VG Berlin 1. Kammer. Aktenzeichen: 1 L 353/21

Gericht: VG Berlin 1. Kammer
Entscheidungsdatum: 02.07.2021
Aktenzeichen: 1 L 353/21
ECLI: ECLI:DE:VGBE:2021:0702.1L353.21.00
Dokumenttyp: Beschluss

Tenor

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1. Der wörtliche Antrag des Antragstellers,

2. die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 1. Juli 2021 gegen sämtliche im Bescheid der Polizei Berlin vom 30. Juni 2021 verhängten Beschränkungen/Auflagen bezüglich der von ihm für den 3. Juli 2021 angemeldeten Versammlung wiederherzustellen,

3. hat keinen Erfolg.

4. Der Antrag ist unzulässig, soweit der Verfasser sich gegen den Passus im Bescheid der Polizei Berlin vom 30. Juni 2021 wendet, wonach im Rahmen der Versammlung durch geeignete Maßnahmen sichergestellt werden soll, dass der Versammlungsort nicht beschädigt und/oder verschmutzt wird und zudem darauf hingewiesen wird, dass anfallende Instandsetzungs- und/oder Reinigungskosten im Falle von Beschädigungen bzw. Verunreinigungen vom Baulastträger in Rechnung gestellt werden können. Dabei handelt es sich um einen bloßen Hinweis, gegen den mangels Verwaltungsaktqualität ein Widerspruch und damit einhergehend ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO nicht statthaft sind. Aus der gewählten Formulierung ergibt sich, dass es sich um eine keinen Grundrechtseingriff darstellende Maßnahme handelt, sondern um einen bloßen Hinweis auf die Rechtslage. Die allgemeine Verhaltensanweisung zielt nicht auf eine auf erkennbaren Umständen beruhende konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Auch textlich ist die wiedergegebene Passage deutlich abgesetzt von der auf der nachfolgenden Seite enthaltenen und ausdrücklich auf § 14 Abs. 1 VersFG BE gestützten und aus Gründen der öffentlichen Sicherheit verhängten Beschränkung des Lautstärkepegels.

5. Hinsichtlich der Beschränkung des Lautstärkepegels ist der Eilantrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Beschränkung des Lautstärkepegels ist aber unbegründet.

6. 1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Untersagung, während der Versammlung musikalische Beiträge abzuspielen und vorzutragen, genügt den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Die Vorschrift, nach der das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen ist, normiert formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsakts; ob die Erwägungen der Behörde auch inhaltlich zutreffen, ist im Rahmen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unbeachtlich. Die Begründung darf zwar nicht bloß formelhaft, sondern muss einzelfallbezogen sein. Allerdings belegen bei Maßnahmen der Gefahrenabwehr – zu denen auch der Erlass von Auflagen nach dem Versammlungsgesetz gehört (vgl. Beschluss der Kammer vom 5. Juni 2019, VG 1 L 179.19, juris, Rn. 35) – die den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigenden Gründe in der Regel zugleich die Dringlichkeit der Vollziehung (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Juni 2009 – OVG 1 S 97.09, juris, Rn. 3). Gemessen daran wird die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Begründung den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gerecht. Der Antragsgegner hat das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung damit begründet, dass wegen der begründeten unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Ausgang eines eventuellen Rechtsstreits nicht abgewartet werden könne. Bei unbeauflagter Durchführung der Versammlung bestünde eine erhebliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Versammlungsteilnehmer und unbeteiligter Dritter. Damit macht er sich die vorausgehende ausführliche Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles bei der Begründung der Beschränkung, einen Lautstärkepegel von maximal 90 dB(A) in einem Meter Abstand zum Lautsprecher nicht zu überschreiten, in zulässiger Weise umfassend zu Eigen. In ausreichendem Maße hat der Antragsgegner damit hinreichend deutlich und einzelfallbezogen zu erkennen gegeben, dass er sich des Ausnahmecharakters der Anordnung der sofortigen Vollziehung bewusst war.

7. 2. Das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Bescheides überwiegt das Interesse des Antragstellers, vorerst von der Vollziehung verschont zu bleiben. Denn die verhängte Beschränkung des Lautstärkepegels erweist sich bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen und allein gebotenen summarischen Prüfung als materiell rechtmäßig. Zudem besteht auch ein besonderes Vollziehungsinteresse.

8. Rechtsgrundlage der Untersagung ist § 14 Abs. 1 VersFG BE. Nach dieser Vorschrift kann die zuständige Behörde die Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel beschränken oder verbieten und die Versammlung nach deren Beginn auflösen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Maßnahme erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Die Vorschrift, die § 15 Abs. 1 VersammlG ersichtlich nachgebildet ist, setzt die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die sich namentlich aus der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben (siehe hierzu Gesetzesbegründung des Abgeordnetenhauses von Berlin, Drs. 18/2764, S. 39 f.), in Landesrecht um. Deshalb ist es zulässig, zur Auslegung des § 14 Abs. 1 VersFG BE auf die Literatur und Rechtsprechung zu § 15 Abs. 1 VersammlG zurückzugreifen.

