Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
DRITTE SEKTION
ENTSCHEIDUNG
Individualbeschwerde Nr. 45994/15
BILD GMBH & CO. KG gegen Deutschland
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Dritte Sektion) hat in seiner Sitzung am 12. Oktober 2021 als Ausschuss mit den Richtern und der Richterin
Georgios A. Serghides, Präsident,
Anja Seibert-Fohr und
Frédéric Krenc
sowie Olga Chernishova, Stellvertretende Sektionskanzlerin,
im Hinblick auf die oben genannte Individualbeschwerde, die am 15. September 2015 erhoben wurde,
nach Beratung wie folgt entschieden:
SACHVERHALT
1. Die Beschwerdeführerin, die B., ist eine juristische Person deutschen Rechts mit Sitz in B.. Sie wurde vor dem Gerichtshof von Herrn A., Rechtsanwalt in B., vertreten.
2. Der von der Beschwerdeführerin vorgebrachte Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen.
A. Der Hintergrund der Rechtssache
3. P., die zwischen 1990 und 2008 Landrätin, zwischen 1989 und 2007 Mitglied im Landesvorstand der Christlich-Sozialen Union und zwischen 2008 und 2013 Mitglied des Landtags (für eine andere Partei) war, forderte 2006 den Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten S.. Ende 2006 stand P. Modell für eine Fotoreihe, die das Gesellschaftsmagazin P. A. in seiner ersten Ausgabe 2007 veröffentlichte.
B. Der streitgegenständliche Artikel
4. Am 3. April 2007 nahm die Beschwerdeführerin die Fotos zum Anlass, auf ihrer Internetseite einen Artikel unter dem Titel „Post von W.“ zu veröffentlichen, der wie folgt lautete:
„Liebe Latex-Landrätin,
im goldenen Minikleid (ohne Höschen, weil es unfotogen durchdrückt) „begraben Sie Ihre Karriere in der P. A.“ schrieb die FAZ. Auf 6 Doppelseiten der Zeitschrift „P. A.“ lassen Sie sich in Domina-Posen – mit Latex-Handschuhen und gespreizten Beinen – fotografieren. Die Fotos sind klassische Pornografie. Der pornografische Voyeur lebt in der Qual, Ihnen die Kleider vom Leib zu reißen. Kein Foto löst in mir den Impuls aus, Sie zu lieben bzw. zärtliche Worte mit Ihnen zu flüstern. Kein Mann liebt eine Frau in einem Porno-Film.
Auf all diesen Fotos sind Sie angezogen, nichts Nacktes. Sie sind die Frau dazwischen. Warum machen Sie das? Warum sind Sie nach Ihrem Stoiber-Triumph nicht die brave, allein erziehende Mutter geblieben? Warum lassen Sie sich so fotografieren?
Ich sage es Ihnen: Sie sind die frustrierteste Frau, die ich kenne. Ihre Hormone sind dermaßen durcheinander, dass Sie nicht mehr wissen, was wer was ist. Liebe, Sehnsucht, Orgasmus, Feminismus, Vernunft.
Sie sind eine durchgeknallte Frau, aber schieben Sie Ihren Zustand nicht auf uns Männer.
Herzlichst
Ihr F. J. W. “
C. Das Verfahren vor den Zivilgerichten
5. Nachdem P. von dem Artikel Kenntnis erlangt hatte, erhob sie 2011 vor dem Landgericht Klage auf Unterlassung jeglicher erneuten Verbreitung der folgenden Passagen:
1. „[Frau P. ist] eine durchgeknallte Frau“,
2. „Die [im Magazin P. erschienenen] Fotos [der Frau P.] sind klassische Pornografie“, sowie
3. die Erwähnung von „Domina-Posen“, „Porno-Film“ und „pornografischen Inhalten“ im Zusammenhang mit diesen Fotos.
