Gutachten vom 29.5.2020 auf Antrag des armenischen Verfassungsgerichtshofs – P16-2019-001

Hintergrund und innerstaatliches Verfahren

Von 1998 bis 2008 war Robert Kocharyan Präsident Armeniens. Bei den Wahlen von 2008 standen sich der damalige Premierminister, Sersch Sargsyan, der derselben Partei wie Herr Kocharyan angehörte, und der Oppositionskandidat Levon Ter-Petrosyan gegenüber. Die Wahlkommission erklärte am 24.2.2008 Sersch Sargsyan zum Wahlsieger.

Ab 20.2.2008 fanden landesweit Kundgebungen von Anhängern des Oppositionskandidaten und anderer besorgter Bürger statt, die Zweifel an der Fairness und Freiheit der Wahlen hegten. Zentrum der Proteste war der Platz der Freiheit in Jerewan, wo einige Demonstranten auch während der Nächte ausharrten. In den frühen Morgenstunden des 1.3.2008 wurde der Platz durch rund 800 Polizisten geräumt. Dies führte im Lauf des Tages zu Konflikten zwischen Demonstranten sowie tausenden verärgerten Bürgern auf der einen und den Sicherheitskräften auf der anderen Seite. Es kam zu zahlreichen Zusammen stöften, zu deren Niederschlagung sogar die Armee eingesetzt wurde. Im Zuge der Unruhen, die bis zum Morgen des 2.3.2008 andauerten, kamen zehn Menschen ums Leben. Robert Kocharyan erklärte den Notstand, was eine 20 Tage dauernde Einschränkung der Versammlungsfreiheit und weiterer Rechte nach sich zog.

Die »samtene Revolution« zwang Sersch Sargsyan, der nach zwei Amtszeiten als Präsident erneut Premierminister war, im April 2018 zum Rücktritt.

Aufgrund der oben geschilderten Ereignisse wurde gegen Robert Kocharyan im Juli 2018 Anklage wegen Umsturzes der verfassungsmäftigen Ordnung gemäft § 300.1 Abs. 1 StGB 2009 erhoben.[1] Ihm wurde insbesondere vorgeworfen, er habe nach den Wahlen die Armee und unrechtmäftig bewaffnete Zivilisten benutzt, um die Macht an sich zu reiften; als Oberbefehlshaber die Armee gegen Zivilisten eingesetzt, um friedliche Proteste niederzuschlagen; Polizeigewalt angewendet, um Kundgebungen zu verhindern; und ohne eine direkte Bedrohung der verfassungsmäftigen Ordnung den Notstand ausgerufen. Gemäft der Anklage zielen diese Handlungen auf einen Umsturz der verfassungsmäftigen Ordnung, wie sie in den Art. 1, 2, 3, 5 und 6 der armenischen Verfassung beschrieben wird.[2]

Das Gericht erster Instanz setzte das Verfahren aus, um dem Verfassungsgerichtshof die Frage vorzulegen, ob § 300.1 StGB 2009 mit den Art. 72, 73 und 79 der Verfassung vereinbar sei. Das Gericht hatte Zweifel hinsichtlich der Anforderung der Rechtssicherheit und des Rückwirkungsverbots. Insbesondere war es unsicher, ob der am 24.3.2009 in Kraft getretene § 300.1 die Rechtsstellung eines Beschuldigten im Vergleich zu § 300 des zur Zeit der Tatbegehung geltenden StGB verschlechtert hatte.[3]

An den GH gerichtete Fragen

Der armenische Verfassungsgerichtshof formulierte in seinem Ersuchen um ein Gutachten folgende Fragen:

1. Stellt das Konzept des »Rechts« nach Art. 7 EMRK qualitative Anforderungen (Bestimmtheit, Zugänglichkeit, Vorhersehbarkeit und Stabilität) desselben Grades wie jenes, auf das in anderen Artikeln der Konvention, wie z.B. in Art. 8 – 11, verwiesen wird?

2. Wenn nicht, nach welchen Standards ist dann eine Abgrenzung vorzunehmen?

3. Entspricht eine strafrechtliche Bestimmung, die eine Straftat definiert und einen Verweis auf bestimmte rechtliche Bestimmungen eines Gesetzes mit höherer Rechtswirkung und einem höheren Abstraktionsgrad enthält, den Anforderungen der Bestimmtheit, Zugänglichkeit, Vorhersehbarkeit und Stabilität?

4. Anhand welcher Standards sind hinsichtlich des Grundsatzes der Nichtrückwirkung strafrechtlicher Bestimmungen durch einen Vergleich des zur Zeit der Tatbegehung geltenden Rechts mit dem geänderten Strafrecht deren kontextbezogene (wesentliche) Ähnlichkeiten und Unterschiede zu bestimmen?

Gutachten des GH

I. Einleitende Bemerkungen

(42) Gemäft Art. 1 Abs. 1 16. Prot. EMRK können bestimmte Höchstgerichte und Tribunale den GH um ein Gutachten über »Grundsatzfragen über die Auslegung oder Anwendung der in der Konvention und ihren Protokollen definierten Rechte und Freiheiten« ersuchen. Nach Art. 1 Abs. 2 16. Prot. EMRK kann ein Höchstgericht oder ein Tribunal dies »nur im Kontext eines vor ihm anhängigen Verfahrens« tun. […]

(43) Der GH erinnert daran, dass das Ziel des Gutachtenverfahrens darin besteht […], die Interaktion zwischen dem GH und nationalen Behörden weiter zu vertiefen […]. Ziel dieses Verfahrens ist es nicht, den Streit vor den GH zu verlagern, sondern vielmehr, dem ersuchenden Gericht bei der Entscheidung des ihm vorliegenden Falls Anleitungen zu Konventionsfragen zu geben.

(44) Was die […] breite und allgemeine Natur zumindest einiger der übermittelten Fragen betrifft, erinnert der GH daran, dass […] sich die von ihm nach dem 16. Prot. EMRK erstatteten Gutachten auf Punkte beschränken müssen, die direkt mit dem innerstaatlich anhängigen Verfahren zusammenhängen.

(45) Aus dieser Überlegung folgt die Befugnis des GH, die vom ersuchenden Gericht vorgelegten Fragen umzuformulieren […]. Gleichermaften kann er auch bestimmte Fragen […] verbinden.

(46) Eine damit zusammenhängende, aber doch gesonderte Frage ist, ob die GK, wenn sie mit einem Ersuchen um ein Gutachten befasst ist, entscheiden kann, eine oder mehrere Fragen nicht zu beantworten. Art. 2 Abs. 1 16. Prot. bestimmt, dass »der Ausschuss entscheidet, ob ein Ersuchen um ein Gutachten angenommen wird […]«. Nach Art. 2 Abs. 2 16. Prot. EMRK »soll die Grofte Kammer das Gutachten erstatten, wenn der Ausschuss dem Ersuchen stattgibt«. Während aber der Ausschuss dem Ersuchen um ein Gutachten insgesamt stattgibt, wenn er in diesem Stadium – und ohne den Nutzen schriftlicher und mündlicher Stellungnahmen – akzeptiert, dass das Ersuchen den Anforderungen des Art. 1 16. Prot. EMRK entspricht, bedeutet dies nicht unbedingt, dass alle von dem Ersuchen umfassten Fragen diese Anforderungen erfüllen.

(47) Zwar liegt die Entscheidung über die Annahme eines Ersuchens um ein Gutachten beim Ausschuss, doch kann dies die GK nicht der Möglichkeit berauben, den vollen Umfang der dem GH eingeräumten Befugnisse auszuüben, einschlieftlich jener, die sich auf seine Zuständigkeit beziehen (Art. 19, Art. 32 und – per analogiam – Art. 48 EMRK). Auch kann die Entscheidung des Ausschusses die GK nicht daran hindern zu beurteilen, ob jede der Fragen […] die Voraussetzungen […] erfüllt, insbesondere ob sie »Grundsatzfragen über die

Auslegung oder Anwendung der in der Konvention und ihren Protokollen definierten Rechte und Freiheiten« betrifft und ob das Ersuchen »im Kontext eines anhängigen Verfahrens« vor dem ersuchenden Gericht gestellt wurde und ob das ersuchende Gericht »sein Ersuchen begründet« und »den relevanten rechtlichen und faktischen Hintergrund des anhängigen Falls vorgebracht« hat. Zudem […] muss sich das Gutachten […] auf jene Punkte beschränken, die direkt mit dem auf innerstaatlicher Ebene anhängigen Verfahren zusammenhängen. Es steht der GK daher offen, sich zu vergewissern, ob die Fragen […] die in Art. 1 16. Prot. EMRK enthaltenen Voraussetzungen erfüllen […]. Sollte sie unter angemessener Berücksichtigung des faktischen und rechtlichen Kontexts des Falls zu dem Schluss gelangen, dass bestimmte Fragen diesen Anforderungen nicht entsprechen, wird sie diese Fragen nicht beantworten und in ihrem Gutachten eine entsprechende Aussage treffen.

(48) […] Der Verfassungsgerichtshof hat vom Gutachtensverfahren, das seiner Natur nach vorläufig ist, im Kontext eines Verfahrens zur Überprüfung der Verfassungskonformität von § 300.1 StGB 2009 Gebrauch gemacht. In diesem ist er aufgerufen, eine Frage des innerstaatlichen Rechts zu beantworten, die für das Hauptverfahren relevant ist, in dem sie aufgeworfen wurde, nämlich das vor dem Gericht erster Instanz anhängige Strafverfahren gegen Herrn Kocharyan.

(49) Während diese doppelte Vorlage kein Hindernis für die Befassung mit dem vorliegenden Ersuchen um ein Gutachten darstellt, beeinflusst es doch den Zugang des GH bei der Erstattung seines Gutachtens, vor allem wenn das Hauptverfahren in einem sehr frühen Stadium anhängig ist und die relevanten Tatsachen noch nicht Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung waren. […] Das Gutachten des GH wird auf der Grundlage der vom Verfassungsgerichtshof übermittelten Sachverhaltsdarstellung ergehen, auch wenn diese Tatsachen in weiterer Folge einer Überprüfung durch das Gericht erster Instanz unterzogen werden können. Es sollte den Verfassungsgerichtshof in die Lage versetzen, die ihm vorliegende Angelegenheit zu erledigen, also über die Verfassungskonformität von § 300.1 StGB 2009 im Lichte der aus Art. 7 EMRK erwachsenden Anforderungen zu entscheiden. Es wird dann Sache des Gerichts erster Instanz sein, die Antwort des Verfassungsgerichts im konkreten Verfahren gegen Herrn Kocharyan anzuwenden. Ein solcher Zugang entspricht nach Ansicht des GH dem Grundsatz des Subsidiarität, auf dem sowohl das

16. Prot. als auch die EMRK selbst beruhen.

(50) Beim Verfassungsgerichtshof wurde die Überprüfung der Verfassungskonformität von § 300.1 StGB 2009 im Lichte der Art. 72, 73, 78 und 79 der Verfassung von 2015 beantragt. Diese Bestimmungen enthalten im Wesentlichen die Grundsätze der Nichtrückwirkung des Strafrechts (Art. 72), der Anwendbarkeit des milderen Rechts (Art. 73), der Verhältnismäftigkeit jedes Eingriffs in Grundrechte (Art. 78) und der Rechtmäftigkeit und Vorhersehbarkeit jedes derartigen Eingriffs (Art. 79). Dieses Gutachten wird dem Verfassungsgerichtshof Hinweise für seine eigene Auslegung der im vor ihm anhängigen Fall relevanten innerstaatlichen Bestimmungen geben. Es ist daher Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs und nicht der GK, § 300.1 StGB 2009 und § 300 Abs. 1 des früheren StGB auszulegen und anhand dessen zu entscheiden, ob das anhängige Strafverfahren mit der Verfassung vereinbar ist.

(51) […] Der GH wird bei der Formulierung seines Gutachtens die von den Teilnehmern des Verfahrens übermittelten schriftlichen Stellungnahmen und Dokumente angemessen berücksichtigen. Er betont allerdings, dass es nicht seine Aufgabe ist, auf alle vorgebrachten Argumente zu antworten oder die Grundlage für seine Antwort im Detail darzulegen. Die Rolle des GH nach dem 16. Prot. EMRK besteht nicht darin, in einem kontradiktorischen Verfahren mit bindendem Urteil über streitige Beschwerden zu entscheiden, sondern vielmehr, dem ersuchenden Gericht oder Tribunal in möglichst kurzer Zeit Anleitungen zu geben, die es diesem ermöglichen, bei der Entscheidung des ihm vorliegenden Falls die Achtung der Konventionsrechte sicherzustellen.

II. Zur ersten und zur zweiten Frage

(53) Der GH sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen den ersten beiden Fragen und dem anhängigen innerstaatlichen Verfahren.

(54) Soweit sich dies anhand der Anklage gegen Herrn Kocharyan beurteilen lässt, betrifft der Sachverhalt keine Ausübung seiner durch Art. 8 – 11 EMRK garantierten Rechte.

(55) Was den rechtlichen Kontext des innerstaatlichen Verfahrens betrifft, fällt es dem GH schwer zu erkennen, welche Fragen der Verfassungsgerichtshof mit Hilfe des Gutachtens entscheiden will. Die Antworten des GH auf die beiden ersten Fragen […] wären von abstrakter und genereller Art und würden damit über den vom 16. Prot. EMRK vorgesehenen Anwendungsbereich eines Gutachtens hinausgehen. Insbesondere scheint es unmöglich, die Fragen so umzuformulieren, dass der GH sein Gutachten auf Punkte beschränken kann, die direkt mit dem auf innerstaatlicher Ebene anhängigen Verfahren zusammenhängen. […]

(56) Die erste und die zweite Frage erfüllen nach Ansicht des GH nicht die Anforderungen des Art. 1

16. Prot. EMRK und können auch nicht so umformuliert werden, dass es dem GH möglich wäre, seine beratende Funktion effektiv und entsprechend ihrem Zweck auszuüben. Er kann daher die erste und die zweite Frage nicht beantworten.

III. Zur dritten Frage

(58) Die dritte Frage bezieht sich auf die Tatsache, dass Herr Kocharyan einer Straftat angeklagt ist, nämlich des Umsturzes der verfassungsmäftigen Ordnung gemäft

§ 300.1 StGB 2009, die durch die Verwendung der Technik des »Pauschalverweises« oder der »Gesetzgebung mittels Verweis« gekennzeichnet ist.

(59) Im Fall von § 300.1 StGB 2009 wurde diese legislative Technik verwendet, um auf Art. 1 – 6 der armenischen Verfassung zu verweisen. Die rechtlichen Bestimmungen, auf die verwiesen wird, haben dem Verfassungsgerichtshof zufolge erhöhte Rechtskraft in der Hierarchie der Rechtsnormen und sind mit einem höheren Abstraktionsniveau formuliert als die Bestimmungen des Strafgesetzes. Im Kern fragt der Verfassungsgerichtshof, ob dies mit Art. 7 EMRK – vor allem mit den Anforderungen der Klarheit und Vorhersehbarkeit – vereinbar ist.

(60) […] Die allgemeinen Grundsätze, die der GH in seiner Rechtsprechung zu den Anforderungen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit nach Art. 7 EMRK entwickelt hat, wurden […] in den Urteilen Del Río Prada/E und Rohlena/CZ dargelegt […].

(63) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wendet sich der GH der Frage zu, ob die Verwendung der Technik des »Pauschalverweises« oder der »Gesetzgebung mittels Verweis« als solche mit Art. 7 EMRK vereinbar ist.

(64) Obwohl der GH über diese Frage bislang nicht explizit entschieden hat, gibt es Fälle, die im vorliegenden Zusammenhang insofern interessant sind, als sie unter Art. 7 EMRK Fragen im Hinblick auf strafrechtliche Bestimmungen aufwarfen, in denen die Elemente eines Tatbestands durch einen Verweis auf Bestimmungen oder Grundsätze des Verfassungsrechts oder anderer Rechtsgebiete bestimmt wurden.

(65) Der GH möchte insbesondere die beiden folgenden Fälle erwähnen: Kuolelis u.a./LT, der die Verurteilungen ehemaliger kommunistischer Politiker unter anderem nach Art. 70 des litauischen StGB – der einen Verweis auf die Verfassung enthält – wegen fortgesetzter Befürwortung eines Verbleibs Litauens in der UdSSR in der Zeit nach seiner Unabhängigkeit betrifft, sowie Haarde/IS, der sich auf die Verurteilung des damaligen Premierministers […] wegen grober Nachlässigkeit gemäft Art. 17 der Verfassung […] bezieht, nachdem dieser es verabsäumt hatte, Ministerratssitzungen über »wichtige Regierungsangelegenheiten« einzuberufen […].

(66) Keiner dieser Fälle warf ausdrücklich die Frage auf, ob die Verwendung von Verweisen auf die Verfassung […] in strafrechtlichen Bestimmungen, die den Tatbestand einer Straftat definieren, als solche mit Art. 7 EMRK vereinbar ist. Die Prüfung des GH konzentrierte sich vielmehr auf die Frage, ob die Gesetze (also das Strafrecht, das auf eine Bestimmung der Verfassung verwies und die Verfassungsbestimmung, auf die verwiesen wurde) gemeinsam gelesen ausreichend klar und in ihrer Anwendung vorhersehbar waren.

(67) In den beiden oben genannten Fällen fand der GH nicht, dass es den innerstaatlichen Bestimmungen, wenngleich sie eher allgemein formuliert waren, an ausreichender Klarheit und Vorhersehbarkeit in ihrer Anwendung mangelte. […] In beiden Fällen verneinte er im Ergebnis eine Verletzung von Art. 7 EMRK.

(68) Wie das ersuchende Gericht richtig dargelegt hat, können Verfassungsbestimmungen ein höheres Abstraktionsniveau aufweisen als Bestimmungen des Strafrechts. Zudem sind sie in vielen Rechtssystemen auf der obersten Stufe der Normenhierarchie angesiedelt. […] Wie die beiden […] genannten Fälle Kuolelis u.a./LT und Haarde/IS zeigen, hat der GH weder den verfassungsrechtlichen Charakter der Bestimmungen, auf die verwiesen wurde, noch die eher allgemeine Formulierung der umstrittenen Bestimmungen für sich als problematisch im Hinblick auf Art. 7 EMRK erachtet. Was insbesondere die Vorhersehbarkeit strafrechtlicher Bestimmungen betrifft, die auf Verfassungsbestimmungen verweisen, wandte der GH seine allgemeine Rechtsprechung an, die verlangt, dass die richterliche Auslegung eines Tatbestands dem Wesen dieses Tatbestands entspricht. Ebenso im Einklang mit der allgemeinen Rechtsprechung des GH scheinen diese Fälle darauf hinzuweisen, dass von Berufspolitikern und hohen Beamten bei der Einschätzung, ob ein bestimmtes Handeln eine strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen könnte, besondere Vorsicht verlangt werden kann.

(69) Dem GH ist bewusst, dass die verfassungsrechtlichen Bestimmungen, auf die verwiesen wird, wie im vorliegenden Fall als allgemeine Grundsätze und somit in einer generellen und sehr abstrakten Weise formuliert sein können. Wegen ihres hohen Abstraktionsgrads werden solche Bestimmungen oft durch Akte auf einer niedrigeren Ebene der Hierarchie, durch ungeschriebene Verfassungsgebräuche und durch die Rechtsprechung weiterentwickelt. Im Kontext grundlegender Verfassungsprinzipien betreffend die Gewaltentrennung hat der GH in Haarde/IS festgehalten, dass es Art. 7 EMRK nicht ausschlieftt, dass der Nachweis einer bestehenden Verfassungspraxis einen Teil der vom innerstaatlichen Gericht vorgenommenen Gesamtanalyse der Vorhersehbarkeit eines auf einer verfassungsrechtlichen Bestimmung beruhenden Tatbestands bildet. Der GH sieht keinen Grund, von dieser Feststellung abzugehen.

(70) Die Rechtsprechung des GH weist somit darauf hin, dass die Verwendung der Technik des »Pauschalverweises« oder der »Gesetzgebung mittels Verweis« im Strafrecht als solche nicht unvereinbar mit Art. 7 EMRK ist. […] Auch wenn sich der GH nicht ausdrücklich zur Vereinbarkeit einer solchen Technik mit Art. 7 EMRK geäuftert hat, hat er deren Verwendung implizit akzeptiert und entschieden, ob die fragliche strafrechtliche Bestimmung im Sinne seiner Rechtsprechung ausreichend präzis und vorhersehbar war.

(71) Überdies zeigt das rechtsvergleichende Material, dass die Technik des »Pauschalverweises« oder der »Gesetzgebung mittels Verweis« von den Mitgliedstaaten in ihrem Strafrecht häufig verwendet wird […].

(72) Um Art. 7 EMRK zu entsprechen, muss eine strafrechtliche Bestimmung, die einen Tatbestand unter Verwendung der Technik des »Pauschalverweises« oder der »Gesetzgebung mittels Verweis« definiert, allerdings die allgemeinen Anforderungen an die »Qualität des Rechts« erfüllen. Sie muss also ausreichend präzise, zugänglich und in ihrer Anwendung vorhersehbar sein. Da die Bestimmung, auf die verwiesen wird, zum Bestandteil des Tatbestands wird, müssen es beide Bestimmungen (die verweisende und jene, auf die verwiesen wird) zusammen den betroffenen Personen erlauben, wenn nötig mit Hilfe angemessener rechtlicher Beratung, vorherzusehen, welches Verhalten ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen könnte. Dies folgt nach Ansicht des GH aus den allgemeinen Grundsätzen seiner Rechtsprechung betreffend die Anforderung an die Qualität des Rechts und wird auch durch das ihm vorliegende rechtsvergleichende Material unterstützt.

(73) Der GH ist zudem der Ansicht, dass die Klarheit und Vorhersehbarkeit am effektivsten gewährleistet werden können, wenn der Verweis explizit erfolgt und die verweisende Bestimmung die Tatbestandselemente darlegt. Aufterdem dürfen die Bestimmungen, auf die verwiesen wird, den von der verweisenden Bestimmung festgelegten Umfang der Strafbarkeit nicht ausdehnen. In jedem Fall ist es Sache des beide Bestimmungen […] anwendenden Gerichts zu beurteilen, ob die Strafbarkeit unter den Umständen des konkreten Falls vorhersehbar war.

IV. Zur vierten Frage

(76) Diese Frage bezieht sich darauf, dass sich die Anklage gegen Herrn Kocharyan […] gemäft § 300.1 StGB 2009 auf Handlungen stützt, die er […] 2008 und somit vor Inkrafttreten dieser Bestimmung begangen haben soll. Zur damaligen Zeit waren Handlungen, die auf einen gewaltsamen Umsturz der verfassungsmäftigen Ordnung gerichtet waren, nach § 300 des früheren StGB als Teil des Delikts der »Ursupation« strafbar.

(77) Nach dem Vorbringen des Verfassungsgerichtshofs unterscheidet sich § 300.1 StGB 2009 erheblich von § 300 StGB in der zur gegenständlichen Zeit geltenden Fassung. Die frühere Bestimmung war insofern weiter, als sie jede Handlung erfasste, die auf einen Umsturz der verfassungsmäftigen Ordnung abzielte, während nach § 300.1. StGB 2009 nur die tatsächliche Beseitigung näher genannter Grundprinzipien der Verfassung (nämlich jener, die in den Art. 1 – 6 festgelegt sind) […] strafbar ist. In anderer Hinsicht war § 300 des früheren StGB enger, weil er ein Element der Gewalt enthielt, das in § 300.1 StGB 2009 fehlt.

(78) In diesem Kontext, nämlich im Hinblick auf die Änderung der Definition des Tatbestands des Umsturzes der verfassungsmäftigen Ordnung, fragt der Verfassungsgerichtshof, welche Standards nach Art. 7 EMRK für den Vergleich zwischen dem zur Zeit der Tatbegehung geltenden Recht und dem geänderten Recht anzuwenden sind. Die Änderung […] betrifft nicht die Strafdrohung, die in § 300 des früheren StGB und § 300.1 StGB 2009 dieselbe ist, nämlich Freiheitsstrafe zwischen zehn und 15 Jahren.

(79) […] Wie das dem GH vorliegende rechtsvergleichende Material zeigt, wendet mehr als die Hälfte der untersuchten Mitgliedstaaten bei der Beurteilung, ob ein nach Tatbegehung erlassenes Gesetz für den Angeklagten günstiger ist als jenes, das zur Zeit der Tatbegehung in Kraft war, den Grundsatz der Konkretisierung an. […]

(80) Der GH bekräftigt, dass Art. 7 EMRK die rückwirkende Anwendung von Strafrecht uneingeschränkt verbietet, wenn dies dem Angeklagten zum Nachteil gereicht. Der Grundsatz der Nichtrückwirkung von Strafgesetzen bezieht sich sowohl auf die Definitionen des Tatbestands als auch auf die Strafdrohungen.

(81) Zudem könnte der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafrechts ins Spiel kommen. […]

(82) Obwohl dieser Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafrechts in Scoppola/I (Nr. 2) in allgemeinen Worten formuliert wurde, ist festzustellen, dass diese Anforderung weiterentwickelt und später im Kontext von Änderungen der drohenden Strafen oder der Strafzumessung angewendet wurde. Im Fall Parmak und Bakir/TR stellte der GH erstmals fest, dass der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des günstigeren Strafrechts auch im Kontext einer sich auf die Definition des Tatbestands beziehenden Änderung gilt.

(83) Im vorliegenden Fall verlangt die Frage des Verfassungsgerichtshofs vom GH, ein Gutachten über die Anwendung des Grundsatzes der Nichtrückwirkung abzugeben. Im Kontext der Anwendung dieses Prinzips auf die den Tatbestand definierenden Bestimmungen sind zwei Situationen zu unterscheiden.

Die erste betrifft Beispiele, in denen ein Angeklagter nach dem zur Zeit der Verurteilung geltenden Strafrecht wegen einer Handlung für schuldig befunden werden könnte, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar war.

Die zweite betrifft Beispiele, in denen die Handlung sowohl zum Zeitpunkt der Tatbegehung als auch zum Zeitpunkt der Verurteilung – wenn auch unter unterschiedlichen Bezeichnungen – strafbar war. Diese Situation betrifft die Umklassifizierung von Anklagen im Fall eines Aufeinanderfolgens von Strafgesetzen im Lauf der Zeit. Angesichts des Kontexts, in dem der Verfassungsgerichtshof seine Frage stellt, erachtet der GH seine Rechtsprechung zur Umklassifizierung von Anklagen unter einer geänderten Fassung des StGB, die nach Begehung der fraglichen Tat in Kraft getreten ist, als besonders relevant. In solchen Situationen versucht der GH in erster Linie zu bestimmen, ob es im Hinblick auf den Zeitpunkt der Tatbegehung und jenem der Verurteilung eine Kontinuität der Tatbestände gibt.

(85) In solchen Fällen hat der GH im Wesentlichen geprüft, ob die fraglichen Handlungen bereits nach den zur Zeit ihrer Begehung geltenden Bestimmungen strafbar waren. Zudem hat er festgestellt, dass die verhängte Strafe nicht die Grenzen überschreiten durfte, die von der zur Zeit der Tatbegehung geltenden Bestimmung gesetzt wurden.

(86) Die Judikatur des GH bietet keinen umfassenden Katalog von Kriterien für den Vergleich des zur Zeit der Tatbegehung geltenden und des geänderten Strafrechts. Dennoch ist es möglich, den Schluss zu ziehen, dass der GH bei der Beurteilung, ob die begangenen Taten nach der zur Zeit ihrer Begehung geltenden Bestimmung strafbar waren, die besonderen Umstände des Falls berücksichtigt, also den konkreten Sachverhalt, wie er von den nationalen Gerichten festgestellt wurde. […]

(87) Hingegen spielen die formalen Klassifikationen oder Bezeichnungen der Straftaten im innerstaatlichen Recht für den GH keine Rolle […].

(88) Der Vergleich zwischen dem zur Zeit der Tatbegehung geltenden Strafrecht und dem geänderten Strafrecht muss daher vom zuständigen Gericht nicht anhand eines abstrakten Vergleichs der Tatbestände vorgenommen werden, sondern im Hinblick auf die spezifischen Umstände des Falls.

(90) Obwohl der Grundsatz der Konkretisierung in Fällen entwickelt wurde, die sich auf eine Änderung der einschlägigen Strafen bezogen, […] gilt nach Ansicht des GH derselbe Grundsatz auch in Fällen, in denen es um einen Vergleich zwischen der Definition des Tatbestands zur Zeit der Tatbegehung und einer späteren Änderung geht.

(91) […] Der Verfassungsgerichtshof wies darauf hin, dass die Definition des Tatbestands des Umsturzes der verfassungsmäftigen Ordnung in § 300.1 StGB 2009 in einer Hinsicht weiter und in anderer Hinsicht enger ist als jene des § 300 StGB in der im Februar/März 2008 geltenden Fassung. Im Lichte der obigen Überlegungen ist der GH der Ansicht, dass die Frage, ob die Anwendung von § 300.1 StGB 2009 den in Art. 7 EMRK enthaltenen Grundsatz der Nichtrückwirkung verletzen würde, nicht abstrakt zu beantworten ist. Art. 7 EMRK verlangt vielmehr eine konkrete Beurteilung anhand der spezifischen Umstände des Falls. Es wird Sache der zuständigen innerstaatlichen Gerichte sein, die rechtlichen Wirkungen der möglichen Anwendung von § 300.1 StGB 2009 und von § 300 StGB in der zur Zeit der umstrittenen Ereignisse geltenden Fassung im Lichte der dem Angeklagten vorgeworfenen Handlungen oder Unterlassungen und anderer spezifischer Umstände des Falls zu vergleichen. Insbesondere müssen sie feststellen, ob nach der zur Zeit der umstrittenen Ereignisse geltenden Fassung des StGB alle Tatbestandselemente und anderen Voraussetzungen für die Strafbarkeit erfüllt waren. Sollte dies nicht der Fall sein, kann der spätere § 300.1 StGB 2009 nicht als günstiger angesehen werden und darf folglich in diesem Fall nicht angewendet werden. Sollten die innerstaatlichen Gerichte zudem feststellen, dass die Anwendung von § 300.1 StGB 2009 schwerwiegendere Konsequenzen für den Angeklagten mit sich bringen würde als die Anwendung von § 300 StGB in der [früheren] Fassung, darf die neue Bestimmung in diesem Fall ebenfalls nicht angewendet werden.

V. Ergebnis

Der GH erstattet das folgende Gutachten (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Sarvarian):

1. Der GH kann die erste und die zweite Frage nicht beantworten, weil sie nicht die Voraussetzungen von Art. 1 16. Prot. EMRK erfüllen.

2. Die Verwendung der Technik des »Pauschalverweises« oder der »Gesetzgebung mittels Verweis« bei der Kriminalisierung von Handlungen oder Unterlassungen ist als solche nicht unvereinbar mit den Anforderungen des Art. 7 EMRK. Die verweisende Bestimmung und die Bestimmung, auf die verwiesen wird, müssen in Verbindung miteinander die betroffene Person in die Lage versetzen – falls nötig mit der Hilfe angemessener rechtlicher Beratung – vorauszusehen, welches Verhalten ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen würde. Diese Anforderung gilt gleichermaften in Situationen, in denen die Bestimmung, auf die verwiesen wird, einen höheren Rang in der Rechtsordnung einnimmt oder ein höheres Abstraktionsniveau aufweist als die verweisende Bestimmung.

3. Um im Hinblick auf Art. 7 EMRK festzustellen, ob ein nach der angeblichen Begehung einer Straftat erlassenes Gesetz für den Angeklagten günstiger oder ungünstiger ist als jenes Gesetz, das zur Zeit der angeblichen Begehung der Straftat in Kraft war, müssen die besonderen Umstände des Falls berücksichtigt werden (Grundsatz der Konkretisierung). Wenn das spätere Gesetz strenger ist als das Gesetz, das zur Zeit der angeblichen Begehung der Straftat in Kraft war, darf es nicht angewendet werden.

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1. Gemäft § 300.1 des Strafgesetzes von 2009 wird der Tatbestand des Umsturzes der verfassungsmäftigen Ordnung dadurch begründet, dass eine der in den Art. 1 – 6 der armenischen Verfassung enthaltenen Normen de facto beseitigt wird. Die Strafdrohung beträgt zehn bis 15 Jahre Haft.

2. Diese Artikel der Verfassung bestimmen insbesondere, dass Armenien eine demokratische, rechtsstaatliche Republik ist, in der die Macht vom Volk ausgeht. Zudem wird der Grundsatz der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen postuliert und bestimmt, dass die staatliche Macht verfassungsgemäft und aufgrund des Prinzips der Gewaltenteilung auszuüben ist.

3. Gemäft § 300 des Strafgesetzes in der bis 2008 geltenden Fassung wurde der Tatbestand der Ursupation durch Handlungen erfüllt, die auf eine gewaltsame Erlangung oder Beibehaltung der Staatsgewalt, den gewaltsamen Umsturz der verfassungsmäftigen Ordnung oder eine gewaltsame Verletzung der territorialen Integrität Armeniens gerichtet waren. Die Strafdrohung lag bei zehn bis 15 Jahren Haft.

Zuletzt aktualisiert am September 1, 2021 von eurogesetze

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