Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 2. Senat. Aktenzeichen: OVG 2 N 93/20

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 2. Senat
Entscheidungsdatum: 15.06.2021
Aktenzeichen: OVG 2 N 93/20
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0615.OVG2N93.20.00
Dokumenttyp: Beschluss

Zulassung der Berufung; ernstliche Richtigkeitszweifel; Erhaltungsrecht; Genehmigung; Genehmigungsfiktion; Sinn und Zweck; durchgeführtes Vorhaben; nachträgliches Genehmigungsverfahren; grundsätzliche Bedeutung; Klärungsbedürftigkeit

Verfahrensgang …
Tenor

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das ihm am 21. August 2020 und der Klägerin am 24. August 2020 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin wird abgelehnt.

Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt der Beklagte.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 15.000 Euro festgesetzt.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Das im Hinblick auf das Darlegungsgebot (vgl. § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) allein maßgebliche Vorbringen des Beklagten ergibt keinen der geltend gemachten Zulassungsgründe.

2. 1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Derartige Zweifel bestehen, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird und nicht nur die Begründung der angefochtenen Entscheidung oder nur einzelne Elemente dieser Begründung, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung derartigen Zweifeln unterliegt. Daran fehlt es.

3. Der Beklagte rügt, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass zugunsten der Klägerin wegen Überschreitens der Monatsfrist des § 22 Abs. 5 Satz 2 BauGB gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 22 Abs. 5 BauGB eine Genehmigungsfiktion eingetreten sei. Es habe verkannt, dass die Fiktionsfrist nicht gelte, weil das Bauvorhaben von der Klägerin unter Missachtung der Genehmigungspflicht bereits vor der Antragsstellung ausgeführt worden sei. Für eine Beschleunigung des Verfahrens bestehe insoweit kein anzuerkennendes Bedürfnis. Das Rechtsverständnis des Verwaltungsgerichts, wonach es für die Genehmigungsfiktion auf den Zeitpunkt der Antragstellung nicht ankomme, gehe an allen Regeln für eine sinnvolle Gesetzesauslegung vorbei. Es sei „eine zum Genehmigungsverfahren gehörende Selbstverständlichkeit“, dass die Antragstellung vor Baudurchführung zu erfolgen habe. Soweit bei der Auslegung der Norm außerdem die „Intentionen des Gesetzes“ zu berücksichtigen seien, seien diese leicht zu ermitteln, indem man sich die Situation in einer Ausschussberatung des Bundestags vorstelle. Auf die Frage, ob die Fiktionswirkung des § 22 Abs. 5 BauGB auch gelten solle, wenn das Vorhaben schon durchgeführt sei, hätte dies dort „kein Abgeordneter gleich welcher Fraktion oder der anwesende Minister“ bejaht. Denn § 173 Abs. 1 Satz 1 HS 2 BauGB bezwecke nur die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren von sich gesetzestreu verhaltenden Bauherren. Bei Schwarzbauten sei ein Beschleunigungsinteresse nicht anzuerkennen. Das isolierte Abstellen auf den Gesetzeswortlaut durch das Verwaltungsgericht sei unzureichend, zumal nachträgliche Genehmigungen einen höheren Zeitaufwand erforderten, eine Mieteranhörung nach § 173 Abs. 3 Satz 2 BauGB zu erfolgen habe und die Sanktionsmöglichkeiten durch ein Bußgeldverfahren im Falle eines Schwarzbaus unzureichend seien. Hiermit sind keine ernstlichen Richtigkeitszweifel dargetan.

4. § 173 Abs. 1 Satz 1 HS 2 BauGB bestimmt, dass im erhaltungsrechtlichen Genehmigungsverfahren die Sätze 2 bis 5 des § 22 Absatz 5 BauGB entsprechend anzuwenden sind. Gemäß § 22 Abs. 5 Satz 4 BauGB gilt die Genehmigung als erteilt, wenn sie nicht innerhalb der Genehmigungsfrist versagt wird (vgl. § 22 Abs. 5 Satz 2, Satz 3 BauGB). Nach den durch den Zulassungsantrag nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts war dies vorliegend der Fall. Die Ausführungen des Beklagten ergeben nicht, dass dieser Annahme eine rechtliche Fehlvorstellung zugrunde läge.

5. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht zunächst festgestellt, dass die Auffassung des Beklagten, § 173 Abs. 1 Satz 1 HS 2 i.V.m. § 22 Abs. 5 Satz 4 BauGB gelte nur bei noch nicht durchgeführten Vorhaben, im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze findet. Denn in der Norm ist lediglich allgemein von der beantragten Genehmigung die Rede, ohne dass Anforderungen an den Zeitpunkt der Antragstellung gestellt werden. Diesem Befund des Verwaltungsgerichts tritt der Zulassungsantrag dementsprechend auch nicht entgegen.