P. begehrte außerdem eine Entschädigung in Höhe von 5 000 Euro.
6. Am 24. Mai 2012 gab das Landgericht der Klage im Hinblick auf die Untersagung der Veröffentlichung der streitgegenständlichen Passagen statt, wies die Klage im Hinblick auf die Geldentschädigung aber ab. Es stellte fest, dass die Äußerung „durchgeknallte Frau“ eine Schmähkritik darstelle, welche die Grenze eines zumutbaren Werturteils überschreite. Das Wort „durchgeknallt“ könne neutrale bis extrem negative Sinnvarianten haben, etwa absonderlich, bizarr, extravagant, skurril, schrill, überspannt, überdreht oder auch verrückt, und aus Sicht eines unvoreingenommenen Publikums ziele die betreffende Bezeichnung nicht lediglich darauf ab, das Unverständnis darüber zum Ausdruck zu bringen, warum P. sich für derartige Fotos zur Verfügung gestellt habe, sondern darauf, ihr generell die geistige Gesundheit abzusprechen und sie zu kränken.
7. Bezüglich der weiteren beanstandeten Passagen war das Landgericht der Auffassung, dass es sich um unwahre Tatsachenbehauptungen handele, da ausgehend von der genauen Definition des Wortes „Pornografie“ die Fotos von P. nicht als pornografisch einzuordnen seien. Im Übrigen wies es die Klage von P. auf Geldentschädigung mit der Begründung ab, dass die Veröffentlichung fünf Jahre zurückliege und nicht mehr aktuell sei, dass P. selbst die öffentliche Diskussion ausgelöst habe, die auf die Veröffentlichung dieser ungewöhnlichen Fotos folgte und dass sie demnach unterschiedliche öffentliche Reaktionen zu erwarten gehabt habe, wenn sie diese nicht sogar beabsichtigt habe.
8. Am 23. Oktober 2012 hob das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts auf und wies die Klage von P. insgesamt ab. Zwar decke sich die durch das Landgericht vorgenommene Deutung der streitgegenständlichen Bezeichnung mit dem allgemeinen Sprachgebrauch, die Bezeichnung „durchgeknallt“ könne aber auch im Sinne von „verrückt“ verstanden werden, und es ergebe sich, wenn man den sprachlichen Kontext der Äußerung in die Betrachtung mit einbeziehe, eine abweichende Deutung, die das Landgericht unberücksichtigt gelassen habe.
9. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts handelte es sich bei der Äußerung „durchgeknallte Frau“ um ein Werturteil, das die Grenze der Schmähkritik noch nicht überschritt, da es einen Bezug zum öffentlichen Wirken von P., einer bekannten und angesehenen Politikerin und Mitglied einer konservativen politischen Partei, gegeben habe. Die Fotos stellten sie nicht nackt, aber doch zumindest aus konservativem Blickwinkel zum Teil in provozierender Weise dar. Ferner ließen die auf das Erscheinen des Magazins folgenden Äußerungen von P. darauf schließen, dass die Fotos nicht gegen ihren Willen veröffentlicht worden seien. So habe sie geäußert, dass es ihr Recht sei, etwas von den starren Regeln zu nehmen, die viele Menschen im Kopf hätten, und dass sie sich des Umstands bewusst sei, bei etlichen Menschen auch Tabus gebrochen zu haben. Das Oberlandesgericht gelangte zu dem Schluss, dass aus Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums der Autor des betreffenden Artikels sein Unverständnis für die Entscheidung von P. geäußert habe, sich zum Zweck der Veröffentlichung auf die geschehene Weise fotografieren zu lassen und dadurch ihre aussichtsreichen politischen Karrierechancen aufs Spiel zu setzen.
10. Bei der Abwägung der Rechte der Beschwerdeführerin und von P. wies das Oberlandesgericht darauf hin, dass P. mit der Veröffentlichung der Fotos eine rege öffentliche Diskussion ausgelöst habe, zu der der von der Beschwerdeführerin veröffentlichte Artikel beigetragen habe. Gegenstand der verwendeten streitgegenständlichen Bezeichnung sei nicht die Privatsphäre von P., sondern ihr öffentliches Wirken gewesen, da die Entscheidung, für die betreffenden Fotos Modell zu stehen, der Sozialsphäre von P. zuzurechnen sei. Schwerwiegende Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht von P., wie etwa im Sinne einer Stigmatisierung, sozialer Ausgrenzung oder einer Prangerwirkung, seien nicht zu befürchten. Der Autor des Artikels beschreibe lediglich die Wirkung der Fotos auf ihn und gebe seine eigenen Fantasien wieder, äußere sich aber nicht zum Sexualleben von P. und verletze sie daher nicht in ihrer Würde.
11. Zwar sei das Wort „durchgeknallt“ von einer gewissen Schärfe und könne einer Beleidigung nahekommen; auch die Mutmaßung des Autors, P. sei frustriert und leide unter hormonellem Ungleichgewicht, habe herabsetzenden Charakter und stehe nur entfernt in Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion nach Veröffentlichung der Fotos. Jedoch sei die Verwendung dieser Äußerung noch gerechtfertigt, wenn man die Passage in ihren Sachzusammenhang einstelle und das Anliegen des Autors, sich zur Angelegenheit zu äußern, berücksichtige. Darüber hinaus handele es sich lediglich um einen Wortbeitrag ohne Foto. Bei den weiteren Passagen handele es sich nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Werturteile, die P. hinzunehmen habe.
12. Ferner bestehe für die Beschwerdeführerin immer noch ein Interesse daran, den Artikel weiterhin auf ihrem Internetauftritt bereitzuhalten, da die Öffentlichkeit nicht nur das Recht habe, über das aktuelle Zeitgeschehen informiert zu werden, sondern auch die Möglichkeit bestehen müsse, vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse zu recherchieren.
D. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
13. Am 11. Dezember 2013 gab das Bundesverfassungsgericht in einer mit einer Richterin und zwei Richtern besetzten Kammer der Verfassungsbeschwerde von P. (1 BvR 194/13) statt und verwies die Sache an das Oberlandesgericht zurück, da das angefochtene Urteil P. in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletze, soweit darin zugelassen werde, dass die Beschwerdeführerin die Äußerung „durchgeknallte Frau“ verwende. Es wies darauf hin, dass die in Rede stehenden Rechte, nämlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf Meinungsfreiheit, nicht vorbehaltlos gälten, sondern durch die Zivilgerichte abzuwägen seien. Zur Deutung einer Äußerung sei außerdem der objektive Sinn aus Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums zu ermitteln und dabei nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch der sprachliche Kontext und die erkennbaren Begleitumstände, unter denen sie falle, zu berücksichtigen.
14. Wie auch das Oberlandesgericht stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass es sich bei den drei von P. beanstandeten Passagen (Rdnr. 5) weder um Tatsachenbehauptungen noch um Schmähkritik, sondern um Werturteile handele. Hinsichtlich der zweiten und dritten der beanstandeten Passagen führte es ohne weitere Begründung seiner Entscheidung aus, dass das Oberlandesgericht den Wertungsrahmen, der den Zivilgerichten bei der Abwägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von P. und der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin zustehe, nicht überschritten habe.
15. Allerdings stellte das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der ersten beanstandeten Passage fest, dass das Oberlandesgericht dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht von P. ein zu schwaches Gewicht beigemessen habe. Das Wort „durchgeknallt“ sei eine Zusammenfassung des vorangegangenen Absatzes des Artikels und habe demnach eine grundlegend andere Bedeutung als im 2009 vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall zur Verwendung desselben Wortes in Bezug auf einen Staatsanwalt. Mit der Veröffentlichung der beanstandeten Passage habe die Beschwerdeführerin nicht mehr zum Ziel gehabt, zu einer öffentlichen Diskussion um die Person von P. beizutragen, sondern Spekulationen ohne Tatsachenkern über die Persönlichkeit von P., die ihren Intimbereich beträfen, geäußert. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass zwar die streitgegenständliche Passage an die Tatsache anknüpfe, dass P. für ein Gesellschaftsmagazin Modell gestanden und demnach Äußerungen zu ihrer Person hinzunehmen habe, dass jedoch die im Artikel gezogene Folgerung, dass P. eine durchgeknallte Frau sei, keinerlei Anknüpfungspunkt in ihrem Verhalten habe. Der Autor ziele bewusst darauf ab, P. nicht nur als öffentliche Person zu diskreditieren, sondern ihr provokativ und absichtlich verletzend jeden Achtungsanspruch als private Person abzusprechen.
16. Das Bundesverfassungsgericht wies auch darauf hin, dass es sich nicht um eine spontane Äußerung im Zusammenhang einer emotionalen Auseinandersetzung handele, wie es in der 2009 von ihm entschiedenen Sache der Fall gewesen sei, sondern um einen bewusst für P. verletzend geschriebenen Text. Im 2009 entschiedenen Fall sei es außerdem um eine strafrechtliche Verurteilung und nicht wie hier um einen zivilrechtlichen Unterlassungsanspruch gegangen. Es bleibe der Beschwerdeführerin unbenommen, sich auch zugespitzt und polemisch zu dem Verhalten von P. zu äußern. Die in den Intimbereich übergreifende Verächtlichmachung von P. durch die Beschwerdeführerin, die diese als „frustrierteste Frau“, die nicht mehr zwischen Liebe, Sehnsucht, Orgasmus, Feminismus, Vernunft“ unterscheiden könne, beschrieben und als „durchgeknallt“ bezeichnet habe, sei jedoch mit dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von P. nicht vereinbar.
E. Der weitere Verlauf des Verfahrens
17. Am 13. Mai 2014 wies das Oberlandesgericht unter Übernahme der Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts die gegen das Urteil des Landgerichtes vom 24. Mai 2012 gerichtete Berufung der Beschwerdeführerin bezüglich der ersten beanstandeten Passage (Rdnr. 5) zurück und untersagte ihr jede weitere Veröffentlichung des Satzes „[Frau P. ist] eine durchgeknallte Frau“. Es ordnete darüber hinaus an, dass die Kosten zu 75 % durch P. und zu 25 % durch die Beschwerdeführerin zu tragen seien.
18. Am 25. Februar 2015 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin (1 BvR 1840/14) zur Entscheidung anzunehmen. Die Entscheidung wurde dem Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 18. März 2015 zugestellt.
RÜGEN
19. Die Beschwerdeführerin rügt unter Berufung auf Artikel 10 der Konvention, durch die deutschen Gerichte in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden zu sein.
RECHTLICHE WÜRDIGUNG
20. Die Beschwerdeführerin rügt, dass ihr gerichtlich untersagt wurde, die Passage mit der Bezeichnung „durchgeknallte Frau“ zu veröffentlichen. Sie beruft sich auf Artikel 10 der Konvention, der, soweit maßgeblich, wie folgt lautet:
„(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. […]
2. Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind […] zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer […]. “
21. Die Beschwerdeführerin bringt vor, die deutschen Gerichte hätten nicht berücksichtigt, dass P. aufgrund ihrer politischen Ämter und ihrer 2006 geäußerten kritischen Stellungnahme zum damaligen …Ministerpräsidenten in ganz Deutschland als Königsmörderin bekannt gewesen sei und kurz davorgestanden habe, die Nachfolge von Herrn Stoiber anzutreten und der Partei ein neues Gesicht zu verleihen. P., die damals den Höhepunkt ihrer Popularität erreicht habe, hätte damit rechnen müssen, dass ihre Entscheidung, sich in einem Gesellschaftsmagazin als laszive Domina darzustellen, Unverständnis hervorrufen würde. Die Entscheidung sei nicht der Privatsphäre von P., sondern ihrer Sozialsphäre zuzurechnen, da es einen Zusammenhang mit dem öffentlichen Wirken von P. gebe.
22. Die Beschwerdeführerin rügt, die deutschen Gerichte hätten die Äußerung „durchgeknallt“, die häufig im Sinne von „eigenartig“, „extravagant“, „absonderlich“ oder „wunderlich“ verwendet werde, falsch gedeutet, sodass ihre Verwendung im vorliegenden Fall, wie auch das Oberlandesgericht in seinem ersten Urteil festgestellt habe, nicht diffamierend gewesen sei, sondern lediglich die Meinung zum Ausdruck gebracht habe, dass das Verhalten von P. rational unverständlich gewesen sei.
23. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er sich nach Artikel 35 Abs. 1 der Konvention nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung mit einer Angelegenheit befassen kann. Der Fristlauf beginnt mit der endgültigen Entscheidung im Rahmen der Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Lekiç ./. Slowenien [GK], Individualbeschwerde Nr. 36480/07, Rdnr. 65, 11. Dezember 2018). Die Einlegung von Rechtsbehelfen, die den Erfordernissen aus Artikel 35 Abs. 1 der Konvention nicht entsprechen, wird bei der Bestimmung des Datums der „endgültigen Entscheidung“ beziehungsweise bei der Berechnung des Beginns der sechsmonatigen Frist durch den Gerichtshof nicht berücksichtigt (Jeronovičs ./. Lettland [GK], Individualbeschwerde Nr. 44898/10, Rdnr. 75, 5. Juli 2016).
24. Diesbezüglich stellt der Gerichtshof fest, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Entscheidung vom 11. Dezember 2013 genaue Vorgaben zur Deutung der streitgegenständlichen Äußerung vor dem Hintergrund der ihm vorgelegten Sache gemacht hat und dass das Oberlandesgericht diese Vorgaben in seinem Urteil vom 13. Mai 2014 umgesetzt hat. Es stellt sich demnach die Frage, ob die durch die Beschwerdeführerin beim Bundesverfassungsgericht erhobene Verfassungsbeschwerde gegen das zweite Urteil des Oberlandesgerichts unter den besonderen Umständen der Rechtssache einen wirksamen Rechtsbehelf darstellt (P. ./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 32745/17, Rdnr. 23, 13. Juni 2017) und ob daher die Erhebung dieser Beschwerde geeignet war, die in Artikel 35 Abs. 1 der Konvention vorgesehene Frist von sechs Monaten zu unterbrechen.
25. Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof in dieser Frage jedoch nicht zu entscheiden, da die Individualbeschwerde sich aus anderen Gründen als unzulässig erweist.
26. Der Gerichtshof stellt fest, dass die gegenüber der Beschwerdeführerin ausgesprochene Untersagung der Veröffentlichung einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung darstellt, dass dieser Eingriff durch die anwendbaren Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorgesehen ist und dass er den Schutz der Rechte anderer zum Ziel hatte. Er beschränkt sich demnach auf die Prüfung der Frage, ob dieser Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ war, um diese Ziele zu erreichen.
27. Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass die vorliegende Sache eine Prüfung des angemessenen Ausgleichs zwischen dem Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Konvention und dem Recht auf Achtung des Privatlebens von P. nach Artikel 8 der Konvention erfordert. Diesbezüglich verweist er auf die anwendbaren Grundsätze betreffend die in Rede stehenden Rechte und den Beurteilungsspielraum, der den Vertragsstaaten in solchen Fällen zusteht (A. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde Nr. 39954/08, Rdnr. 78-88, 7. Februar 2012). Haben die innerstaatlichen Instanzen die Abwägung in Übereinstimmung mit diesen Kriterien vorgenommen, erinnert der Gerichtshof, bedarf es für ihn gewichtiger Gründe, um die Ansicht der innerstaatlichen Gerichte durch die eigene zu ersetzen (ebd., Rdnr. 88).
28. Die für diese Abwägung einschlägigen Kriterien sind der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, der Bekanntheitsgrad der betroffenen Person und der Gegenstand der Berichterstattung, das frühere Verhalten der betroffenen Person gegenüber den Medien, der Inhalt, die Form und die Auswirkungen der Veröffentlichung sowie die Schwere der verhängten Sanktion (ebd., Rdnrn. 90‑95).
29. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Oberlandesgericht, nachdem es zunächst die Klage von P. auf Unterlassung der Veröffentlichung von drei Passagen des streitgegenständlichen Artikels durch die Beschwerdeführerin abgewiesen hatte (Rdnr. 5), letztlich in Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die von P. gegen das erste Urteil des Oberlandesgerichts erhobene Verfassungsbeschwerde (Rdnr. 17) der Beschwerdeführerin nur die Verwendung der Bezeichnung „durchgeknallt“ untersagt hat. Demnach sind alle ergangenen Entscheidungen zu berücksichtigen, insbesondere das erste Urteil des Oberlandesgerichts und die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wenn dies für die Prüfung der Frage, ob die Abwägung der in Rede stehenden Rechte der Rechtsprechung des Gerichtshofs entsprach, notwendig ist.
30. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Oberlandesgericht in seinem ersten Urteil festgestellt hatte, dass die streitgegenständliche Passage Teil einer regen Debatte von allgemeinem Interesse über das Handeln von P. gewesen sei, die als öffentlich bekannte Persönlichkeit gegolten habe, und dass diese Passage ihre politischen Karrierechancen gefährdet habe. Es merkt allerdings an, dass nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts der Autor mit dem betreffenden Artikel zwar auf die Entscheidung von P. reagiert habe, für das Magazin Modell zu stehen, und dass diese in der Folge mit Äußerungen zu ihrer Person habe rechnen müssen, dass aber die Verwendung der streitgegenständlichen Bezeichnung P. nur als Privatperson betroffen und nicht zur betreffenden Diskussion beigetragen habe. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutet dies jedoch nicht, dass das Bundesverfassungsgericht keine Debatte von allgemeinem Interesse angenommen hat und dass P. eine der Öffentlichkeit unbekannte Privatperson ist, sondern dass der Autor mit der Verwendung der Bezeichnung „durchgeknallte Frau“ die Grenzen in Bezug auf die Form der kritischen Äußerung gegenüber P. überschritten hat.
31. Der Gerichtshof untersucht daher die diesbezüglichen Schlussfolgerungen des Bundesverfassungsgerichts im Licht des oben genannten vierten Kriteriums (Rdnr. 28) und kann sich insofern den Schlussfolgerungen der deutschen Gerichte zum Vorliegen einer öffentlichen Debatte, dem Bekanntheitsgrad von P., dem Gegenstand der streitgegenständlichen Passage und dem früheren Verhalten von P. anschließen.
32. Zum Inhalt und der Form der Berichterstattung ruft der Gerichtshof in Erinnerung, dass im Rahmen der journalistischen Freiheit der Rückgriff auf ein gewisses Maß an Übertreibung, gar Provokation, insbesondere gegenüber einer politischen Persönlichkeit, möglich ist (Kiliçdaroğlu ./. Türkei, Individualbeschwerde Nr. 16558/18, Rdnr. 63, 27. Oktober 2020, Lopes Gomes da Silva ./. Portugal, Individualbeschwerde Nr. 37698/97, Rdnr. 34, 28. September 2000). Wenngleich eine beleidigende Wortwahl zwar dazu führen kann, dass Äußerungen aus dem Schutzbereich des Artikels 10 der Konvention herausfallen, sofern sie einer grundlosen Herabwürdigung gleichkommen, so ist die Derbheit einer Äußerung an sich nicht entscheidend, wenn sie rein stilistischen Zwecken dient (Kiliçdaroğlu, a. a. O., Rdnr. 62, Mladina D. D. Ljubljana ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 20981/10, Rdnr. 45, 17. April 2014). Der Gerichtshof erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die innerstaatlichen Gerichte grundsätzlich besser in der Lage sind, die einem Satz zugrunde liegende Intention zu deuten und zu beurteilen, wie eine Bezeichnung in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird (Gheorghe-Florin Popescu ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 79671/13, Rdnr. 35, 12. Januar 2021). Die Rolle der innerstaatlichen Gerichte besteht jedoch nicht darin, die Betroffenen darauf hinzuweisen, welcher Stil zu verwenden ist, wenn sie ihr Recht auf Kritik, auch in scharfer Form, ausüben, sondern zu prüfen, ob der Hintergrund der Rechtssache, das öffentliche Interesse und die Intention des Autors der streitgegenständlichen Äußerungen den etwaigen Rückgriff auf ein gewisses Maß an Provokation oder Übertreibung rechtfertigen (Kiliçdaroğlu, a. a. O., Rdnr. 64, Kapsis und Danikas ./ Griechenland, Individualbeschwerde Nr. 52137/12, Rdnr. 38, 19. Januar 2017, siehe auch H. ./ Deutschland [Ausschuss] (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 28482/13, Rdnr. 35, 27. November 2018).
33. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Bundesverfassungsgericht die streitgegenständliche Äußerung als Werturteil eingeordnet hat, welches jedoch keinen Tatsachenkern habe und P. nicht nur als öffentliche Person, sondern auch als private Person verletze (siehe im Gegensatz dazu Chemodurov ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 72683/01, Rdnr. 22, 31. Juli 2007). Er stellt fest, dass das Bundesverfassungsgericht hierzu nicht nur den Wortlaut der streitgegenständlichen Äußerung untersucht, sondern diese im sprachlichen Kontext des durch die Beschwerdeführerin veröffentlichten Artikels betrachtet hat und zum Schluss gelangt ist, dass aus Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums die Äußerung den vorangegangenen Absatz zusammenfasse und die Bezeichnung demnach keinen Anknüpfungspunkt in dem Verhalten von P., das allgemein für den Artikel zum Anlass genommen wurde, habe.
34. Außerdem stellt der Gerichtshof, wie auch das Bundesverfassungsgericht, fest, dass die streitgegenständliche Bezeichnung nicht unbedacht im Rahmen einer spontanen Diskussion oder eines lebhaften Meinungsaustausches verwendet wurde (Katamazde ./. Georgien (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 69857/01, 14. Februar 2006; siehe im Gegensatz dazu Kommersant u. a. ./. Russland [Ausschuss], Individualbeschwerden Nrn. 37482/10 und 37486/10, Rdnr. 25, 23. Juni 2020). Auch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass es sich um eine Erwiderung auf scharfe oder beleidigende Äußerungen, die P. zuvor gegenüber dem Autor des Artikels oder der Beschwerdeführerin getätigt hätte, handelt (siehe im Gegensatz dazu Mladina D.D. Ljubljana, a. a. O., Rdnr. 44, Lopes Gomes da Silva, a. a. O., Rdnr. 35). Daher kann der Gerichtshof die Schlussfolgerungen des Bundesverfassungsgerichts zur Form und zum Inhalt der streitgegenständlichen Äußerung gelten lassen. Er stellt darüber hinaus fest, dass das Bundesverfassungsgericht sich zwar nicht ausdrücklich mit den Auswirkungen, die die Verwendung der streitgegenständlichen Bezeichnung auf P. hatte, befasst hat, dass aber aus dem Kontext hervorgeht, dass aufgrund des Schmähcharakters der Bezeichnung „durchgeknallt“ hinreichend stark in das Persönlichkeitsrecht von P. eingegriffen wurde, sodass die Prüfung weiterer Auswirkungen nicht geboten war.
35. Der Gerichtshof weist schließlich darauf hin, dass, wie auch das Bundesverfassungsgericht betont hat, die Anordnung gegen die Beschwerdeführerin in dieser Sache nur zivilrechtlicher Natur war. Zwar kann jede Sanktion an sich eine abschreckende Wirkung auf die Presse haben, die gegen die Beschwerdeführerin verhängte Sanktion beschränkte sich aber darauf, lediglich den Satz „[Frau P. ist] eine durchgeknallte Frau“ bei der Veröffentlichung des Artikels zu untersagen und der Betroffenen aufzuerlegen, ein Viertel der Gerichts- und Anwaltskosten zu tragen. Nach Ansicht des Gerichtshofs ist die gegen die Beschwerdeführerin verhängte Sanktion weder übermäßig schwer, noch dürfte sie eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung der Pressefreiheit haben (Arnarson ./. Island, Individualbeschwerde Nr. 58781/13, Rdnr. 47, 13. Juni 2017, B../. Deutschland [Ausschuss] (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 43231/16, Rdnr. 28, 22. September 2020).
36. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Bundesverfassungsgericht das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung und das Recht von P. auf Achtung ihres Privatlebens im Licht der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs niedergelegten Kriterien gebührend abgewogen hat. Unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums, der den Vertragsstaaten zusteht, ist für den Gerichtshof kein gewichtiger Grund ersichtlich, die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts durch die eigene zu ersetzen.
37. Daher ist die Rüge der Beschwerdeführerin offensichtlich unbegründet und nach Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 der Konvention zurückzuweisen.
Aus diesen Gründen erklärt der Gerichtshof
die Individualbeschwerde einstimmig für unzulässig.
Ausgefertigt in französischer Sprache und schriftlich zugestellt am 18. November 2021.
Olga Chernishova Georgios A. Serghides
Stellvertretende Sektionskanzlerin Präsident