdnr. 18).
40. Darüber hinaus wurde gegen den Beschwerdeführer lediglich ein Disziplinarverfahren geführt, das unter den zivilrechtlichen Aspekt von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fällt (siehe Rdnr. 34). Das Bundesverwaltungsgericht vertrat die Auffassung, dass die Rolle der Vertrauensperson im Wesentlichen der eines Personalvertreters gleichkomme (siehe Rdnrn. 18-19 und 27) und dass das Gespräch zwischen dem Beschwerdeführer und der Vertrauensperson keine Ermittlungen zur Sache bezweckt habe (siehe Rdnr. 21). Auch wenn das richtig ist, stellt der Gerichtshof fest, dass die Aussage der Vertrauensperson ein wichtiges Beweismittel dafür war, den Beschwerdeführer eines Dienstvergehens schuldig zu sprechen, und sich demnach nachteilig auf ihn auswirkte. Das veranschaulicht die Ambiguität und das Dilemma der Rolle der Vertrauensperson in gerichtlichen Disziplinarverfahren gegen Soldaten.
41. Soweit der Beschwerdeführer geltend gemacht hat, dass er die berechtigte Erwartung gehabt habe, dass seine gegenüber der Vertrauensperson getroffenen Äußerungen vertraulich bleiben würden, stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesverwaltungsgericht dieses Argument ausführlich geprüft hat. Es befand, dass die Vertrauensperson zur Verschwiegenheit gegenüber Dritten verpflichtet, nach innerstaatlichem Recht aber nicht berechtigt sei, vor Gericht die Aussage zu verweigern, und dass der Begriff „Vertrauensperson“ nicht impliziere, dass eines Vergehens beschuldigte Soldaten uneingeschränkt auf die Verschwiegenheit der verfahrensbeteiligten Vertrauensperson vertrauen könnten, da die Rolle der Vertrauensperson in gerichtlichen Disziplinarverfahren darin bestehe, eine „Kameradensicht“ zu vermitteln, die eine sachgerechte Ermessensausübung ermögliche (siehe Rdnr. 19). Es war auch der Auffassung, dass weder sein Disziplinarvorgesetzter noch die Vertrauensperson dem Beschwerdeführer gegenüber behauptet habe, dass die Vertrauensperson den Inhalt ihres Gesprächs vertraulich behandeln würde (siehe Rdnr. 20). Nichts habe den Beschwerdeführer davon abgehalten, sich diesbezüglich zu erkundigen, bevor er mit der Vertrauensperson gesprochen oder bevor er seinen Drogenkonsum gestanden habe.
42. Was das Vorbringen des Beschwerdeführers angeht, wonach das Bundesverwaltungsgericht seinen Widerspruch gegen die Zulassung der Aussage der Vertrauensperson zu Unrecht als verspätet zurückgewiesen habe, stellt der Gerichtshof fest, dass das Gericht die Rolle der Vertrauensperson in gerichtlichen Disziplinarverfahren analysiert und begründet hat, warum die Interessen des beschuldigten Soldaten durch sein Recht, der Beteiligung der Vertrauensperson an dem Verfahren vor dessen Einleitung zu widersprechen, hinreichend geschützt gewesen seien (siehe Rdnr. 19). Es erläuterte auch, warum die Vertrauensperson nicht zu einer qualifizierten Belehrung des Beschwerdeführers verpflichtet gewesen sei (Rdnr. 21). Der Gerichtshof nimmt dies zur Kenntnis, stellt aber auch fest, dass die Rechte eines beschuldigten Soldaten in Disziplinarverfahren wirksamer sichergestellt wären, wenn er darüber belehrt würde, dass Gespräche mit der Vertrauensperson nicht unbedingt vertraulich sind, da letztere in dem anschließenden gerichtlichen Verfahren als Zeuge vernommen werden könnte und Aussagen machen könnte, die für den Soldaten von Vor- oder Nachteil sein könnten. Eine derartige Vorabbelehrung würde es dem Soldaten erleichtern, eine fundierte Entscheidung darüber zu fällen, ob er sich in einem Gespräch mit der Vertrauensperson selbst belasten sollte und ob er der Beteiligung der Vertrauensperson an dem gerichtlichen Verfahren vor dessen Einleitung widersprechen sollte.
43. Da insbesondere das in Rede stehende Disziplinarverfahren unter den zivilrechtlichen Aspekt von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention fiel, die Aussage der Vertrauensperson nicht das einzige und entscheidende Beweismittel war, kein Zwang oder Druck ausgeübt wurde, keine Täuschung stattgefunden hat und der Beschwerdeführer die Zulässigkeit der Aussage der Vertrauensperson anfechten und sie vor dem Bundesverwaltungsgericht als Zeuge vernehmen konnte, stellt der Gerichtshof fest, dass das Verfahren insgesamt den Anforderungen an ein faires Verfahren nicht widersprochen hat.
44. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 20. April 2017.
Milan Blaško Erik Møse
Stellvertretender Sektionskanzler Präsident
Zuletzt aktualisiert am Dezember 5, 2020 von eurogesetze
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