Erinnerungsverfahren nach § 766 ZPO gehören zu den Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG und können bei einer unangemessenen Dauer einen Entschädigungsanspruch begründen

Gericht: KG Berlin 7. Zivilsenat
Entscheidungsdatum: 11.06.2021
Aktenzeichen: 7 EK 13/19
ECLI: ECLI:DE:KG:2021:0611.7EK13.19.00
Dokumenttyp: Urteil

Leitsatz

Erinnerungsverfahren nach § 766 ZPO gehören zu den Gerichtsverfahren im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG und können bei einer unangemessenen Dauer einen Entschädigungsanspruch begründen

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1. Von der Darstellung eines Tatbestandes wird gemäß §§ 201 Abs. 2 Satz 1 GVG, 313a Abs. 1 Satz 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgesehen.

Entscheidungsgründe

2. 1. Die erhobene Klage erweist sich bereits als unzulässig und ist deshalb abzuweisen.

3. a) Entgegen der Auffassung des Beklagten bleibt das Entschädigungsbegehren des Klägers allerdings nicht schon mangels einer Statthaftigkeit erfolglos, weil das vorliegende Ausgangsverfahren, dessen unangemessene Dauer im Sinne des § 198 Abs. 1 GVG im Streit steht, nicht zu den nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierten Gerichtsverfahren gehören würde. Soweit nach der zitierten Vorschrift ein Gerichtsverfahren jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss einschließlich eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und zur Bewilligung von Prozess- und Verfahrenskostenhilfe ist und hiervon grundsätzlich nur Insolvenzverfahren nach deren Eröffnung ausgenommen werden, besteht vielmehr kein Zweifel daran, dass ein Erinnerungsverfahren nach § 766 Abs. 2 ZPO mit der nach § 764 ZPO gegebenen Entscheidungszuständigkeit des Vollstreckungsgerichts ein entschädigungsrechtlich bedeutsames Gerichtsverfahren darstellt. Ausschlaggebend für diese Annahme ist dabei der Umstand, dass das vollstreckungsrechtliche Erinnerungsverfahren vornehmlich auch unter dem Aspekt der Rechtmäßigkeitskontrolle von Gerichtsvollziehermaßnahmen Ausfluss des verfassungsrechtlich verbürgten Justizgewährleistungsanspruchs ist und insofern seinen Platz innerhalb eines gesetzlichen Systems von gerichtlichem Rechtsschutz hat (s. dazu etwa BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 2015 – 1 BvR 625/15, NJW 2015, 3432; kursorisch auch Herget in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 766 Rn. 1). Ausgehend von der Entstehung der Entschädigungsregelung nach § 198 GVG, die auf den aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Anspruch des Einzelnen auf eine Durchführung gerichtlicher Verfahren innerhalb einer angemessenen Frist zurückgeht (grundlegend EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96, NJW 2001, 2694 [2697 f.]) und insofern eine mögliche, in Ansehung des Art. 41 EMRK der Wiedergutmachung dienende Reaktion auf eine Verletzung des Konventionsrechts darstellt (vgl. dazu vor allem EGMR, Urteil vom 2. September 2010 – 46344/06, NJW 2010, 3355 [3356]), erfasst die gesetzliche Bestimmung des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG insofern sämtliche Gerichtsverfahren, die der Justizgewährung dienen. Hiervon ist der nach § 766 Abs. 2 ZPO eröffnete gerichtliche Rechtsschutz insbesondere gegenüber der Weigerung eines Gerichtsvollziehers, titulierte Ansprüche im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen, nicht ausgenommen, zumal die unberechtigte Ablehnung einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme auf die Vereitelung eines im Regelfall vor einem Prozessgericht erstrittenen Rechts hinausliefe. Können aber unangemessene Verfahrensverzögerungen im Erkenntnisverfahren vor dem Prozessgericht zweifelsfrei Entschädigungsansprüche nach § 198 GVG begründen, so besteht kein nachvollziehbarer Grund dafür, die Entschädigungsfolgen auszuschließen, wenn es auf dem weiteren Weg zur Anspruchsdurchsetzung gleichsam zu Verzögerungen in einem die Zwangsvollstreckung betreffenden gerichtlichen Rechtsschutzverfahren kommt. Denn erst mit der tatsächlichen Realisierung eines Anspruchs, zu der der Anspruchsgläubiger im Falle der Leistungsverweigerung durch den Schuldner allein im Rahmen eines an rechtliche Voraussetzungen gebundenen staatlichen Vollstreckungsverfahrens gelangen kann, ist das Ziel der Justizgewährung erreicht, wozu die jeweils berufenen Gerichte in jeder Phase der Rechtsverfolgung den gesetzlich eröffneten Rechtsschutz innerhalb angemessener Fristen sicherzustellen haben. Deshalb kommt es abweichend vom Argumentationsansatz des Beklagten im gegebenen Zusammenhang auch nicht darauf an, ob in Gerichtsverfahren, auf die sich die Vorschrift des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG bezieht, über einen „Streitgegenstand“ entschieden wird. Für eine solche Deutung der Norm gibt schon deren Wortlaut nichts her. Soweit die gesetzliche Regelung das Gerichtsverfahren hingegen in der Weise beschreibt, dass dieses nach einer Einleitung zu einem rechtskräftigen Abschluss geführt werden kann, wird hiermit lediglich vorausgesetzt, dass derartige Verfahren mit dem Ziel der Herbeiführung einer der formellen Rechtskraft fähigen Entscheidung betrieben werden. Entscheidungen des Vollstreckungsgerichts über Erinnerungen nach § 766 ZPO, gegen die nach Maßgabe des § 793 ZPO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde statthaft ist, sind insofern ungeachtet der Frage, inwieweit ihnen ein Streitgegenstand zugrunde liegt, jedoch der formellen Rechtskraft fähig (vgl. etwa Herget, aaO, § 766 Rn. 59; Lackmann in Musielak/Voit, ZPO, 18. Aufl. 2021, § 766 Rn. 32; K. Schmidt/Brinkmann in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 766 Rn. 59). Aus den angeführten Gründen wird infolgedessen das Erinnerungsverfahren nach § 766 ZPO von der Vorschrift des § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG erfasst (im Ergebnis ebenso Jacobs in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2020, § 198 GVG Rn. 15; Ott in Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG Rn. 43; für das Ordnungsmittelverfahren nach §§ 86, 89 FamFG vgl. auch BGH, Urteil vom 13. April 2017 – III ZR 277/16, MDR 2017, 702).

4. b) Die Klage erweist sich jedoch deshalb als unzulässig, weil der Kläger nicht zu den klageberechtigten Beteiligten im Sinne des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG gehört. Von der Klageberechtigung ausgenommen sind danach nämlich Träger öffentlicher Verwaltung oder sonstige öffentliche Stellen, soweit diese nicht in Wahrnehmung eines Selbstverwaltungsrechts an einem Verfahren beteiligt sind. Dabei ist die Ausnahme von dem grundsätzlichen Ausschluss der öffentlichen Hand in einem Entschädigungsprozess wegen überlanger Dauer eines Gerichtsverfahrens auf den eng gefassten Fall begrenzt, dass in dem zugrunde liegenden Gerichtsverfahren das Selbstverwaltungsrecht des Trägers öffentlicher Verwaltung, zu denen der Kläger gemäß § 10 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über kommunale Gemeinschaftsarbeit im Land Brandenburg (GKGBbg) gehört und das ihm in Wahrnehmung seiner gesetzlich eröffneten Angelegenheiten in eigener Verantwortung gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 GKGBbg zusteht, selbst den Streitgegenstand des Ausgangsverfahrens bildet. Mit dieser Deutung der gesetzlichen Vorschrift schließt sich der Senat der Verwaltungsrechtsprechung an, die anhand mehrerer Streitfälle beispielhaft in dem Urteil des OVG Berlin-Brandenburg vom 1. Oktober 2019 – OVG 3 A 4.19 – (BeckRS 2019, 28560) seinen Ausgang genommen und in der korrespondierenden Revisionsentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2021 – 5 C 17.19 D – (Gründe noch unveröffentlicht) seinen Abschluss gefunden hat (vgl. ferner die Parallelentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2021 zu 5 C 15.19 D und 5 C 16.19 D). Diese aus der Systematik und der Entstehung des Gesetzes hergeleitete Sichtweise macht sich der Senat ohne weiteres zu eigen und nimmt zur weiteren Begründung vornehmlich auf die erwähnte, in ihrer Ausführlichkeit erschöpfende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg Bezug, ohne an dieser Stelle dem Kläger die ihm bereits bekannten Argumentationslinien in ihren Verästlungen erneut vor Augen zu führen. Käme eine Klageberechtigung des Klägers danach nur dann in Betracht, wenn dieser gegenüber dem Staat subjektive Rechte geltend machen würde, so liegt ein solcher, die Regel nach § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG durchbrechender Ausnahmefall im gegebenen Fall ersichtlich nicht vor. Vielmehr ist der Kläger im Ausgangssachverhalt als Träger öffentlicher Verwaltung auf dem Gebiet der öffentlichen Daseinsvorsorge tätig geworden und hat in diesem Rahmen einen Vollstreckungsbescheid des zuständigen Mahngerichts zwecks Durchsetzung eines Entgelts für Wasserlieferungen erwirkt, um letztlich die titulierte Geldforderung im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen. Dass der Kläger sich dieser Sichtweise verschlossen und zuletzt noch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat darauf beharrt hat, hat, ein gesetzliches Selbstverwaltungsrecht zum Gegenstand des bei einem Vollstreckungsgericht nachgesuchten gerichtlichen Rechtsschutzes gemacht zu haben, ist mithin ebenso unverständlich wie überhaupt sein mit der Entschädigungsklage unternommener, verfassungsrechtliche Treuepflichten verletzender Versuch, als öffentliche Stelle des Landes Brandenburg wegen der verzögerten Durchsetzung von Vollstreckungskosten in Höhe von 21,42 € von dem beklagten Land Berlin den Ausgleich eines aufgrund der Verzögerung behaupteten immateriellen Nachteils in Höhe von 1.500 € zu fordern. Die erhobene Klage ist daher abzuweisen.

5. 2. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 713 ZPO.

6. Ein Grund, die Revision zuzulassen, war im Übrigen nicht gegeben, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§§ 201 Abs. 2 GVG, 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Insbesondere hat die vorliegend für den Ausgang des Rechtsstreits maßgebliche Auslegung der Vorschrift des § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG bereits eine höchstrichterliche Klärung durch die oben zitierten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts erfahren.

Zuletzt aktualisiert am Juli 19, 2021 von eurogesetze

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