B.Z. ULLSTEIN GMBH GEGEN DEUTSCHLAND (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) Individualbeschwerde Nr. 43231/16

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
FÜNFTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 43231/16
X. GmbH
gegen Deutschland

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) hat in seiner Sitzung am 22. September 2020 als Kammer mit den Richterinnen und dem Richter

Ganna Yudkivska, Präsidentin,
Mārtiņš Mits und
Anja Seibert-Fohr
sowie Anne-Marie Dougin, amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin,

im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 20. Juli 2016 erhoben wurde,

nach Beratung wie folgt entschieden:

SACHVERHALT

1. Die Beschwerdeführerin, die X. GmbH, hat ihren Sitz in B. Vor dem Gerichtshof wurde sie von Herrn A., Rechtsanwalt in D., vertreten.

A. Die Umstände der Rechtssache

2. Der Sachverhalt, wie er von der Beschwerdeführerin vorgebracht worden ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Der Hintergrund der Rechtssache

3. Am frühen Morgen des 23. April 2011, griff P., der damals 18 Jahre alt war, in einer U-Bahn-Station einen Mann an und schlug ihm mit einer fast vollen Hartplastikflasche auf den Kopf. Als der Mann auf dem Boden lag, trat P. ihm mehrmals auf den Kopf, was ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zur Folge hatte. P. fügte auch einem anderen Mann, der dem Verletzten zu Hilfe geeilt war, Verletzungen zu. P. gelang es, unerkannt vom Tatort zu fliehen. Allerdings war der Vorfall von Überwachungskameras aufgenommen worden. Im Rahmen einer Öffentlichkeitsfahndung wurde die Aufnahme veröffentlicht und in den Massenmedien (z. B. Tagesschau, bild.de) gezeigt. P. stellte sich kurz darauf der Polizei.

4. Vor Beginn der Verhandlung untersagte das Landgericht B. den Medien, über das Verfahren in einer Weise zu berichten, die P. öffentlich identifizierbar gemacht hätte. Am 23. August 2011 begann die Verhandlung mit einem Geständnis des Angeklagten.

5. Am 24. August 2011 erschien ein Bericht über den ersten Verhandlungstag in einer der Beschwerdeführerin gehörenden Tageszeitung. Er enthielt mehrere Fotos: Ein verpixeltes Foto von P., das im Gericht aufgenommen worden war, ein Bild der Überwachungskamera, das zeigte, wie P. auf das Opfer eintrat, und ein unverpixeltes Portraitfoto aus unbekannter Quelle, auf dem P. identifizierbar war (Bildunterschrift: „Darum zeigt die Tageszeitung das Gesicht von Torben P.“). Im Begleittext stand, dass die Zeitung dem Gerichtsbeschluss Folge geleistet habe, um sicherzustellen, dass das Gericht den Journalisten der Zeitung nicht verbieten werde, die Verhandlung zu besuchen. Jedoch erläuterte die Zeitung, dass sie sich in Anbetracht des öffentlichen Interesses an P.s Identität dazu entschlossen habe, ein Foto zu veröffentlichen, das außerhalb der Hauptverhandlung aufgenommen worden sei.

6. Am 8. September 2011 erließ das Landgericht H. eine einstweilige Verfügung, mit welcher der Beschwerdeführerin die Veröffentlichung des Portraitfotos untersagt wurde.

7. Am 19. September 2011 endete das Strafverfahren vor dem Landgericht B. mit einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags und anderer Straftaten. Das Gericht verhängte gegen P. eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten; P. legte Berufung ein. Am 28. März 2012 bestätigte der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts B.

2. Eingeleitete Verfahren

8. Nach einer mündlichen Verhandlung am 3. Februar 2012 untersagte das Landgericht H. der Beschwerdeführerin am 13. April 2012, das Portraitfoto von P. zu verbreiten oder zu veröffentlichen. In seinem Urteil ging das das Gericht auf das beträchtliche öffentliche Interesse an dem Verfahren ein, das insbesondere durch Gewaltausbrüche bei Jugendlichen und Verweise auf die Debatte über die Videoüberwachung öffentlicher Plätze geweckt worden sei. Jedoch müsse auch berücksichtigt werden, dass P. zur Tatzeit Heranwachsender gewesen sei und daher nach den Bestimmungen des Jugendstrafrechts besonderen Schutz genieße. Diesbezüglich wies das Landgericht darauf hin, dass das Jugendgerichtsgesetz einerseits auf eine angemessene und sinnvolle erzieherische Sanktionierung abziele, andererseits aber auch, im Hinblick auf die nicht abgeschlossene persönliche Entwicklung sowie die soziale und berufliche Einbindung des jungen Straftäters, auf eine Vermeidung seiner Stigmatisierung. Eine identifizierende Berichterstattung berge das Risiko, P.s persönliche Entwicklung und seine spätere Resozialisierung zu beeinträchtigen, was insbesondere bei heranwachsenden Straftätern ein hohes Gewicht habe, weshalb das Jugendgerichtsgesetz eine eingeschränkte Strafobergrenze und einfachere Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung vorsehe.

9. Das Landgericht berücksichtigte auch die Unschuldsvermutung, die trotz seines Geständnisses auch für P. gelte. Weiter ging es davon aus, dass P. nicht anhand der Aufnahmen der Überwachungskamera identifiziert werden könne. Er sei der Öffentlichkeit bis zur Veröffentlichung des Portraitfotos in der Zeitung der Beschwerdeführerin daher nicht bekannt gewesen. Zuvor hätten andere Medien lediglich verpixelte Fotos von P. veröffentlicht. Im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen befand das Gericht, dass die Beschwerdeführerin durch das Verbot der Veröffentlichung des unverpixelten Fotos in der Ausübung der Pressefreiheit nur gering eingeschränkt werde.

10. Am 9. Juli 2013 bestätigte das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts H. und wies die Berufung der Beschwerdeführerin ab. Im Hinblick auf P. Geständnis betonte das Oberlandesgericht, dass P. die Öffentlichkeit nicht gesucht habe. Als Angeklagter sei er zur Teilnahme an der Verhandlung verpflichtet gewesen. Das Gericht wies auch darauf hin, dass eine Berichterstattung dennoch möglich gewesen und die geringe Einschränkung gerechtfertigt gewesen sei, denn der Informationswert des Porträtfotos sei nur gering gewesen.

11. Am 13. Januar 2016 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Begründung ab, die von der Beschwerdeführerin eingelegte Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 3061/14).

B. Das einschlägige innerstaatliche Recht und die einschlägige innerstaatliche Praxis

1. Das Bürgerliche Gesetzbuch

12. Nach § 823 Abs. 1 BGB ist jeder, der vorsätzlich oder fahrlässig das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum oder ähnliche Rechte eines anderen widerrechtlich verletzt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

13. Nach § 1004 Abs. 1 BGB kann der Eigentümer, wenn sein Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt wird, von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu befürchten, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.

2. Das Kunsturhebergesetz (KunstUrhG)

14. § 22 Abs. 1 des Gesetzes betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie (Kunsturhebergesetz) sieht vor, dass Bildnisse nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden dürfen. In § 23 Abs. 1 des Gesetzes ist eine Ausnahme davon für Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte vorgesehen, vorausgesetzt, dass durch die Verbreitung kein berechtigtes Interesse des Abgebildeten verletzt wird (§ 23 Abs. 2).

RÜGE

15. Die Beschwerdeführerin rügt nach Artikel 10 der Konvention die Untersagung jeder weiteren Veröffentlichung des Portraitfotos von P.

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

16. Die Beschwerdeführerin rügte, dass sie durch die Verfügung in ihrer Pressefreiheit als Bestandteil des Rechts auf freie Meinungsäußerung verletzt werde. Sie berief sich auf Artikel 10 der Konvention. Dieser lautet, soweit maßgeblich:

Artikel 10

„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe […] zu empfangen und weiterzugeben.

2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer (…)“

17. Die Beschwerdeführerin brachte vor, dass sich die innerstaatlichen Gerichte, indem sie die Bedeutung von Fotos für den Journalismus heruntergespielt hätten, über die journalistischen Freiheiten hinsichtlich der Darstellungstechniken hinweggesetzt hätten. Darüber hinaus entschieden die Gerichte im Allgemeinen zugunsten der Persönlichkeitsrechte jugendlicher Straftäter und mäßen der freien Meinungsäußerung daher eine geringere Bedeutung bei als dem Recht auf Achtung des Privatlebens. Bei der Beurteilung des Zeitungsberichts hätten die Gerichte nicht hinreichend berücksichtigt, dass er einem bedeutenden öffentlichen Interesse diene, dass P. aufgrund der Bilder der Überwachungskamera einer breiteren Öffentlichkeit schon bekannt gewesen sei und dass der Bericht korrekt und sachlich gewesen sei.

18. Der Gerichtshof weist eingangs darauf hin, dass die Verfügung einen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung darstellte und sich auf die einschlägigen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs stützte (§§ 823 Abs. 1 und 1004 [im Wege der Analogie] BGB sowie §§ 22 ff. des Kunsturhebergesetzes – siehe Rdnrn. 12-14). Er merkt weiterhin an, dass sie dem Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer dienen sollte. Der Gerichtshof beschränkt sich folglich bei seiner Prüfung auf die Frage, ob die Verfügung „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war.

19. Der Gerichtshof, der bereits viele Male aufgefordert war, sich mit Rechtsstreitigkeiten zu befassen, bei denen zu prüfen war, ob zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Achtung des Privatlebens ein gerechter Ausgleich erzielt wurde, hat anhand seiner umfangreichen Rechtsprechung in diesem Bereich allgemeine Grundsätze entwickelt (siehe, u.v.a., Couderc und Hachette Filipacchi Associés ./. Frankreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 40454/07, Rdnrn. 83 bis 93, ECHR 2015 (Auszüge)).

20. Der Gerichtshof erinnert auch daran, dass die Vertragsstaaten einen gewissen Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Frage haben, ob und inwieweit ein Eingriff in die nach Artikel 10 der Konvention geschützte Freiheit der Meinungsäußerung notwendig ist, was insbesondere dann gilt, wenn ein Ausgleich zwischen gegensätzlichen private Interessen zu erzielen ist. Haben die innerstaatlichen Behörden die Abwägung der in Rede stehenden Interessen in Übereinstimmung mit den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien vorgenommen, kann der Gerichtshof die Auffassung der innerstaatlichen Gerichte nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe durch die eigene ersetzen (siehe A. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 51405/12, Rdnr. 41, 21. September 2017). Ferner wird das Ergebnis dieser Abwägung dann akzeptabel sein, wenn die Gerichte geeignete Kriterien herangezogen haben und darüber hinaus die relative Bedeutung jedes Kriteriums unter angemessener Berücksichtigung der besonderen Umstände der Rechtssache gewichtet haben (siehe Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete und Index.hu Zrt ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 22947/13, Rdnr. 68, 2. Februar 2016, und Faludy‑Kovács ./. Ungarn, Individualbeschwerde Nr. 20487/13, Rdnr. 29, 23. Januar 2018, mit weiteren Nachweisen).

21. Im Zusammenhang mit der Abwägung konkurrierender Rechte hat der Gerichtshof, soweit für die vorliegende Rechtssache maßgeblich, folgende Kriterien formuliert: Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse; Bekanntheitsgrad der betroffenen Person; Umstände der Entstehung der Fotos; Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung sowie Schwere der auferlegten Sanktion. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass die so definierten Kriterien nicht erschöpfend sind und im Lichte der Umstände der jeweiligen Rechtssache umgesetzt und angepasst werden sollten.

22. Im Hinblick auf den Sachverhalt in der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof fest, dass die innerstaatlichen Gerichte bei der Entscheidung darüber, ob das Portraitfoto einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse leistete, einräumten, dass der Vorfall zu Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der allgemeinen Öffentlichkeit geführt habe, da P. nicht vorbestraft gewesen sei und der Gewaltausbruch ohne plausiblen Grund erfolgt sei. Darüber hinaus sei die Straftat in einer öffentlichen U-Bahn-Station geschehen. Nach Auffassung der Gerichte bestand an dem Portraitfoto von P. jedoch nicht dasselbe Niveau gerechtfertigten öffentlichen Interesses. Die Gerichte fanden, dass das Bild nur einen geringen Informationswert habe.

23. Der Gerichtshof hat bereits früher anerkannt, dass Fotojournalismus einen Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse leisten kann (siehe News Verlags GmbH & Co.KG ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 31457/96, Rdnrn. 52-60, ECHR 2000‑I) und dass die Öffentlichkeit ein Interesse an der Offenlegung des physischen Erscheinungsbilds einer Person haben kann (siehe A., a.a.O., Rdnr. 43). Außerdem schützt Artikel 10 auch die Form, in der Ideen und Informationen vermittelt werden (siehe Oberschlick ./. Österreich (Nr. 1), 23. Mai 1991, Rdnr. 57, Serie A Band 204, und B. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerden Nrn. 62721/13 und 62741/13, Rdnr. 34, 4. Dezember 2018). Gleichzeitig hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass das Interesse an der Offenlegung der Identität einer verurteilten Person keine Selbstverständlichkeit ist, sondern von verschiedenen Faktoren abhängen kann (siehe Österreichischer Rundfunk ./. Österreich, Individualbeschwerde Nr. 35841/02, Rdnr. 68, 7. Dezember 2006). Da er der Auffassung ist, dass das Bild von P., das bei einer anderen Gelegenheit aufgenommen worden war, im Hinblick auf den Bericht über den Angriff keine zusätzlichen Informationen, mit Ausnahme der Offenlegung seiner Identität, beinhaltete und dem Begleittext keine zusätzliche Glaubwürdigkeit verlieh (vgl. A., a.a.O., Rdnr. 46), stellt der Gerichtshof fest, dass die Information über P.s äußeres Erscheinungsbild keinen erheblichen Beitrag zur Debatte über den Fall leistete. Er sieht daher keine Veranlassung, die unterschiedliche Einschätzung der Debatte und des Bildes durch die innerstaatlichen Gerichte sowie die Schlussfolgerung, dass der Informationswert des Portraitfotos nur gering sei, in Frage zu stellen (siehe Rdnr. 10).

24. Hinsichtlich des Grades von P.s Bekanntheit und des Gegenstands des Zeitungsartikels berücksichtigten die innerstaatlichen Gerichte, dass P. vor der Begehung der Straftat keine öffentliche Figur gewesen sei, und stellten fest, dass P.s Identität weder in anderen Medienberichten noch durch die Bilder der Überwachungskamera aufgedeckt worden sei, denn diese hätten nur seine Statur, Kleidung und wesentlichen körperlichen Merkmale erkennen lassen. Was P.s Geständnis angehe, wiesen die Gerichte das Argument zurück, dass P. durch sein Geständnis bewusst auf seine Persönlichkeitsrechte verzichtet habe. Sie befanden vielmehr, dass P. verpflichtet gewesen sei, vor Gericht zu erscheinen, und sein Geständnis Teil seiner Verteidigungsstrategie gewesen sei. Sie betonten auch, dass P. als Heranwachsender eines besonderen Schutzes bedürfe. Unter Bezugnahme auf die dem Jugendgerichtsgesetz zugrunde liegenden Ideen betonten sie, wie wichtig es sei, Jugendliche vor Stigmatisierung zu schützen und die Resozialisierung möglichst nicht zu beeinträchtigen.

25. Der Gerichtshof hat bereits in früheren Entscheidungen festgestellt, dass die bloße Tatsache, dass gegen eine Person ein Strafverfahren geführt wird, es nicht rechtfertigt, die betroffene Person mit prominenten Personen gleichzusetzen, die sich freiwillig in die Öffentlichkeit begeben, und ihr daher den Schutz nach Artikel 8 nicht entziehen kann (siehe Eerikäinen und andere ./. Finnland, Individualbeschwerde Nr. 3514/02, Rdnr. 66, 10. Februar 2009, und Bédat ./. Schweiz [GK], Individualbeschwerde Nr. 56925/08, Rdnr. 76, 29. März 2016). Der Gerichtshof sieht daher keinen Grund, den Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte nicht zuzustimmen, nach denen P. nie von sich aus an die Öffentlichkeit getreten sei und dem Schutz seiner Persönlichkeitsrechte in Anbetracht seines Alters besondere Bedeutung beigemessen werden müsse.

26. Da die Quelle des der Presse zur Verfügung gestellten Fotos nicht bekannt sei, und es keine Hinweise darauf gebe, dass das Foto ohne P.s Wissen, heimlich oder mit anderen unerlaubten Mitteln aufgenommen worden sei, räumt der Gerichtshof ein, dass die innerstaatlichen Gerichte auf den Kontext und die Umstände, unter denen das veröffentlichte Foto entstanden sei, nicht eingingen.

27. Soweit es um Inhalt, Form und Auswirkungen der Veröffentlichung geht, stellt der Gerichtshof fest, dass die Verfügung nur die Veröffentlichung des Portraitfotos betraf, auf dem P. erkennbar dargestellt war, und nicht den Artikel als solchen. Daher ist es plausibel, dass die innerstaatlichen Gerichte sich nur mit dem Portraitfoto befasst haben. Das Landgericht H. berücksichtigte die Unschuldsvermutung und hob die Gefahren der Stigmatisierung sowie die Beeinträchtigung der Resozialisierung hervor (siehe Rdnrn. 8-9). Die innerstaatlichen Gerichte berücksichtigten auch P.s Schutzbedürfnis als Minderjähriger. Unter Bezugnahme auf Grundsatz 8 im Anhang zur Empfehlung Rec(2003)13 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Informationsverbreitung durch die Medien in Bezug auf Strafverfahren hat der Gerichtshof das Schutzbedürfnis von Minderjährigen und Heranwachsenden in Van Beukering und Het Parool B.V. ./. die Niederlande besonders betont (siehe Van Beukering und Het Parool B.V. ./. die Niederlande (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 27323/14, Rdnr. 36, 20. September 2016). In dieser Rechtssache befand der Gerichtshof, dass das Recht des Heranwachsenden auf Achtung des Privatlebens Vorrang genieße, obwohl der Betroffene in einem anderen Zusammenhang selbst die mediale Aufmerksamkeit gesucht habe.

28. Was schließlich die Schwere der gegen die Beschwerdeführerin verhängten Sanktionen anbelangt, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass zwar jede Sanktion geeignet ist, eine abschreckende Wirkung zu entfalten (siehe Couderc and Hachette Filipacchi Associés, a.a.O., Rdnr. 151), die in der vorliegenden Rechtssache verhängte Sanktion die Berichterstattung jedoch nicht besonders stark einschränkte, da die innerstaatlichen Gerichte der Beschwerdeführerin lediglich die Unterlassung der weiteren Veröffentlichung des Fotos auferlegten. Wie die innerstaatlichen Gerichte betont haben, wurde die Beschwerdeführerin nicht daran gehindert, Artikel zu veröffentlichen und zu bebildern, sondern lediglich daran, das Portraitfoto von P., das seine Identifizierung ermöglichte, zu veröffentlichen (siehe B., a.a.O., Rdnr. § 39).

29. Der Gerichtshof erkennt an, dass die innerstaatlichen Gerichte das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung sorgfältig gegen P.s Recht auf Achtung seines Privatlebens abwogen und die verschiedenen Faktoren berücksichtigten, die hinsichtlich des Schutzbedürfnisses von P. nach der Konvention relevant waren.

30. Unter diesen Umständen und angesichts des Ermessensspielraums, der innerstaatlichen Gerichten bei der Abwägung konkurrierender Interessen zusteht, kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass keine Gründe dafür vorliegen, die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen, und dass diese ihre Verpflichtungen nach Artikel 10 der Konvention erfüllt haben.

31. Die Beschwerde ist daher offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchstabe a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.

Aus diesen Gründen erklärt Gerichtshof

die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.

Ausgefertigt in englischer Sprache und schriftlich zugestellt am 15. Oktober 2020.

Anne-Marie Dougin                                                                  Ganna Yudkivska
Amtierende Stellvertretende Sektionskanzlerin                              Präsidentin

Zuletzt aktualisiert am Juli 13, 2021 von eurogesetze

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