6. Der Hinweis des Beklagten, es sei eine zum Genehmigungsverfahren gehörende „Selbstverständlichkeit“, dass die Antragstellung vor Baudurchführung zu erfolgen habe, rechtfertigt nicht die Annahme, der Anwendungsbereich des § 173 Abs. 1 Satz 1 HS 2 i.V.m. § 22 Abs. 5 Satz 4 BauGB sei dahin beschränkt, dass er nur Genehmigungsanträge für noch zu verwirklichende Vorhaben erfasse. Nachträgliche Genehmigungsverfahren sind baurechtlich keine Seltenheit, nicht zuletzt deshalb, weil sich Bauherren der Genehmigungsbedürftigkeit ihrer Vorhaben gar nicht bewusst sind oder hierüber unterschiedliche Rechtsauffassungen bestehen. Dabei hat der Zeitpunkt der Antragstellung grundsätzlich keinen Einfluss auf den Ausgang des Genehmigungsverfahrens. Vielmehr besteht auf die Erteilung einer baurechtlichen Genehmigung regelmäßig ein Rechtsanspruch, wenn die Genehmigungsvoraussetzungen vorliegen. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass nachträgliche Genehmigungsverfahren generell zu missbilligen wären oder stets zum Nachteil des Bauherren ausgehen müssten, besteht nicht.

7. Auch das Vorbringen des Beklagten zu den „Intentionen des Gesetzes“ verhilft dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg. Was Abgeordnete oder Minister auf bestimmte Fragen in Ausschusssitzungen möglicherweise geantwortet hätten, ist unerheblich, weil es sich nicht verlässlich ermitteln lässt. Maßgeblich abzustellen ist bei der Gesetzesauslegung auf den dokumentierten gesetzgeberischen Willen sowie auf die Entstehungsgeschichte der Norm. Hierbei ist vorliegend festzustellen, dass § 173 Abs. 1 Satz 1 HS 2 BauGB durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien – EAG EE) vom 12. April 2011 (BGBl. I S. 619) in das Baugesetzbuch eingeführt worden ist und der Umsetzung dieser Richtlinie dient. In der Gesetzesbegründung heißt es zur Genehmigungsfiktion, dass die in § 172 BauGB für die Dauer der Erhaltungssatzung für bestimmte Grundstücke aus städtebaulichen Gründen angeordnete Genehmigungspflicht auch die Zulassung von Anlagen im Sinne des Artikels 13 Absatz 1 der Richtlinie 2009/28/EG betreffen könne, „insbesondere wenn die Anlage noch zu errichten“ sei oder die Nutzung entsprechend geändert werden solle. Mit der Einführung von Fristenregelungen und Genehmigungsfiktionen bei bestimmten städtebaulichen Genehmigungsverfahren würden die Anforderungen aus Artikel 13 Abs. 1 UA 2 Buchst. a der Richtlinie 2009/28/EG, transparente Zeitpläne zu bestimmen, und aus Artikel 13 Abs. 1 UA 2 Buchst. c der Richtlinie 2009/28/EG, Verwaltungsverfahren zu straffen und zu beschleunigen, umgesetzt. Die Änderungen kämen allen Antragstellern zugute, auch solchen, die nicht die Genehmigung von unter Artikel 13 Abs. 1 der Richtlinie 2009/28/EG fallenden Anlagen begehrten. Eine Ausnahme solcher Antragsteller von den neuen Fristregelungen sei weder sachlich gerechtfertigt noch aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität sinnvoll (vgl. BR-Drs. 647/10, S. 108 f.).

8. Vor diesem Hintergrund überzeugt die Auffassung des Beklagten, § 173 Abs. 1 Satz 1 HS 2 BauGB habe einen dahin eingeschränkten Anwendungsbereich, dass er nur Genehmigungsanträge für noch zu errichtende Vorhaben erfasse, nicht. Vielmehr lässt die Gesetzesbegründung erkennen, dass es bei der Einführung der Genehmigungsfiktion allgemein um die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben zur Straffung und Beschleunigung von Verwaltungsverfahren ging, dass hierbei alle Antragsteller gleichbehandelt werden sollten und – was durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebracht worden ist – hiervon nicht nur „noch zu errichten(de)“ Anlagen erfasst sein sollten. Angesichts dessen wird die tragende Annahme des Verwaltungsgerichts, der auf Verfahrensbeschleunigung gerichtete Zweck der Norm erfasse allgemein das Anliegen, „dem Bauherrn zügig Rechtssicherheit über ein von ihm zur Genehmigung gestelltes Bauprojekt“ zu geben, was auch nachträgliche Genehmigungsanträge einschließe, durch das Zulassungsvorbringen nicht schlüssig in Frage gestellt.

9. Die Hinweise des Beklagten auf den Arbeitsaufwand nachträglicher Genehmigungsanträge und das Erfordernis der Mieterbefragung vermögen hieran nichts zu ändern.

10. 2. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Wird die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend gemacht, so ist hierfür erforderlich, dass eine bisher weder höchstrichterlich noch obergerichtlich beantwortete konkrete und zugleich entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen und erläutert wird, warum sie über den Einzelfall hinaus bedeutsam ist und im Interesse der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf. Dies leistet das Zulassungsvorbringen nicht. Für die vom Beklagten formulierte Frage, „ob die Fiktionswirkung auch bei erst nach der Baudurchführung gestellten Anträgen“ eintrete, ist nicht dargetan, dass sie klärungsbedürftig wäre, weil sich die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Insoweit wird zur Begründung auf die obigen Ausführungen verwiesen.

11. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

12. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).

Zuletzt aktualisiert am Juli 19, 2021 von eurogesetze

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