Gericht: VG Berlin 26. Kammer
Entscheidungsdatum: 20.05.2021
Aktenzeichen: 26 K 261.20
ECLI: ECLI:DE:VGBE:2021:0520.26K261.20.00
Dokumenttyp: Urteil
Leitsatz
Eine als Beitrag zum Genesungsprozess dargestellte Anordnung, Dienstunfähigkeit infolge von Krankheit durch ärztliches Attest nachzuweisen, ist ermessensfehlerhaft, auch wenn sie auf häufige (in ihrer Begründetheit aber nicht streitige) Fehlzeiten oder wiederholte Verstöße des Beamten gegen seine Anzeigepflicht gestützt wird.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung vom 22. Juli 2020 in Gestalt seines Widerspruchsbescheids vom 14. September 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrags leistet.
Tatbestand
1. Die Beteiligten streiten um eine Attestauflage.
2. Die 1985 geborene Klägerin war seit dem 1. Juli 2019 wiederholt arbeitsunfähig erkrankt. Bis zum 4. September 2020 liefen mehr als 124 Krankheitstage auf, darunter Tage von Kurzzeiterkrankungen wie etwa am 2. und 3. sowie 28. bis 31. Januar, 25. und 26. Februar 2020. Ihr Fernbleiben am 28. Januar 2020 zeigte die Klägerin epostalisch um 19.02 Uhr dieses Tages an. Für die letzten beiden Ausfallzeiten legte die Klägerin ärztliche Atteste vor. Ab dem 16. März 2020 war die Klägerin bis zum 9. April 2020 (Gründonnerstag) ärztlich attestiert arbeitsunfähig. Ein am Mittwoch nach Ostern, am 15. April 2020, ausgestelltes Attest bescheinigte der Klägerin weitergehende Arbeitsunfähigkeit, die bis zum 22. Mai 2020 anhielt. Ihr Fernbleiben ab dem 23. März 2020 zeigte die Klägerin der Beklagten epostalisch am 24. März 2020 um 7.10 Uhr, das am 15. April 2020 um 10.13 Uhr an jenem Tag und das ab 28. April 2020 am 29. April 2020 um 8 Uhr an.
3. Einer epostalischen Ankündigung vom 17. März 2020 entsprechend forderte die Beklagte die Klägerin mit Bescheid des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung vom 22. Juli 2020 auf, „aufgrund Ihrer häufigen Fehlzeiten ohne unverzügliche Mitteilung hinsichtlich der Dauer Ihrer Abwesenheit oder Vorlage eines ärztlichen Attestes … ab sofort bis auf weiteres vom ersten Tag der Dienstunfähigkeit an ein ärztliches Attest vorzulegen“. Das Attest sollte am ersten Tag der Erkrankung per E-Mail an die Zeiterfassung und die Referatsleitung/Stellvertretung übersandt werden.
4. Dagegen erhob die seit dem 13. Juli 2020 wieder arbeitsunfähig erkrankte Klägerin Widerspruch. Die Auflage sei unverhältnismäßig. Es bestünden keine Anhaltspunkte für Zweifel an ihrer Dienstunfähigkeit oder der Begründetheit der Krankheitszeiten.
5. Vom 7. bis 29.September 2020 an gliederte die Beklagte die Klägerin mit krankheitsbedingten Kurzzeitunterbrechungen auf einem anderen Dienstposten im Rahmen des Hamburger Modells wieder ein.
6. Mit Widerspruchsbescheid des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung vom 14. September 2020 hob die Beklagte den Ausgangsbescheid ab dem 1. September 2020/Zeitpunkt der internen Umsetzung insoweit auf, als er die Übersendung des Attestes an die Referatsleitung/Stellvertretung anordnete. Im Übrigen wies sie den Widerspruch zurück. Die Anordnung beruhe auf den häufigen Fehlzeiten der Klägerin und wiederholten Verstößen gegen die Anzeigepflicht zum Fernbleiben vom Dienst. Diese Anzeige habe nach internen Regelungen bis 9.00 Uhr zu erfolgen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Widerspruchsbescheids wird auf die von der Klägerin zur Akte gereichte Ablichtung davon (Bl. 8 bis 11 d. A.) verwiesen.
7. Die Klägerin hat am 13. Oktober 2020 Klage erhoben, soweit der Bescheid aufrecht erhalten bleibt, und macht dazu geltend: Die Beklagte habe ihr Ermessen überschritten. Die Anzahl der Krankheitstage trage diese Entscheidung nicht. Die Beklagte möge darlegen, ob sie das in allen Fällen längerer Krankheiten oder häufiger Krankheitstage so handhabe.
8. Die Klägerin beantragt,
9. den Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. September 2020 aufzuheben.
10. Die Beklagte beantragt,
11. die Klage abzuweisen.
12. Sie hält die Klage für unzulässig, weil sie bedingt erhoben sei. Die Klägerin sei ihrer Pflicht, eine Krankheit bis 9.00 Uhr anzuzeigen oder durch Dritte anzeigen zu lassen, mehrfach nicht nachgekommen. Zweck der streitigen Anordnung sei die rasche Wiederherstellung der Gesundheit der Klägerin. Sie sei keinesfalls als Sanktion für häufiges krankheitsbedingtes Fehlen zu verstehen. Wegen der weiteren Einzelheiten ihres Vorbringens wird auf den Schriftsatz vom 5. März 2021 (Bl. 35 bis 37 d. A.) Bezug genommen.
13. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16. März 2021 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
14. Der Verwaltungsvorgang hat vorgelegen.
Entscheidungsgründe
15. Über die Klage hat infolge des Beschlusses der Kammer vom 16. März 2021 gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 VwGO der Einzelrichter zu entscheiden. Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten darf er das ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16. Die Klage ist zulässig. Der gerichtliche Hinweis in der Eingangsverfügung, auf den die Beklagte ihre Auffassung stützt, die Klage sei unzulässig, beruht auf einem Missverständnis. Zwar kann man „soweit der Bescheid aufrecht erhalten bleibt“ als eine aufschiebende Bedingung verstehen, dass der Bescheid nur dann und soweit angefochten und Klage erhoben wird, wie eine noch ausstehende Überprüfung noch einen angreifbaren Rest übrig lässt. So ist dieser Halbsatz hier aber nicht gemeint und zu verstehen. Denn eine weitere Überprüfung durch die Beklagte nach dem Erlass des Widerspruchsbescheids stand nicht im Raum und so blieb der Ausgangsbescheid in der Gestalt aufrecht erhalten, die ihm der Widerspruchsbescheid gab. In dieser Gestalt greift ihn die Klägerin fristgerecht an.
17. Die Klage ist begründet, weil der angegriffene Bescheid rechtswidrig ist und die Klägerin zumindest in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
18. Beamte dürfen dem Dienst nicht ohne Genehmigung ihrer Dienstvorgesetzten fernbleiben (§ 96 Abs. 1 Satz 1 BBG). Einer Genehmigung bedürfen sie aber nicht, wenn sie arbeitsunfähig/dienstunfähig sind. Was der Beamte in einem solchen Fall zu tun hat, ist gesetzlich nicht geregelt, kann aber durch dienstliche Anordnungen im Sinne des § 62 Abs. 1 Satz 2 BBG bestimmt werden (vgl. Spitzlei in GKÖD I L § 96 BBG Rn. 18). Sollte die Klägerin ernstlich gemeint haben, eine Krankheitsanzeige am Abend des betroffenen Arbeitstages oder am Folgetag stelle ein korrektes Verhalten dar, ist durch die Begründung des Widerspruchsbescheids nun klargestellt, dass die Klägerin erkrankungsbedingtes Fernbleiben vom Dienst bis 9.00 Uhr des betroffenen Arbeitstags ihrer Dienststelle anzuzeigen hat. Jedoch ist nicht diese Regelung Gegenstand der streitigen Anordnung, sondern die, die bis 9.00 Uhr anzuzeigende Dienstunfähigkeit durch ein ärztliches Attest nachzuweisen. Diese Maßnahme ist an § 96 Abs. 1 Satz 2 BBG zu messen. Danach ist Dienstunfähigkeit (nicht nur im Sinne von § 44 BBG) infolge von Krankheit auf Verlangen nachzuweisen.
19. Dieses Verlangen ist dem Normtext nach an keine Voraussetzung gebunden. Zwanglos lässt sich aber der Normzweck erkennen, Zweifel an der das Fernbleiben vom Dienst begründenden Arbeits-/Dienstunfähigkeit zu beseitigen. Bleibt ein Beamter dem Dienst mit Genehmigung seines Dienstvorgesetzten fern, ist nichts nachzuweisen. Der Dienstvorgesetzte weiß um seine Genehmigung und wird die Berechtigung des Beamten zum Fernbleiben vom Dienst nicht anzweifeln. Anders liegt es im Krankheitsfall. Hier weiß der Dienstvorgesetzte regelmäßig nicht mehr als ihm der Beamte mitteilt. Es ist dem Dienstvorgesetzten überlassen, sich damit zu begnügen. Er muss es aber nicht. Er darf einen Nachweis der Behauptung des Beamten verlangen. Mit dieser nicht zwingenden Regelung stellt § 96 Abs. 1 Satz 2 BBG seine Rechtsfolge in das Ermessen des Dienstvorgesetzten (vgl. Spitzley, a.a.O.; Plog/Wiedow, BBG, § 96 Rn. 22). Das Ermessen ist jedoch nach dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und hat die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 40 VwVfG). Darauf hat sich die gerichtliche Prüfung der von der Beklagten angeführten Überlegungen zu beziehen (§ 114 Satz 1 VwGO). Diese dürfen noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzt werden (§ 114 Satz 2 VwGO).
20. Das Gericht versteht die Beklagte dahin, dass alle von ihr im Widerspruchsbescheid angeführten Überlegungen je für sich und nicht nur in ihrer Gesamtheit und nicht nur die im Klageverfahren vorgebrachten die streitige Maßnahme tragen sollen.
21. Ermessensfehlerhaft ist die zuletzt angebrachte Überlegung, die Maßnahme ziele darauf, einen Arztbesuch am ersten Tag zu tätigen, um jedweden Verzögerungen innerhalb des Genesungsprozesses frühzeitig zu begegnen. Das ist vom Zweck des § 96 Abs. 1 Satz 2 BBG nicht gedeckt. Dieser ist auf einen Nachweis nicht auf eine geeignete Behandlung gerichtet. Anordnungen zur Wiederherstellung der Dienstfähigkeit richten sich nach § 46 Abs. 4 BBG. Abgesehen davon ist die Anordnung eines Arztbesuchs im Falle absehbarer Kurzerkrankungen unverhältnismäßig, womit eine gesetzliche Grenze des Ermessens überschritten wird. Erfahrungsgemäß gibt es Kurzerkrankungen, die durch die körpereigenen Kräfte überwunden werden und deren Heilungsprozess ärztlich nicht beschleunigt werden kann. In einem solchen Fall ist ein Arztbesuch ein ungeeignetes Mittel zur Förderung des Genesungsprozesses.
22. Der Widerspruchsbescheid widerspricht der Klägerin, dass die streitige Anordnung Zweifel an der tatsächlichen Dienstunfähigkeit oder der Begründetheit der bisherigen Krankheitszeiten erfordere, und meint, sie könne auch auf andere Erwägungen gestützt werden. Die streitige Anordnung beruht nach dem Widerspruchsbescheid „insbesondere auf den häufigen Fehlzeiten“ der Klägerin. Diese Erwägung ist nicht vom Zweck der Norm gedeckt. Denn wenn die Dienstunfähigkeit im Sinne des § 96 Abs. 1 Satz 2 BBG nicht in Frage steht, sondern vom Dienstvorgesetzten anerkannt ist, besteht kein Grund für ihren Nachweis. Jedenfalls aber verstößt die Erwägung gegen das Übermaßverbot. Denn der Nutzen, den die Beklagte im Falle des Nachweises einer Behauptung, von der sie bereits überzeugt ist, hat, ist von weit geringerem Gewicht (falls er überhaupt eins hat) als die Belastung, die für die erkrankte Klägerin mit der Beibringung des Nachweises verbunden ist.
23. Eben weil sich der Widerspruchsbescheid ausdrücklich von der Zweifel erfordernden Auffassung der Klägerin absetzt, ist nicht zu erwägen, ob das Abstellen auf die „häufigen Fehlzeiten ohne unverzügliche Mitteilung“ solche Zweifel ausdrücken soll.
24. Vielmehr sieht das Gericht darin den Gedanken ausgedrückt, den der Widerspruchsbescheid mit den Worten bezeichnet, des Weiteren beruhe die Anordnung auf wiederholten Verstößen der Klägerin gegen die Anzeigepflicht zum Fernbleiben des Dienstes (wohl: vom Dienst) und der (Pflicht zur Anzeige) voraussichtlichen Dauer der Erkrankung. Sieht man einmal davon ab, dass sich damit in der streitigen Anordnung schwerlich etwas anderes erkennen lässt als das, was sie nach der Klageerwiderung nicht sein soll (Sanktion für häufiges krankheitsbedingtes Fehlen), verfehlt die so begründete Maßnahme den Zweck der gesetzlichen Ermächtigung, durch einen Nachweis die Dienstunfähigkeit infolge von Krankheit Streit und/oder Zweifeln zu entziehen. Sie ist zudem ungeeignet, den verfolgten Zweck zu erreichen. Die Verstöße der Klägerin gegen ihre (spätestens seit dem Widerspruchsbescheid klargestellte) Pflicht, bis 9 Uhr eines betroffenen Arbeitstags die Dienstunfähigkeit infolge von Krankheit und deren voraussichtliche Dauer zu melden, werden durch Erfüllung der Anordnung nicht verhindert. Abgesehen davon, dass die Anordnung der Klägerin nicht aufgibt, bis 9 Uhr eines Arbeitstags, an dem die Klägerin krankheitsbedingt dem Dienst fernbleibt, dies durch Attest nachzuweisen, trüge ein – wann auch immer eingereichtes – Attest nicht zur Einhaltung dieser Pflicht bei. Zudem dürfte eine Pflicht, bis 9 Uhr eines Arbeitstags ein ärztliches Attest vorzulegen, gemäß § 44 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG nichtig sein, da die üblichen Sprechzeiten von Ärzten das nicht ermöglichen.
25. Der Vorhalt, die Klägerin habe die von ihr eingereichten Atteste nicht stets unverzüglich übersandt, ist eine untaugliche Ermessenserwägung. Denn die Maßnahme betrifft nicht die Regelung des Zeitpunkts, zu dem das Attest bei dem Dienstvorgesetzten vorzulegen ist, sondern bestimmt (nur) „eine Attestvorlage ab dem ersten Krankheitstag“.
26. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit entspricht § 167 VwGO und den §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.
27. BESCHLUSS
28. Der Wert des Streitgegenstandes wird gemäß §§ 39 ff., 52 f. des Gerichtskostengesetzes auf
5.000,00 Euro
festgesetzt.
Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze
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