Ausschluß eines selbständigen Beweisverfahrens bei anhängiger Untätigkeitsklage

Gericht: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 4. Senat
Entscheidungsdatum: 10.06.2021
Aktenzeichen: OVG 4 L 4/21
ECLI: ECLI:DE:OVGBEBB:2021:0610.OVG4L4.21.00
Dokumenttyp: Beschluss

Ausschluß eines selbständigen Beweisverfahrens bei anhängiger Untätigkeitsklage

Leitsatz

Ist eine Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) anhängig, schließt das ein selbständiges Beweisverfahren (§ 485 Abs 2 ZPO) aus, selbst wenn dort nur Bescheidung beantragt ist und hier ein Leistungsantrag erwogen wird.(Rn.6)

Verfahrensgang …
Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 10. Februar 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

1. 1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin, mit dem dieses ihren am 18. Dezember 2020 gestellten Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens abgelehnt hat, ist nach § 146 Abs. 1 VwGO statthaft (OVG Magdeburg, Beschluss vom 9. März 2021 – 2 O 132/20 – juris Rn. 15; VGH Mannheim, Beschluss vom 20. August 2019 – 5 S 2488/18 – juris Rn. 8; Berkemann, jM 2020, 156 <162>; Lang in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 98 Rn. 307). Dem steht nicht entgegen, dass § 146 Abs. 2 VwGO die Beschwerde gegen Beschlüsse über die Ablehnung von Beweisanträgen ausschließt. Denn der Ausschluss betrifft allein die Ablehnung von Anträgen gemäß § 86 Abs. 2 VwGO, nicht das hier von der Antragstellerin angestrebte Verfahren gemäß § 98 VwGO in Verbindung mit §§ 485 ff. ZPO (Guckelberger in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 26). Die Beschwerde genügt auch den Erfordernissen aus § 147 Abs. 1 VwGO.

2. 2. Die Beschwerde ist unbegründet.

3. Die Antragstellerin strebt ein schriftliches medizinisches Sachverständigengutachten über sich selbst an zur Klärung von drei näher benannten Fragen.

4. a) Sie bezieht sich erst- und zweitinstanzlich nur auf § 485 Abs. 2 ZPO mit der Behauptung, die begehrte Feststellung könne der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen. Sie erwäge eine auf Schadensersatz gerichtete Leistungsklage gegen ihren Dienstherrn. Wie sie erstinstanzlich vorgetragen hat, gehe es um den immateriellen Schaden wegen Verletzung der Persönlichkeit und der Gesundheit und um den materiellen Schaden wegen Verlusts der Dienstbezüge und Schmälerung der Versorgungsbezüge infolge der vorzeitigen Zurruhesetzung.

5. Nach § 485 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kann eine Partei eine schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen beantragen, wenn sie ein rechtliches Interesse daran hat, dass der Zustand einer Person festgestellt wird; ausdrückliche Voraussetzung ist, dass ein Rechtsstreit noch nicht anhängig ist. Dementsprechend ist nach § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO ein rechtliches Interesse anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann.

6. Die Anwendung von § 485 Abs. 2 VwGO ist hier ausgeschlossen, weil ein Rechtsstreit bereits anhängig ist. Die Antragstellerin hat beim Verwaltungsgericht Berlin ebenfalls am 18. Dezember 2020 eine noch unentschiedene Untätigkeitsklage – VG 26 K 312/20 – erhoben mit dem Antrag, den Antragsgegner dazu zu verpflichten, die Anträge der Klägerin auf Anerkennung ihrer Ansprüche auf Schadensersatz wegen Verletzung der Fürsorgepflicht, erstmals gestellt am 31. Juli 2016, zu bescheiden.

7. Eine Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO kommt bei einem beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruch in Betracht (BVerwG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – 2 C 23.12 – juris Rn. 19, 24). Sie ist auf eine sachliche Entscheidung gerichtet. Bei materiellen Rechten, auf die bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ein rechtlich gebundener Anspruch auf behördliche Zuerkennung besteht, ist die Klage auf die Vornahme der konkreten behördlichen Sachentscheidung zu richten. Für die Untätigkeitsklage ist die generelle Beschränkungsmöglichkeit auf die reine Bescheidungsklage nicht anerkannt (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2018 – 1 C 18.17 – juris Rn. 26; Porsch in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand Juli 2020, § 75 Rn. 4; Rennert in: Eyermann, 15. Aufl. 2019, § 75 Rn. 3). Darauf hat das Verwaltungsgericht hingewiesen und zutreffend ergänzt, dass es nach § 86 Abs. 3 VwGO gehalten sei, auf das Stellen eines sachdienlichen Antrags im Klageverfahren hinzuwirken.

8. Die Antragstellerin, die dem entgegenhält, sie strebe mit dieser Klage nur eine Bescheidung und mit einer eventuell später zu erhebenden Leistungsklage darüber hinausgehend eine Geldzahlung an, verkennt, dass es gemäß § 88 VwGO nicht auf den formulierten Antrag, sondern auf das Klagebegehren ankommt. Das Begehren einer Klage gemäß § 75 VwGO bleibt wie gezeigt nicht hinter der angestrebten Sachentscheidung (Gewährung von Schadensersatz) zurück.

9. b) Dem Beschwerdevorbringen ist zu entnehmen, dass die Antragstellerin die Begutachtung nicht auf der Grundlage von § 485 Abs. 1 ZPO anstrebt. Nach dieser Vorschrift ist ein selbständiges Beweisverfahren auch während eines Streitverfahrens möglich, wenn der Gegner zustimmt oder zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird. Das Verwaltungsgericht hat diese Voraussetzungen vorsorglich verneint. Es gibt für das Oberverwaltungsgericht keinen Grund, der Beschwerde nach Maßgabe dieser Vorschrift stattzugeben. Denn die Zustimmung des Antragsgegners fehlt und die Antragstellerin hat die Gefahr einer Verschlechterung des Beweismittels nicht glaubhaft gemacht, wie es § 487 Nr. 4 ZPO verlangt (vgl. dazu § 294 ZPO).

10. Die Verschlechterung verstünde sich auch nicht von selbst. Denn soweit ein ärztlicher Sachverständiger Feststellungen über die Art und Intensität von Krankheiten und deren wesentlichen Zusammenhang mit äußeren Einflüssen für einen Zeitraum in der Vergangenheit zu treffen hat (Fragen 1 und 2), kommt er nicht umhin, medizinische und sonstige Unterlagen auszuwerten, die in der Vergangenheit entstanden sind, sich in den Verwaltungsvorgängen finden und nicht ohne Weiteres verloren gehen. Soweit die Antragstellerin dem Antragsgegner im Schriftsatz vom 8. April 2021 eine massive Aktenmanipulation vorwirft, könnte die im selbständigen Beweisverfahren angestrebte ärztliche Begutachtung das nicht rückgängig machen. Es könnte auch nicht die Aufgabe der ärztlichen Begutachtung sein, gleich einer Strafverfolgungsbehörde Ermittlungen zu angeblichen Aktenmanipulationen anzustellen.

11. Die angestrebte Antwort auf die dritte Beweisfrage, ob sich die Antragstellerin aktuell in einem polizeidiensttauglichen Zustand befinde, wäre – anhand von § 485 Abs. 1 ZPO geprüft – für den von ihr angestrebten Schadensersatz ohne erkennbare Bedeutung. Sollte die Antragstellerin mit diesem Beweisthema auf ihre Reaktivierung von Amts wegen zielen, wie es in ihrem Schriftsatz vom 1. März 2021 anklingt, wäre § 485 Abs. 1 ZPO von vornherein ungeeignet. Denn die erneute Berufung in das aktive Beamtenverhältnis in der Zukunft verlangt, dass eine Pensionärin dann dienstfähig sein wird. Es hülfe einer dann dienstunfähigen Pensionärin nicht, wenn sie Monate zuvor dienstfähig gewesen wäre und das mittels des selbständigen Beweisverfahrens beweiskräftig feststünde. Das Verfahren gemäß § 485 Abs. 1 ZPO dient, wie die geforderte Sorge eines Beweismittelverlustes zeigt, der Sicherung hinfälliger Beweise und ist insoweit rückwärtsgewandt. Es führt in Reaktivierungsfällen nicht weiter.

12. Die Antragstellerin trägt die Kosten nach § 154 Abs. 2 VwGO. Für das Beschwerdeverfahren wird gemäß Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG eine Festgebühr erhoben (OVG Magdeburg, Beschluss vom 9. März 2021 – 2 O 132/20 – juris Rn. 28).

13. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Zuletzt aktualisiert am Juli 19, 2021 von eurogesetze

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert