Berufsgericht für Heilberufe Berlin. Aktenzeichen: 90 K 4.19 T

Gericht: Berufsgericht für Heilberufe Berlin
Entscheidungsdatum: 04.06.2021
Aktenzeichen: 90 K 4.19 T
ECLI: ECLI:DE:VGBE:2021:0604.90K4.19T.00
Dokumenttyp: Urteil

Leitsatz

Die Berufspflichten zur gewissenhaften Berufsausübung gemäß § 2 Abs. 2 BO und zur Beachtung der für die Berufsausübung geltenden Rechtsvorschriften nach § 2 Abs. 5 der Berufsordnung der Ärztekammer Berlin sind nicht verletzt, wenn ein Arzt einer drogenabhängigen Patientin Substitutionsmittel zum Eigengebrauch für eine Woche trotz des Beigebrauchs von Benzodiazepin verschreibt, wenn und solange er sich davon überzeugt, dass damit keine schwerwiegende Selbstgefährdung der Patientin verbunden ist. § 5 BtMVV i.V.m. der dazu ergangenen Richtlinie der Bundesärztekammer enthalten insoweit keine strikten Vorgaben, sondern eröffnen dem Arzt einen Beurteilungsspielraum.

Tenor

Der Beschuldigte wird freigesprochen.

Die Einleitungsbehörde trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Einleitungsbehörde wird nachgelassen, die Vollstreckung durch den Beschuldigten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, soweit nicht der Beschuldigte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet

Tatbestand

1. Die Einleitungsbehörde wirft dem Beschuldigten als Berufsvergehen im Wesentlichen vor, er habe eine opiatabhängige Patientin sexuell belästigt und ihr Substitutionsmittel entgegen den Regeln der ärztlichen Kunst verschrieben.

2. Der am 8… in N… geborene Beschuldigte ist seit dem 7… im Besitz der ärztlichen Approbation. Seit dem 2… besitzt er die Berechtigung, die Bezeichnung praktischer Arzt zu führen. Er ist seit dem 1… in Berlin als niedergelassener Arzt mit vertragsärztlicher Zulassung im Bereich der hausärztlichen Versorgung tätig. Die Ärztekammer Berlin hat ihm am 2… bescheinigt, dass er die Qualifikationskriterien der Fachkunde „Suchtmedizinische Grundversorgung“ sowie zur Substitutionsbehandlung erfüllt. Berufsrechtlich ist er bislang nicht in Erscheinung getreten.

3. Eine ehemalige Patientin des Beschuldigten, die Zeugin A… beschwerte sich mit Schreiben vom 15. Mai 2018 bei der Einleitungsbehörde darüber, dass der Beschuldigte sie sexuell belästigt habe. Der Beschuldigte bestritt die behaupteten Belästigungen und schilderte, dass die Patientin sich ihm angeboten habe bzw. dass es peinliche Situation gegeben habe, die er durch ein Verlagern in Albernheit versucht habe zu entschärfen. Der Vorstand der Einleitungsbehörde beschloss in seiner Sitzung am 27. August 2018 die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens und bestellte einen Untersuchungsführer. Dieser vernahm am 1. November 2018 die Zeugin H… sowie die Sozialpädagogin F… , die mit der psychosozialen Betreuung der Patientin befasst war. Am 20. Dezember 2018 hörte er die Zeugin J… , die in der Praxis des Beschuldigten als medizinische Fachangestellte tätig ist. Wegen der Einzelheiten der Angaben der Zeuginnen wird auf die Protokolle im Verwaltungsvorgang der Einleitungsbehörde Bezug genommen. Der Untersuchungsführer kam in seinem Abschlussbericht vom 2. April 2019 zu dem Ergebnis, dass die Angaben der Zeugin H… glaubhaft seien, wofür aus seiner Sicht insbesondere die von dem Beschuldigten praktizierte Substitutionsbehandlung sprach. Er empfahl die Einleitung des berufsgerichtlichen Verfahrens. Der Vorstand der Einleitungsbehörde folgte in seiner Sitzung vom 6. Mai 2019 diesem Vorschlag, woraufhin die Einleitungsbehörde am 26. Juni 2019 die Anschuldigungsschrift beim Berufsgericht für Heilberufe einreichte.

4. Dem Beschuldigten wird nach dem Eröffnungsbeschluss vom 10. Dezember 2020

5. zur Last gelegt,

6. in Berlin
in der Zeit zwischen 2014 und Januar 2018
in mehreren Fällen
seinen Beruf nicht gewissenhaft ausgeübt, dem ihm bei seiner Berufsausübung entgegengebrachten Vertrauen nicht entsprochen und dabei sein ärztliches Handeln nicht am Wohl seiner Patientin ausgerichtet zu haben, die für die Berufsausübung geltenden Vorschriften nicht beachtet zu haben sowie die medizinische Behandlung nicht unter Wahrung der Menschenwürde und nicht unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte seiner Patientin, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, durchgeführt zu haben,

7. und dadurch seine Berufspflichten als Arzt verletzt zu haben.

8. Im Einzelnen wirft die Einleitungsbehörde dem Beschuldigten den folgenden Sachverhalt vor:

9. 1. Der Beschuldigte habe seine opiatabhängige Patientin A… , im Zeitraum zwischen Januar 2014 und Januar 2018 im Rahmen einer Behandlung mit Substitutionsmitteln in seiner Praxis sexuell belästigt sowie die der Patientin gegenüber notwendige Distanz nicht eingehalten, wobei er das Abhängigkeitsverhältnis der unter einer schweren Suchterkrankung leidenden Patientin zu sich als Arzt missbräuchlich ausgenutzt habe. Dies sei wie folgt geschehen:

10. a) Der Beschuldigte habe die Patientin A… in dem o. g. Zeitraum zu nicht näher bestimmten Zeitpunkten in seinem Sprechzimmer mindestens zwei Mal auf anzügliche Weise durch einen „Klaps“ mit der Hand am Gesäß berührt.

11. b) Im Anmeldebereich der Praxis habe der Beschuldigte in dem o. g. Zeitraum zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt die Patientin A… , während diese am Praxistresen gestanden habe, absichtlich auf anzügliche Weise berührt, indem er sein Knie von hinten zwischen die Oberschenkel der Patientin gestellt habe.

12. c) Der Beschuldigte habe seiner Patientin A… gegenüber während eines Behandlungstermins in seiner Praxis zwischen dem 14. August 2017 und dem 30. August 2017 geäußert, dass die Patientin A… , die wegen eines Rückfalls mit Drogenkonsum Gewicht verloren hatte, stark abgenommen habe, aber glücklicher Weise nicht an den Brüsten.
Im Rahmen eines Behandlungstermins am 30. August 2017 oder bei einem späteren Termin im Zuge der wieder begonnenen Substitutionsbehandlung der Patientin H… bei dem Beschuldigten in dessen Praxis habe der Beschuldigte sinngemäß bemerkt, dass durch die Gewichtszunahme der Patientin H… auch die Brüste der Patientin größer würden und dass ihm dies gefalle.

13. d) Seit dem Jahr 2014 habe der Beschuldigte der Patientin A… über das Programm WhatsApp Nachrichten mit aufdringlichem oder anzüglichem Inhalt gesandt. Der Beschuldigte habe der Patientin H… mindestens zweimal zu nicht näher bestimmten Zeitpunkten virtuell Blumen geschickt und ihr mindestens zweimal, in einem Fall am 19. Dezember 2017, ohne medizinischen Anlass auf aufdringliche Weise Hausbesuche seinerseits angeboten. Am 16. Januar 2018 habe der Beschuldigte der Patientin H… das Bild eines entblößten männlichen Oberkörpers mit dem Kommentar „Stimmt“ geschickt.

14. e) In mindestens drei Fällen zu nicht näher bestimmten Zeitpunkten zwischen 2015 und dem 26. Juni 2017 und zwischen dem 14. August 2017 und dem 10. Januar 2018 habe der Beschuldigte die Patientin H… zu der Übersendung privater Fotos und dabei möglichst freizügiger Bilder von ihrem Oberkörper, auch mit entblößten Brüsten gedrängt, wobei er zu verstehen gegeben habe, dass er das Ausstellen von Verschreibungen über Substitutionsmittel für mehrere Tage bis zur Dauer von drei Wochen zur eigenverantwortlichen Einnahme für die Patientin H… von der Übersendung entsprechender Bilder abhängig mache.

15. 2. Der Beschuldigte habe der Patientin H… im Zeitraum vom 16. März 2015 bis zum 26. Juni 2017 durchgehend und in mindestens 22 Fällen entgegen den Vorschriften für die Behandlung mit Substitutionsmitteln und den Regeln der ärztlichen Kunst Take-Home-Verschreibungen über Substitutionsmittel für sieben Tage ausgestellt, obwohl die Patientin gemäß den seit März 2015 durchgeführten Drogen-Screenings regelmäßig nicht ärztlich verordnet Benzodiazepine und laut dem Drogenscreening vom 5. März 2015 einmal Opiate zu sich genommen habe und die Patientin H… nicht durchgehend stabil auf das Substitutionsmittel eingestellt gewesen sei. Der Beschuldigte habe der Patientin H… auch im Zeitraum vom 15. August 2017 bis zum 10. Januar 2018 durchgehend und in mindestens sieben Fällen entgegen den Vorschriften für die Behandlung mit Substitutionsmitteln und den Regeln der ärztlichen Kunst Verschreibungen über Substitutionsmittel für mehrere Tage bis zur Dauer von drei Wochen zur selbständigen Einnahme ausgestellt, obwohl die nicht erwerbstätige Patientin zwischen Ende Juni 2017 und dem 14. August 2017 durch den Konsum von Drogen wie Heroin und Kokain rückfällig geworden gewesen sei und gemäß den seit dem 21. August 2017 durchgeführten Drogen-Screenings auch nach der Umstellung auf ein anderes Substitutionsmittel wiederum regelmäßig nicht ärztlich verordnet Benzodiazepine zu sich genommen habe.

16. Es handele sich um einen Verstoß gegen §§ 2 Abs. 2, Abs. 5, 7 Abs. 1 Berufsordnung der Ärztekammer Berlin (BO). Der Beschuldigte habe durch sein Verhalten insbesondere das ärztliche Distanzgebot vorsätzlich verletzt und dadurch, dass er Verschreibungen des Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme bzw. Take-Home-Verschreibungen davon abhängig gemacht habe, dass seine Patientin ihm persönliche und auch sexuell motivierte Gefälligkeiten erweise, einen vorsätzlichen schwerwiegenden Verstoß gegen § 7 Abs. 1 BO begangen, wonach jede medizinische Behandlung unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen habe. Durch die Verschreibungen von Substitutionsmitteln zur eigenverantwortlichen Einnahme ohne Beachtung der dazu geregelten Voraussetzungen bzw. Richtlinien habe der Beschuldigte nicht nur den fachlichen Standard ohne Vorliegen eines medizinischen Grundes unbeachtet gelassen und dadurch vorsätzlich seine Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung gemäß § 2 Abs. 2 BO verletzt, sondern auch gegen die für ihn geltende Berufspflicht nach § 2 Abs. 5 BO verstoßen, wonach die für die ärztliche Berufsausübung geltenden Vorschriften zu beachten sind.

17. Die Einleitungsbehörde hielt die Vorwürfe nach der Beweisaufnahme im berufsrechtlichen Untersuchungsverfahren für erwiesen. Der Beschuldigte trat ihnen überwiegend entgegen.

18. Zu den Punkten la) und lb) habe er bereits im Untersuchungsverfahren klargestellt, dass es zu keinerlei sexuellen Übergriffen gekommen sei, weder in seinem Sprechzimmer und noch an der Rezeption seiner Praxis.

19. Zu Punkt 1c) müsse er vom zeitlichen Ablauf richtigstellen, dass Frau H… während ihres Rückfalls in der Zeit von Ende Juni bis Mitte August 2017 enorm an Gewicht verloren hatte. Nach Wiederaufnahme in die Substitution sei es dank Stabilisierung der Lebensverhältnisse zu einer Gewichtszunahme gekommen. Sie habe dazu bemerkt, dass dadurch ihre weiblichen Reize zugenommen hätten. Später habe sie sich um eine Abnahme bemüht. Bei einer Begegnung in der Praxis habe sie ihm freudig mitgeteilt, dass sie abgenommen habe. Er habe dies mit den Worten „hoffentlich an den richtigen Stellen“ und einem Augenzwinkern kommentiert.

20. Zu den Punkten ld) und le) habe er in der gesamten Zeit der Behandlung der Frau H… von September 2009 bis Januar 2018 jederzeit unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte seiner damaligen Patientin gehandelt, insbesondere das Selbstbestimmungsrecht beachtet. Frau H… habe ihn mehrfach in der Praxis, auch in Gegenwart der medizinischen Fachangestellten J… , bedrängt, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben; so habe sie z.B. am Ende der Sprechstunde mit Frau J… auf dem Bürgersteig vor der Praxis gestanden und ihn, als er mit dem PKW vorbeifuhr, in provokanter Haltung als Aufforderung sie mitzunehmen den Daumen hingehalten.

21. Aus diesem Verhalten ließen sich die per WhatsApp verschickten Bilder erklären; Frau H… habe ihn von ihren weiblichen Vorzügen überzeugen wollen. Er habe sie niemals dazu aufgefordert bzw. mit der Vergabe des Substitutionsmittels verknüpft. Insgesamt habe sich der Nachrichtenverlauf auf einem Niveau bewegt, dass man eher als albern oder scherzhaft bezeichnen müsse. Bei dem Video, das er Frau H… geschickt habe, handele es sich tatsächlich um ein Urlaubsvideo, das seine Frau in Uganda gemacht habe; es zeige einen „Silberrücken“ bei der Fellpflege mit einem seiner Weibchen. Die Verknüpfung mit sexueller Belästigung habe bei ihm in dem Moment nicht stattgefunden, aber es sei ein schönes Video. Von einem Mann mit freiem Oberkörper sei ihm nichts erinnerlich.

22. Zum Punkt 2) weist er auf Auszüge aus einer Untersuchung der „Bayrischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen“ zur „Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger: Zur Problematik der zusätzlichen Einnahme von Benzodiazepinen“, 2. überarbeitete und aktualisierte Version (Stand: 26. Oktober 2015) hin und erläutert:

23. In den begleitenden Gesprächen, die auch immer wieder den Gebrauch von Diazepam zum Inhalt hatten, habe Frau H… fortgesetzt berichtet, dass sie seit dem Tod ihres neugeborenen Kindes ohne eine Tablette Diazepam nicht einschlafen könne; er habe in diesen Gesprächen immer wieder betont, dass in der Kombination Substitut und Diazepam ein Gefährdungspotential bestünde. Da sich dieser Umstand nicht beeinflussen ließ, habe Frau H… nach Absprache am 12. Juli 2012 eine Einweisung zur stationären Entgiftung gemacht; sie sei dann zunächst letztmalig am 17. Juli 2012 substituiert worden und habe sich zur Entgiftung abgemeldet. Im Juni 2013 habe sie sich dann erneut vorgestellt, mit dem Wunsch wieder substituiert zu werden. Da die Diazepamproblematik fortbestand, habe er versucht, einen medikamentösen Ersatz zu finden. Dieser sei jedoch gescheitert, sodass er nach vielen Gesprächen dem Gebrauch von Diazepam zugestimmt habe, unter der Bedingung, dass nur eine Tablette Diazepam zur Nacht eingenommen werde. In den fast 10 Jahren, in denen er Frau H… substituiert habe, sei es zu keiner Zeit zu Zeichen einer Dosissteigerung oder eines Diazepammissbrauchs gekommen. Es habe keine Anzeichen einer auffälligen Müdigkeit oder einer Ateminsuffizienz gegeben. Hinzu komme, dass über die Zeit die Dosis des Substituts immer wieder reduziert werden konnte, ein Umstand, der sich auch positiv auf die Wechselwirkung zwischen Substitut und Diazepam ausgewirkt habe.

24. Die Einleitungsbehörde geht nach der Vernehmung der Zeugin H… in der mündlichen Verhandlung und aufgrund der Angaben des Beschuldigten über die Vergabe der Substitutionsmittel davon aus, dass dem Beschuldigten ein Verstoß gegen das Distanzgebot nachzuweisen sei und beantragt daher,

25. gegen den Beschuldigten einen Verweis zu verhängen.

26. Der Beschuldigte beantragt,

27. ihn freizusprechen.

28. Er meint nach der Vernehmung der Zeugin H… die vom ihm überwiegend bestrittenen Anschuldigungen der Einleitungsbehörde ließen sich auf der Grundlage der Angaben der Zeugin in der mündlichen Verhandlung nicht aufrecht erhalten. Nach dem Rückfall habe die Patientin mit Ausnahme der Verschreibungen im Dezember 2017 keine Take-home-Verordnungen mehr erhalten. Die von ihm nach dem Rückfall der Patientin verschriebenen Subutex-Tabletten seien auf der Grundlage der Verschreibung in der Praxis verwahrt worden. Sie seien dort von der Patientin eingenommen worden und nach zwei Monaten, nach dem sich ihre Behandlung als stabil erwiesen habe, seien sie ihr auch für zwei bis drei Tage zur eigenverantwortlichen Einnahme mitgegeben worden.

29. Die Aufsichtsbehörde hat keinen Antrag gestellt und war im Termin zur mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht vertreten.

30. Das Berufsgericht hat die Zeugin H… in der mündlichen Verhandlung vernommen. Wegen der Einzelheiten ihrer Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Dem Berufsgericht lagen neben der Gerichtsakte die Verwaltungsvorgänge der Einleitungsbehörde als Beiakten vor, deren Inhalt – soweit von Bedeutung – Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung war. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Einleitungsbehörde und die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Entscheidungsgründe

31. 1. Gemäß § 92 des Berliner Heilberufekammergesetz (BlnHKG) vom 2. November 2018 (GVBl. 2018, 622) sind auf Berufsvergehen, die – wie in dem vorliegenden Verfahren – vor dem 30. November 2018 begangen worden sind, die bis zu diesem Zeitpunkt maßgeblichen Rechtsvorschriften weiterhin anzuwenden. Daher ist für das berufsgerichtliche Verfahren wegen Handlungen des Beschuldigten aus der Zeit bis einschließlich Januar 2018 das Gesetz über die Kammern und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Berliner Kammergesetz – KammerG) in der Fassung vom 4. September 1978 (GVBl. S. 1937), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 9. Mai 2016 (GVBl. S. 226) geändert worden ist, maßgeblich (vgl. auch § 94 Absatz 2 Nummer 1 BlnHKG).

32. Auf dieser Grundlage sind auf das berufsgerichtliche Verfahren, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, gemäß § 24 KammerG die Vorschriften über das Disziplinarverfahren gegen die Landesbeamten und auf dieser Grundlage gemäß § 3 und § 41 Disziplinargesetz (DiszG) die Bestimmungen der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sowie des Bundesdisziplinargesetzes (BDG) jeweils entsprechend anzuwenden.

33. Das Berufsgericht kann trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Aufsichtsbehörde in der Hauptverhandlung verhandeln und entscheiden, weil auf diese Möglichkeit in deren Ladung ausdrücklich hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 3 DiszG und § 24 KammerG).

34. 2. Der Beschuldigte hat sich keines nach § 17 Abs. 1 KammerG zu ahndenden Berufsvergehens schuldig gemacht. Soweit sich die von der Einleitungsbehörde angeschuldigten Handlungen zur Überzeugung des Berufsgerichts erwiesen haben, verstößt das Verhalten des Beschuldigten nicht in einer berufsrechtlich relevanten Weise gegen die Regelungen der zur Tatzeit geltenden Berufsordnung der Ärztekammer (BO) vom 26. November 2014 (ABl. S. 2341), die zuletzt durch die erste Änderung vom 10. Oktober 2018 geändert worden ist (ABl. 2019 S. 27). Die hier relevanten Vorschriften der Berufsordnung sind von dieser Änderung nicht erfasst.

35. a. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann sich das Berufsgericht nicht davon überzeugen, dass der Beschuldigte die Zeugin A… in der in der Anschuldigungsschrift dargestellten Weise sexuell belästigt hat. Auch die Einleitungsbehörde sah nach der Vernehmung der Zeugin nur noch einen Teil der Vorwürfe als erwiesen an.

36. Die Zeugin konnte sich bei ihrer Vernehmung in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen nicht mehr an das Verhalten des Beschuldigten während ihrer Substitution in seiner Praxis erinnern. Sie war sich allein noch sicher, dass sie öfters Nachrichten von dem Beschuldigten erhalten habe, dass er sie einmal an den Hintern gefasst habe, als sie am Tresen gestanden habe, und dass er ihre Situation damals ausgenutzt habe. Diese Behauptungen sind zu unbestimmt, um dem Berufsgericht die Überzeugungsgewissheit zu verschaffen, dass der Beschuldigte der Zeugin tatsächlich in der angeschuldigten Weise sexuell motiviert zu nahe getreten ist. Nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO i.V.m. § 3 DiszG und § 24 KammerG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung.

37. Die Zeugin konnte ihre Erinnerungslücken zwar nachvollziehbar auf die Folgen einer schweren Erkrankung zurückführen. Die im Wege des Urkundsbeweises verwertbare Niederschrift über ihre Vernehmung durch den Untersuchungsführer am 1. November 2018 und ihr Beschwerdeschreiben vom 5. Mai 2018 sind jedoch weder aus sich heraus noch in der Gesamtschau derart überzeugend, dass die zu Gunsten des Beschuldigten zu berücksichtigenden Zweifel schweigen müssten. So spricht überwiegendes dafür, dass die Zeugin insbesondere bei ihrer Vernehmung durch den Untersuchungsführer ihren eigenen Beitrag zu dem lockeren Umgang mit dem Beschuldigten deutlich heruntergespielt hat. Auch darüber hinaus stellen Widersprüche und Unstimmigkeiten die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben in Frage.

38. Das Berufsgericht geht davon aus, dass die Zeugin dem Beschuldigten tatsächlich über Whatsapp Fotos von sich geschickt hat, was der Beschuldigte auch einräumt. Es bleibt jedoch zweifelhaft, ob dies auf Verlangen des Beschuldigten erfolgt ist. Die Zeugin hat sich insoweit bei ihrer Vernehmung durch den Untersuchungsführer widersprüchlich und abweichend von ihren Angaben in ihrem Beschwerdeschreiben eingelassen. Nach dem Inhalt des Beschwerdeschreibens vom 5. Mai 2018 soll der Beschuldigte sie zum Ende „(12/2017)“ per Whats App um private Fotos gebeten haben, die sie ihm „aus Angst vor Konsequenzen gesendet“ habe. Daraufhin habe sie sich „01/2018“ entschieden die Arztpraxis zu wechseln, da sie sich „mehr und mehr bedrängt fühlte.“ Bei ihrer Vernehmung am 1. November 2018 konnte sie sich hingegen nicht mehr erinnern, wann der Beschuldigte sie gebeten habe, ihm Fotos als Gegenleistung für das Medikament zu senden. Sie konnte nichts dazu sagen, „ob das schon vor diesem Rückfall war oder erst danach“. Gerade in Bezug auf die WhatsApp-Nachrichten fällt zudem auf, dass die Zeugin im Juni 2018 noch den relativ harmlosen Chat-Verlauf vom Dezember 2017 / Januar 2018 als Ausdruck vorlegen konnte, nicht jedoch die Nachrichten, aus denen sich die angebliche Forderung des Beschuldigten und die Übersendung von Bildern ergeben hätten. Erläutert hat sie dies der Vertreterin der Einleitungsbehörde nach deren Vermerk vom 21. Juni 2018 mit der in solchen Fällen regelmäßig vorgebrachten Erläuterung, sie habe ihr Handy gewechselt und verfüge über kein Backup.

39. Die WhatsApp Nachrichten im Beschwerdevorgang stützen die Anschuldigungen ebenfalls nicht in hinreichendem Maße. Ein Chat-Verlauf am 19. Dezember 2017, bei dem es der Zeugin H… darum ging, Substitutionsmittel für zwei Wochen mitnehmen zu können, endet, nachdem der Beschuldigte ihr dies zugesagt hatte, mit dem um 17:31 Uhr übersandten Video eines Gorillas mit einem Gorillababy und dem Zusatz „Der zärtliche Riese!“, sowie anschließend um 22:30 Uhr mit: „Hausbesuch?“. Dieses sicherlich unerwünschte, aber möglicherweise auch nur scherzhafte Angebot, klingt jedenfalls nicht so dramatisch, wie die Einleitungsbehörde dies darstellt. Es erschließt sich auch nicht, was das verschwommene Bild vom 16. Januar 2018 mit dem Zusatz „Stimmt!“ ausdrücken soll. Nach den Angaben der Zeugin H… bei ihrer Vernehmung durch den Untersuchungsführer zeigte es jedenfalls nicht den Beschuldigten („Warum Herr O… mir das Bild eines Schwarzen geschickt hat, kann ich nicht sagen.“).

40. Das Berufsgericht konnte sich nicht davon überzeugen, dass der Beschuldigte das Aussehen der Zeugin über die von ihm im Zusammenhang mit einer Information der Patientin über eine Gewichtsabnahme eingeräumte Kommentierung „hoffentlich an den richtigen Stellen“, die mit einem Augenzwinkern versehen gewesen sei, hinaus von sich aus in einer aufdringlichen Weise angesprochen hat. Auch insoweit lässt sich vielmehr aus dem von der medizinischen Fachangestellten des Beschuldigten als Ausdruck vorgelegten Äußerungen der Patientin ableiten, dass es durchaus sein kann, dass sich die Patientin dem Beschuldigten aufdrängte.

41. Insgesamt geht das Berufsgericht von einem nicht in jeder Hinsicht professionellen Verhalten des Beschuldigten aus, das jedoch nicht den Schweregrad erreicht, der erforderlich sein müsste, um das Bedürfnis nach einer berufsgerichtlichen Sanktion wegen einer Verletzung der Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung auszulösen.

42. Nach § 2 Abs. 2 S. 1 und 2 BO haben Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihnen bei ihrer Berufsausübung entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Sie haben dabei ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten auszurichten. Jede medizinische Behandlung hat gemäß § 7 Abs. 1 BO unter Wahrung der Menschenwürde und unter Achtung der Persönlichkeit, des Willens und der Rechte der Patientinnen und Patienten, insbesondere des Selbstbestimmungsrechts, zu erfolgen. Mit Übernahme der Behandlung verpflichten sich Ärztinnen und Ärzte den Patientinnen und Patienten gegenüber zur gewissenhaften Versorgung mit geeigneten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (§ 11 Abs. 1 BO). Diese Bestimmungen greifen den Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage in § 4a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KammerG bzw. jetzt § 26 BlnHKG auf, wonach es insbesondere zu den Berufspflichten gehört, den Beruf gewissenhaft auszuüben. Die Ärztekammer als eine mit Satzungsautonomie ausgestattete Körperschaft konnte zur Normierung dieser Berufspflicht ermächtigt werden, weil sie keinen statusbildenden Charakter hat und lediglich in die Freiheit der Berufsausübung von Verbandsmitgliedern eingreift (Berufsobergericht für Heilberufe bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Februar 2019 – OVG 90 H 2.18 – juris Rn. 80).

43. Die Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung verpflichtet den Arzt im Allgemeinen zu einer im Hinblick auf die betroffenen Rechtsgüter seiner Patienten besonders sorgfältigen Vorgehensweise. Der Arzt muss seinen Beruf mithin korrekt ausüben. Hierzu gehören die in einer früheren Fassung der Berufsordnung ausdrücklich geregelten Grundsätze korrekter ärztlicher Berufsausübung in Kapitel C Nr. 1 (Umgang mit Patienten). Danach verlangt eine korrekte ärztliche Berufsausübung u.a., dass der Arzt beim Umgang mit Patienten ihre Würde und ihr Selbstbestimmungsrecht respektiert, ihre Privatsphäre achtet und Rücksicht auf die Situation des Patienten nimmt. Nichts wesentlich Abweichendes ergibt sich aus den gleichlautenden Regelungen in den § 2 Abs. 2 und 3, § 7 Abs. 1 BO, auch wenn die Berufsordnung vom 26. November 2014 keine konkretisierenden Bestimmungen wie in Kapitel C der Berufsordnung vom 30. Mai 2005 enthält (Berufsobergericht für Heilberufe bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Februar 2019 – OVG 90 H 2.18 – juris Rn. 81).

44. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient muss von einem generellen professionellen Diskurs geprägt sein. Fachlichkeit und Professionalität stehen im Mittelpunkt dieses Verhältnisses, das maßgeblich durch eine spezifische Rollenverteilung (Arzt als Helfender und Patient als Hilfesuchender), ein damit verbundenes erhebliches strukturelles Machtgefälle sowie eine (unerlässliche) besondere Vertrauensbeziehung bestimmt wird. Zu einer professionellen Gestaltung der zwischen dem Arzt und seinem Patienten bestehenden Arbeitsbeziehung gehört es nicht nur, dass der Arzt das Vertrauensverhältnis zu seinem Patienten nicht zur Befriedigung eigener Interessen und Bedürfnisse missbraucht. Fachlichkeit und Professionalität des Arztes als bedeutsame Maximen bei der Behandlung eines Patienten erfordern es darüber hinaus, dass der Arzt zu seinem Patienten die notwendige Distanz sowohl in körperlicher als auch in kommunikativer Hinsicht wahrt, wobei dies nicht nur während der Behandlung, sondern auch nach deren Abschluss gilt (Berufsobergericht für Heilberufe bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Februar 2019 – OVG 90 H 2.18 – juris Rn. 84 – 86).

45. Der Arzt hat bei dem für die Durchführung der Therapie notwendigen Aufbau einer Nähebeziehung Zurückhaltung zu üben, also Kontakte auf das professionell erforderliche Maß zu beschränken. Demgemäß darf ein Arzt gegenüber dem Patienten auch nicht als „privater“, sondern nur als „professioneller“ Freund auftreten, und zwar in dem Sinne, dass er den Patienten als eigene Persönlichkeit wahrnimmt und ihm mit Empathie begegnet. Eine Verwechslung zwischen privaten Beziehungen und dem „Arbeitsverhältnis“ zwischen Arzt und Patienten muss ausgeschlossen werden. Verbale Kommentare des Arztes dürfen sich ebenfalls nur im professionellen Rahmen bewegen. Zu vermeiden ist, dass sie vom Patienten als private Äußerungen wahrgenommen werden und den Anschein erregen, als nähere sich der Arzt nicht als professioneller Helfer. Auch mündliche Bemerkungen etwa zum Aussehen einer Patientin sind als professionelle Äußerungen zu kennzeichnen und dürfen nicht als rein private Empfindung erscheinen. Für eine Kommunikation des Arztes mit dem Patienten etwa über soziale Medien gilt das Prinzip des Konsenses; ein Kontakt zu therapeutischen Zwecken kann nur hergestellt werden, wenn der Patient ihn möchte (Berufsobergericht für Heilberufe bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Februar 2019 – OVG 90 H 2.18 – juris Rn. 88 – 90).

46. Von diesen Grundsätzen ausgehend hat der Beschuldigte zwar die erforderliche professionelle Distanz nicht in jeder Hinsicht gewahrt. Es handelt sich jedoch nicht um einen schwerwiegenden Verstoß, der insbesondere im Hinblick auf die Belastungen, denen der Beschuldigte durch das berufsgerichtliche Verfahren ausgesetzt war, keine berufsgerichtliche Maßnahme erfordert, um ihn zukünftig zu einem professionelleren Umgang mit seinen Patientinnen anzuhalten.

47. b. Durch die Verschreibungen von Substitutionsmitteln bzw. deren Überlassung in Form von Tabletten zur eigenverantwortlichen Einnahme hat der Beschuldigte seine Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung gemäß § 2 Abs. 2 BO und die Berufspflicht nach § 2 Abs. 5 BO, die für die ärztliche Berufsausübung geltenden Vorschriften zu beachten, nicht verletzt.

48. Das Berufsgericht geht nach dem Inhalt der von dem Beschuldigten ausgedruckten und der Einleitungsbehörde übersandten Patientendateien für die Zeit vom
8. Juli 2014 bis 8. November 2019, den Angaben der medizinischen Fachangestellten des Beschuldigten bei ihrer Vernehmung durch den Untersuchungsführer und der Einlassung des Beschuldigten für die Zeit vor dem Rückfall der Patientin von der Sachverhaltsdarstellung in der Anschuldigungsschrift aus.

49. Nach der Behandlungsdokumentation erhielt die seit 2003 drogenabhängige Zeugin H… von dem Beschuldigten zwischen dem 8. Juli 2014 bis zum 26. Juni 2017 in 22 Fällen Rezepte über ihren Tagesbedarf an Polamidon für sieben Tage im Voraus (Take- Home-Verschreibungen), obwohl im Verlauf beim Drogenscreening ein regelmäßiger Beigebrauch von Benzodiazepinen festgestellt wurde.

50. Als Ergebnisse der Drogenscreenings sind in der Behandlungsdokumentation unter den Daten 11. November und 8. Dezember 2014, 9. März, 13. April, 11. Mai, 15. Juni, 11. September, 19. Oktober, 23. November und 24. Dezember 2015, 11. Januar, 15. Februar, 7. März, 11. April, 2. Mai, 13. Juni, 18. Juli, 1. August, 5. September, 31. Oktober sowie 5. Dezember 2016, 24. Januar, 25. April und 18. Mai 2017 Benzodiazepine als positiv angegeben; unter dem 9. März 2015 sind auch Opiate als positiv angegeben. Nach der Behandlungsdokumentation hat die Patientin die auffälligen Ergebnisse der Drogenscreenings mit einer regelmäßigen für sie nicht verzichtbaren Einnahme einer Tablette zum Schlafen begründet. Laut der Behandlungsdokumentation hat der Beschuldigte die der Patientin verschriebene Tagesdosis der Polamidon-Lösung seit Ende September 2016 sukzessive herunterdosiert von 13 auf 7 ml. Ab Mitte Januar 2017 erhielt die Patientin Verschreibungen über Polamidon-Tabletten anstelle einer Lösung. Auch hier wurde der Tagesbedarf von zunächst 35 mg bis Juni 2017 auf 25 mg herunterdosiert.

51. Ende Juni 2017 kam es bei der Patientin H… zu einem Rückfall mit extremem Drogenkonsum auch von Heroin und Kokain. Die Patientin suchte die Praxis des Beschuldigten erst Mitte August 2017 wieder auf. Sie hatte massiv abgenommen.

52. Der Beschuldigte stellte danach die Substitution auf „SUBUTEX 2 mg Sublingualtabletten“ um. Ausweislich der Behandlungsdokumentation des Beschuldigten wurde das Mittel (56 Stück) der Patientin am 15. August, 3. September, 24. September, 9. Oktober, 31. Oktober, 24. November, 18. Dezember, 22 der Dezember, 30. Dezember 2017 und am 10. Januar 2018 auf einem Betäubungsmittelrezept verordnet. Nach der glaubhaften Einlassung des Beschuldigten in der mündlichen Verhandlung und den Angaben der medizinischen Fachangestellten des Beschuldigten bei ihrer Vernehmung durch den Untersuchungsführer wurden die Tabletten auf der Grundlage der Verschreibung in der Praxis verwahrt. Sie wurden dort von der Patientin beaufsichtigt durch die medizinische Fachangestellte eingenommen. Nach zwei Monaten, als sich die Behandlung nach der Einschätzung des Beschuldigten als stabil erwiesen hatte, händigte die medizinische Fachangestellte der Patientin nach Rücksprache mit dem Beschuldigten die Tabletten für zwei bis drei Tage zur eigenverantwortlichen Einnahme aus. Auf ihre Bitte erhielt die Patientin H… im Hinblick auf eine geplante Reise jeweils ein als solches ausdrücklich verzeichnetes Take-Home-Rezept über das Substitutionsmittel Subutex für die Zeit vom 22. bis zum 29. Dezember 2017 und erneut vom 31. Dezember 2017 bis zum 2. Januar 2018. Der Vorwurf in der Anschuldigungsschrift, der Beschuldigte habe der Patientin in mindestens sieben Fällen entgegen den Vorschriften für die Behandlung mit Substitutionsmitteln und den Regeln der ärztlichen Kunst Verschreibungen über Substitutionsmittel für mehrere Tage bis zur Dauer von drei Wochen zur selbständigen Einnahme ausgestellt, ist danach überwiegend unzutreffend.

53. Auch nach dem Rückfall wurde beim Drogenscreening mehrmals ein Konsum von Benzodiazepinen festgestellt. Als Ergebnisse der Drogenscreenings sind in der Behandlungsdokumentation unter den Daten 21. August, 22. September, 9. Oktober, 9. November, 20. Dezember 2017 und 17. Januar 2018 Benzodiazepine als positiv angegeben. In der Behandlungsdokumentation des Beschuldigten ist unter dem 17. Januar 2018 vermerkt: „… Beigebrauch Benzos weiterhin!! auf drohende Gefahren hingewiesen, Eigengefährdung!“

54. Der Beschuldigte hat dazu glaubhaft und durch die Behandlungsdokumentation belegt dargelegt, dass er den Beigebrauch in den begleitenden Gesprächen regelmäßig thematisiert hat. Da er nach mehreren Versuchen keine andere Lösung finden konnte, stimmte er der Vorgehensweise der Patientin unter der Bedingung zu, dass nur eine Tablette Diazepam zur Nacht eingenommen werde. Nach seinen Beobachtungen ist es zu keiner Zeit zu Zeichen einer Dosissteigerung oder eines Diazepammissbrauchs gekommen. Er konnte keine Anzeichen einer auffälligen Müdigkeit oder einer Ateminsuffizienz feststellen. Ausgehend von diesem Sachverhalt lässt sich nicht feststellen, dass der Beschuldigte vorsätzlich den rechtlichen Rahmen für die Substitutionsbehandlung überschritten hat. Auch die Einleitungsbehörde ging in der Begründung für ihren Antrag nicht mehr von einem erwiesenen Verstoß aus.

55. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 6 a) BtMG des Betäubungsmittelgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. März 1994 (BGBl. I S. 358), das zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 14. Januar 2021 (BGBl. I S. 70) geändert worden ist (BtMG) macht sich strafbar, wer Betäubungsmittel entgegen § 13 Abs. 1 BtMG verschreibt. § 13 Abs. 1 Satz 1 BtMG bestimmt, dass die in Anlage III bezeichneten Betäubungsmittel nur von Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten und nur dann verschrieben oder im Rahmen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Behandlung einschließlich der ärztlichen Behandlung einer Betäubungsmittelabhängigkeit verabreicht oder einem anderen zum unmittelbaren Verbrauch oder nach Absatz 1a Satz 1 überlassen werden dürfen, wenn ihre Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper begründet ist. Die Anwendung ist nach § 13 Abs. 1 S. 2 BtMG insbesondere dann nicht begründet, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann. Diese Vorschrift gilt seit dem 19. Oktober 2012 unverändert. In der Anlage III zum BTMG sind die Betäubungsmittel Levomethadon -(R)-6-Dimethylamino-4,4-diphenylheptan-3-on und Buprenorphin -(5R,6R,7R,14S)-17-Cyclopropyl-methyl-4,5-epoxy-7-[(S)-2-hydroxy-3,3-dimethylbutan-2-yl]-6-methoxy-6,14-ethanomorphinan-3-ol aufgelistet, die als Wirkstoffe in L-Polamidon Lösung zur Substitution und SUBUTEX 2 mg Sublingualtabletten enthalten sind (https://www.gelbe-liste.de/produkte/L-Polamidon-Loesung-zur-Substitution-5-mg-ml-Loesung-zum-Einnehmen_357862 und https://www.gelbe-liste.de/produkte/SUBUTEX-2-mg-Sublingualtabletten_ 354306).

56. Die auf der Grundlage des § 13 Abs. 3 BtMG erlassene Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (BtMVV) wurde in dem hier relevanten Zeitraum bis 10. Januar 2018 wesentlich geändert. Art. 1 der Verordnung vom 22. Mai 2017 (BGBl. I 1275), in Kraft getreten am 2. Oktober 2017, regelt in den §§ 5 ff. die Verschreibung von Substitutionsmitteln neu. Mit dieser Neuregelung sollen die Vorgaben des Substitutionsrechts in der BtMVV an Erkenntnisse des wissenschaftlichen Fortschritts und an praktische Erfordernisse angepasst werden. Die Regelungen zu Sachverhalten, die unmittelbar ärztlich-therapeutische Bewertungen betreffen, werden aus dem Rahmen unmittelbar bundesrechtlicher Regelungen der BtMVV in die Richtlinienkompetenz der Bundesärztekammer (BÄK) überführt. Dies betrifft Feststellungen zu den Voraussetzungen für die Einleitung einer Substitutionstherapie, zum Beikonsum, zum Verschreiben des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme sowie zur Entscheidung über die Erforderlichkeit einer Einbeziehung psychosozialer Betreuungsmaßnahmen. Damit wird der substitutionsbezogene Normenbestand der BtMVV auf eine Rahmensetzung der Therapieziele und auf die zur Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs erforderlichen Regelungen konzentriert. Die Neuregelung soll schließlich auch dazu dienen, bei der Substitutionstherapie mehr Rechtssicherheit für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte herzustellen, um diese verstärkt für eine Teilnahme an dieser Behandlung zu gewinnen und damit zur Verbesserung der Versorgung von Substitutionspatienten insgesamt beizutragen (Spickhoff, BtMVV Vorbemerkung Rn. 1 Rn. 1, beck-online; Weber BtMG/Weber, 5. Aufl. 2017, BtMVV § 5 Rn. 1).

57. Es handelt sich danach um eine materiell günstigere Regelung, auf die sich der Beschuldigte nach dem Rechtsgedanken des § 2 Abs. 3 StGB im berufsgerichtlichen Verfahren berufen kann (vgl. Berufsobergericht für Heilberufe bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28. Februar 2019 – OVG 90 H 2.18 – juris Rn. 102; vgl. zu der Neufassung des § 5 BtMVV: VG Regensburg, Urteil vom 4. Juli 2013 – RN 5 K 12.1156 – juris Rn. 80). Entsprechend geht die Einleitungsbehörde nach der Begründung ihrer Anschuldigungsschrift von dieser Fassung der Vorschrift aus, da sie deren Regelungen zusammenfassend wiedergibt und sich auf die Richtlinie der Bundesärztekammer bezieht.

58. Nach der Definition in § 5 Abs. 1 BtMVV ist Substitution im Sinne dieser Verordnung die Anwendung eines Substitutionsmittels (Satz 1). Substitutionsmittel im Sinne dieser Verordnung sind ärztlich verschriebene Betäubungsmittel, die bei einem opioidabhängigen Patienten im Rahmen eines Therapiekonzeptes zur medizinischen Behandlung einer Abhängigkeit, die durch den Missbrauch von erlaubt erworbenen oder durch den Missbrauch von unerlaubt erworbenen oder erlangten Opioiden begründet ist, angewendet werden (Satz 2). Der Beschuldigte ist ein im Sinne § 5 Abs. 3 S. 1 BtMVV suchtmedizinisch qualifizierter Arzt, der die in § 5 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 BtMVV genannten Substitutionsmittel („Zubereitung von Levomethadon, von Methadon oder von Buprenorphin“) verschreiben darf.

59. Nach § 5 Abs. 7 S. 1 BtmVV ist dem Patienten das vom Arzt verschriebene Substitutionsmittel zum unmittelbaren Verbrauch von den in Absatz 10 Satz 1 und 2 bezeichneten Personen oder dem dort bezeichneten Personal in den in Absatz 10 Satz 1 und 2 genannten Einrichtungen zu überlassen. Der Arzt darf dem Patienten das Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme nach § 5 Abs. 8 S. 1 und 2 BtMVV gemäß den Feststellungen der Bundesärztekammer nach Absatz 12 Satz 1 Nummer 3 Buchstabe b BtMVV ausnahmsweise in der für zwei aufeinanderfolgende Tage benötigten Menge oder zur Überbrückung von Wochenenden und Feiertagen dann verschreiben, wenn die Kontinuität der Substitutionsbehandlung nicht anderweitig gewährleistet werden kann, der Verlauf der Behandlung dies zulässt, Risiken der Selbst- und Fremdgefährdung so weit wie möglich ausgeschlossen sind und die Sicherheit des Betäubungsmittelverkehrs nicht beeinträchtigt werden.

60. Die Verschreibung von Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme für bis zu 7 Tage oder länger ist in § 5 Abs. 9 BtMVV geregelt. Danach darf der substituierende Arzt, sobald und solange er zu dem Ergebnis kommt, dass eine Überlassung des Substitutionsmittels zum unmittelbaren Verbrauch nach Absatz 7 nicht mehr erforderlich ist, dem Patienten Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme gemäß den Feststellungen der Bundesärztekammer nach Absatz 12 Satz 1 Nummer 3 Buchstabe b in folgenden Mengen verschreiben:

61. 1. grundsätzlich in der für bis zu sieben Tage benötigten Menge oder
2. in begründeten Einzelfällen in der für bis zu 30 Tage benötigten Menge (Satz 1). Ein Einzelfall nach Satz 1 Nummer 2 kann durch einen medizinischen oder einen anderen Sachverhalt begründet sein (Satz 2). Ein durch einen anderen Sachverhalt begründeter Einzelfall liegt vor, wenn der Patient aus wichtigen Gründen, die seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder seine Erwerbstätigkeit betreffen, darauf angewiesen ist, eine Verschreibung des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme für bis zu 30 Tage zu erhalten (Satz 3). Der Patient hat dem Substitutionsarzt diese Sachverhalte glaubhaft zu machen (Satz 4).

62. Die Aushändigung der Verschreibung ist gemäß § 5 Abs. 9 S. 1 Nr. 1 BtMVV nur zulässig, wenn der Verlauf der Behandlung dies zulässt und die Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs dadurch nicht beeinträchtigt werden. Maßgebend für die Bewertung des Behandlungsverlaufs ist auch hier der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft. Nach Nr. 4.1.2. der BÄK-Richtlinien kann eine Verschreibung des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme für einen Zeitraum bis zu sieben Tagen dann erfolgen, wenn der Patient sich in einer stabilen Substitutionsbehandlung befindet. Zur Bewertung des Einzelfalls soll der Arzt folgende Kriterien heranziehen: regelmäßige Wahrnehmung der erforderlichen Arztkontakte, die Einstellung auf das Substitutionsmittel ist abgeschlossen, der bisherige Verlauf der Behandlung hat zu einer klinischen Stabilisierung des Patienten geführt, Risiken einer Selbst- und Fremdgefährdung, insbesondere für gegebenenfalls im Haushalt mitlebende Kinder, sind soweit wie möglich ausgeschlossen, der Patient konsumiert stabil keine weiteren Substanzen, die zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Gefährdung führen können, der Patient verstößt nicht gegen getroffene Vereinbarungen und eine psychosoziale Stabilisierung ist erfolgt. Wie bei der „Zwei-Tage-Verschreibung“ ist das Rezept dem Patienten im Rahmen einer persönlichen ärztlichen Konsultation auszuhändigen. Die Übersendung ist damit unzulässig (Spickhoff/Malek, 3. Aufl. 2018, BtMVV § 5 Rn. 22). Eine Take-home-Verschreibung ist ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen nach S. 1 nicht vorliegen. Den Arzt treffen hinsichtlich dieser Umstände Untersuchungspflichten. Einem konkreten Verdacht hat er nachzugehen (Spickhoff/Malek, 3. Aufl. 2018, BtMVV § 5 Rn. 23).

63. Die Einhaltung des allgemein anerkannten Standes der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft wird gemäß § 5 Abs. 12 S. 3 BtMVV vermutet, wenn und soweit der Arzt die BÄK-Richtlinie beachtet (vgl. BeckOK BtMG/Weinzierl, 10. Ed. 15.3.2021, BtMVV § 5 Rn. 59).

64. Diese Auffassungen in den Kommentierungen werden durch den Inhalt der Richtlinie gestützt. Die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger, vom Vorstand der Bundesärztekammer in seiner Sitzung am 27./28. April 2017 verabschiedet, mit der Veröffentlichung im Bundesanzeiger am 2. Oktober 2017 in Kraftgetreten (https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/RL/Substitution.pdf) dürfte dem Beschuldigten durchaus Räume für eine eigene Beurteilung eröffnen. So wird dort (s. 10 f.) ausgeführt: „Der substituierende Arzt muss sich im gesamten Behandlungsverlauf anhand des klinischen Eindrucks und gegebenenfalls unter Hinzuziehung laborchemischer Parameter ein Bild davon machen, ob der Patient das Substitut in der verordneten Weise einnimmt sowie ob und in welchem Umfang ein Konsum anderer psychotroper Substanzen einschließlich Alkohol besteht.

65. Hat der Patient akut andere psychotrope Stoffe konsumiert, die in Kombination mit dem Substitut zu einer gesundheitlichen Gefährdung führen können, ist das Substitut in angepasster Dosierung zu verabreichen oder gegebenenfalls von einer Verabreichung vollständig abzusehen. Bei dem Konsum weiterer psychotroper Substanzen sollte zunächst die Ursache eruiert und nach Möglichkeiten ihrer Beseitigung gesucht werden. Dabei sollen insbesondere folgende Gründe berücksichtigt werden: eine erfolgte Destabilisierung der individuellen Lebenssituation, eine inadäquate Dosierung oder Wahl des Substitutionsmittels, eine komorbide somatische oder psychische Erkrankung, inklusive einer weiteren substanzgebundenen Abhängigkeit. Die Ergebnisse der sich daraus ergebenden Überlegungen sollen in das Therapiekonzept einbezogen werden. Hierbei empfiehlt sich eine Zusammenarbeit mit den an der Behandlung bzw. Betreuung beteiligten Berufsgruppen.“

66. Speziell zur Take-home-Verschreibung wird ausgeführt (S. 13 f.): „Eine Verschreibung des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme für einen Zeitraum bis zu sieben Tagen kann dann erfolgen, wenn der Patient sich in einer stabilen Substitutionsbehandlung befindet. Zur Bewertung des Einzelfalls soll der Arzt folgende Kriterien heranziehen: regelmäßige Wahrnehmung der erforderlichen Arztkontakte, die Einstellung auf das Substitutionsmittel ist abgeschlossen, der bisherige Verlauf der Behandlung hat zu einer klinischen Stabilisierung des Patienten geführt, Risiken einer Selbst- und Fremdgefährdung, insbesondere für gegebenenfalls im Haushalt mitlebende Kinder sind soweit wie möglich ausgeschlossen, der Patient konsumiert stabil keine weiteren Substanzen, die zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Gefährdung führen können, der Patient verstößt nicht gegen getroffene Vereinbarungen, eine psychosoziale Stabilisierung ist erfolgt. Im Rahmen der Take-home-Verschreibung nach § 5 Absatz 9 Satz 1 Nummer 1 BtMVV soll der Arzt aus medizinischer Sicht in der Regel einmal pro Woche persönlichen Kontakt mit dem Patienten haben und bei Bedarf eine klinische Untersuchung sowie eine geeignete Kontrolle komorbiden Substanzgebrauchsdurchführen, um den Behandlungsverlauf angemessen beurteilen und gegebenenfalls darauf reagieren zu können. Einmal die Woche soll auch eine kontrollierte Einnahme des Substitutionsmittels stattfinden.“

67. Ausgehend von dieser Kommentierung und der Richtlinie kann angenommen werden, dass dem jeweils substituierenden Arzt Ermessensspielräume bei der Beurteilung eröffnet werden, ob und nach welchen Kriterien er insbesondere den Beigebrauch von anderen Mittel bei seiner Verschreibungspraxis berücksichtigt (vgl. VG Regensburg, Urteil vom 4. Juli 2013 – RN 5 K 12.1156 – juris Rn. 63). Er soll bestimmte Kriterien in seine Entscheidung einbeziehen, dies schließt es jedoch nicht aus, dass er bei einer Gesamtabwägung zu einem anderen Ergebnis kommt, als dies die Einleitungsbehörde für richtig hält. Insbesondere ist es jedenfalls nicht fernliegend, dass er sich nach seinem Vorbringen im berufsgerichtlichen Verfahren an dem Leitfaden für Ärzte zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger der Bayerischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen (vgl. dazu auch VG Regensburg, Urteil vom 4. Juli 2013 – RN 5 K 12.1156 – juris Rn. 65 ff.) orientiert hat.

68. Daher kann der Beschuldigte sich dadurch entlasten, dass er die Diazepamproblematik ständig angesprochen und schließlich nach vielen Gesprächen dem Gebrauch von Diazepam zugestimmt hat, unter der Bedingung, dass nur eine Tablette Diazepam zur Nacht eingenommen werde. In den fast 10 Jahren, in denen er Frau H… substituiert habe, hat er seinen Angaben zufolge zu keiner Zeit Zeichen einer Dosissteigerung oder eines Diazepammissbrauchs bemerkt. Es habe keine Anzeichen einer auffälligen Müdigkeit oder einer Ateminsuffizienz gegeben. Danach hat er sich davon überzeugt, dass die Patientin keine weiteren Substanzen konsumiert, die zusammen mit der Einnahme des Substitutionsmittels zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Gefährdung führen können. Der Vorwurf der Einleitungsbehörde, der regelmäßige Beigebrauch von Benzodiazepinen (gemeint ist ersichtlich Diazepam) jedenfalls seit März 2015 parallel zu der Einnahme des Substitutionsmittels stellte eine Selbstgefährdung der Patientin dar, greift daher zu kurz. Auch in der Rechtsprechung wird betont, dass in jedem Einzelfall eine Abwägung stattzufinden habe, welche Therapie für welchen Patienten und zu welchem Zeitpunkt am geeignetsten ist (vgl. BayObLG Beschluss vom 15. April 2019 – 203 StObWs 227/19, BeckRS 2019, 8484 Rn. 45, 46, beck-online).

69. Nach der gelben Liste gehört Diazepam zur Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine. Es wirkt angstlösend, muskelentspannend, krampflösend und beruhigend (https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Diazepam_183). Der Wirkstoff Diazepam darf bei einer Abhängigkeitsanamnese (Alkohol, Arzneimittel, Drogen) nicht angewendet werden (a.a.O.). Allerdings hat nach dieser Fundstelle die Weltgesundheitsorganisation WHO Diazepam als effizienten, sicheren und kostengünstigen Wirkstoff zur Behandlung von Angststörungen (inklusive Schlafstörungen) und epileptischem Status sowie beim Einsatz in der Palliativmedizin bewertet und in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel (WHO Model List of Essential Medicines) aufgenommen. Der Beschuldigte hat sich nach seinen Angaben davon überzeugt, dass die Patientin an Schlafstörungen insbesondere nach und wegen des Verlusts ihres Kindes litt und dass sie nicht von Nebenwirkungen insbesondere in Kombination mit dem jeweiligen Substitutionsmittel betroffen war. Er konnte sich danach durchaus im Einklang mit der Richtlinie der BÄK sehen. Auch der festgestellte einmalige Konsum von Opiaten konnte von ihm als Ausrutscher bewertet werden, der ihn nicht veranlassen musste, unmittelbar Konsequenzen für seine Verschreibungspraxis zu ziehen.

70. Eine Verschreibung des Substitutionsmittels zur eigenverantwortlichen Einnahme kann in begründeten Einzelfällen auf einen Zeitraum bis zu 30 Tagen ausgedehnt werden. Für diese Beurteilung sind die bei der „Sieben-Tage-Verschreibung“) angeführten Kriterien heranzuziehen. Die medizinische wie psychosoziale Stabilität des Patienten sind hierbei von besonderer Bedeutung. Ein Einzelfall kann durch einen medizinischen oder anderen Sachverhalt begründet sein (§ 5 Abs. 9 S. 2 BtMVV). Ein medizinischer Sachverhalt kann für den Zeitraum vorliegen, in dem bei einem schwerwiegend erkrankten, immobilen Patienten vorübergehend eine medizinische Versorgung nicht sichergestellt ist. Ein durch einen anderen Sachverhalt begründeter Einzelfall liegt auch vor, wenn der Patient aus wichtigen Gründen seiner Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder aus wichtigen Gründen seiner Erwerbstätigkeit darauf angewiesen ist, eine entsprechende Verschreibung zu erhalten. Der Patient hat diese Sachverhalte glaubhaft zu machen (§ 5 Abs. 9 S. 4 BtMVV). Hierfür werden in der Verordnungsbegründung exemplarisch geeignete Unterlagen wie Nachweise über ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis mit Arbeitszeiten, die ein in der Regel tägliches Aufsuchen der Arztpraxis nicht ermöglichen, oder über einen auswärtigen Arbeitseinsatz sowie Nachweise über Urlaubsreisen oder persönliche oder gesellschaftliche Verpflichtungen genannt. Eine Ermittlungsverpflichtung für den Arzt besteht nicht. Vorhandene Erkenntnisse, die geeignet sind, die Glaubwürdigkeit der Angaben des Patienten zu erschüttern, müssen allerdings sorgfältig in die Entscheidung einbezogen werden (Spickhoff/Malek, 3. Aufl. 2018, BtMVV § 5 Rn. 25). Auch auswärtige Arbeitseinsätze, Urlaubsreisen oder persönliche oder gesellschaftliche Verpflichtungen können darunter fallen (BeckOK BtMG/Weinzierl, 10. Ed. 15.3.2021, BtMVV § 5 Rn. 63). Ausgehend von diesen Kommentierungen ist auch die Verschreibung für eine Urlaubsreise nach dem Rückfall vertretbar, die der Beschuldigte der Patientin am 19. Dezember 2017 zugesagt hat. Darauf, dass die Patientin nicht in der vorgenannten schwerwiegenden Weise erkrankt war und keiner Beschäftigung nach ging, kann es bezogen auf diese Reise als sachlichen Grund nicht ankommen. Entsprechendes gilt, soweit der Beschuldigte der Patientin Substitutionsmittel in Form von Tabletten für den Eigenverbrauch überlassen hat. Für diese Vorgehensweise lässt sich in der Regelung über die Verschreibung von Substitutionsmittel zur eigenverantwortlichen Einnahme nach § 5 Abs. 8 S. 1 und 2 BtMVV gemäß den Feststellungen der Bundesärztekammer nach Absatz 12 Satz 1 Nummer 3 Buchstabe b BtMVV ausnahmsweise in der für zwei aufeinanderfolgende Tage benötigten Menge oder zur Überbrückung von Wochenenden und Feiertagen eine Rechtsgrundlage finden.

71. Im Übrigen könnte selbst bei Überschreitung der engeren Voraussetzungen der Anlage A Nr 2 („substitutionsgestützte Behandlung Opiatabhängiger“) der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs 1 SGB ein Vertragsarzt die betroffenen Leistungen medizinisch für notwendig halten und sie berufsrechtlich zulässig erbringen (BSG, Urteil vom 23. Juni 2010 – B 6 KA 12/09 R – SozR 4-2500 § 92 Nr 9, Rn. 19). Aber auch in dieser Richtlinie, die von der Einleitungsbehörde mit der Fassung vom 28. Oktober 2002 auf ihrer Internetseite verlinkt ist (https://www.aerztekammer-berlin.de/10arzt/40_Qualitaetssicherung/ 30_QM_Massnahmen_nach_Themen/60_Suchtmedizin/01_Substitution_Was_Aerztinnen _und_Aerzte_beachten_muessen.htm) ist das strenge Verbot in § 4 der Richtlinie in der vorgenannten Fassung nicht mehr enthalten. Dort hieß es, dass eine Substitution nicht durchgeführt werden darf, wenn und solange 1.der Substitution medizinisch allgemein anerkannte Ausschlussgründe entgegenstehen, wie z.B. eine primäre/hauptsächliche Abhängigkeit von anderen psychotropen Substanzen (Alkohol, Kokain, Benzodiazepine etc.) oder 2. Der Patient Stoffe gebraucht, deren Konsum nach Art und Menge den Zweck der Substitution gefährdet. Diese Regelung wurde durch die Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung (MVV-RL): Anlage I Nummer 2 Substitutionsgestützte Behandlung Opiatabhängiger vom 6. September 2018 aufgehoben (https://www.kbv.de/media/sp/2018_09_06_2018_11_22_RMvV_02_anerkannt_Methadon_Substitution_BAnz.pdf).

72. Anders wäre es hingegen, wenn der Einleitungsbehörde zuzustimmen wäre, dass der Beschuldigte bei Einhaltung der fachlichen Standards die Verschreibungen nicht hätte ausstellen dürfen und diese lediglich als Gefälligkeit gegenüber der Patientin zu verstehen sind, an der der Beschuldigte persönlich (sexuell) interessiert war. Dann könnten die Verschreibungen von Substitutionsmitteln zur eigenverantwortlichen Einnahme den Vorwurf rechtfertigen, der Beschuldigte habe nicht nur den fachlichen Standard ohne Vorliegen eines medizinischen Grundes unbeachtet gelassen und dadurch vorsätzlich seine Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung gemäß § 2 Abs. 2 BO verletzt, sondern auch gegen die für ihn geltende Berufspflicht nach § 2 Abs. 5 BO verstoßen, wonach die für die ärztliche Berufsausübung geltenden Vorschriften zu beachten sind. Dies ist jedoch nach der Beweisaufnahme nicht der Fall gewesen.

73. Davon abgesehen wäre selbst dann, wenn entsprechend der Auffassung der Einleitungsbehörde der rechtliche Rahmen enger zu sehen wäre, dem Beschuldigten jedenfalls nicht der Vorwurf eines vorsätzlich schuldhaften Verhaltens zu machen. Fahrlässiges Fehlverhalten wirft die Einleitungsbehörde dem Beschuldigten nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Berufsobergericht für Heilberufe bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, der das Berufsgericht für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Berlin folgt (Urteil vom 26. November 2019 – 90 K 13.18 T – juris Rn. 41), begründet erst die erwiesene Schuld des betroffenen Berufsträgers an der Berufspflichtverletzung das Vorliegen eines Berufsvergehens. Das Schuldprinzip beansprucht für alle Bereiche Geltung, in denen wegen normwidrigen Verhaltens – wie hier mit einer Maßnahme nach § 17 Abs. 1 KammerG – eine Sanktion folgen soll (Berufsobergericht für Heilberufe bei dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. September 2018 – OVG 90 H 2.13 – juris Rn. 57 m.w.N.).

74. Vorsätzlich handelt, wer die zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden objektiven Merkmale kennt oder zumindest für möglich hält (Wissenselement des Vorsatzes) und sich willentlich für die Tatbestandsverwirklichung entscheidet bzw. sie wenigstens in Kauf nimmt (Willenselement des Vorsatzes) (Berufsobergericht, a.a.O. Rn. 58). Dem Beschuldigten wäre bei einer Überschreitung der rechtlichen Grenzen für die Substitutionsbehandlung jedenfalls nicht zu widerlegen, dass er sich an der Untersuchung der „Bayrischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen“ zur „Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger: Zur Problematik der zusätzlichen Einnahme von Benzodiazepinen“, 2. überarbeitete und aktualisierte Version (Stand: 26. Oktober 2015) orientiert hat und auf dieser Grundlage angenommen hat, er handele im Einklang mit den maßgeblichen Rechtsvorschriften.

75. Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 Berliner Kammergesetz i.V.m. §§ 3, 41 DiszG, § 77 Abs. 1 BDG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Die weiteren Nebenentscheidungen folgen aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 Satz 1 und 2 i.V.m. § 709 Satz 2 ZPO.

Zuletzt aktualisiert am Juli 21, 2021 von eurogesetze

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