9. Der Antragsgegner hat die Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 VersFG zu Recht bejaht. Der Antragsteller weist im Ausgangspunkt richtig darauf hin, dass das Selbstbestimmungsrecht des Anmelders einer Versammlung über Inhalt und Form der Versammlung grundsätzlich auch das Recht umfasst, technische Schallverstärker für Zwecke der Außenkommunikation einzusetzen. Das Wesen einer öffentlichen Versammlung besteht gerade in dem Bemühen, auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess einzuwirken. Das Versammlungsgrundrecht als Recht zur kollektiven Meinungskundgabe würde entwertet, wenn den Teilnehmern einer Versammlung die Wahrnehmbarkeit der Inhalte ihrer Versammlung durch Dritte, die an der Versammlung nicht selbst teilnehmen, verwehrt würde; die Meinungskundgabe setzt voraus, dass auch ein Kommunikations-Gegenüber vorhanden ist, dem die Teilnehmer etwas bekunden können (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. November 2008 – OVG 1 B 2.07, juris Rn. 47). Freilich ergibt sich daraus nicht, dass sich die Veranstalter entsprechender, auf Außenkommunikation angelegter Versammlungen stets und in beliebigem Umfange technischer Mittel zur Schallverstärkung bedienen dürften. Das den Grundrechtsträgern durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung ist – auch soweit es entsprechende außenkommunikative Anliegen dem Grunde nach einschließt – durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt; das Versammlungsgrundrecht umfasst nicht auch die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Kommt es zu Rechtsgüterkollisionen, ist das Selbstbestimmungsrecht des Versammlungsanmelders durch die Grundrechte anderer begrenzt mit der Folge, dass auch versammlungsrechtliche Auflagen zur Vermeidung bzw. Beherrschung dieser Rechtsgüterkollision zulässig sein können. Als potentiell kollidierende Rechtsgüter sind insbesondere die grundrechtlich relevanten Belange der Straßenverkehrsteilnehmer, Lärmschutzbelange von Anwohnern und Passanten sowie das Grundrecht der Passanten und anderer Dritter auf negative Meinungsfreiheit in den Blick zu nehmen (OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn 48).

10. Nach diesen Maßstäben erweist sich die Beschränkung als rechtmäßig. Sie gewährleistet eine praktische Konkordanz der widerstreitenden Interessen, insbesondere der vorrangig betroffenen Grundrechte, auf Seiten des Antragstellers die Versammlungsfreiheit, die nach dem Gesagten auch den Einsatz von Lautsprechern umfasst, und auf Seiten der Versammlungsteilnehmer, Polizisten, Anwohner, Passanten und anderer Dritter das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Die vom Antragsgegner getroffene Gefahrenprognose lässt eine Gefahrsituation im Sinne von § 14 Abs. 1 VersFG BE erkennen. Die mit dem Lautsprechereinsatz einhergehenden Gefahren durch den damit verbundenen Lärm liegen auf der Hand. Es erscheint bei summarischer Prüfung als sachgerecht und ohne Weiteres plausibel, dass sich der Antragsgegner insoweit als Richtschnur an den Immissionsrichtwerten der TA Lärm orientiert hat (Dürig-Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, Versammlungsrecht, 1. Auflage 2016, § 15 VersG, Rn. 107), zumal die Festsetzung eines Lautstärkepegels von 90 dB (A), gemessen in einem Meter Abstand von der Emissionsquelle, auch den Arbeitsschutzbestimmungen entspricht (Dürig-Friedl, a.a.O. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Demgegenüber bleiben die Belange der Versammlung angemessen gewährleistet. Der Antragsgegner hat den Einsatz von Lautsprechern nicht generell versagt, sondern als milderes Mittel eine Auflage gewählt, um den nach dem Vorstehenden bestehenden Gesundheitsgefahren zu begegnen. Es steht für das Gericht unter den hier gegebenen Umständen nicht in Frage, dass der Antragsteller auch unter Beachtung der Auflage seine Versammlung nicht nur intern organisieren, sondern auch potentiell Interessierte erreichen und über sein mit der Anmeldung zum Ausdruck gebrachtes Anliegen informieren kann. Gegenteiliges bringt der Antragsteller konkret nicht vor, vielmehr beschränkt er sich darauf, die mit dem Lautsprechereinsatz verbundenen Gesundheitsgefahren kleinzureden.

11. In Anbetracht der unmittelbar bevorstehenden Versammlung besteht im Interesse eines effektiven Gesundheitsschutzes der Versammlungsteilnehmer sowie der Allgemeinheit auch ein besonderes Vollziehungsinteresse.

12. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung auf §§ 39 ff., 52 f. GKG. Aufgrund der faktischen Vorwegnahme der Hauptsache ist eine Reduzierung auf den hälftigen Auffangstreitwert nicht angezeigt.

Zuletzt aktualisiert am Juli 19, 2021 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert